Lawrence LeShan

Unglaublich!

Unerklärliche Phänomene

Lawrence LeShan

Unglaublich!

UNERKLÄRLICHE PHÄNOMENE

Aus dem Englischen von Astrid Ogbeiwi

1. Auflage

© 2011 Crotona Verlag GmbH

Kammer 11 • D-83123 Amerang

www.crotona.de

Titel der amerikanischen Originalausgabe:

A New Science of the Paranormal

The Promise of Psychical Research

© 2009 Lawrence LeShan

Quest Books, Wheaton, Ill., USA

Übersetzung aus dem Amerikanischen: Astrid Ogbeiwi

Umschlaggestaltung: Annette Wagner

Inhalt

1Mediale Forschung und die Einheit des Universums

2Was wissen wir heute über mediale Phänomene?

3Normale und paranormale Kommunikation

4Entwurf einer wissenschaftlichen medialen Forschung

5PSI und veränderte Bewusstseinszustände

6Der nächste Schritt: Auswirkungen der neuen Wissenschaft

7Was darf ich hoffen?

Anhang

Schlussfolgerung

Für

Dr. Gertraude Schmeidler,
die so viele Forscher so Vieles
über die mediale Forschung gelehrt hat.

Was, wenn du schliefst?

Und was, wenn

in deinem Schlaf

du träumtest?

Und was, wenn

in deinem Traum

du in den Himmel kämest

und dort eine seltsame, wunderschöne Blume pflücktest?

Und was, wenn du

bei deinem Erwachen

diese Blume in der Hand hieltest?

Ja, was dann?

Samuel Taylor Coler idge

Die Menschheit hat geträumt und ist mit einer seltsamen, wunderschönen Blume in der Hand erwacht. Diese Blume ist die eindeutige und zugleich unmögliche Datenfülle, die die mediale Forschung erbracht hat. Jetzt müssen wir uns der Frage stellen: „Ja, was nun?“

Lawrence LeShan

1

Mediale Forschung und die Einheit des Universums

Eines Morgens, es war Ende der 1960er Jahre, saßen drei Menschen in New York City in der Zentrale der Parapsychology Foundation (der „Stiftung Parapsychologie“, einer Organisation, die sich mit dem Studium paranormaler Phänomene befasst): der Stiftungsdirektor Martin Ebon, die Skretärin Betha Pontorno, und ich, der ich dort ein Forschungsstipendium hatte. Eileen J. Garrett, die Präsidentin der Stiftung, kam dazu. Sie war das beste und angesehenste Medium ihrer Zeit, eine Frau von unbestrittener Integrität, die seit fünfzig Jahren versuchte, die Bedeutung ihrer Medialität zu verstehen. (Im Rahmen dieser Suche hatte sie sich einer Psychoanalyse bei C. G. Jung unterzogen und war von vielen verschiedenen Wissenschaftlern untersucht worden.) In den 20er und 30er Jahren hatte sie in London ausgiebig mit einem parapsychologischen Forscher namens Hereward Carrington zusammengearbeitet.

Mrs. Garrett begrüßte uns, und wir begaben uns in ihr Büro, um die für diesen Tag anstehenden Aufgaben zu besprechen. Sie erzählte uns von einem kuriosen Traum, den sie in der Nacht gehabt hatte: „Ich habe geträumt, dass Carrington in mein Zimmer gekommen ist und mich gebeten hat, ich möge mich um seine Frau kümmern, denn sie brauche mich. Außerdem sagte er, ich solle währenddessen nach einer Schachtel mit sehr wichtigen Forschungspapieren schauen, die sich unter dem Bett befände und von einem Wallaby (einer kleinen Känguru-Art) ruiniert würde, das darauf schlafe.“

Wir spekulierten kurz über die Bedeutung dieses Traums (damals war Carrington bereits seit über zwanzig Jahren tot), wandten uns dann aber anderen Dingen zu.

Am nächsten Morgen kam Mrs. Garrett sehr früh ins Haus, rief uns in ihr Büro und verkündete: „Jetzt haben wir den Salat. Ich kenne mich. Vergangene Nacht träumte ich, Carrington sei wieder in mein Schlafzimmer gekommen. Er war sehr wütend. Er meinte, er habe mir doch gesagt, dass seine Frau mich brauche – und ich hätte nichts unternommen. Dann versetzte er mir einen Tritt, so dass ich aus dem Bett fiel – und auf dem Boden liegend bin ich aufgewacht.“

Keiner von uns hatte auch nur die leiseste Ahnung, wo sich Carringtons Witwe jetzt aufhalten könnte. Wir wussten lediglich, dass sie Engländerin war. Wenn sie also noch lebte, dann begann man eine Suche nach ihr wohl am besten in England. Wir erstellten eine Liste älterer Parapsychologen in England, die vielleicht eine Ahnung haben mochten, wo wir sie finden könnten. Dann nahm sich jeder von uns einen Teil dieser Liste vor und fing an, sie abzutelefonieren. Wir erreichten sechs oder sieben Forscher, aber keiner hatte auch nur entfernt eine Vorstellung davon, wo Mrs. Carrington jetzt sein könnte oder ob sie überhaupt noch lebte. Nach dieser ergebnislosen Suche rief Mrs. Garrett einen Bekannten an, der eine hohe Position in der britischen Steuerverwaltung bekleidete. Unter Aufbringung aller ihrer Überredungskünste (die wir an den Zweitapparaten gebannt mitverfolgten) gelang es ihr schließlich, die letzte bekannte Adresse zu erfahren. Es war (wie die Leserinnen und Leser von Agatha Christie sicher bereits erraten haben) ein abgelegenes Cottage in den Mooren von Devon. Anschließend rief Mrs. Garrett die zuständige Ortspolizei an und sagte, sie habe eben einen Anruf von jemandem erhalten, der an dem Cottage vorbeigefahren sei; anscheinend sei darin etwas Schlimmes passiert.

Ein Polizeibeamter fuhr zu dem Cottage und fand Mrs. Carrington. Sie war Ende achtzig Vor drei Tagen war sie gestürzt und hatte sich die Hüfte gebrochen. Weil sie nicht mehr aufstehen konnte, lag sie immer noch auf dem Boden, hatte sich beschmutzt und nichts weiter gegessen als einen Apfel. Sie befand sich in einem sehr schlechten Zustand. Normalerweise wäre erst in drei Tagen wieder jemand zu ihr ins Cottage gekommen. Bis dahin wäre sie wahrscheinlich tot gewesen. Ein Krankenwagen brachte sie in die nächstgelegene Klinik.

Als Mrs. Carrington wieder so weit stabil war, ließ Mrs. Garrett sie in ein großes Krankenhaus in London bringen und dort von einem Chefarzt behandeln, den sie seit vielen Jahren kannte. Wir riefen die Society for Psychical Research (Gesellschaft für mediale1 Forschung) in London an, die daraufhin jemanden zu dem Cottage schickte. Unter dem Bett befand sich tatsächlich eine Schachtel mit diversen Papieren, die man allerdings bereits vor dreißig Jahren hätte wegwerfen sollen: Einkaufszettel, bezahlte Gasrechnungen und so weiter. Von einem Wallaby keine Spur.

Als wir vier etwa einen Monat später wieder zusammensaßen und uns über die Angelegenheit unterhielten, sagte Mrs. Pontorno: „Mrs. Garrett, bitte haben Sie keine solchen Träume mehr. Der letzte hat uns 1200,- englische Pfund gekostet.“

Im Folgenden ein weiteres Beispiel für derartige Vorfälle:

Im Jahr 1930 unternahm der einäugige Pilot Hinchliffe den Versuch der ersten Ost-West-Überquerung des Atlantik. Eigentlich hatte er allein fliegen wollen, doch im letzten Moment bestand sein Geldgeber überraschend auf einer Co-Pilotin. Mehrere hundert Meilen weit weg lagen seine beiden alten Freunde, Oberst der Luftwaffe Henderson und Geschwader-Kommandant Rivers Oldmeadow, auf einem Ocean-Liner im Bett. Weder wussten sie, dass Hinchliffe in dem Moment den Überquerungsversuch unternahm, noch dass ihn dabei jemand begleiten sollte. Mitten in der Nacht stand Henderson plötzlich im Schlafanzug unter Oldmeadows Kabinentür und sagte: „Um Gottes Willen, Rivers, es ist gerade etwas Entsetzliches passiert. Hinch war gerade bei mir in der Kabine, mitsamt seiner Augenklappe und allem. Es war grauenvoll. Immer wieder sagte er: ‚Hendy, was soll ich bloß machen? Was soll ich bloß machen? Ich habe die Frau bei mir und ich bin verloren. Ich bin verloren.‘ Dann ist er vor meinen Augen verschwunden. Einfach so verschwunden.“2

In derselben Nacht stürzte Hinchliffes Flugzeug ab. Bei dem Absturz kamen er und seine Copilotin ums Leben.

Mit Daten dieses Typs hat sich die parapsychologische und mediale Forschung bisher in erster Linie beschäftigt. Was Henderson berichtete, war sowohl in sich sinnvoll als auch wichtig. Leider wurden, was das Verständnis dieser Phänomene anbelangt, in den letzten hundert Jahren nur sehr geringe Fortschritte erzielt.

Mit der Bedeutung und den Auswirkungen solcher Vorfälle befasst sich dieses Buch.

Die parapsychologische und mediale Forschung – das Studium des Paranormalen – ist sehr vielversprechend und berechtigt zu großen Hoffnungen. Obwohl es den Anschein hat, als befände sich diese Wissenschaft an einem ganz anderen Punkt, steht doch die Erfüllung dieser Hoffnungen unmittelbar bevor. Wir wissen weitaus mehr über das Paranormale als gemeinhin angenommen.

In diesem Buch geht es um eben diese Hoffnung und darum, wie wir sie erfüllen können. Das erste Kapitel beschäftigt sich weitestgehend damit, was uns bisher davon abgehalten hat. Die übrigen Abschnitte des Buches erklären, wie wir weiterkommen können.

Die wissenschaftliche Untersuchung paranormaler Phänomene – außersinnliche Wahrnehmung (ASW), Poltergeister, Spuk, Erscheinungen Verstorbener – ist in völliger Auflösung begriffen. Die wichtigsten Labors wurden geschlossen, und in den einschlägigen wissenschaftlichen Fachzeitschriften steht seit vielen Jahren nichts wirklich Neues. Die wenigen Bibliotheken, die Literatur zu diesem Thema haben, sind an ganz gewöhnlichen Nachmittagen menschenleer – und das in einer Zeit, in der eine breite Öffentlichkeit großes Interesse am Paranormalen zeigt.

Dieses Buch berichtet, warum das so ist. Es erklärt, warum parapsychologische Forscher die Untersuchung komplexer, gut belegter medialer Ereignisse (für die im ganzen Buch immer wieder Beispiele genannt werden) eingestellt und sich weitgehend auf die Auswertung statistischer Analysen beschränkt haben. In ihren Experimenten versuchen Menschen, Tausende von Karten zu erraten, die im Nebenzimmer oder auch im Nachbarland aufgedeckt werden, oder die langen Zahlenreihen, die ein elektronischer Zufallsgenerator hervorbringt, mental zu beeinflussen. Durch diesen Ansatz konnte wissenschaftlich nachgewiesen werden, dass es ASW gibt, doch die Schulwissenschaft ließ sich davon nicht überzeugen, und mehr noch, die breite Öffentlichkeit zeigte kaum Interesse. Im weiteren Verlauf stellt dieses Buch dar, wie aus den großen aufregenden persönlichen Erlebnissen – wie etwa den Vorfällen, die ich zu Beginn dieses Kapitels geschildert habe –, die die meisten Forscher überhaupt erst an dieses Gebiet herangeführt haben, eine echte Wissenschaft entwickelt werden kann. Wenn das gelingt, würde die konventionelle Wissenschaft in die Erforschung des PSI integriert und damit das ganze Gebiet neu belebt. Unsere Kultur würde sich zum Positiven verändern, denn die Realität des Paranormalen würde zu einem Bestandteil unseres allgemeinen Welt- und Menschenbildes.

Diese Themen sind bei weitem nicht rein akademisch; denn wenn wir lernen wollen, wie wir das gegenseitige Morden und die Vergiftung unseres einzigen Planeten stoppen können, dann brauchen wir unbedingt ein neues Konzept vom Menschen. Mit dem alten materialistischen Weltbild ist uns dies nicht gelungen. Die mediale Forschung bietet jedoch die Chance zu einem neuen Weltbild. Und genau darum geht es in diesem Buch – darum und um einen Weg zu Aufbau und allgemeiner Akzeptanz dieses neuen Weltbildes.

Seit nahezu dreitausend Jahren besteht in der Philosophie ein wichtiger Konflikt. Es geht darum, wie viele Arten von Dingen es in Wirklichkeit gibt. Wahrscheinlich nahm alles im sechsten Jahrhundert v. Chr. mit den milesischen Vorsokratikern, darunter Thales und Anaximander, seinen Anfang. Sie waren der Auffassung, im Grunde bestünde alles aus einer einzigen Substanz (bei Thales war es das Wasser, bei Anaximander das apeiron, „das Unbegrenzte“). Daher gehorche in Wirklichkeit alles denselben Gesetzen und könne mit denselben Begriffen erklärt werden. Darauf folgte Pythagoras, der glaubte, dass Zahlen alles beherrschten. Damit wurde (unseres Wissens) zum ersten Mal von der Möglichkeit einer einheitlichen Feldtheorie3 gesprochen, also von der Denkbarkeit einer mathematischen Gleichung, die alle Aspekte der Wirklichkeit erklärt und miteinander verbindet.

Später, im vierten Jahrhundert v. Chr., behauptete Platon, die Wirklichkeit bestünde aus zwei sehr unterschiedlichen Arten von Dingen, und man brauche zwei unterschiedlich geartete Erklärungen, um sie zu beschreiben. Diese beiden Arten sind zum einen unsere Sinneswahrnehmungen (die sich ständig verändern) und zum anderen die Gegenstände unseres Denkens (die „Ideen“ oder „Formen“, die unveränderlich sind). Als Platon im Jahr 347 v. Chr. starb, übernahm der Mathematiker Speusippus die Leitung seiner philosophischen Schule, der Akademie in Athen. Speusippus folgte der Auffassung des Pythagoras, wonach es eine mathematische Theorie gibt, die alles erklärt. (Der Überlieferung nach soll über dem Eingang zur Akademie schon zu Platons Zeiten eine Inschrift gestanden haben, die besagte: „Lasse niemanden eintreten, der die Geometrie nicht beherrscht.“) Ein junger Schüler namens Aristoteles war damit nicht einverstanden. Er verließ die Akademie und eröffnete nach einiger Zeit, als Lehrer Alexanders des Großen, direkt neben Platons Akademie eine eigene, konkurrierende Schule, das Lyceum.

Das klingt nach antiker Geschichte (und ist es ja auch), hatte aber, wie dieses Kapitel noch zeigen wird, verheerende Wirkung auf die Humanwissenschaften, insbesondere auf die Psychologie und die mediale Forschung.

Das mittelalterliche Denken ging allgemein davon aus, dass zur Beschreibung der Wirklichkeit zwei sehr unterschiedliche Ansätze nötig seien: Sinneswahrnehmung, Verstand und Logik auf der einen, Glauben und Offenbarung auf der anderen Seite. Das Hauptproblem jener Zeit war es, wie die beiden zu versöhnen und welche Fragen mit welchem Ansatz zu beantworten seien. Thomas von Aquin (dessen wichtigstes Anliegen die Versöhnung des aristotelischen Denkens mit der römisch-katholischen Lehre war) glaubte, dass die erste Methode, Verstand und Sinneswahrnehmung, alle Fragen beantworten kann – mit Ausnahme von dreien. Diese drei, die sich nur durch Glaube und Offenbarung beantworten ließen, lauteten:

1.Wie etwas aus dem Nichts erschienen sein kann.

2.Die Dreieinigkeit Gottes.

3.Die Rolle Jesu bei der Erlösung der Menschheit.

Aus der Renaissance, mit ihrer Aufgeschlossenheit für neue Ideen in Verbindung mit dem fortwährenden Glauben an einen Gott, der alles erschaffen hat, entstand die Aufklärung, jene große Revolution des menschlichen Denkens, die zur modernen Wissenschaft geführt hat. Das Denken der Aufklärung fußte auf fünf Axiomen:

1.Es gibt eine vernünftige Ordnung der ewigen Wahrheiten. Es gibt nur eine einzige solche Ordnung. Alle Teile dieser Wahrheit passen zusammen und widersprechen einander nicht. Alles funktioniert nach denselben Prinzipien. Das war schon immer so und wird auch immer so sein.

2.Der menschliche Geist kann diese Wahrheit sowohl in ihren Teilen als auch als Ganzes erkennen – mithin sowohl die Bäume als auch den Wald sehen.

3.Der einzige Weg zur Wahrheit führt über die Objektivierung der Wirklichkeit und über vernünftige Beobachtung, ohne Gefühle, rein mit Verstand, Logik und Mathematik.

4.Der Mensch kann in Übereinstimmung mit diesem Wahrheitsmuster handeln. Wenn er das tut, verbessert sich sein Leben beträchtlich.

5.Das Universum funktioniert nach einer einheitlichen Wirkungsweise, von den Bewegungen der Feldmaus bis zu denen der entferntesten Galaxien. Da Newton gezeigt hat, dass diese Vernunft mechanisch in den Bewegungen der Planeten ebenso wirkt wie in den Zahnradgetrieben auf der Erde, funktioniert das ganze Universum nach den Gesetzen der Mechanik. Und Maschinen haben keinen freien Willen. Jede Handlung ist unabänderlich und festgelegt.

Sozusagen erwachsen wurde die Wissenschaft im 17. und 18. Jahrhundert, einer Zeit, in der der Kosmos nach dem allgemein vorherrschenden Weltbild immer noch von einem Gott erschaffen worden war, allerdings von einem rationalen Gott. Das galt als eine Frage des gesunden Menschenverstandes. Der Kosmos war daher rational, und der Begriff rational hatte nur eine einzige Bedeutung. Aufgabe der Wissenschaft war es, diesen einheitlichen, rationalen Aufbau des Universums zu verstehen. Nach dieser Auffassung, die damals in der westlichen Kultur Standard war, funktionierten alle Dinge, da sie ja von einem rationalen Gott erschaffen worden waren, auf dieselbe Weise. Selbst die Bibel schien diese Auffassung zu bestätigen. Das erste Buch Mose erzählt, wie Gott nach der Sintflut „seinen Bogen in die Wolken setzt“ zum Zeichen, dass fortan das Universum logisch und beständig ablaufen und „nicht aufhören soll Saat und Ernte, Frost und Hitze, Sommer und Winter, Tag und Nacht“.4 Die Gestalt der Wirklichkeit und das, was mit ihr geschah, sollte nicht mehr durch Launen oder Wutanfälle bestimmt werden. Heute hat die Schulwissenschaft zwar den Glauben an Gott verworfen, hält aber immer noch an der Auffassung fest, dass es eine einzige Vernunft gibt, die den ganzen Kosmos regiert. Jeder, der dies bezweifelt, gilt als abergläubischer Häretiker.

Fester Bestandteil der immer weitere Bereiche umfassenden Wissenschaften und unseres Wissensgebäudes wurden also die Annahmen, dass die Welt rational ist und es für den Begriff rational nur eine einzige Bedeutung gibt; sowie dass die Welt in ihrer Rationalität einheitlich ist und alle Phänomene in ihr auf dieselbe Weise erkannt werden können. Es gibt nur eine einzige Rationalität, und alles, von Atomen bis zu Galaxien, von Träumen bis zu Maschinen, vom menschlichen Verhalten bis zum Blitz am Himmel, ist mit ihren Begriffen erklärbar. Alles funktioniert auf dieselbe Weise. Dieses allem Anschein nach einheitliche Verständnis zu vertiefen und zu erweitern, ist die Aufgabe der Wissenschaft.

Im Laufe der Wissenschaftsgeschichte wurde die Vorstellung von der einen Rationalität allmählich klarer und genauer, und einige ihrer grundlegenden Gesetze wurden formuliert. Die ersten wissenschaftlichen Fortschritte wurden in den Erfahrungsbereichen erzielt, in denen die Dinge sicht- und greifbar sind. In diesen Bereichen konnten Dinge addiert und subtrahiert werden, und daraus ergab sich offensichtlich folgender Schluss: Da ein Teil des Universums quantitativ ist, muss das ganze Universum quantitativ sein. Daraus wurde wiederum geschlossen, dass auf einem wissenschaftlichen Gebiet Fortschritte nur in dem Maße zu erzielen sind, in dem seine Daten quantifiziert werden können. Das wurde zu einem Lehrsatz wissenschaftlichen Glaubens. Dieser Glaube war so stark, dass der Mensch nicht mehr erkannte, dass die Quantifizierung (Zählen und Messen) eine menschliche Handlung ist, die auf unser Wissen von der Wirklichkeit angewandt wird. Leibniz‘ berühmter Satz „Gott ist Mathematiker“ verlieh dieser Ansicht klaren Ausdruck. Eine Vorstellung, die Pythagoras vor zweitausendfünfhundert Jahren als Erster formuliert hatte, wurde nun als Naturgesetz akzeptiert.

Der logische nächste Schritt war dann die Behauptung, dass alles, was gezählt und gemessen werden kann, quantifizierbar ist und keinen freien Willen hat. Zwei Murmeln plus zwei Murmeln sind vier Murmeln. Sie können sich nicht spontan dazu entschließen, fünf Murmeln zu sein.

Ein solcher Ansatz ließ sich ganz offensichtlich auch in der neuen Wissenschaft Physik praktizieren. Die Humanwissenschaften, die gegen Ende des 19. Jahrhunderts entstanden, übernahmen diese Ideen. Im Lichte der ungeheuren Fortschritte, die in der Physik im Laufe der vergangenen hundert Jahre durch die Anwendung dieser Ideen erzielt worden waren, erschien es ganz offensichtlich, dass die Physik über die richtigen Methoden und Axiome für die wissenschaftliche Arbeit verfügte. Daher übernahmen die humanwissenschaftlichen Forscher also Konzepte, die zu den Forschungsgegenständen der Physik des 19. Jahrhunderts passten, für ihren eigenen Forschungsgegenstand jedoch völlig ungeeignet waren. Das führte zu einigen recht seltsamen Schlussfolgerungen. Die allgemeine Ansicht, wonach die Mechanik das Universum regiere, resultierte in mehreren sehr unglücklichen Ungereimtheiten.

Freud. Die Psyche ist wie eine Hydraulikpumpe, und alles in ihr ist mechanisch erklärbar. Wird ein Gefühl aus dem Bewusstsein gepresst, so kann es an anderer Stelle als Sublimation oder Reaktionsbildung heraussprudeln. Das half zwar, gewisse pathologische Zustände zu erklären, ließ aber sehr Vieles unberücksichtigt. Man bemerkte durchaus, dass damit Dinge wie Genie, Liebe, Mitgefühl, Kreativität und Würde nicht zu erklären waren, aber diese Überlegungen konnten Freuds grundlegende Vorstellungen nicht verändern oder beeinflussen.

Marx. Die Gesellschaft funktioniert wie ein Uhrwerk – unaufhaltsam, mechanisch. Die Geschichte läuft auf wissenschaftlich analysierbare Weise nach der Dialektik des Klassenkampfes ab. Mit dieser Theorie sollte sich angeblich zumindest das nächste Jahrhundert vorhersagen lassen. Doch nichts ließ sich damit vorhersagen, noch nicht einmal, wo der Kommunismus sich zuerst entwickeln würde (Marx glaubte, er würde Russland erst erreichen, nachdem er im Westen triumphiert habe), nicht die Tragik und verheerende Geschichte des Stalinismus in der Sowjetunion, nicht der Aufstieg des Faschismus und ebenso wenig die meisten anderen großen gesellschaftlichen Entwicklungen jener Zeit.

Darwin. Darwin selbst hat zwar praktisch nichts zur Evolution gesagt, wohl aber seine Anhänger. Arten entwickeln sich, setzen sich durch oder sterben aus nach mechanistischen Grundsätzen. Willkürliche Veränderungen und Mutationen bestimmen die Entstehung neuer Arten – und erklären sie vollständig. Diese Theorie muss bis an ihre Grenzen überdehnt werden, um zum Beispiel die Entstehung von Eiern zu erklären (um ein funktionstüchtiges Ei hervorzubringen, musste eine ungeheure Anzahl von Mutationen gleichzeitig auftreten), und selbst bei solch intellektueller Überdehnung ist sie nicht überzeugend. Die Wissenschaft gibt diese Tatsache nur sehr ungern zu, da sie den Gout des neuerdings sogenannten „intelligenten Designs“ hat, aber wir müssen uns von der Vorstellung lösen, dass wir lediglich die Wahl zwischen zwei Erklärungsmöglichkeiten haben, Gott oder Darwin. Dies ist eine extrem vereinfachende Sicht der Dinge. Sie taugt hervorragend zum Streiten, aber ganz und gar nicht zum Erkenntnisgewinn.

Pawlow und Watson (sowie später Skinner). Der Schaden, der einer sich eben entwickelnden wissenschaftlichen Psychologie durch diese grundlegenden Grundannahmen zugefügt wurde, war enorm. Wenn das ganze Universum nach denselben Prinzipien funktioniert und wenn das, was wir sehen und berühren können, quantitativ ist, dann müssen auch Geist und Psyche quantitativ und vorherbestimmt sein sowie auf eine Kombination verschiedener Grundelemente reduziert werden können. Was ein Mensch empfindet und wie er handelt, wird durch Konditionierung festgelegt. Die momentane Situation – „der Zustand des Systems“ – bestimmt uneingeschränkt, was als Nächstes kommt.

Alle diese Weltbilder setzen voraus, dass das Universum auf einer mechanistischen Grundlage funktioniert. Da aber Maschinen nicht zu zielorientiertem Handeln in der Lage sind, wurde „Teleologie“ – die Vorstellung, dass es im Universum Sinn und Zweck gibt – in der Wissenschaft zu einem Schimpfwort und ist es bis heute. Nach dieser Auffassung machen Sie sich etwas vor, wenn Sie glauben, dass Sie die Straße entlang gehen, um eine Zeitung zu kaufen. Sowohl zielorientiertes Verhalten als auch der freie Wille, seinem Wunsch, ein bestimmtes Ziel zu erreichen, gemäß zu handeln, wurden als Einbildung angesehen, wenngleich als eine sehr mächtige. Bereits im 18. Jahrhundert hatte dieser Glaube eine solche Kraft, dass Samuel Johnson sagen konnte: „Alle Theorie spricht gegen den freien Willen; alle Erfahrung spricht dafür.“

Dieses Dogma führte zu sehr viel vergeblicher Mühe in der Psychologie und ebenso zu sehr viel Dummheit. Wäre ich Mitte des 20. Jahrhunderts in einem Lehrsaal aufgestanden und hätte behauptet: „Alle Menschen sind vorherbestimmt und haben keinen freien Willen“, dann wäre ich wahrscheinlich Dekan meiner Fakultät geworden. Hätte ich andererseits aber gesagt: „Ich bin vorherbestimmt und habe keinen freien Willen; ich bin ein Roboter, der willenlos seiner Konditionierung folgt“, dann hätte man mich sehr wahrscheinlich zum Psychiater geschickt.

Und wehe dem armen Psychoanalytiker, der nach einem solchen Ansatz einen Patienten behandelt und zugleich selbst eine Analyse macht. Solange er auf der Couch liegt, ist alles, was er tut oder getan hat, vorherbestimmt, und der freie Wille ist kein relevanter Begriff, sondern im besten Falle eine Illusion. Nach seiner Sitzung steht er auf und begibt sich in den Therapeutensessel. Ein Patient kommt herein, und plötzlich ist der Patient derjenige, der vorherbestimmt ist, und der Analytiker hat einen freien Willen. Jetzt kann er nach bestem Wissen und Gewissen sprechen und handeln.

Vor einigen Jahren besuchte ich einen Psychiater, der diese Überzeugung vertrat. Sein Hobby war die Fotografie, und an seinen Wänden hingen mehrere wunderschöne Fotos, die er selbst aufgenommen hatte. Unsere Wege trennten sich, als klar wurde, dass er seine Fotografien als Ausdruck seiner Kreativität und seines freien Willens verstand. Zugleich betrachtete er meine Nebenbeschäftigung in der Forschung als Folge meiner Zwänge, die wiederum davon herrührten, dass … (wir werden das jetzt nicht weiter vertiefen). Daher hatte ich also keinen freien Willen. Als klar wurde, dass wir uns in diesem Punkt nicht einig werden würden, beendeten wir unsere Beziehung – von meiner Seite aus freundschaftlich.

Es ist weitgehend eine Folge dieses strengen Dogmas, wonach Geist und Psyche wie eine Maschine operieren, dass die orthodoxe Psychoanalyse heute nur noch von historischem Interesse ist. Der Historiker Will Durant bemerkte einmal: „Die Psychoanalyse ist keine Kunst und keine Wissenschaft, sondern die Verteidigungsrede eines Helden.“ Dennoch können wir uns denken, dass Freud, jener tiefsinnige, leidende, unglaublich mutige Riese, der sehr wohl bewiesen hat, dass er innerlich wachsen und sich verändern kann, würde er heute leben, wahrscheinlich Anti-Freudianer wäre!

Ein weiterer Teil des Weltbildes der Aufklärung entwickelte sich infolge von René Descartes‘ Auffassung, Wissenschaft sei real und könne nur dann Fortschritte erzielen, wenn ihre Daten quantifizierbar seien. Eine nicht-quantitative Wissenschaft tauge nur zum Hobby für wohlhabende Müßiggänger. Descartes verstieg sich sogar zu der Behauptung, es sei sinnlos, die Geschichte zu studieren, weil deren Daten nicht quantifizierbar seien. Selbst wenn man sein ganzes Leben lang die römische Geschichte erforsche, so wisse man am Ende doch nicht einmal so viel darüber wie „Ciceros Dienstmädchen“.

Diese Ansicht machte sich eine bedeutende psychologische Schule – der Behaviorismus – zu eigen und entwarf angesichts der Erkenntnis, dass sich das Bewusstsein nicht quantifizieren lässt, eine dermaßen sonderbare Lösung, dass es schon bald hieß: „Der Behaviorismus muss nicht widerlegt, sondern er muss geheilt werden.“ Die Lösung der Behavioristen lautete, dass sie in ihren Gesprächen untereinander und in ihrem professionellen Handeln als Psychologen so tun wollten, als gäbe es das Bewusstsein nicht. Eine Wissenschaft, die vor ihrem wichtigsten Punkt (oder überhaupt vor irgendwelchen Daten) davonläuft, ist sehr armselig. Das ist in etwa so, als wolle die Astronomie so tun, als gäbe es keine Sterne, weil derlei Phänomene nicht zu ihren Theorien passten.

Der katastrophale Zustand der Psychologie ist allgemein bekannt. Nach über hundert Jahren, in denen Tausende Frauen und Männer