Über Fang Fang

Foto: Wu Baojian

Fang Fang ist eine der bekanntesten Schriftstellerinnen Chinas. Sie wurde 1955 geboren und lebt seit ihrem zweiten Lebensjahr in Wuhan. In den letzten 35 Jahren hat sie eine Vielzahl von Romanen, Novellen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht. Stets spielten die Armen und Entrechteten in ihren Werken eine große Rolle. 2016 veröffentlichte sie den von der Kritik gefeierten Roman Weiches Begräbnis, für den sie mit dem renommierten Lu-Yao-Preis ausgezeichnet wurde.

 

Der Übersetzer

Michael Kahn-Ackermann, Jahrgang 1946, studierte Sinologie an der LMU München und in Peking. 1988 war er Gründungsdirektor des Goethe-Instituts Peking. Er lebt in Nanjing und hat diverse chinesische Werke übersetzt, zuletzt Zhao Tingyang Alles unter dem Himmel (2020).

Fußnoten

Der Lungenspezialist Zhong Nanshan, der 2003 durch seine Rolle bei der Bekämpfung von SARS berühmt wurde, spielte auch bei der Bekämpfung von Covid-19 in Wuhan eine große Rolle. Am 20.01.2020 erklärte er öffentlich, dass das Virus von Mensch zu Mensch übertragbar ist. [Alle Fußnoten Anmerkungen des Übersetzers.]

Fang Fang nimmt Bezug auf Ausschreitungen chinesischer Studenten in Australien im Sommer 2019. Sie beschimpften dabei die Protestbewegung in Hongkong als »Vaterlandsverräter«. Die Reaktion der australischen Behörden löste wütende Kommentare chinesischer Nationalisten aus.

Gemeint ist eigentlich das Netz-Unternehmen Sina Corporation, das neben sina.com, einer Website mit Nachrichten vor allem aus der Wirtschaft, auch den größten chinesischen Mikroblogging-Dienst »Weibo« betreibt. Fang Fangs Tagebuch erschien ursprünglich als Blog auf Weibo, sie wechselte wegen mehrfacher Sperrung ihres Blogs durch die Zensur auch auf andere Plattformen.

Ein Dienst, mit dem man auf WeChat und anderen Messenger-Diensten Nachrichten an Chatgruppen o.ä. verschicken kann, die nur von einer bestimmten Person gelesen werden können.

Wichtigster chinesischer Feiertag (auch »Frühlingsfest« genannt), dessen Termin nach dem traditionellen chinesischen Mondkalender berechnet wird und dessen Datum sich somit jährlich ändert. Da dieses Fest für Familientreffen genutzt wird, entsteht jedes Jahr in China eine riesige Reisewelle.

Markt für Fisch, Meeresfrüchte, aber auch Wild und exotische Tiere in Hankou. Auch bekannt als »Huanan-Fischmarkt«. Gilt als Ausbruchsort der Covid-19-Epidemie.

Auch Kanton war stark von der Covid-19-Epidemie betroffen.

Gemeint ist die erste Pressekonferenz der Provinzregierung von Hubei nach der Abriegelung der Provinz und der Bekanntgabe, dass das SARS-CoV-2-Virus von Mensch zu Mensch übertragen wird, am 25.01.2020. Die auf dem Podium sitzenden Funktionäre nahmen vor Beginn der Konferenz ihre Schutzmasken ab und gaben vage und unbefriedigende Erklärungen ab.

Die Währung in der VR China heißt Renminbi (RMB). Ihre Einheiten sind 1 Yuan = 10 Jiao = 100 Fen. Zum Zeitpunkt der Übersetzung wurde ein Yuan mit 0,13 Euro gehandelt. Das Durchschnittsgehalt eines Beschäftigten in Chinas liegt laut Statistiken bei etwa 6900 Yuan im Monat. Der Yuan wird In der Umgangssprache »Kuai« genannt.

Eine Insel im äußersten Süden Chinas. Wegen ihres tropischen Klimas und der Strände besitzen dort viele Chinesen Ferienwohnungen.

Die Verwaltung des Stadtviertels Baibuting im Bezirk Jiang’an lädt traditionell zum Neujahrsfest seine Bewohner zum »Festmahl der 10000« ein. Die Veranstaltung ist auf mehrere Orte verteilt.

Am 27.01.2020 besuchte der chinesische Ministerpräsident Li Keqiang Wuhan. Ein im Netz gepostetes Video zeigt, wie der Wuhaner Bürgermeister Zhou Xianwang beim Empfang blitzschnell seine Mütze abnahm und sie mit Hilfe eines Sekretärs verschwinden ließ, als er sah, dass Li keine Mütze trug. Der Vorgang wurde als Ausdruck von Kriecherei und Heuchelei interpretiert.

Gefüllte Teigtaschen, die in verschiedenen chinesischen Küchen als Hauptmahlzeit oder Zwischenmahlzeit dienen.

Das Notkrankenhaus wurde innerhalb von zehn Tagen in Fertigbauweise für 1500 Betten geplant, gebaut und eingerichtet und am 6.2. in Betrieb genommen. Das noch größere Leishenshan-Krankenhaus innerhalb von 18 Tagen. Beide Krankenhäuser wurden von medizinischem Personal der Armee betrieben.

Chinesische Schriftstellerin.

»Hitze« und »Kälte« sind zentrale Begriffe der traditionellen chinesischen Medizin (TCM), sie haben jedoch nur bedingt mit Temperatur zu tun. Kollidiert eine Person, die zu viel »Yang« (Hitze) im Körper hat, mit »Yin« (Kälte), können sowohl »kalte« (Körperschmerzen, Husten) als auch »heiße« Symptome (Durst, trockener Stuhlgang) auftreten.

Alle Institutionen, an denen Chinesen studieren oder fest angestellt arbeiten, insbesondere staatliche, werden als »Einheit« bezeichnet. Sie bildet neben der Familie die Basisstruktur der Gesellschaft. Ihre Funktion geht über die eines Arbeitgebers in unserem Verständnis weit hinaus.

Hier ist die Versorgung der kommunistischen Partisanenarmee im Krieg gegen Japan durch die örtliche Bevölkerung gemeint.

Stadt im Nordosten Chinas, Hauptstadt der Provinz Liaoning.

Ein Vertreter eines nach Wuhan entsandten Untersuchungsteams erklärte am 10.01. im Zentralfernsehen, dass das Virus »nicht von Mensch zu Mensch übertragbar« und »kontrollierbar« sei.

Feldzug der Kuomintang gegen separatistische Warlords im Norden 192628, endete mit der Einigung Chinas unter Tschiang Kai Shek.

Provisorische Krankenhäuser, die in bestehenden Gebäuden, z.B. in Konferenz- oder Ausstellungsgebäuden eingerichtet oder aus Container-Elementen zusammengesetzt wurden. Sie wurden als »Archen« bezeichnet, ihre Räume als »Kabinen«.

Ein bekannter Unternehmer aus Hubei, der während der Epidemie Gebäude zur Errichtung von fünf Behelfskrankenhäusern bereitstellte.

Li Wenliang, Augenarzt am Zentralkrankenhaus in Wuhan, gab die Information über ein neu entdecktes SARS-ähnliches Virus am 30.12.2019 an Kollegen weiter, um auf die mögliche Gefahr einer Epidemie aufmerksam zu machen. Nachdem die Information sich im Internet verbreitete, wurde er am 3. Januar von der Polizei verwarnt und musste sich verpflichten, »keine Gerüchte mehr zu verbreiten«. Sein Tod löste in ganz China Trauer und Bestürzung aus. Nach offiziellen Angaben starb er am 7.2. um 02:58 Uhr. Dies ist allerdings umstritten. Tatsächlich soll er bereits am 6.2. gegen 23:00 Uhr verstorben sein.

Traditionelles chinesisches Fest am 15. Tag des ersten Monats des Jahres nach dem Mondkalender. Von alters her erfreut man sich an diesem Tag am Anblick von Laternen.

Jährlich stattfindende Versammlung der Parlamente und der beratenden Konsultativkonferenzen auf nationaler, Provinz- und kommunaler Ebene.

Vers aus einem Gedicht des Dichters Wang Changling (698757).

Lei Feng (19401962), der als Soldat der Volksbefreiungsarmee zahlreiche gute Taten vollbrachte, wurde nach seinem Tod zum Modell des guten, hilfsbereiten Menschen stilisiert. Maos Forderung »Von Lei Feng lernen« wurde zu einem Grundpfeiler der Pädagogik. Menschen, die anderen Gutes tun, werden bis heute als »lebender Lei Feng« bezeichnet.

Schriftstellerin und Regisseurin. Während der »Kulturrevolution« (196676) wurden städtische Jugendliche nach Abschluss der Mittelschule aufs Land, häufig in entlegene und extrem arme Gebiete, zur »Umerziehung durch einfache Bauern« verschickt. Diese Erfahrung ist für eine ganze Generation von Chinesen prägend.

Zur Umgehung der Zensur.

Gemeint sind Weltanschauung, Werteverständnis und Lebenseinstellung.

Der Parteisekretär der Provinz Hubei wurde durch Ying Yong, zuvor Bürgermeister von Shanghai, der Parteisekretär von Wuhan durch Wang Zhonglin, zuvor Parteisekretär von Jinan, der Hauptstadt der Provinz Shandong, ersetzt.

Zibetkatzen gelten als Überträger des SARS-Virus der Epidemie von 2003.

Anspielung auf ein Gedicht des Dichters Li Bai (701762).

Ein Unternehmen für Kurier- und E-Commerce-Lieferungen.

Ein Internet-VIP.

Bedeutender zeitgenössischer Dichter (19641989).

Paraphrase eines Verses im Gedicht »Sieben Schritte« des Dichters und Prinzen Cao Zhi (192232).

Chinesische Schriftstellerin.

Im Dialekt der Provinz Hunan wird der Konsonant »h« als »f« und »n« als »l« ausgesprochen

Fang Fangs 2016 erschienener Roman Weiches Begräbnis, der die Landreform in den frühen fünfziger Jahren in China behandelt, wurde von Nationalisten heftig attackiert. Er ist in China nicht mehr erhältlich.

»Pagode des gelben Kranichs«, ein Wahrzeichen der Stadt. Der Bau stammt aus dem 3. Jahrhundert v. Chr. und ist mehrfach abgebrannt. 1985 völliger Neubau an anderer Stelle.

Ein Begriff aus der politischen Propaganda: Die Benutzung von scheinbar die offizielle Parteilinie unterstützenden Worten und Zitaten, um sie zu kritisieren.

Bekannter Fachmann für klassische chinesische Literatur.

Chinesischer Ministerpräsident von 19982003, zählte zu den führenden Vertretern der Politik der Öffnung und Reform.

Zitat aus dem Gedicht »Jiangcheng zi« des songzeitlichen Dichters Liu Chenweng (12331297).

Plastischer Ausdruck für das Abwälzen von Verantwortung, anderen den Schwarzen Peter zuschieben.

Deng Xiaoping (19041997), chinesischer Politiker, »Vater der Öffnungs- und Reformpolitik«.

Vor allem in Nordchina beliebte gedämpfte Weizenmehlbrötchen. »Mantou« haben eine rundliche Form, »Hua Juan« die einer Blume.

Mitglied des nationalen Zentrums zur Epidemieprävention und Kontrolle.

Eine aus dem Frauengefängnis Wuhan entlassene Frau, die sich während der Haftzeit infiziert hatte, gelangte trotz der Sperre von Wuhan nach Peking, wo sie verhaftet wurde. Der Fall erregte großes Aufsehen.

Eine von 24 Perioden des Sonnenjahres im traditionellen chinesischen Mondkalender.

Zhou Enlai (18981976), wichtiger Führer der Kommunistischen Partei Chinas und von 1949 bis zu seinem Tod Ministerpräsident der VR China. Nach seinem Tod am 8.1.1976 kam es zu Protesten gegen die linksextreme Fraktion um Maos Frau Jiang Qing, die sogenannte »Viererbande«, die auf seinen Sturz hingearbeitet hatte. Am 5.4.1976 kam es zu offenen Protesten.

Vers aus einem Gedicht, das vom jungen Chinesen Wang Lishan anonym am Denkmal für die Helden des Volkes auf dem Tian’anmen angebracht wurde und weite Verbreitung fand.

Yu Luoke (19421970) wurde wegen seines Traktats Abstammungslehre hingerichtet, in dem er die Exzesse der Kulturrevolution kritisierte.

Am 5. März 2020 besuchte die chinesische Vizeministerpräsidentin Sun Chunlan ein Wohnviertel in Wuhan. Speziell für diesen Besuch vorbereitete Dienstleistungen und kurzfristig aufgestockte Warenbestände in den umliegenden Läden führten zu Protesten von Anwohnern, die ihrem Ärger mit Rufen aus den Fenstern Luft machten.

Jiang Yanyong war 2003 der Arzt in Peking, der als Erster auf die SARS-Erkrankung aufmerksam machte. Zhang Wenkang war seinerzeit Vizegesundheitsminister und wollte die Nachricht geheim halten.

Wörter, Bezeichnungen, Begriffe oder Namen, die von den Zensurbehörden zumeist als politisch, aber auch moralisch anstößig betrachtet und zensiert werden, und von den Medien, aber auch in der privaten Netzkorrespondenz nicht verwendet werden dürfen.

Öffentliche Veranstaltungen während der Kulturrevolution, bei denen sogenannte Klassenfeinde beschimpft, gedemütigt und oft auch körperlich misshandelt wurden.

Vers aus einem Gedicht der Dichterin Li Qingzhao (10841155).

Am 10.3.2020 enthüllte die Leiterin der Notfallambulanz des Zentralkrankenhauses in einem Interview, dass sie bereits am 27.12.2019 das neuartige Coronavirus festgestellt und dies der zuständigen Abteilung des Krankenhauses gemeldet habe. Sie habe diese Information unter anderem auch an Li Wenliang weitergegeben. Das Interview wurde umgehend gelöscht, doch von Netizens in unterschiedlichsten Fassungen immer wieder neu gepostet.

Xu Chi (19141996), chinesischer Dichter, Essayist, Journalist. Bi Ye (19162008), chinesischer Essayist. Beide waren Vizevorsitzende des Schriftstellerverbandes in Hubei.

Kontrollinstitution der Kommunistischen Partei Chinas, die die Einhaltung parteiinterner Regeln überwacht und Korruption oder Fehlverhalten höherer Parteimitglieder sanktioniert.

Nach chinesischen Bestattungsbräuchen müssen die Hinterbliebenen alle sieben Tage bis zum 49. Tag nach dem Verscheiden eine Zeremonie für den Verstorbenen veranstalten.

Zitat aus einem Martial-Arts-Roman des taiwanesischen Autors Gu Long (19381985).

Ein Gedicht des Zenmeisters Hui Yuan (11031176).

Yan Geling, US-amerikanische Schriftstellerin und Drehbuchautorin chinesischer Herkunft.

Vers aus einem Gedicht der Dichterin Tang Yuan (11281156) über ihre unglückliche Liebesbeziehung mit ihrem Exmann, dem berühmten Dichter Lu You (11251210).

Li Si (284208 v. Chr.), wichtiger Politiker und politischer Denker der Qin-Dynastie (221207 v. Chr.). Qu Yuan, bedeutender Dichter (340278 v. Chr.). Beide stammen aus Hubei.

In Deutschland als Zweiter Japanisch-Chinesischer Krieg (19371945) bekannt.

Ein Slogan der von Mao Zedong in Gang gesetzten »Großen Proletarischen Kulturrevolution« (19661976), ursprünglich gegen Kritiker der Kulturrevolution gerichtet. Später wurde der Slogan zur Anfangszeile eines populären kulturrevolutionären Volksliedes.

Bekannter chinesischer Historiker und Professor für Sprache, Literatur und Kultur Chinas.

Der Untersuchungsbericht kam zu dem Ergebnis, dass Li Wenliang zwar kein Fehler vorzuwerfen und die Verwarnung zu Unrecht erfolgt sei, er aber nicht »in vollständiger Kenntnis der Situation« gehandelt habe.

Auf Empfehlung des Untersuchungsberichts wurden die beiden Polizisten, die Li Wenliang verwarnt hatten, disziplinarisch bestraft. Sie werden allgemein als »Bauernopfer« betrachtet, da man davon ausgeht, dass sie nicht aus eigenem Antrieb handelten.

Professor für chinesische Sprache, Literatur und Kultur an der Peking-Universität.

Nationalistischer Blogger, der aufgrund einer Lobpreisung des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping von diesem im Oktober 2014 wegen »Verbreitung positiver Energie« zum Vorbild erhoben wurde. Das stieß bei vielen chinesischen Intellektuellen auf Kritik und Spott, während andere in den Lobgesang auf den Blogger einstimmten. »Positive Energie« ist seither eine häufig erhobene politische Forderung.

Internetforum mit stark nationalistischen Tendenzen und einer großen Anzahl von oft aggressiven Followern, die häufig andere Internetforen überfluten.

Vers aus einem Gedicht des Dichters Bai Juyi (772846).

Chinesische Fernsehserie aus dem Jahr 2009, die auf einem Spionageroman basiert.

Anspielung auf ein zum politischen Slogan gewordenes Zitat von Xi Jinping (»den anfänglichen Traum nicht vergessen«), das wiederum den Dichter Bai Juyi (772846) zitiert.

Zitat aus dem 2. Brief des Paulus an Timotheus.

Generalgouverneur von Hunan und Hubei (18371909) gegen Ende der Qing-Dynastie, Reformer und Schöpfer der Formel: »Für das Substanzielle die chinesische Kultur, für das Nützliche den Westen studieren.«

I

Als ich meinen Blog auf sina.com erstellt habe, um die ersten Zeichen niederzuschreiben, habe ich im Traum nicht daran gedacht, dass weitere 59 Einträge folgen würden, und ebenso wenig, dass mehrere zig Millionen Leser Tag für Tag bis Mitternacht wach bleiben würden, um den neuesten Eintrag meines Tagebuchs zu lesen. Viele, sehr viele haben mir berichtet, dass sie erst nach der Lektüre beruhigt einschlafen konnten. Am allerwenigsten habe ich daran gedacht, dass diese Aufzeichnungen in einem Buch versammelt sein würden, das innerhalb so kurzer Zeit im Ausland erscheint.

Der Zufall wollte es, dass am gleichen Tag, an dem ich meinen letzten Eintrag schrieb, die Regierung bekannt gab, dass die Abriegelung Wuhans am 8. April enden würde.

Wuhan war 76 Tage von der Außenwelt abgeriegelt. Der Tag der Öffnung der Stadt war auch der Tag, an dem mich die Nachricht erreichte, dass mein Tagebuch auf Englisch als Buch erscheinen wird. Auch Ausgaben in mehreren anderen Sprachen sind in Vorbereitung.

Das alles ist wie in einem Traum, als habe es der Himmel selbst arrangiert.

Nachdem der chinesische Facharzt Zhong Nanshan1 am 20. Januar bekannt gab, dass die durch ein neuartiges Virus verursachte Lungenentzündung in Wuhan von Mensch zu Mensch übertragbar sei und sich bereits 14 Mitarbeiter des medizinischen Personals der Stadt infiziert hätten, war ich zuerst wie vor den Kopf geschlagen und anschließend wütend. Die Bekanntmachung widersprach allem, was zuvor gesagt und getan worden war. Die offiziellen Medien hatten uns informiert, dass das Virus »nicht von Mensch zu Mensch übertragbar« und »kontrollierbar und eindämmbar« sei. In der Bevölkerung kursierten allerlei Gerüchte, man sprach von SARS.

Als ich erfuhr, dass die Krankheit eine Inkubationszeit von ungefähr 14 Tagen hat, begann ich sehr kühl zu rekapitulieren, mit welchen Personen ich in dieser Zeit Kontakt gehabt hatte, und zu überlegen, ob die Möglichkeit bestand, dass ich mich angesteckt haben könnte. Ich hatte in dieser Zeit dreimal Bekannte im Krankenhaus besucht und die ersten beiden Male keine Schutzmaske getragen. Ich hatte sieben Tage zuvor an einem Treffen im Haus einer Freundin teilgenommen und mit Familienangehörigen in einem Restaurant gegessen. Am 16. Januar hatten Handwerker in meiner Wohnung einen neuen Heizkessel für die Zentralheizung installiert und getestet. Am 19. Januar war meine Nichte mit ihrem Sohn in die Stadt gekommen, um ihre Eltern zu besuchen, und mein ältester Bruder und seine Frau hatten mich, meinen drittältesten Bruder und dessen Frau zu sich zum Essen eingeladen. Zum Glück kursierte da bereits das Gerücht von einem neuen SARS-Ausbruch, deswegen trugen wir auf der Straße Schutzmasken.

Am 22. Januar, dem Vorabend der Absperrung der Stadt, kehrte meine Tochter aus Japan nach Wuhan zurück. Ich holte sie um zehn Uhr abends vom Flughafen ab. Auf den Straßen waren kaum noch Autos und Passanten zu sehen. Die Leute an den Ausgängen des Flughafens trugen zum größten Teil Schutzmasken, die Atmosphäre war angespannt, die Menschen wirkten bedrückt, keine der üblichen lautstarken und von Gelächter begleiteten Begrüßungen waren zu hören.

In diesen Tagen waren die Wuhaner von nervöser und panischer Anspannung erfasst. Bevor ich auf dem Weg zum Flughafen das Haus verließ, schrieb ich einer Bekannten, ich hätte ein Gefühl, als begebe ich mich »in schneidenden Wind und eisiges Wasser«, wie es in einem Gedicht heißt. Da das Flugzeug Verspätung hatte, war es bereits nach elf, als ich meine Tochter in Empfang nahm.

Mein Exmann hatte in der Woche zuvor mit meiner Tochter gegessen. Ein paar Tage später erzählte er mir, dass mit seiner Lunge etwas nicht in Ordnung sei. Ich bekam sofort heftiges Herzklopfen. Wenn er sich mit dem neuen Virus infiziert hatte, konnte er auch meine Tochter angesteckt haben. Nachdem ich sie über diese Möglichkeit informiert hatte, beschlossen wir, dass ich sie in ihre Wohnung bringen und sie dort wenigstens eine Woche in Quarantäne bleiben würde. Das Neujahr würden wir getrennt zubringen, jeder für sich. Ich würde ihr Essen vorbeibringen, da sie, gerade zurückgekehrt, keinerlei Vorräte in der Wohnung hatte. Im Wagen trugen wir beide Schutzmaske. Anders als sonst berichtete sie nicht

Nachdem ich meine Tochter vor ihrer Wohnung abgesetzt hatte, tankte ich den Wagen voll. Es war ein Uhr, als ich nach Hause kam. Ich startete auf der Stelle meinen Computer und erfuhr auf diesem Weg von der am nächsten Tag beginnenden Abriegelung der Stadt. Obwohl manche Leute bereits früher davon gesprochen hatten, überstieg es meine Vorstellungskraft, wie man eine derart riesige Stadt von der Außenwelt abriegeln könnte. Aber nun sah ich den Befehl zur Absperrung vor mir, und ich begriff, dass die Ansteckungsgefahr in Wuhan ein extrem ernsthaftes Stadium erreicht haben musste.

Am nächsten Tag ging ich raus, um Schutzmasken und Lebensmittel zu kaufen. Es herrschte eine Eiseskälte. Noch nie hatte Wuhan einen so leergefegten Eindruck gemacht. Angesichts dieser Eiseskälte überkam mich eine tiefe Trauer, die Leere der Straßen kroch in mein Innerstes. Es war ein Gefühl, wie ich es bisher nicht gekannt hatte. Die Ungewissheit über das Schicksal der Stadt, die Ungewissheit, ob meine Familienangehörigen und ich uns infiziert hatten, und die ungewisse Zukunft erfüllten mich mit schwer zu beschreibenden Gefühlen von Angst und Anspannung.

In den folgenden Tagen unternahm ich mehrfach Versuche, Schutzmasken zu kaufen, und erblickte dabei überall einsame Straßenkehrer, die den Boden fegten. Weil es kaum Passanten gab, gab es auch kaum etwas zu kehren, aber sie verrichteten ihre Arbeit weiterhin mit äußerster Sorgfalt. Dieser Anblick spendete mir großen Trost und verschaffte mir innere Ruhe.

Auf dem Heimweg fragte ich mich, warum ich, obwohl ich bereits am 31. Dezember erstmals von der Sache gehört hatte, die letzten 20 Tage eine derart gravierende Angelegenheit so gedankenlos und nachlässig behandelt hatte. Hatte uns die SARS-Epidemie im Jahr 2003 nicht eine Lektion erteilt? Ich bin nicht die Einzige, die sich das fragt. Warum?

Nur erfreuliche Nachrichten zuzulassen und unerfreuliche zu vertuschen, andere daran zu hindern, die Wahrheit zu sagen, der Masse der Bevölkerung die Wahrheit vorzuenthalten, das Leben einzelner Personen zu missachten – dergleichen eingeübtes, gewohnheitsmäßiges Verhalten rächt sich für die Gesellschaft, beschert der Bevölkerung immenses Leid, und es rächt sich auch für die Beamten selbst. (Einige Spitzenfunktionäre der Provinzregierung von Hubei wurden bereits ihrer Posten enthoben, aber andere, die ebenso Verantwortung tragen, sind noch in Amt und Würden.)

Das alles hat zur 76 Tage dauernden Abriegelung der Stadt Wuhan geführt, deren Auswirkungen auf die Menschen und die Region sich nicht in Worte fassen lassen. Wir müssen die Verantwortlichen ausfindig machen und zur Rechenschaft ziehen.

Nachdem sie im Anschluss an den 20. Januar drei Tage in Furcht und Nervosität verbracht hatten, ereilte die Wuhaner also plötzlich der Befehl zur Abriegelung ihrer Stadt. Die Abriegelung einer Stadt mit mehreren Millionen Einwohnern (etwa neun Millionen befanden sich zum Zeitpunkt der Abriegelung in der Stadt) wegen eines Epidemieausbruchs ist ein historisch einzigartiges Ereignis. In so kurzer Zeit eine derart einschneidende Entscheidung zu treffen ist nicht einfach, schließlich nimmt eine solche Abriegelung unmittelbaren Einfluss auf das Leben jedes einzelnen Bewohners.

Aber um die Ausbreitung der Epidemie einzudämmen, musste die Stadtregierung mit zusammengebissenen Zähnen diese Entscheidung treffen. So etwas war auch in der mehrere tausend Jahre zurückreichenden Geschichte von Wuhan ohne Beispiel. Doch angesichts der Entwicklung der Epidemie war sie offensichtlich richtig, kam allerdings einige Tage zu spät.

Während der drei Tage vor und den beiden Tagen nach Verkündung der Abriegelung standen die meisten Wuhaner unter Schock. Es waren fünf endlose und extrem angespannte Tage, die Epidemie breitete sich in der Stadt rasend schnell aus, und die Regierung erschien in den Augen der Bevölkerung hilf- und ratlos.

Ab dem ersten Tag des Neujahrsfestes, also dem 25. Januar, begann man sich etwas zu beruhigen, weil die offiziellen Medien berichteten, dass die Ausbreitung des Virus an der Spitze des Staates mit höchster Aufmerksamkeit verfolgt wurde und aus Shanghai das erste medizinische Hilfsteam in Wuhan eintraf. Diese Nachrichten sorgten für eine allmähliche Beruhigung der Gemüter, da jedermann weiß, dass in China sämtliche Kräfte mobilisiert werden, wenn der Staat auf nationaler Ebene die Sache in die Hand nimmt. Die verängstigten und hilflosen Wuhaner hörten ab diesem Tag auf, panisch zu reagieren. Mein Tagebuch setzt genau an diesem Tag ein.

Die leidvollste Periode stand uns allerdings erst bevor: In den Tagen um das Neujahrsfest nahm die Gruppe der Infizierten

Wir konnten für die um Hilfe rufenden, verzweifelten Kranken nicht das Geringste tun. Das waren auch für mich die schmerzvollsten und traurigsten Tage. Ich konnte nur jeden Tag schreiben, schreiben, schreiben … Das Schreiben war das einzige Mittel, meinen Gefühlen und meinem seelischen Zustand Luft zu verschaffen.

Das Ende dieser Leidensperiode kam mit der Amtsenthebung der Regierungsspitzen der Provinz Hubei und der Stadt Wuhan, der Entsendung medizinischer Hilfsteams aus 19 Provinzen nach Hubei und der Einrichtung der Behelfs- und Notkrankenhäuser. Die neuen Quarantänemaßnahmen änderten die chaotische und jammervolle Situation Wuhans grundlegend. Sämtliche Patienten wurden in vier Gruppen aufgeteilt: erstens die Schwerkranken, zweitens alle anderen Infizierten, drittens die Verdachtsfälle, viertens Personen, die in engem Kontakt mit Personen der anderen drei Gruppen standen. Die Schwerkranken wurden in die eigens dafür bestimmten Krankenhäuser verlegt, die Infizierten mit leichten Symptomen in die Behelfskrankenhäuser, die Verdachtsfälle in die als Quarantänestationen genutzten Hotels, Wohnheime von Schulen und Universitäten etc. einquartiert, die Kontaktpersonen

Die Probleme des alltäglichen Lebens von neun Millionen in ihren Wohnungen eingesperrten Wuhanern wurden anfangs durch spontane Selbstorganisation der Bewohner angegangen. Mit Hilfe von Bestellungen über das Internet und kollektiven Einkaufsgruppen konnten sich die Eingesperrten mit lebensnotwendigen Waren versorgen. Später entsandte die Regierung sämtliche Beamte in die Stadtviertel, um dort die Bewohner mit Dienstleistungen zu unterstützen. Die neun Millionen Wuhaner reagierten kooperativ und mit vereinten Kräften auf die jeweiligen Forderungen der Behörden. Ihre Selbstdisziplin und Geduld waren der mächtigste Garant der erfolgreichen Eindämmung der Epidemie. 76 Tage in Quarantäne zu verbringen war keine leichte Angelegenheit. Die Durchschlagskraft der Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Epidemie, die Organisation der Quarantäne und andere Vorkehrungen in der späteren Phase waren tatsächlich äußerst effektiv.

Als mein Tagebuch 60 Einträge umfasste, hatte sich die Lage in Wuhan vollständig verändert. Seit dem 8. April, 76 Tage nach der Absperrung, ist Wuhan wieder eine vollkommen offene Stadt. Es waren Tage, die wir nicht vergessen werden. Am Tag der Öffnung hatten nahezu alle Wuhaner Tränen in den Augen.

IV

Völlig unerwartet kam für uns, dass sich in dem Moment, als sich die Situation in Wuhan allmählich entspannte, die Seuche in den Staaten Europas und Amerikas ausbreitete. Ein Virus, so winzig, dass ihn das bloße Auge nicht sehen kann, bewirkt weltweite

Doch die Politiker auf beiden Seiten weisen sich gegenseitig die Schuld zu, ohne an die eigenen Versäumnisse zu denken. China trägt Verantwortung für die Zögerlichkeit und Verschleppung in der Anfangsphase und der Westen für die Weigerung, Chinas Erfahrungen bei der Eindämmung der Epidemie Vertrauen zu schenken. Beides hat unzählige Opfer in der Bevölkerung gefordert und unzählige Familien auseinandergerissen. Der gesamten menschlichen Gesellschaft wurde ein schwerer Schlag versetzt.

Auf die Frage einer deutschen Journalistin, welche Lehren China aus der Epidemie ziehen sollte, habe ich geantwortet, die Epidemie breite sich nicht nur in China, sondern weltweit aus. Sie erteile nicht nur China, sondern der ganzen Welt, der gesamten Menschheit eine Lektion. Und die laute: Ihr Menschen, seid weniger arrogant, nehmt euch weniger wichtig, glaubt nicht, dass ihr unbesiegbar seid, unterschätzt nicht die Zerstörungsgewalt auch winziger Dinge wie die eines Virus.

Das Virus ist der gemeinsame Feind der Menschheit, es hat der gesamten Menschheit eine Lektion erteilt. Nur wenn die Menschheit zusammensteht, kann sie das Virus besiegen.

Auch die deutsche Ausgabe des Buches wird demnächst erscheinen. Während ich das schreibe, ist die Epidemie in Wuhan beendet, aber viele Deutsche kämpfen noch mit dem Virus. Ich habe die Hoffnung, dass dieses Buch ihnen ein paar nützliche Dinge vermittelt. Zum Beispiel unsere Erfahrungen: möglichst das Haus nicht zu verlassen; sich möglichst wenig mit anderen Leuten zu treffen; wenn man ausgehen muss, unbedingt eine Schutzmaske zu tragen; wenn man zurückkehrt, sich sofort die Hände zu waschen. Diese Verhaltensweisen haben sich außerordentlich bewährt. Ich wünsche dem deutschen Volk einen raschen Sieg über das Virus und die Rückkehr zu einem glücklichen, erfüllten Leben.

Mein innigster Dank gilt den vier Ärzten und Ärztinnen, mit denen ich befreundet bin. Sie haben mich für dieses Tagebuch mit Informationen über den Zustand der Epidemie und etwas medizinischem Wissen versorgt.

Ich danke meinen drei älteren Brüdern für ihre Hilfe und Fürsorge und allen Familienangehörigen und Verwandten für ihre außerordentliche Unterstützung. Als einer meiner Cousins bemerkte, dass ich angegriffen werde, sagte er: »Mach dir nichts draus, alle Mitglieder der Familie stehen eisern hinter dir!« Meine Cousine hat mich ständig mit allen möglichen Informationen versorgt. Jeder Satz der Aufmunterung und Unterstützung meiner Lieben gibt mir einen Schub Wärme.

Ich danke meinen ehemaligen Kommilitoninnen und Kommilitonen aus der Universitäts- und meinen ehemaligen Mitschülerinnen und Mitschülern aus der Schulzeit. Sie haben mir den Rücken gestärkt. Sie haben alle möglichen Nachrichten und Informationen an mich weitergeleitet und mich ermutigt, als ich vor den Schwierigkeiten zurückweichen wollte. Und ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen, Nachbarinnen und Nachbarn, die mir während des Schreibens aus vielen Alltagsnöten geholfen haben.

Ich möchte dem amerikanischen Übersetzer Michael Berry danken. Ohne seine Anregung wäre ich nie auf die Idee gekommen, dieses Tagebuch im Ausland zu veröffentlichen, und vor allem nicht innerhalb so kurzer Zeit.

Und ich danke von Herzen Michael Kahn-Ackermann, dem Übersetzer der deutschen Ausgabe. Ich bin gegenwärtig den Angriffen chinesischer Linksextremisten ausgesetzt. Dass er mich häufig anruft, um sich nach meinem Befinden und meiner Sicherheit zu erkundigen, rührt mich sehr.

Dieses Buch ist den Menschen in Wuhan gewidmet. Und insbesondere den Menschen, die den Wuhanern in der Zeit der größten Schwierigkeiten zu Hilfe gekommen sind.

 

Fang Fang, 13. April 2020

Hightech kann ebenso bösartig sein wie eine Epidemie

Ich habe keine Ahnung, ob dieser Eintrag die Leser erreichen wird. Vor kurzem führte meine Kritik am ungehobelten Auftreten einiger junger Leute auf der Straße dazu, dass mein Blog gesperrt wurde. (Ich halte an meiner Meinung fest, dass auch die Berufung auf den Patriotismus kollektive beleidigende Beschimpfungen in der Öffentlichkeit nicht rechtfertigt, das ist eine Frage zivilisierten Benehmens!)2 Es gibt keine Möglichkeit, sich gegen eine solche Sperrung zu wehren oder gar Anzeige zu erstatten. Ich bin von sina.com3 restlos enttäuscht und werde die Plattform nie wieder für meinen Blog benutzen.

Niemand hat die schreckliche Katastrophe, die Wuhan jetzt getroffen hat, vorausgeahnt. Sie hat zur Folge, dass sich das Augenmerk des ganzen Landes auf Wuhan richtet, dass die Stadt abgeriegelt ist und dass Menschen aus Wuhan überall auf Zurückweisung stoßen. Es hat zur Folge, dass auch ich in der Stadt eingesperrt bin. Heute hat die Regierung verfügt, dass ab null Uhr jeglicher KFZ-Verkehr im Stadtzentrum untersagt ist. Genau dort wohne ich.

Ich bin allerdings nicht sicher, ob dieser Eintrag durchgeht. Falls Freunde und Bekannte ihn lesen können, bitte ich um Nachricht, damit ich darüber im Bilde bin, was Sache ist. Blogs wie dieser auf Weibo verfügen über ein technisches Verfahren, das dich glauben macht, dein Text sei rausgegangen, aber tatsächlich bekommt ihn niemand zu Gesicht. Seitdem ich von dieser Technik weiß, habe ich begriffen, dass Hightech ebenso bösartig sein kann wie eine Epidemie.

Also, ich schicke das hier ab und probier’s.

126 Die Beamten der Provinz Hubei sind ein Abbild des chinesischen Durchschnittsbeamten im ganzen Land

Ich bedanke mich bei allen für die Aufmerksamkeit und Fürsorge. Nach wie vor befinden sich die Bürger Wuhans in einer kritischen Phase. Auch wenn die anfängliche Panik, die Hilflosigkeit, die Ängste und die Anspannung gewichen sind und die Atmosphäre nun weit ruhiger und gefasster ist, benötigen sie nach wie vor Trost und allgemeine Ermunterung. Aber zumindest befindet sich der

Ich hatte vor, meine Aufzeichnung mit dem 31. Dezember zu beginnen, um meinen eigenen Übergang von gespannter Wachsamkeit zu entspannter Gleichgültigkeit zu rekapitulieren, aber das würde zu viel Platz einnehmen. Ich ziehe es deshalb vor, zunächst in Echtzeit etwas über meine aktuellen Empfindungen und ohne Hast ein Tagebuch aus Wuhan zu schreiben.

Heute ist der zweite Tag des Neujahrsfestes,5 nach wie vor kaltes Wetter, Regen und Wind. Es gibt Gutes und Schlechtes zu berichten: Die gute Nachricht ist, dass die Hilfe des Staates ständig an Umfang und Wirkung zunimmt, immer mehr medizinisches Personal nach Wuhan kommt usw. usw. Das sorgt für Beruhigung unter den Wuhaner Bürgern. Das alles ist bereits allgemein bekannt.

Die für uns persönlich gute Nachricht ist, dass es gegenwärtig unter den Angehörigen meiner Familie keine Ansteckungsfälle gibt. Mein drittältester Bruder wohnt zwar mitten im Zentrum der Epidemie, in nächster Nähe zum »Südchinesischen Markt für Meeresprodukte«6 und dem Zentralkrankenhaus Hankou. Hinzu kommt, dass sein gesundheitlicher Zustand nicht allzu gut ist und er sich bis vor kurzem in genau diesem Krankenhaus regelmäßig behandeln lassen musste. Gott sei Dank ist bei ihm und der Schwägerin alles in Ordnung. Er hat mir mitgeteilt, dass er sich für zehn Tage mit Lebensmitteln eingedeckt hat und deshalb keinen Fuß mehr vor die Tür setzen muss.

Meine Tochter wohnt wie ich und die Familie meines ältesten Bruders in Wuchang. Von Hankou, wo die Gefahr, sich mit dem Coronavirus zu infizieren, relativ gesehen am höchsten ist, sind

Noch erfreulicher ist die Nachricht, dass dem Vater meiner Tochter, bei dem bei einer Röntgenuntersuchung in einer Shanghaier Klinik ein Schatten in der Lunge festgestellt wurde, gestern Entwarnung gegeben wurde. Es handelt sich um eine gewöhnliche Grippe und keine Coronainfektion. Er kann heute die Klinik verlassen. Unsere Tochter, die vor kurzem mit ihm gegessen hat, muss nun nicht unter strenger Quarantäne in ihrer eigenen Wohnung bleiben. (Noch am Vorabend des Neujahrsfestes bin ich mit dem Auto in strömendem Regen zu ihr gefahren, um ihr Essen zu bringen.) Wie sehr sehnen wir uns nach solchen guten Nachrichten, wenigsten eine am Tag, die uns trotz Abriegelung, trotz Eingesperrtseins in der Wohnung ein bisschen innere Erleichterung verschaffen.

Gestern Nacht erhielt ich einen Anruf vom jungen Li aus dem Künstlerverband, der mir mitteilte, dass in unserer Wohnanlage zwei Ansteckungsfälle festgestellt wurden. Ein Ehepaar, beide etwas über 30. Ich solle auf meine Sicherheit achten. Ihre Wohnung liegt etwa 300 Meter von der meinen entfernt. Meine Wohnung ist jedoch in einem anderen Block, der einen eigenen Eingang besitzt, allzu große Sorgen müssen wir uns nicht machen. Aber ihre Hausnachbarn, die denselben Eingang benutzen, dürften nervös geworden sein. Heute erfahre ich von einem Kollegen, dass sie zu den leichteren Fällen gehören, die unter Quarantäne in der eigenen Wohnung behandelt werden. Junge Leute in körperlich guter Verfassung ohne schwerwiegende Symptome, sie sollten es bald überstehen. Beten wir, dass sie sich rasch erholen.

Die gestrige Pressekonferenz der Provinzregierung von Hubei verbreitet sich im Netz rasend schnell und hat viele Menschen verärgert.8 Der Ausdruck von Niedergeschlagenheit und Erschöpfung auf den Gesichtern der drei Beamten und ihre ständigen Versprecher machten ihre Verstörung deutlich sichtbar. In gewisser Weise sind sie bemitleidenswert. Auch sie dürften Familienangehörige in Wuhan haben, ihre Selbstbezichtigungen halte ich für glaubwürdig. Wie sich das Ganze soweit entwickeln konnte, muss nachträglich aufgearbeitet und natürlich der Öffentlichkeit zur Kenntnis gebracht werden.

127 Uns fehlen Schutzmasken

Erneut möchte ich allen für ihre Aufmerksamkeit und Fürsorge gegenüber Wuhan und den Wuhanern danken. Ich setze gern meine Aufzeichnungen fort.

Um die großen Fragen kümmert man sich im Moment kaum, es brächte ja auch wenig Nutzen. Solange man sich nicht infiziert hat, bleibt man optimistisch.

Die größte Sorge bereitet den Bürgern gegenwärtig der Mangel an Schutzmasken. Ich habe heute das Video eines Shanghaiers gesehen, der Schutzmasken einkaufen geht. In der Apotheke kosten

Schutzmasken sind Verbrauchsartikel, sie werden daher in großen Mengen benötigt. Nach Auskunft der Experten bietet nur die Schutzmaske N95 wirksamen Schutz vor dem Virus. Aber Tatsache ist, dass man sie nirgends kriegt. Bestellt man sie im Internet, werden sie erst nach Ablauf der Neujahrsfestfeiertage geliefert. Mein zweitältester Bruder hatte einigermaßen Glück, ein Mitbewohner seiner Wohnanlage erhielt von einem Verwandten tausend Stück N95-Schutzmasken geschickt. (Was für ein Musterexemplar eines Verwandten!) Zehn Stück davon wurden meinem Bruder zugeteilt. Gerührt erklärte er, es gebe doch noch gutherzige Menschen.

Mein ältester Bruder dagegen hat weniger Glück. Er besitzt keine einzige N95-Schutzmaske, nur die gewöhnlichen Einwegmasken, die meine Nichte gekauft hat. Da der Vorrat begrenzt ist, bleibt nur der Ausweg, sie zu waschen und mit Hilfe des Bügeleisens zu sterilisieren, um sie anschließend erneut zu nutzen. Einigermaßen bitter. (Apropos, meine Nichte teilt mir mit, dass in der Angelegenheit des Rücktransportes nach Singapur noch keine endgültige Entscheidung gefallen ist, ich solle das im Blog weitergeben.)

Mir selbst geht es ähnlich. Als ich am 18. Januar im Krankenhaus einen Patienten besuchen wollte, brauchte ich unbedingt eine Schutzmaske. Aber in der Wohnung fand sich keine einzige. Plötzlich fiel mir ein, dass ich Mitte Dezember nach Chengdu gefahren war. Mein Kommilitone Xu Min hatte mir damals, mit Verweis auf die schlechte Luft dort, einen Schutzmaske gegeben. In Wahrheit

Ich teile meine Wohnung mit einem 16 Jahre alten Hund. Am 22. Januar entdecke ich plötzlich, dass kein Hundefutter mehr im Haus ist. Ich begebe mich eilig ins Geschäft für Tierbedarf, um Nachschub zu besorgen, und habe vor, die Gelegenheit zu nutzen, unterwegs ein paar Schutzmasken zu kaufen. Ich betrete also eine Apotheke in der nahegelegenen Dongting-Straße (ihren Namen möchte ich nicht nennen). Zufälligerweise gibt es dort N95-Schutzmasken zu kaufen, allerdings das Stück für 35 Yuan. Für ein Paket mit 25 Stück wären das 875 Yuan. Ich frage die Verkäufer, wie man sich in der gegenwärtigen Situation derart unverfroren und unmoralisch verhalten könne, und erhalte zur Antwort, der Lieferant habe die Preise erhöht, man habe keine andere Wahl, als das Gleiche zu tun. Bei derartig hoher Nachfrage müsse man eben auch hohe Preise in Kauf nehmen. Ich beschließe, zunächst nur vier Stück zu kaufen, aber zu meinem Erstaunen ist keine der Schutzmasken einzeln verpackt, die Verkäuferin fasst sie mit bloßen Händen an. Angesichts derartiger hygienischer Verhältnisse verzichte ich auf den Kauf und ziehe es vor, keine Maske zu tragen.

Am Neujahrsabend unternehme ich einen weiteren Versuch. Sämtliche Apotheken sind geschlossen. Nur ein paar privat betriebene Minimärkte haben geöffnet, und in einem davon finde ich N95-Schutzmasken der Marke Yimenshan, grau, einzeln verpackt, das Stück für zehn Yuan. Ich kaufe vier davon und fühle mich innerlich etwas gefestigter. Als ich von der Mangelsituation im Hause meines ältesten Bruder erfahre, vereinbare ich mit ihm, zwei davon abzugeben und sie am nächsten Tag vorbeizubringen. Aber tags

Wenn ich mich mit Kollegen per WeChat unterhalte, schallt mir von allen Seiten entgegen, dass der Mangel an Schutzmasken gegenwärtig das größte Problem sei. Man müsse schließlich gelegentlich das Haus verlassen, um ein paar Dinge einzukaufen. Von Freunden geschickte Schutzmasken erreichten oft ihre Empfänger nicht. Außerdem gäbe es oft minderwertige Ware, und im Internet finde man Nachrichten über gebrauchte Schutzmasken, die recycelt und weiterverkauft würden. Sie zu verwenden, sei sehr gefährlich. Die meisten Kollegen verfügen gerade noch über ein bis zwei Stück. Uns bleibt nur die mahnende Aufforderung, sie möglichst wenig zu benutzen. Ein gegenwärtig umlaufender Witz sagt die Wahrheit: Die Schutzmaske ersetzt in der Tat das Schweinefleisch als gefragtester Konsumartikel zur Feier des Neujahrsfestes.

Ich gehe davon aus, dass sich der Mangel an Schutzmasken nicht auf meinen Bruder und meine Kollegen beschränkt. Darunter leiden mit Sicherheit unzählige normale Wuhaner Bürger. Und ich gehe davon aus, dass es keinen generellen Mangel an Schutzmasken gibt, sondern zu wenige in die Hände der Bürger gelangen. Ich hoffe nur darauf, dass die Expresslieferdienste bald wieder ihren Betrieb aufnehmen und sich die Versorgung Wuhans etwas verbessert, um uns über diese Malaise hinweg zu helfen.

128