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Lina George

Abenteuer in den Wunderwelten





BookRix GmbH & Co. KG
80331 München

Widmung

Dieses Buch widme ich

meinen Enkelkindern

Melina und Luca

Bald ist Weihnachten

Fünf Wochen vor Weihnachten, die gesamte Familie war mit Vorbereitungen für das Fest beschäftigt. Wie jedes Jahr, war diese Zeit, eine Zeit voller kleiner Heimlichkeiten und Oma schrieb grade an einer Liste, was sie bis Heiligabend noch alles erledigen wollte. Ganz oben stand – Plätzchen backen, dann Geschenke besorgen, und der bisher letzte Punkt war, ein Gedicht mit Lotte lernen.

Die achtjährige Lotte saß im Wohnzimmer auf dem Boden und schaute einen Weihnachtsfilm. Sie hatte ihre Umgebung völlig ausgeblendet und war begeistert, wozu der Weihnachtsmann alles fähig war.

Er beschenkte in einer Nacht alle Kinder der Welt und Lotte wusste genau, die Welt war riesig und es gab demzufolge ganz viele Kinder. Das war aber nur mit Magie möglich und auf diese Weise schlüpfte er ganz schnell durch die Schornsteine in die Wohnzimmer. Dort bewunderte er die wunderschön geschmückten Weihnachtsbäume und legte unter jeden einzelnen Baum die Geschenke – erfüllte so, die innigsten Herzenswünsche der Kinder. Und das Tollste daran war, egal wie viele Geschenke er aus seinem roten Weihnachtssack nahm, im nächsten Haus, war dieser wieder prall gefüllt.

Lottes Gesicht lief vor Aufregung rot an, sie nahm sich vor, gleich nach Ende des Films, einen Brief an den Weihnachtsmann zu schreiben. Das hatte das Mädchen in der Geschichte auch gemacht und sie bekam zur Bescherung alles, was sie sich wünschte. Eine Bedingung gab es, man musste das ganze Jahr brav gewesen sein. Einen klitzekleinen Moment dachte Lotte nach, aber sie war sich sicher, dass sie Mami, das Jahr über nicht geärgert hatte.

Die Spannung im Film, riss nicht ab und als der Weihnachtsmann alle Geschenke verteilt hatte, machte er sich, mit seinem Rentierschlitten, auf den Weg zurück nach Hause. Unterwegs begrüßte er die unzähligen Sternschnuppen, die jauchzend, in ihrem schönsten Licht, vom Himmel fielen. Er nahm sich Zeit, die Lichter der Erde zu bewundern und fühlte die Ruhe der Heiligen Nacht. Die Rentiere konnten langsamer fliegen, denn es war alles geschafft, sie brachten den Weihnachtsmann wohlbehalten zurück ins Wunderland am Nordpol.

Dort wurde er bereits von seiner Frau und den vielen Elfen erwartet. Zuallererst kümmerten sich die herbeigeeilten Elfen um die Rentiere, nahmen ihnen das Geschirr ab, denn sie waren nach der langen Fahrt durch die Wolken müde und hungrig. Sie trottenden in ihren behaglichen Stall und freuten sich über die reichlich mit Leckerbissen gefüllte Futterkrippe. Rudolph, das Rentier mit der roten Nase bedankte sich dafür und die anderen Rentiere folgten seinem Beispiel.

Frau Weihnachtsmann nörgelte ein wenig mit ihrem Mann herum, da er wieder so viele Kekse unterwegs gegessen hatte. Sie kannte ihn genau, wusste, dass er dem Naschwerk nicht widerstehen konnte und putzte die Krümel von seinem roten Mantel.

„Ach liebe Frau, wenn sie doch so lecker schmecken, die Kinder stellen sie schließlich nur für mich hin. Du weißt ganz genau, ich kann mich dann nicht beherrschen.“

Sie half ihm aus dem Mantel und klopfte den Schnee vom Kragen.

„Ich weiß es doch, mein Lieber, aber von nun an wird wieder etwas auf die Gesundheit geachtet.“

Zähneknirschend, mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht, stimmte der Weihnachtsmann ihr zu.

Lotte musste herzlich lachen, denn der Weihnachtsmann stand da, grinste und streckte seinen dicken Bauch, absichtlich weit raus, er streichelte ihn sanft und meinte: „Alles hart erarbeitet.“

Tobias, ihr älterer Bruder, hörte sie lachen, ging ins Wohnzimmer, setzte sich zu ihr auf den Boden und schaute mit seiner Schwester gemeinsam den Film. Er fand es richtig schön, dass Lotte noch an Weihnachten glaubte und die angeblichen Wunder, die damit im Zusammenhang standen. Lächelnd nahm er sie in den Arm und Lotte kuschelte sich an ihn.

Als der Film zu Ende war, sprang sie auf und flitzte so schnell sie konnte in ihr Zimmer. Die Treppe rauf rannte sie fast ihren Opa über den Haufen.

„Na, na, na junge Dame, nicht so eilig.“

„Doch Opa, ich muss etwas sehr Wichtiges erledigen.“

„Was denn?“

„Ich muss einen Brief schreiben, an den Weihnachtsmann. Opa, ich habe ja so viele Wünsche und ich weiß jetzt wie es geht.“

Kopfschüttelnd ging der Großvater weiter und lächelte. Als er in die Küche kam, stand seine Frau am Herd und bereitete das Essen vor.

„Warum ist denn die Kleine so aufgeregt?“

„Sie muss dringend etwas erledigen, und zwar einen Brief an den Weihnachtsmann schreiben.“

Oma nickte bedächtig und meinte: „Ja, das ist natürlich sehr wichtig. Ach übrigens Paul, wir müssen morgen einkaufen, ich brauche für die Plätzchen noch ein paar Zutaten, dann können wir gleich nach dem Geschenk für Lotte schauen. Für Marina habe ich auch schon eine Idee, doch dafür muss ich in den Buchladen.“

„Gut dann fahren wir morgen in die Stadt.“

Bevor Charlotte, auf noch mehr Ideen kam, wollte Paul sich schnell verkrümeln, doch sie war schneller und stoppte ihn an der Tür.

„Paul, was ist nun mit dem Moped, kaufen wir es für Tobias?“

„Hm, ich weiß nicht, nach dem was er sich letzte Woche geleistet hat, bin ich nicht dafür.“

„Der Junge hat doch nur zwei Tage die Schule geschwänzt, davon geht die Welt nicht unter. Jetzt hat er Hausarrest und hält sich daran. In knapp fünf Wochen ist Weihnachten, bis dahin ist alles vergessen. Sei nicht so hart zu ihm. Seine Freunde haben fast alle ein Moped, er steht dann da und kann nur zuschauen. Das ist auch nicht leicht für ihn. Wofür hat er dann den Mopedführerschein gemacht?“

„Ich denke noch einmal darüber nach“, knurrte Paul leise.

Charlotte wusste genau, dass ihr Mann Tobias über alles liebte. Als dessen Vater damals bei dem schrecklichen Unfall starb, war Paul der einzige, der an den Jungen rankam und ihm half, über die schwere Zeit hinwegzukommen. Nun wiegt natürlich, jeder Fehltritt, umso schwerer, zumal Tobias in einem schwierigen Alter war und des Öfteren widersprach.

Die Haustür ging auf und Marina kam von der Arbeit, sie rief ein lautes 'Hallo' ins Haus. Aus dem Wohnzimmer antwortete ihr Vater und aus der Küche ihre Mutter. Sie stellte die Aktentasche ab, zog ihren Mantel aus, schlüpfte in ihre bequemen Hausschuhe und ging in die Küche.

„Guten Abend Mama, wo sind die Kinder?“

„Die sind in ihren Zimmern, Lotte schreibt einen Wunschzettel für den Weihnachtsmann und Tobias wird wohl Musikhören, oder Hausaufgaben machen.“

„Hat er wieder etwas angestellt?“

Charlotte schüttelte nur mit dem Kopf.

„Gut dann gehe ich mal rauf und schaue nach ihnen.“

„Nicht mehr so lange Marina, das Essen ist gleich fertig.“

„Ja, Mama, fünf Minuten, dann kommen wir runter.“

Marina klopfte leise an Tobias Tür. Keine Antwort. Langsam drückte sie die Türklinke runter und schaute durch den Spalt ins Zimmer. Ihr Sohn lag auf seinem Bett, mit den Kopfhörern auf und einem Buch in der Hand. Aus dem Augenwinkel bemerkte er eine Bewegung im Raum und sah, dass seine Mutter das Zimmer betrat.

„Hi, Mom.“

Sofort blickte er wieder in sein Buch und brachte somit zum Ausdruck, dass es ihn nicht interessierte, was seine Mutter von ihm wollte. Er war nicht einverstanden mit dem Hausarrest, der im auferlegt wurde. Marina ging näher zu ihm, beugte sich vor und nahm ihm die Kopfhörer ab.

„Immer noch böse auf mich?“

„Nein, es ist ja urgemütlich allein zu Hause. Meine Freunde haben Spaß und ich lese ein Buch. Mach dir keine Sorgen, ich fühle mich fantastisch.“

Marina tat der grimmige Unterton weh, sie versuchte ihn zu besänftigen.

„Ach, mein Junge, was soll ich denn machen. Du hast zwei Tage die Schule geschwänzt und das geht nun mal nicht. Außerdem habe ich noch immer keine Erklärung weshalb du der Schule ferngeblieben bist. Ich will doch nur verhindern, dass du auf die schiefe Bahn gerätst. Du redest auch nicht mit mir über deine Probleme.“

Ihr Sohn setzte sich auf und erwiderte trocken: „Ich bin kein Kleinkind mehr und so langsam solltest du mir auch mal etwas vertrauen. Meine Zensuren sind gut und ich habe auch kein Verbrechen begangen, ich wollte doch …“

Er brach den angefangenen Satz ab und wich dem Blick seiner Mutter aus. Marina merkte, dass sie schon wieder wütend wurde und beschloss das Thema erst einmal ruhen zu lassen.

„In fünf Minuten gibt es Essen. Wir sehen uns dann unten.“

Tobias setzte die Kopfhörer wieder auf, nickte im Rhythmus seiner Musik und hörte sie nicht mehr.

An der nächsten Tür lauschte sie einen Moment. Es war still, sie ging rein. Lotte saß an ihrem Schreibtisch und ihre Buntstifte lagen überall verstreut herum.

„Mami, Mami, schau mal, was ich gemalt habe, das ist für den Weihnachtsmann. Ich habe auch etwas geschrieben. Ist die Liste meiner Wünsche zu lang?“

Marina überflog die Wünsche ihrer Tochter und grummelte: „Das ist wirklich etwas viel, vielleicht kann ja der Weihnachtsmann einiges nicht mehr rechtzeitig besorgen, dann reichen bestimmt die anderen Sachen.“

„Du hast recht, ich werde es ändern. Wenn ich fertig bin, dann brauche ich noch einen Briefumschlag. Ich muss den Brief schnell abschicken, damit er noch rechtzeitig ankommt.“

„Hast du denn seine Adresse?“

Lotte hob nur ein wenig ihren Kopf, schaute ihre Mutter schräg von unten an und zuckte mit einem Mundwinkel.

„Der Weihnachtsmann wohnt am Nordpol und die Kinder der ganzen Welt schicken ihre Post dorthin. Ich habe das heute in dem Film gesehen. Er hat ein wunderschönes Haus, eine Frau und viele Elfen, die ihm helfen, die Spielsachen für die Kinder zu bauen. Mami weißt du überhaupt, dass er Rentiere hat, die sprechen können und mit ihm um die ganze Welt fliegen in der Weihnachtsnacht? Oh man, das ist alles so aufregend.“

Marina saß da, hörte ihrer Tochter zu und freute sich, dass sie noch an das ganze Weihnachtszeugs glaubte. Für Lotte wurden noch Wunder wahr, doch Marina, sah in alledem, als Erwachsene, auch den Stress, die Hektik und Rennerei, die mit dem Fest verbunden waren. Doch Heiligabend war alles vergessen und sie war jedes Mal glücklich, wenn sie die strahlenden Augen ihrer Kinder sah. Sie wünschte sich, dass Lotte noch sehr lange daran festhielt, denn irgendwann würde der Zauber verfliegen.

„Denkst du an den Briefumschlag, ich muss ihn rechtzeitig abschicken?“

Sie versprach ihrer Tochter, ihr gleich nach dem Essen einen zu geben. Gemeinsam räumten sie schnell noch das Zimmer auf und dann gingen sie nach unten.

Oma und Opa hatten schon den Tisch gedeckt und nun trudelte langsam der Rest der Familie, in der Küche ein. Tobias war sehr schweigsam, ihm lag der Hausarrest schwer im Magen, dafür schwafelte Lotte fröhlich drauf los. Mehrmals forderte Opa sie auf ruhig zu sein und langsam zu essen, doch sie war so aufgedreht, dass sie nicht einmal stillsitzen konnte. Die beiden Frauen am Tisch warfen Paul immer wieder besänftigende Blicke zu, es dauerte, bis er es verstand.

Nach dem Essen verzog Tobias sich wieder in sein Zimmer und Lotte drängte Marina, dass sie den Umschlag nicht vergaß, für den Brief an den Weihnachtsmann. Oma bewunderte die Bilder, die Lotte gemalt hatte und Opa versuchte die Nachrichten im Fernseher zu sehen. Zum x-ten Mal erzählte Lotte von dem Film und dem Dorf am Nordpol. Flehend sah Marina ihre Mutter an. Charlotte streichelte das Haar ihrer Enkelin und bat sie, den Brief und die Bilder mit nach oben zu nehmen.

„Ja, Omi, ich werde alles bereitlegen und morgen gehen wir zum Briefkasten?“

„Das machen wir mein Kind.“

Marina wartete, bis sie hörte, dass sich die Tür zum Zimmer ihrer Tochter schloss. Jetzt, da endlich Ruhe war, nahm sie sich einen zweiten Stuhl und legte ihre Füße darauf.

„Oh man, tut das gut. Ich bin heute mindestens hundert Kilometer gelaufen.“

„Wie kann das sein, du sitzt doch den ganzen Tag am PC und übersetzt irgendwelche Bücher und Dokumente?“

„Nein, heute war das anders. Ich habe eine Gruppe ausländischer Firmenbosse begleitet und die wollten alle Standorte ihrer Firma sehen. Rein ins Auto, Gespräche übersetzt, raus aus dem Auto, rein in eine Fabrik. So ging das den ganzen Tag.“

Charlotte stand auf und legte Marina die Hand auf die Schulter.

„Nimm ein heißes Bad und lege dich danach gleich schlafen. Die Kinder übernehme ich heute. Ruhe dich aus.“

„Danke Mama, das werde ich auch gleich machen.“

Marina stand auf, umarmte ihre Mutter, wünschte ihrem Vater eine gute Nacht und ging nach oben. Im Schlafzimmer bereitete sie ihr Bett vor und ließ danach im Bad das Wasser für ein erholsames Bad ein. Sie saß am Wannenrand und schaute zu, wie der Schaum sich bildete und immer höher auftürmte. Mit einer Hand fuhr sie durch den weichen Schaum und ihre Gedanken wanderten in die Vergangenheit, sie dachte daran, dass Martin viele Wochen an dem Entwurf für dieses Haus gesessen hatte. Ihm war daran gelegen, dass alle sich wohlfühlten. Deshalb erfüllte er den Wunsch Marinas, ein Bad direkt neben dem Schlafzimmer und ein weiteres Bad, in der oberen Etage, für Gäste und die Kinder einzuplanen. Tobias war gerade sieben geworden, als sie endlich einzogen.

An diesem Tag hatte Marina ihrem Mann gesagt, dass sie wieder schwanger war. Martin war damals überglücklich vor ihr, auf die Knie gesunken und küsste liebevoll ihren Bauch. Die Freude war groß, endlich ein zweites Kind, beide hatten sich das schon lange gewünscht.

Doch einen Tag später war alles anders. Die Polizei stand vor der Tür, brachte ihr die schreckliche Nachricht, dass Martin einen Unfall hatte und auf dem Weg ins Krankenhaus, seinen schweren Verletzungen erlegen sei.

Die Wochen danach liegen noch immer wie ein grauer Schleier über ihrem Gedächtnis. Zu dieser Zeit zogen ihre Eltern bei ihr ein, das Haus war groß genug und Marina, war nicht mehr allein, mit all ihren Problemen.

Der Schaum, türmte sich immer höher auf, Marina stellte das Wasser ab. Schnell versuchte sie die traurigen Gedanken zu verscheuchen, der Tag war wirklich anstrengend gewesen.

Langsam glitt sie in die Wanne, noch immer rannen Tränen über ihr Gesicht, sie weinte leise, denn niemand sollte wissen, dass er ihr noch immer sehr fehlte, dass sie wohl nie, über den Tod Martins hinwegkommen würde.

Trauriger Abschied

Die Vorbereitungen für Weihnachten waren in vollem Gang und Charlotte mit dem Weihnachtsgebäck beschäftigt. Sie sorgte dafür, dass täglich das Haus nach allerlei Leckereien duftete. Opa kramte im Keller den Baumschmuck hervor und schaute nach, ob die Beleuchtungen in Ordnung waren. Am ersten Advent dekorierte er gemeinsam mit Marina das Haus und baute mit Tobias die Außendekoration auf. Lotte bastelte in ihrem Zimmer etwas für ihre Mutter und konnte den Weihnachtsabend kaum erwarten.

Geräusche waren im Vorgarten zu hören und sie sah zum Fenster hinaus. Opa und Tobias trugen die Kartons, mit den Weihnachtssachen für den Außenbereich, aus dem Keller. Lotte war neugierig und wollte mithelfen, zog ihre Winterjacke an und ging nach draußen. Sie reichte Opa die Lichterketten und half Tobias beim Aufstellen des beleuchteten Rentierschlittens. Ihr war wichtig, dass die vielen bunten Lichter auch von Weitem zu sehen waren. Sie fand es gut so, wie Paul und Tobias alles geschmückt hatten und sah immer wieder zum Dach hinauf.

„Opa? Kommt der Weihnachtsmann auch durch unseren Schornstein?“

Belustigt sahen Opa und Tobias sich an.

„Natürlich meine Kleine, der hat da so seine Tricks drauf und bisher hat sich noch kein Kind beschwert. Oder hast du etwas gehört, dass irgendjemand keine Geschenke bekommen hat, nur weil der Schornstein zu klein oder zu eng war?“

Nachdenklich stand Lotte da.

„Nein, ich habe bisher nichts davon gehört.“

„Na siehst du, es wird schon alles gut gehen und der Weihnachtsmann wird dich bestimmt nicht vergessen.“

Lotte rannte ins Haus, Tobias lächelte ihr hinterher.

„Ich finde es schön, dass sie noch an den alten Zauselbart glauben kann. Für sie ist die Welt noch ein Tummelplatz der Wunder.“

Opa sah ihn von der Seite an, er wollte eigentlich etwas Versöhnliches sagen.

„Ja, es gibt allerdings Leute, die machen es sich sinnloser Weise schwer, doch man kann nicht immer Kind bleiben.“

Trotzig reagierte Tobias auf diese Äußerung.

„Ja Opa, das musste jetzt kommen.“

Er ließ seinen Großvater einfach stehen, lief eiligen Schrittes zum Haus und die Tür fiel unsanft hinter ihm ins Schloss. Paul presste die Lippen zusammen und murmelte nur: „Verflixte Teenagerzeit, so war das doch nicht gemeint.“

Er wusste genau, es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er wieder an den Jungen herankam.

Zwei Wochen vor Weihnachten war Paul sehr beschäftigt und tat unwahrscheinlich geheimnisvoll. Mit Karl seinem Nachbarn tuschelte er und wenn jemand von der Familie kam, dann wechselten sie schnell das Thema. Am Abend im Bett knuffte Charlotte ihm in die Seite und sagte schmunzelnd: „Hast du es doch gekauft?“

„Was?“

Er sah den prüfenden Blick seiner Frau und gestand, dass er das Moped für Tobias in der Garage von Karl versteckte.

„Ich freue mich darauf, seine Augen zu sehen, wenn er das Moped bekommt.“

Charlotte kuschelte sich an ihren Mann und flüsterte ihm ins Ohr: „Ich kenne und liebe dich nun schon so viele Jahre, denkst du noch immer, dass du etwas vor mir verheimlichen kannst?“

Paul brummte nur liebevoll, umarmte seine Frau, gab ihr einen dicken Kuss auf die Wange, dann schliefen sie gemeinsam ein. In den nächsten Tagen nahm sich Oma vor, mit Lotte auf den Weihnachtsmarkt zu gehen, vielleicht würde sie noch ein paar Kleinigkeiten finden, die sie den Kindern auf die bunten Teller legen konnte.

Die Haustür ging auf und Lotte kam aus der Schule zurück, zog ihre Jacke aus und schlüpfte in ihrer Rentierhausschuhe.

„Hallo Oma, ich bin zu Hause.“

„Hast du Hausaufgaben auf?“, rief Oma aus dem Wohnzimmer.

„Ja, aber nicht viel, das geht schnell. Warum?“

„Beeile dich, ich möchte mit dir auf den Weihnachtsmarkt gehen. Hast du Lust?“

„Au fein, ja, ich beeile mich.“

Lotte rannte die Treppe rauf, ging in ihr Zimmer, setzte sich an ihren Schreibtisch und erledigte ihre Hausaufgaben sofort. Nach einer knappen viertel Stunde war sie fertig und legte das Heft ihrer Großmutter zur Kontrolle vor, diese war zufrieden und hatte nichts zu beanstanden.

„Gut dann wollen wir mal los, ich will noch zur Post, denn ich möchte die Weihnachtskarten für die Familie und Freunde abschicken. Das liegt auf dem Weg und dann gehört der Nachmittag ganz allein dir und mir.“

Lotte war schon fertig angezogen, Charlotte band ihrer Enkelin den Schal ordentlich um, zog ihre Stiefel an und kurz darauf, gingen beide aus dem Haus. Lotte wartete geduldig bis Oma die Briefe mit den Briefmarken versehen hatte und der Postangestellten am Schalter übergab.

Draußen nahm sie deren Hand und beide schlenderten gemeinsam in Richtung Weihnachtsmarkt. Oma war überglücklich, denn schon seit langer Zeit wollte Lotte nicht mehr an der Hand gehen, doch heute war es ihr wohl wichtig. Das Mädchen schaute lächelnd zu ihrer Oma auf und sagte: „Nur du und ich.“

Charlotte wurde es richtig warm ums Herz bei diesen Worten. Sie dachte daran, wie sehr sie ihre Enkelkinder doch liebte.

Lotte war begeistert von allem hier auf dem Weihnachtsmarkt und riss Charlotte aus ihren Gedanken, überall gab es viel zu sehen. Staunend betrachtete das Mädchen die vielen Buden und war völlig eingenommen von der weihnachtlichen Atmosphäre. Mit glänzenden Augen sah sie den riesigen Weihnachtsbaum, als sie sich umdrehte, war da ein Karussell und sie durfte zwei Runden damit fahren. Später gab es Zuckerwatte und eine Bratwurst.

„Oma, ich brauche heute kein Abendbrot mehr. Ich bin so satt.“

Charlotte lächelte und wollte nach der Hand Lottes greifen, doch ihr wurde plötzlich schwindlig und sie griff daneben. Sie versuchte es zu ignorieren, doch da war plötzlich ein Rauschen in ihren Ohren, nein, im ganzen Kopf. Im selben Augenblick verlor sie jegliches Gefühl, ihr wurde schwarz vor Augen und sie spürte nicht, wie sie zu Boden stürzte. Auch den Aufschrei Lottes hörte sie nicht mehr. Noch in diesem Moment blieb ihr Herz stehen. Sie bekam nicht mehr mit, wie das Kind neben ihr kniete und bitterlich weinte.

„Oma, bitte steh auf. Bitte. Mach die Augen auf, Omi hörst du mich?“

Das Kind schrie verzweifelt, weinte und sah sich nach Hilfe um. Viele Leute schauten nur eigenartig und gingen vorbei, irgendjemand rief den Notarzt, doch der konnte Charlotte, nicht mehr helfen. Eine Verkäuferin, aus einer der Buden, hatte sich des Mädchens angenommen. So gut es ging, versuchte sie das Kind zu beruhigen, Lotte saß schluchzend da und musste mit ansehen, dass jemand eine Decke über ihre Großmutter legte. Ein Wachmann griff nach der Handtasche ihrer Oma, da rannte sie hin und nahm sie ihm weg, drückte diese fest an sich.

„Hey, Kleine ich wollte doch nur nach einer Telefonnummer schauen, wir müssen deine Familie benachrichtigen.“

Das Kind schien ihn nicht zu hören. Lotte kniete noch immer neben ihrer Großmutter, hob vorsichtig die Decke von Charlottes Gesicht, gab ihr einen Kuss, dann nahm sie deren Hand und war nicht von ihr wegzubewegen. Ein Polizist bat sie um ihren Namen und die Adresse. Der Nebel, vor ihren Augen verflog allmählich, sie sah den Mann an und gab bereitwillig Auskunft.

Wenig später, trafen Marina und Paul ein, gleichzeitig fuhr der Leichenwagen vor. Marina nahm weinend ihre Tochter in die Arme, die völlig paralysiert zu sein schien, während Paul geschockt, bleich und zitternd danebenstand. Hilflos musste er mit ansehen, wie man seine Frau in einen Sarg und dann in den Leichenwagen hob. Der Fahrer stellte sich ihm vor, drückte sein Beileid aus und überreichte ihm eine Karte, mit seiner Telefonnummer.

„Ich bin jeder Zeit für sie da, Herr Schenke. Rufen sie mich an.“

Paul nickte zwar, doch wusste er nicht warum. Das war ihm jetzt auch egal. Marina versuchte sich zusammenzureißen, denn sie sah, dass ihr Vater im Moment völlig neben sich stand. Sie nahm Lotte an die Hand und den Arm ihres Vaters, dann ging sie langsam mit beiden zum Auto. Ihr Herz war so schwer und am liebsten hätte sie laut geschrien, sich ihren Gefühlen ergeben, doch sie musste stark sein.

Zu Hause angekommen, fiel ihr auf, dass sie sich nicht an die Heimfahrt erinnern konnte. Ihr Vater stand mitten in der Küche und starrte vor sich hin. Sie nahm ihn in die Arme, ihre Tränen berührten seine Wangen, völlig regungslos ließ er es geschehen, sorgenvoll streichelte Marina sein Gesicht.

„Bitte Papa, rede mit mir.“

Doch er blieb stumm, starrte vor sich hin und weinte nur lautlos. Traurig senkte sie ihre Arme, aus dem Wohnzimmer rief Lotte nach ihr. Marina nahm sie in die Arme, wiegte sie, sprach leise auf sie ein und versuchte zu erfahren, was eigentlich mit Oma passiert war. Das Kind stammelte irgendetwas, das der Oma schwindelig war und sie dann einfach umfiel.

Tobias kam nichts ahnend nach Hause und rief gutgelaunt im Hausflur nach seiner Mutter. Er bekam keine Antwort, als er jedoch ins Wohnzimmer ging, sah er sie mit verweinten Augen auf der Couch sitzen, wie sie Lotte in den Armen hielt. Seine kleine Schwester vergrub ihr Gesicht an Mutters Hals und Tobias fühlte Angst in sich aufsteigen. In diesem Moment legte jemand eine Hand auf seine Schulter, erschreckt drehte er sich um und sah, dass auch Opa weinte. Niemand brauchte etwas zu sagen, sein Kopf und sein Herz wussten Bescheid, die Trauer ergriff ihn mit voller Wucht, er lief in sein Zimmer, drehte die Anlage auf und wollte nichts mehr fühlen. Ohne Unterlass liefen die Tränen über sein Gesicht, es dauerte lange, bis er aus diesem Zustand zu sich kam. Langsam stand er auf und stellte die Musik ab, ging mit hängenden Schultern runter. Noch immer saßen seine Mutter und Lotte auf der Couch, jedoch sprachen sie jetzt miteinander. Tobias setzte sich neben sie und legte seine Arme um beide. Sein Großvater nahm sich einen Stuhl, stellte ihn vor die Couch und flüsterte: „Wie soll ich nur ohne sie leben?“

Tobias nahm seine Hände und versuchte ihn zu beruhigen.

„Opa, wir helfen dir, wo wir können.“

Paul nickte leicht und schwieg. Später erfuhr Tobias, dass Lotte alles miterlebt hatte. An diesem Abend holte er sie in sein Zimmer und sie schlief auf der Gästematratze. Alles andere war jetzt nicht so wichtig, ihm ging es um seine kleine Schwester. Gemeinsam weinten sie sich in den Schlaf, redeten und trauerten um ihre geliebte Oma.

Eine Woche darauf war die Beerdigung und sie gingen gemeinsam mit der Familie und Freunden zum Friedhof. Schweigend standen sie am Grab, senkten die Köpfe, als der Sarg hinabgelassen wurde. Viele Menschen drückten der Familie ihr Beileid aus und verabschiedeten sich dann höflich. Sie wollten gerade den Friedhof verlassen, da blieb Lotte an einem sehr alten Grabmal stehen. Vor langer Zeit war sie mit Oma hier gewesen. Sie hatte damals das Grab einer Freundin besucht. Lotte wollte wissen, was auf der großen Tafel stand, die an der Wand befestigt war und Oma las es ihr vor, da sie noch nicht lesen konnte. Der Text prägte sich in ihr Gedächtnis ein.

Heute sprach sie die Worte und blickte dabei auf das Grab ihrer Großmutter.

 

Nun liege ich hier im tiefen Grab,

ich sehe die Tränen, der Meinen,

eure Herzen sind von Trauer so schwer,

ich bat euch doch, ihr solltet nicht weinen.

Nun bedeckt mich ein Mantel, aus Liebe gewoben

obenauf ein Blumenmeer,

könnten meine Worte euch erreichen

würde ich sagen – ich liebe euch sehr.

 

Still stand Lotte da und weinte, Tobias nahm sie sanft bei der Schulter und flüsterte ihr ins Ohr.

„Dieser Spruch ist wundervoll. Das würde Oma auch zu uns sagen. Wir hatten sie sehr lieb und sie war die beste Oma der Welt, das wird immer so bleiben. Aber komm, es ist kalt und du willst doch nicht krank werden.“

Wochen, sogar Monate später war dies der Moment, woran sie sich am intensivsten an diesen traurigen Tag, erinnerte.

Wenige Tage später war Heiligabend, sie wollten alle in die Kirche zum Krippenspiel, während die Kinder sich anzogen, legte Marina die Geschenke unter den Baum. Als sie wieder zu Hause waren, wurde gegessen und dann war Bescherung. Marina und Paul hatten beschlossen nichts am Ablauf der Feiertage zu ändern. Auch wenn die Trauer sie alle oft übermannte, musste das Leben weitergehen.

Nur zur Bescherung gab es Musik und Paul legte Charlottes Lieblingsweihnachtsschallplatte auf. Besinnliche Lieder erklangen und sogar Tobias lauschte voller Andacht, hatte er doch in den letzten Jahren diese Musik nicht mehr hören wollen, da sie ihm zu unmodern war. Doch jetzt dachte er an seine Oma und wünschte sich tief im Herzen, sie wäre jetzt hier.

Es war ein ruhiger Abend und zum Schluss bat Opa Tobias nach draußen, er wollte mit ihm reden, so sagte er. Die Überraschung war Tobias anzusehen, damit hatte er niemals gerechnet. Vor ihm stand ein Moped, so eines, wie Hubert und Basti, seine besten Freunde auch hatten. Tobias konnte es nicht glauben. Mit Tränen in den Augen schaute er zu seinem Großvater und dann zu seiner Mutter, ging auf Paul zu und umarmte ihn.

Marina lächelte sanft und ging zurück ins Haus. Lotte bestaunte das Moped von allen Seiten und wollte gleich wissen, wann er sie mal mitnehmen würde. Es kam erst einmal keine Antwort, denn Tobias lag noch immer in den Armen Pauls und wand seinen Blick in Richtung Himmel. Er flüsterte kaum hörbar: „Danke Oma“.

„Vielen Dank Opa, ich freue mich sehr.“

Der Großvater klopfte ihm sanft auf die Schulter und sagte: „Ja, sie wollte, dass du es bekommst und hat mich überzeugt. Du hast es verdient. Ich liebe dich mein Junge.“

Einen Moment noch hielten die beiden inne, dann schoben sie gemeinsam das Moped in die Garage und gingen wieder ins Haus. Paul legte seinen Arm um Tobias Schulter und so betraten sie das Wohnzimmer. Mit großer Freude sah Marina diesen Anblick, endlich war alles wieder gut zwischen ihnen.

Wenige Minuten später reichte Tobias Paul einen Brief.

„Das ist der Grund, weshalb ich zwei Tage nicht in die Schule gegangen bin. Ich wollte mit deinem Bruder reden, den du schon viele Jahre nicht gesehen hast. Oma hat mir von eurem Streit erzählt. Ich fuhr nach Bremen, wollte persönlich mit ihm reden, ich traf ihn leider nicht an, aber ich hinterließ ihm eine Nachricht. Da ich nicht genug Geld hatte, bin ich heimwärts per Anhalter gefahren. Ich wollte nicht so lange fortbleiben. Gestern kam dieser Brief, ich denke, dass du ihn öffnen und lesen solltest, Opa.“

Paul hatte Tränen in den Augen und nahm mit zittriger Hand den Brief entgegen. Er suchte nach seiner Brille, Lotte reichte sie ihm. Marina nahm Tobias in die Arme und küsste ihren Sohn auf die Wange.

„Warum hast du nicht wenigstens mir etwas gesagt, ich hätte dich doch unterstützt?“

„Ist schon gut Mama.“

Tobias beobachtete seinen Großvater genau, dieser las die wenigen Zeilen, ließ das Blatt sinken und sagte leise: „Mein Bruder Otto kommt uns besuchen, am zweiten Weihnachtsfeiertag.“

Mehr brachte er nicht heraus, nahm Tobias wieder in die Arme und drückte ihn dankbar. Als es Zeit war ins Bett zu gehen, bereitete Tobias auch wieder für seine Schwester das Nachtlager, denn sie schlief seit Omas Tod immer noch bei ihm im Zimmer. Lotte kam aus dem Bad, wünschte ihm eine gute Nacht und ging in ihr Zimmer. Verwundert folgte er ihr.

„Schwesterlein, was ist los?“, wollte er von ihr wissen. „Mein lieber Bruder, ich denke, es geht schon und ich komme zurecht. Ich weiß, dass Oma bei den Engeln ist und ich bin noch immer traurig, doch möchte ich von nun an, wieder in meinem Zimmer schlafen.“

Ein verwundertes Okay, kam Tobias über die Lippen, dann ging er. Jedoch rief er ihr noch vom Flur aus zu: „Aber wenn irgendetwas ist, dann kommst du rüber.“

Lotte deckte sich gerade zu, schaltete ihre Spieluhr an, die sie heute bekommen hatte und antwortete ihm: „Ja, das mache ich.“