ADRIAN DOYLE

&

TIMOTHY STAHL

 

 

BLUTVOLK, Band 23:

Inkarnationen

 

 

 

Roman

 

 

 

Apex-Verlag

Inhaltsverzeichnis

Das Buch 

Die Autoren 

 

Was bisher geschah... 

 

INKARNATIONEN 

 

Vorschau auf BLUTVOLK, Band 24: STERBEN IN ROM 

von ADRIAN DOYLE und TIMOTHY STAHL 

 

Glossar 

 

Das Buch

 

Lilith Eden und Landru sind zurück – aus einer Dimension, die ihre Körper gemartert, ihre Seelen in die Vergangenheit geschleudert und ihren Geist mit Trugbildern genarrt hat.

Fast wären die Halbvampirin und der Mächtigste der Alten Rasse daran zerbrochen, doch letztlich sind sie der Hölle unbeschadet entkommen.

Wirklich unbeschadet?

Nein. Denn ihre Flucht durch das Tor hat Folgen – weitreichender und fataler, als sie je gedacht hätten. Als sie im Kloster Monte Cargano wieder zu sich kommen, hat sich ihr beider Leben grundlegend verändert. Und es ist blanke Ironie, dass dieses Schicksal ausgerechnet zwei Todfeinde trifft...

 

BLUTVOLK – die Vampir-Horror-Serie von Adrian Doyle und Timothy Stahl: jetzt exklusiv als E-Books im Apex-Verlag.

Die Autoren

 

 

Manfred Weinland, Jahrgang 1960.

Adrian Doyle ist das Pseudonym des deutschen Schriftstellers, Übersetzers und Lektors Manfred Weinland.

Weinland veröffentlichte seit 1977 rund 300 Titel in den Genres Horror, Science Fiction, Fantasy, Krimi und anderen. Seine diesbezügliche Laufbahn begann er bereits im Alter von 14 Jahren mit Veröffentlichungen in diversen Fanzines. Seine erste semi-professionelle Veröffentlichung war eine SF-Story in der von Perry-Rhodan-Autor William Voltz herausgegebenen Anthologie Das zweite Ich.

Über die Roman-Agentur Grasmück fing er Ende der 1970er Jahre an, bei verschiedenen Heftroman-Reihen und -Serien der Verlage Zauberkreis, Bastei und Pabel-Moewig mitzuwirken. Neben Romanen für Perry-Rhodan-Taschenbuch und Jerry Cotton schrieb er u. a. für Gespenster-Krimi, Damona King, Vampir-Horror-Roman, Dämonen-Land, Dino-Land, Mitternachts-Roman, Irrlicht, Professor Zamorra, Maddrax, Mission Mars und 2012.

Für den Bastei-Verlag hat er außerdem zwei umfangreiche Serien entwickelt, diese als Exposé-Autor betreut und über weite Strecken auch allein verfasst: Bad Earth und Vampira.

Weinland arbeitet außerdem als Übersetzer und Lektor, u. a. für diverse deutschsprachige Romane zu Star Wars sowie für Roman-Adaptionen von Computerspielen.

Aktuell schreibt er – neben Maddrax – auch an der bei Bastei-Lübbe erscheinenden Serie Professor Zamorra mit.

 

 

 

Timothy Stahl, Jahrgang 1964.

Timothy Stahl ist ein deutschsprachiger Schriftsteller und Übersetzer. Geboren in den USA, wuchs er in Deutschland auf, wo er hauptberuflich als Redakteur für Tageszeitungen sowie als Chefredakteur eines Wochenmagazins und einer Szene-Zeitschrift für junge Leser tätig war.

In den 1980ern erfolgten seine ersten Veröffentlichungen im semi-professionellen Bereich, thematisch alle im fantastischen Genre angesiedelt, das es ihm bis heute sehr angetan hat. 1990 erschien seine erste professionelle – sprich: bezahlte - Arbeit in der Reihe Gaslicht. Es folgten in den weiteren Jahren viele Romane für Heftserien und -reihen, darunter Jerry Cotton, Trucker-King, Mitternachts-Roman, Perry Rhodan, Maddrax, Horror-Factory, Jack Slade, Cotton Reloaded, Professor Zamorra, John Sinclair u. a.

Besonders gern blickt er zurück auf die Mitarbeit an der legendären Serie Vampira, die später im Hardcover-Format unter dem Titel Das Volk der Nacht fortgesetzt wurde, und seine eigene sechsbändige Mystery-Serie Wölfe, mit der er 2003 zu den Gewinnern im crossmedialen Autorenwettbewerb des Bastei-Verlags gehörte.

In die Vereinigten Staaten kehrte er 1999 zurück, seitdem ist das Schreiben von Spannungsromanen sein Hauptberuf; außerdem ist er in vielen Bereichen ein gefragter Übersetzer. Mit seiner Frau und seinen beiden Söhnen lebt er in Las Vegas, Nevada.

  Was bisher geschah...

 

 

Das Geschlecht der Vampire steht vor seinem Untergang, als sich Lilith, Urmutter der Blutsauger, mit Gott versöhnt. Alle Vampiroberhäupter rund um den Globus werden von einer Seuche befallen, die sie auf ihre Sippen übertragen. Die Vampire – bis auf die Anführer selbst – können ihren Durst nach Blut nicht mehr stillen und altern rapide. Lilith Eden, Tochter einer Vampirin und eines Menschen, erhält von Gott den Auftrag, die letzten überlebenden Vampire zu vernichten.

Aber auch das Böse reagiert. In einem Kloster in Maine gebiert die junge Nonne Mariah ein Kind, das den todgeweihten Vampiren Kraft und Erfahrung raubt und dabei rasch heranwächst.

Sowohl die Seuche als auch die Geburt des Knaben namens Gabriel erschüttern das Weltgefüge auf einer spirituellen Ebene. Para-sensible Menschen träumen von unerklärlichen Dingen und möglichen Zukünften. Die »Illuminati«, ein Geheimbund in Diensten des Vatikans, rekrutiert diese Träumer.

Als das Kind die Kraft in Lilith erkennt, bringt es sie in seine Gewalt und seine Träume. Doch Raphael Baldacci, ein Gesandter von Illuminati, rettet sie, indem er sein Leben für sie opfert. Baldacci ist der Sohn Salvats, der Illuminati vorsteht. Die Ziele des Ordens sind eng an ein Tor in einem unzugänglichen Kloster nahe Rom gebunden. Gabriel wird auf das Tor aufmerksam. Er erkundet die Lage und ruft gleichzeitig Landru herbei, dessen Kraft er sich einverleiben will, bevor er das Tor öffnet.

Im Kloster befinden sich die Para-Träumer. Von ihnen erfährt Salvat, dass das Tor bald geöffnet werden soll. Lilith Eden kommt ebenfalls in den Träumen vor, was sie zum Kloster führt. Dort ist mittlerweile auch Landru angelangt, der von dem Knaben seiner Kräfte beraubt wird. So betritt das Kind das Kloster und öffnet das Tor. Doch Salvat ist gerüstet und kann es wieder schließen. Für zwei Personen allerdings zu spät: Landru und Lilith werden durch das Tor gesogen.

Durch die Hölle jenseits des Tores gelangen Lilith und Landru in die Vergangenheit. Lilith wird im Bayreuther Fürstentum des Jahres 1635 in der jungen Zigeunerin Kathalena wiedergeboren; Landru im Körper des Vampirs Racoon, zu derselben Zeit, aber vor den Toren von Paris. Dort wird er Zeuge, wie eine fremde, verderbliche Macht die dortige Vampirsippe abschlachtet. Und er trifft auf eine Frau, die er aus der Zukunft kennt: Beth MacKinsay, die von Lilith einst im Korridor der Zeit getötet wurde. Als Gott den Fluch von der Ur-Lilith nahm, wurde Beth' Geist durch eine der Türen des Korridors in die Vergangenheit gesogen. Doch sie hat jede Erinnerung an ihr früheres Leben verloren und ist auf der Suche nach Satan, der ihr Kind geraubt hat. Seine Spur weist von Paris nach Heidelberg. Dort bereitet eine »Loge der Nacht« seine Ankunft vor. Allerdings werden drei Manifestationen erwartet, die sich hier vereinen sollen.

In Regensburg stößt Lilith in Lenas Körper auf eine Bruderschaft, die sie bereits aus der Gegenwart kennt: die Illuminati und deren Anführer Salvat, der ebenfalls in dieser Zeit weilt. Sie schließt sich den Mönchen an, als diese nach Heidelberg ziehen. Dort also werden ihre Wege sich treffen. Allein Landru erlebt die Zusammenkunft nicht mehr. Als Beth auf den Vater ihres Kindes trifft, tötet dieser den mächtigen Vampir. Landrus Geist wird zurückgeschleudert in die Hölle hinter dem Tor, wo sich sein echter Körper befindet und wo er nun seine ganz persönliche Verdammnis durchlebt.

In einer entweihten Kirche findet das Ritual statt, das die drei Manifestationen Satans vereinen soll. Doch im entscheidenden Moment greifen die Illuminaten ein! Und Salvat entpuppt sich als überirdisches Wesen, das mit einem Flammenschwert Satan schwer verletzt. Er flieht und nimmt Beth mit sich. Salvat kann ihm nicht folgen. So verankert er den Auftrag, dem Bösen den entscheidenden Stoß zu versetzen, in Lilith und Tobias, der als einziger Heidelberger dem Einfluss Satans trotzen konnte.

Sie finden ihn in einem Heerlager, wo er Beth dazu benutzt, einen Riss in der Zeit zu schaffen. Lilith, die beim Kampf in der Kirche ihre Linke verlor und nun eine fremde Hand, die der Teufel einst einem dienstbaren Heidelberger schenkte, an deren statt trägt, verletzt Satan damit – und folgt ihm durch den Riss! Beth und Tobias bleiben zurück...

Als Lilith im London des Jahres 1666 aus dem Riss tritt, wird sie mit dem Mädchen Ruby konfrontiert, das von Satan als »Pestbotin« auserkoren wurde und den Schwarzen Tod über London gebracht hat. Auch Liliths Gastkörper Lena wird mit der Pest infiziert. Trotzdem findet sie ihren Feind – in einer riesigen Pestgrube vor der Stadt nährt er sich vom Tod der Pestopfer, um seine Stärke wiederzuerlangen. Hier stirbt Lena – und Liliths Geist findet sich in ihrem Körper in der Hölle wieder, neben Landru...

In der Zwischenzeit ist Salvat bemüht, neue Torwächter auszubilden – ein dringliches Vorhaben, denn Gabriel ist unauffindbar! Der Knabe erforscht das Kloster Monte Cargano und sucht nach einer neuen Chance, die Mächte jenseits des Tores zu entfesseln. Er findet sie in den beiden para-begabten Mädchen April und May Dorn; die Zwillingsschwestern sind in der Lage, Pforten zur Hölle zu schaffen. Gabriel bringt April auf seine Seite und öffnet erneut das Tor! Salvat jedoch versichert sich Mays Hilfe, die als einzige ihre Schwester stoppen kann. So kann er das Schlimmste verhindern – doch zwei Gestalten wechseln durch den Spalt von der Jenseitswelt zurück in die unsere: Lilith und Landru!

INKARNATIONEN

 

 

 

Prolog
Die Kerzenflamme brannte wie erstarrt, ebenso widernatürlich wie das Licht selbst, das sich im Raum sammelte und das schrecklich kalt und kraftlos war, als müsste es erst von einem dunklen Spiegel reflektiert werden, um in diese Welt zu gelangen. Enya saß mit überkreuzten Beinen auf dem Teppich und blickte zum großen offenen Fenster des spartanischen Zimmers.
 

Sie wartete. Es war Nacht. Ihr fürsorglicher Geliebter musste bald zurückkehren.

Dann war es soweit: Böen zerzausten Enyas Haar, als der gewaltige Greifvogel, den ihr lautloses Sehnen gerufen hatte, durch die Fensteröffnung brach. In der einen Sekunde war es noch ein stolzer Adler, in dessen Fängen ein frisches Herz hing.

In der nächsten... ein Mann.

 

Seine Augen sahen aus, als bestünden sie aus gefrorener Nacht.

Ich habe dieselben Augen, dachte Enya. Ich habe sie bekommen. Von ihm. 

An die Zeit vor ihrer Begegnung erinnerte sich die schlanke Frau mit den üppigen Rundungen nur noch vage. Zwar wusste sie weiterhin alles aus ihrem Leben davor, aber das meiste davon war in seiner Bedeutung derart reduziert, dass es ihr wie das Wissen um eine Wildfremde erschien. 

Er warf ihr das Herz zu.

Sie fing es auf, ohne in der Bewegung, mit der sie sich vom Boden erhob, innezuhalten. Es fühlte sich tatsächlich noch warm an. Eine normale Erklärung gab es dafür nach dem Flug durch die kalte Winternacht nicht; lediglich eine, die zu dem indianischen Vampir passte, der ihr diese »kleine Aufmerksamkeit« mitgebracht hatte: Magie. Uralter Zauber, der auch im Heute nichts von seiner Kraft eingebüßt hatte, bewahrte die Frische des Mitbringsels...

Enya trank, obwohl sie nicht von dem Blut abhängig war wie er. Es war ein Liebesbeweis – mehr nicht. Es würdigte die Mühe, die sich Hidden Moon gemacht hatte, um sein Ausbleiben zu entschuldigen.

Nach wenigen Schlucken schon legte sie den blutigen Klumpen zur Seite und umarmte ihn. »Du warst lange fort. Bist du nun satt?«

»In gewisser Weise.«

Sie vertiefte ihr Lächeln und überbrückte die letzte Kluft, die sie voneinander trennte. Die Schwärze seiner Augen schien jeden ihrer Blicke in sich aufzusaugen.

Sie genoss es. Es verursachte Champagnerprickeln unter ihrer Haut. Enya küsste den Heimkehrer. Zunächst tippte sie mit ihren Lippen nur spielerisch gegen seinen Mund. Dann wühlten seine Hände in ihrem Haar und halfen, den Druck der Liebkosung zu erhöhen. Schließlich berührten sich ihre Zungen und tauschten den Blutgeschmack aus.

Die Erregung erhöhte nicht nur Enyas Puls. Vielleicht war es die stete Ungewissheit, wie lange sie und Hidden Moon ihre dunkle Romanze noch unbeschwert pflegen konnten. Vielleicht war es auch einfach nur pure, schon immer vorhandene Lust, die noch niemand bisher in ihnen zu entfachen vermocht hatte.

Hidden Moon beseitigte jedes störende Textil, das Enya trug. Das Oberkleid war noch immer jenes, das sie als Jägerin getragen hatte – als sie sich in Salvats Auftrag auf Hidden Moons Fährte begab. 

Die Gesandte des Ordens erzitterte, als sie kurz an ihren Auftrag zurückdachte. Es war ihre Aufgabe gewesen, dem Vampir zu folgen und ihn zu vernichten, nachdem er die Klostermauern des Monte Cargano hinter sich gelassen hatte.

Den Adler töten...

... das hatte sie nicht vermocht.

Statt dessen hatte der Adler etwas in ihr getötet.

Und ersetzt.

Wodurch?

Enya atmete in immer kürzeren Intervallen. Sie wusste, was in sie gefahren war. Nicht nur Hidden Moons Zähne. Und statt des üblichen Vampirkeims hatte er ihr das vermacht, was er selbst zuvor in der Inneren Halle des Monte Cargano empfangen hatte – aus dem höllischen Odem, der dem geöffneten Tor entströmt war. 

Obwohl es nur ein Abglanz dessen war, was hinter jener Pforte lauerte. Und was dort nicht bleiben wollte...

Enya seufzte kehlig.

Hidden Moons Hände auf ihren Brüsten waren zärtlich und fordernd zugleich, und auch sie blieb nicht passiv. Schauer der Leidenschaft durchrieselten ihren Körper, als sie den feinen Flaum in seinem Nacken berührte, der nicht von seinem schulterlangen Haar, sondern von dem Gefiederstreifen rührte, der jeder Metamorphose trotzte. Es war ein Merkmal des Stammes der Arapaho, dem Hidden Moon angehörte und der vor Jahrhunderten Besuch vom Hüter der Vampire erhalten hatte. 

Dieser Hüter namens Landru hatte dreizehn Arapahokinder der Taufe mit dem Lilienkelch unterzogen und während dieser Zeremonie sterbliche Menschen zu unsterblichen Vampiren erhoben.1  

Hidden Moon war der letzten Täufling in jener Sommernacht des Jahres 1688 gewesen – und während seiner Weihe hatte sich der Mond im Schatten der Erde versteckt – gerade so, als wollte er nicht mit ansehen, was dem Kind widerfuhr. So war Hidden Moons Kriegsname entstanden. Der Name, mit dem er noch als Mensch geboren worden war, lautete Wyando.

Enya wunderte sich einen Moment lang, wie viel sie bereits über die Bekanntschaft wusste, die ihr Leben umgestaltet hatte – während Hidden Moon noch fast nichts über sie erfahren hatte. Dass er sie nicht einmal drängte, mehr zu offenbaren, kränkte sie ein wenig.

Aber das hinderte sie nicht, sich ihm hinzugeben – und auch seine Hingabe zu genießen.

»Wann werden wir damit aufhören?« fragte sie später, als ihr vampirischer Liebhaber sich in sie verströmt hatte und sie, auf dem Bett liegend, nur noch wie ein kleines, schutzsuchendes Mädchen in den muskulösen Armen hielt.

»Womit?« Sein Atem trocknete den Schweiß auf ihrer Haut, wenn auch nur an einer winzigen Stelle und selbst dort nicht von Dauer.

»Damit, so zu tun, als würde es nie passieren.«

Hidden Moon gab vor, nicht zu verstehen, worauf sie hinauswollte. Aber er war leicht zu durchschauen. Er wusste es genau.

Trotzdem sagte Enya: »Dass es uns erklärt, was es von uns erwartet.«

Es.

Das, was in ihnen atmete, in ihnen pochte. 

Er zuckte die Schultern, ohne den Griff, mit dem seine Arme sie umschlangen, zu lockern. »Vielleicht geschieht es nie. Vielleicht bedarf es unserer Unterstützung überhaupt nicht...«

Er wusste, dass er selbst an diese Möglichkeit nicht glaubte – und dass er sich nach nichts anderem mehr sehnte, als dem Bösen dienen zu dürfen. Der Trieb, der alles andere in ihm erstickte wie gefräßiger Dschungel die Ruinen ausgestorbener Kulturen, füllte ihn bereits vollständig aus. 

Bald würden die nächtlichen Ausflüge, bei denen er seinen Durst stillte, nicht mehr genügen, den unheiligen Zorn zu besänftigen, der sich mehr und mehr in ihm anstaute.

Und Enya erging es nicht anders.

Sie warteten beide: Auf das Erwachen der Stimme, die in ihrem Blut flüsterte, und die ihn sagen würde, was sie von ihnen erwartete.

Bald, das spürten sie, würde es soweit sein...

 

 

1.

NEUGEBOREN

 

Kloster Monte Cargano, Italien

Ende September 1997

Die narbigen Züge des Mannes waren entspannt. Das änderte sich jäh, als sich seine Lider hoben und seine Augen mit dem steinernen Grab konfrontierten, in dem er lag.

Grab?

Wo bin ich hier?

Er erzitterte, denn eine andere, weit wichtigere Frage bohrte sich wie die Spitze eines eisernen Dorns in das verletzliche Gewebe hinter seiner Stirn. Eine Frage, auf die er keine Antwort wusste: Nein, er hatte nicht die leiseste Vorstellung – wer er war.

Er erhob sich.

Sein eigenes Gewicht ließ ihn kurz schwanken. Er war nackt, aber seltsamerweise fror er nicht, obwohl dieser Raum eine in den Fels getriebene, künstlich erschaffene Kaverne zu sein schien. Und die Quelle des Lichts, das die höhlenhafte Umgebung aufhellte, war nicht feststellbar. Keine Flamme, sondern die Luft selbst schien trübe Helligkeit zu verbreiten. Wie ein rötlicher Schleier umgarnte das Leuchten den großen, sehnigen Mann, der sich barfüßig um seine eigene Achse drehte.

Sein Herz schlug träge. Sein Atem wölbte die Brust in lang auseinanderliegenden Abständen.

Plötzlich ballten sich die eben noch gespreizten Finger zu Fäusten, und aus seiner Kehle drang ein elementarer Laut, ein Schrei voller Verzweiflung, denn so sehr er auch in sich lauschte, er fand... nichts. Keinen noch so flüchtigen Hinweis auf die eigene Identität!

Was war geschehen? Was hatte ihn all seiner Erinnerungen an sein bisheriges Leben beraubt? Und warum wurde er an einem solchen Ort festgehalten?

Wurde er das...?

Es gab keine Tür, es existierte nicht einmal ein Spalt in den Felswänden, die ihn umgaben!

Auch Decke und Boden waren geschlossen. Keine Fuge von Bedeutung war darin auszumachen!

Aber woher kam dann die Luft, die er zum Leben brauchte? Und wie war er in diesen Höhlenraum gelangt?

Plötzlich erschien ihm das Licht, das ihn sein Grab sehen ließ, noch unwirklicher.

Grab... Wieder rieb er sich an diesem Wort, das seinem Unterbewusstsein entstieg.

Wer begrub schon einen Lebenden?

Sein Herz schlug um wenige Takte rascher, aber bei weitem nicht schnell. Es blieb fast unbeeindruckt von dem seelischen Aufruhr, der den Mann ohne Erinnerung gepackt hatte.

Er machte einen Schritt. Die Richtung war unerheblich. Die Wände sahen überall gleich aus. Und der Raum durchmaß kaum vier Meter im Quadrat bei einer Höhe von etwa drei Metern.

Der Erwachte begriff, dass nicht das eigene, sondern das Gewicht, das er über seinem Kopf spüren konnte, ihn vorhin hatte erzittern lassen.

Wie dick war der Felsmantel, der diese hohle Kammer umgab?

Und wieder die Frage: Wie war er hierhergekommen?

Es gab keine normale Erklärung, aber ihm fiel nicht einmal eine unnormale ein...!

WER BIN ICH?!

Gaumen und Kehle wurden trocken. Er tat noch einen Schritt, berührte die steinerne Wand erst vorsichtig und hämmerte schließlich mit den Fäusten dagegen, ohne dass er aber mehr als ein schwammiges, dumpfes Geräusch erzeugen konnte.

Der Fels war genauso hart, wie er sein musste, keine warum auch immer errichtete Attrappe!

Der Mann ohne Erinnerung untersuchte den gesamten Wandverlauf und den Boden. Nur die Decke musste er aussparen, weil sie unerreichbar blieb. Vielleicht lag aber gerade dort oben der Zugang zur Höhle.

Nach minutenlangem Bemühen, einen Ausweg zu finden, setzte sich der nackte Mann wieder auf den Boden. Die Kälte des Steins berührte ihn auch jetzt noch nicht; er empfand sie nicht einmal als unangenehm.

Er hatte auch keinen Hunger, nur ein verschwommenes Gefühl von... Durst.

Er schloss die Augen und hüllte sich auf diese Weise in eine Finsternis, aus der er Trost zog. Seine Gedanken kreisten weiter um die Frage, wer er war, wo er war und warum er hier war.

Die Zeit verging, aber eine Tür tat sich nicht auf.

Niemand kam.

Er blieb allein, einzementiert von einer Stille, die in ihrer ohrenbetäubenden Absolutheit an die Weiten der Sahara erinnerte...

Sahara?

Es blieb ein Phänomen, dass er Dinge zu benennen vermochte, Begriffe und ihre Bedeutung kannte, ohne jedoch den geringsten Bezug zu sich selbst herstellen zu können!

Was für ein Wahnsinn, dachte er.