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Über dieses Buch:

Als die Magnolien blühten und wir Schwestern waren … Vor vielen Jahren schon haben sich ihre Wege getrennt, erst der Tod ihrer Mutter führt sie wieder zusammen: Die brillante Margaret, die ihre wissenschaftlichen Forschungen stets dem Chaos der Liebe vorzieht, die scheue Rose, die sich so sehr nach einem Kind sehnt, und die schöne Quincy, die allen Männern den Kopf verdreht, doch Herzensbrecher wie magisch anzuziehen scheint. Die Villa unter den Magnolien ist nun das gemeinsame Erbe der Schwestern, mit ihren schmerzhaften Erinnerungen, alten Geheimnissen - und der Chance auf einen Neuanfang. Wird es ihnen gelingen, die Schatten der Vergangenheit hinter sich zu lassen und das Band zwischen ihnen neu zu knüpfen?

»Eine unvergessliche Geschichte.« New-York-Times-Bestseller-Autorin Susan Wiggs

Über die Autorin:

Ann Roth lebt mit ihrem Mann, ihren drei Töchtern und einer launischen Katze in der Nähe von Seattle. Sie studierte Betriebswirtschaft, arbeitete als Bankangestellte und in der Unternehmensentwicklung, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Ann Roth veröffentlichte bereits über 35 Romane - stets mit garantiertem Happy End.

Mehr über Ann Roth erfahren Sie auf ihrer Website: annroth.net/blog/

Ann Roth veröffentlichte bei dotbooks bereits ihr Schicksalsroman »Wo die Träume wohnen«.

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eBook-Neuausgabe März 2020

Dieses Buch erschien bereits 2012 unter dem Titel »Schwestern fürs Leben« bei Weltbild

Copyright © der amerikanischen Originalausgabe 2008 by Ann Schuessler

Die amerikanische Originalausgabe erschien 2008 unter dem Titel »My Sisters« bei Kensington Publishing Corp., New York.

Copyright © der deutschen Erstausgabe 2012 by Weltbild, Augsburg

Copyright © der Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf - auch teilweise - nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von Bildmotiven von shutterstock/Patricia Marroquin, andersphoto, Le Do und Zwisty 242

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (tw)

ISBN 978-3-96148-862-9

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Ann Roth

Die Magnolienvilla

Roman

Aus dem Amerikanischen von Margarethe van Pée

dotbooks.

Für Schwestern auf der ganzen Welt

Kapitel 1

Samstag

Margaret Lansing träufelte gerade vorsichtig Flechtenextrakt auf eine sterilisierte Chromatografie-Platte, als das Telefon klingelte. Sie hatte sich so sehr konzentriert, dass sie erschreckt zusammenzuckte. Der Inhalt des Haarröhrchens ergoss sich über die Platte und ruinierte sie. »Mist«, murmelte Margaret. »Jetzt kann ich noch mal von vorne anfangen.«

Bruce Cropper, ihr Kollege bei diesem Projekt, runzelte die Stirn. »Wer um alles in der Welt ruft samstagabends in einem Labor an?«

»Wahrscheinlich hat sich jemand verwählt.«

»Dann wollen wir mal hoffen, dass derjenige es merkt und auflegt.«

Sie konnten sich die Unterbrechung nicht leisten. Hassell Pharmaceuticals wollte Ergebnisse sehen. Margaret achtete nicht auf das Klingeln, oder versuchte es zumindest - das verdammte Telefon läutete mindestens zehnmal - und machte sich wieder an die Arbeit, die Sorgfalt und Aufmerksamkeit erforderte. Bruce und sie hatten extra ihre Handys ausgeschaltet, um jede unerwünschte Störung zu vermeiden.

Sie konnte sich sowieso nicht vorstellen, wer sie am Samstagabend anrufen sollte. Sie hatte keinen Partner, und die meisten ihrer Freunde waren entweder ausgegangen oder zu Hause bei ihren Familien. Vielleicht hatte ja Bruce später noch eine Verabredung, aber das wusste sie nicht, weil sie über solche Dinge nicht sprachen.

Als sie die Platte fertig hatte, begann das Telefon wieder zu klingeln. Bruce zuckte mit den Schultern und arbeitete weiter, aber Margaret legte das Kapillarröhrchen vorsichtig beiseite und glitt von ihrem Hocker.

»Wer auch immer da anruft, er ist nicht zu beneiden!«, sagte Bruce grinsend. »Du machst ja vielleicht ein böses Gesicht.«

Er war ein attraktiver Mann, und sein Lächeln war ansteckend. Margarets Laune besserte sich sofort, als sie über den weißen Linoleumboden zum Telefon ging.

Das Telefon, ein schäbiges gelbes Wandmodell, das schon bessere Tage gesehen hatte, hing am anderen Ende des Labors, und sie war ein wenig außer Atem, als sie sich meldete. »Margaret Lansing.«

»Hallo, Maggie«, sagte eine freundliche Männerstimme, die sie seit Jahren nicht mehr gehört hatte.

Seit sie vor fünfzehn Jahren achtzehn geworden und nach Seattle gezogen war, hatte niemand sie mehr Maggie genannt. Die Leute hier sagten Margaret oder Dr. Lansing. »Dr. McElroy? Sind Sie das?«

»Ja. Ich habe versucht, dich zu Hause und auf deinem Handy zu erreichen. Was für ein Glück, dass deine Mutter deine Labornummer in der Tasche mit sich herumträgt.«

Das war Margaret neu. Ihre Mutter hatte diese Nummer noch nie benutzt, aber sie rief natürlich auch nie an. Susan erwartete von ihren Töchtern, dass sie sich bei ihr meldeten.

Dr. McElroy war zu Hause ihr Arzt gewesen, und da sie schlechte Nachrichten befürchtete, lehnte Margaret sich an die Wand und ließ den Kopf sinken. Dabei stellte sie fest, dass ihre Sommerhose vom langen Sitzen ganz zerknittert war. Rasch fuhr sie glättend mit der Hand darüber. »Was ist denn mit Mutter?«

»Sie hatte einen Autounfall.«

Der Arzt atmete schwer, als wisse er nicht so recht, wie er ihr die Nachricht beibringen sollte. »Und?«, fragte Margaret und packte den Hörer fester.

»Deine Mutter ... sie ist tot.«

»Was?« Zu schockiert, um ganz zu begreifen, was sie gerade gehört hatte, ließ Margaret sich an der Wand zu Boden gleiten. »Wann? Wie?«

Besorgt erhob sich Bruce von seinem Platz und wollte zu ihr kommen, aber Margaret schüttelte den Kopf.

»Ein Pick-up Truck hat sie gerammt. Irgendein Teenager, der zufällig durch den Ort fuhr. Es war allerdings nicht seine Schuld. Laut Augenzeugenberichten und Officer Washburn hat deine Mutter eine rote Ampel übersehen, weil sie sich gebückt und etwas aufgehoben hat. Suzette saß auf dem Beifahrersitz, und wir denken, sie muss wohl vom Sitz gerutscht sein ...« Dr. McElroy räusperte sich. »Es tut mir leid, Maggie.«

»Suzette. Natürlich.« Margaret fühlte sich merkwürdig distanziert, und sie brach nicht in Tränen aus. Aber ihre Nase schmerzte, als sei sie geschwollen. Sie drückte auf den Nasenrücken. »Mein Gott.«

Dr. McElroy gab einen mitfühlenden Laut von sich. »Soll ich deine Schwestern anrufen?«

»Nein, das mache ich schon.« Margaret hatte mit beiden seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr gesprochen, seit Weihnachten. Sie hatte Angst davor, ihnen die schlimme Nachricht überbringen zu müssen, aber einer musste es ja tun, und besser sie als ihr alter Hausarzt. »Die Fahrt dauert etwa fünf Stunden«, sagte sie, »aber wenn ich morgen früh aufbreche, bin ich am frühen Nachmittag da. Rose lebt in Sacramento und Quincy in Las Vegas. Sie werden ein bisschen länger brauchen.«

»Das ist ja egal, solange ihr alle nach Hause kommt, Maggie. Soll ich noch irgendetwas tun?«

»Ja, sagen Sie bitte Margaret zu mir. Und rufen Sie Mrs Overman an. Sie soll die Betten beziehen und den Schlüssel unter die Fußmatte legen.«

»Du weißt doch, dass wir hier in Shadow Falls unsere Türen nicht abschließen, Mag - Margaret. Mrs Overman ist schon im Haus und bereitet alles für euch Mädchen vor.«

Margaret legte auf. Sie hatte immer noch nicht ganz begriffen, dass ihre Mutter tot war, und einen Moment lang starrte sie wie benommen auf den Telefonhörer. Dann erhob sie sich seufzend.

Bruce kam zu ihr geeilt. »Du bist weiß wie ein Laborkittel«, sagte er besorgt.

»Meine Mutter ist bei einem Autounfall heute Abend ums Leben gekommen.« Es auszusprechen, fühlte sich surreal an.

»Das tut mir leid.«

Er öffnete und schloss die Hände, und sie wusste, er hätte sie gerne getröstet. In der Vergangenheit hatte er sie ein paarmal gefragt, ob sie mit ihm ausgehen wolle, aber sie hatte immer abgelehnt, und schließlich hatte er nicht mehr gefragt. Merkwürdig, dass sie jetzt am liebsten seine Arme um sich gespürt hätte, aber das würde sie natürlich nicht laut sagen. Nicht auszudenken, wenn sie die Kontrolle verlieren würde.

Margaret war sehr verschlossen. Sie behielt ihre Gefühle für sich. Manchmal hatte sogar sie selbst den Eindruck, gar keine zu besitzen. Aber jetzt ...

Entschlossen konzentrierte sie sich auf praktische Dinge und Entscheidungen. »Ich muss ab morgen eine Woche Urlaub nehmen«, sagte sie. Sie konnte es sich zwar eigentlich nicht leisten, dem Labor so lange fernzubleiben, aber mit der Beerdigung, dem Haus und den anderen Dingen, die zu regeln waren, hatte sie keine andere Wahl. »Kommst du ohne mich klar?«

»Mach dir keine Sorgen. Pass auf dich auf, Margaret. Es tut mir wirklich leid«, wiederholte er.

Tränen brannten hinter ihren Augen. Sie senkte den Kopf und nickte nur, weil sie sich nicht zu sprechen traute, aus Angst, ihre Stimme könnte versagen.

Stattdessen konzentrierte sie sich auf den nächsten Schritt. Wen sollte sie zuerst anrufen? Rose oder Quincy? Margaret stand keiner von beiden wirklich nahe, also beschloss sie, dem Alter nach vorzugehen. Rose war elf Monate älter als Quincy. Leider jedoch waren ihre Telefonnummern weder in Margarets exzellentem Gedächtnis noch in ihrem Handy gespeichert, dazu redeten sie nicht häufig genug miteinander. Und deshalb musste sie jetzt nach Hause fahren, obwohl sie eigentlich lieber hier bei Bruce bleiben und sich in die Arbeit flüchten würde.

Als sie aufblickte, sah sie, dass Bruce besorgt die Stirn runzelte.

»Na, geh schon, Margaret«, sagte er und scheuchte sie hinaus. Sie ergriff ihre Tasche und verließ das Labor.

Mit schwerem Herzen ging Rose Abbott aus dem Badezimmer ins Wohnzimmer. Danny hatte sich nicht vom Sofa bewegt. Er blätterte in der neuesten Wein-Zeitschrift und stopfte sich das Popcorn in den Mund, das sie für ihren samstäglichen Fernsehabend vorbereitet hatte.

Die Sideways-DVD, die sie sich angeschaut hatten, war auf Pause gestellt, während Rose auf der Toilette gewesen war, und auf dem Bildschirm war das traurige, ausdrucksstarke Gesicht von Paul Giamatti zu sehen. Wie passend.

»Sollen wir uns weiter den Film ansehen?« Danny warf die Zeitschrift auf den Beistelltisch, aber sie landete auf dem Boden. Ohne darauf zu achten, schob er sich eine Handvoll Popcorn in den Mund.

Das butterige Aroma, bei dem ihr vor fünf Minuten noch das Wasser im Mund zusammengelaufen war, bereitete ihr jetzt Übelkeit. Sie hob die Zeitschrift auf und legte sie auf die Ablage unter dem Tisch. Dann richtete sie sich auf.

»Ich habe meine Periode bekommen«, sagte sie und steckte die Hände in die spitzengesäumten Taschen ihres Lieblingskleides, das sie aus Laura-Ashley-Stoff genäht hatte.

Ihr Mann verzog enttäuscht das freundliche, runde Gesicht, hatte sich aber sofort wieder unter Kontrolle. Er wischte sich die Hände an einer Serviette ab. »Ist schon okay, Liebes«, sagte er. »Wir versuchen es einfach nächsten Monat noch einmal.«

Das sagte er jetzt schon seit fast zwei Jahren. Sie sagten es beide.

»Ich werde auch nicht jünger«, erwiderte sie. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren schrill. Aber das hatte natürlich einen Grund. Mit einunddreißig hörte sie ihre biologische Uhr schon ziemlich laut ticken. Die besten Jahre zum Kinderkriegen waren bald vorbei.

»Vielleicht sollten wir mal einen Termin bei Rachel Grant machen, dieser Spezialistin, bei der Mike und Linda waren.«

Rose dachte an die vielen Fragen und die unzähligen Tests, denen Linda sich hatte unterziehen müssen. Allein der Gedanke daran entsetzte sie. Wenn nun Dr. Grant irgendwie erkennen konnte, was im College passiert war? Sie würde es Danny bestimmt erzählen. Panik schnürte Rose die Luft ab. Nein! Das konnte sie auf keinen Fall zulassen, ganz gleich, wie sehr sie sich ein Kind wünschte.

Oh, diese Ironie des Schicksals. Gerade sie als Hauswirtschaftslehrerin war nicht in der Lage, das Heim zu schaffen, nach dem sie sich sehnte. Sie liebte ihren Mann, aber manchmal hasste sie ihn auch; sie war aufrichtig, hatte aber Angst, ihm die Wahrheit zu sagen. Ihr Leben war ein einziger großer Widerspruch. Sie war eben ganz die Tochter ihrer Mutter ...

»Es wäre einfacher, wenn du dich zuerst untersuchen lassen würdest«, sagte sie. Dabei wusste sie jedoch ganz genau, dass Danny das nicht tun würde. Vorerst war sie in Sicherheit.

Wie sie vorausgesehen hatte, presste er die Lippen zusammen. »Darüber haben wir doch schon gesprochen, Rose.«

Sie verschränkte die Arme. »Werd endlich erwachsen, Danny. Wir wollen doch nur wissen, ob deine Spermienanzahl für die Zeugung ausreicht. Das ist doch kein Angriff auf deine Männlichkeit.«

»Ich brauche keinen Test, um zu wissen, dass bei mir alles in Ordnung ist«, beharrte er und verschränkte ebenfalls die Arme. Er kniff die Augen zusammen und musterte sie anklagend. Sein Blick sprach Bände.

Es liegt eindeutig an dir.

Rose fürchtete, dass er recht hatte. Die Sünden der Vergangenheit und all das. Seit zwölf Jahren wurde sie immer wieder von Schuldgefühlen überwältigt, und manchmal hatte sie das Gefühl, verrückt zu werden. »Ich will jetzt nicht darüber reden«, fuhr sie ihn an. »Ich gehe ins Bett.«

Das Klingeln des Telefons erschreckte sie beide. Rose blickte auf die Uhr. Es war fast elf. Niemand rief so spät an, noch nicht einmal am Samstagabend.

Danny nahm den Hörer ab. »Hallo.« Er lauschte. »Maggie«, formte er lautlos mit den Lippen zu seiner Frau hin. »Wir haben lange nichts mehr voneinander gehört, Margaret

Rose und Danny fanden es albern, dass Maggie darauf bestand, mit ihrem vollständigen Vornamen angeredet zu werden. Was war an der guten alten Maggie so verkehrt? Und warum rief sie gerade heute an? Rose warf Danny einen neugierigen Blick zu.

»Rose steht neben mir«, sagte ihr Mann gerade. »Warte, ich gebe sie dir.« Er reichte ihr das Telefon.

Rose hockte sich auf die Armlehne des Sofas. »Hallo, Margaret.«

»Mutter ist tot«, sagte Margaret sachlich.

»Mutter ist tot?«, wiederholte Rose und wechselte einen erschreckten Blick mit ihrem Mann. »Aber sie ist doch erst einundfünfzig. Und sie war doch völlig gesund.« Physisch zumindest.

»Ja.«

Sie hörte Margaret schniefen, und auch ihre Augen füllten sich mit Tränen.

Danny wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wehrte ihn ab. »Was ist denn passiert?«

»Ein Autounfall. Ein Junge ist in ihren Wagen hineingefahren.«

Trotz der Tränen, die ihr übers Gesicht liefen, empfand Rose noch nicht besonders viel. »Ein Junge.« Sie schüttelte den Kopf. »War er betrunken?«

»Nicht dass ich wüsste. Anscheinend war Mutter schuld. Sie ist über eine rote Ampel gefahren. Sie hat sich während des Fahrens wohl gebückt, um Suzette aufzuheben.«

»Das hätte ich mir ja denken können, dass Suzette damit zu tun hatte«, murmelte Rose.

»Ja, das habe ich auch gesagt«, erwiderte Margaret.

»Suzette.« Danny verdrehte die Augen und kicherte leise.

»Wann ist es passiert?«

»Heute Abend.«

»Wer hat dich angerufen?« Warum bin ich nicht angerufen worden? Eifersucht stieg in ihr auf. Kleinlich angesichts des Todes ihrer Mutter, aber Rose konnte nichts dagegen tun. Schließlich war sie das mittlere Kind, und das bedeutete, dass sie neben Margarets Intelligenz und Quincys aufsehenerregender Schönheit unsichtbar war.

»Dr. McElroy. Er hat mich wahrscheinlich angerufen, weil ich die Älteste bin. Ich hätte mich schon früher bei dir gemeldet, aber ich war im Labor und hatte deine Nummer nicht mit.«

Dass ihre ältere Schwester ihre Nummer nicht auswendig kannte, versetzte Rose einen Stich. Rose rief Margaret oder Quincy zwar auch nur selten an, aber sie kannte ihre Nummern. »Weiß Quincy schon Bescheid?«

»Noch nicht. Ich rufe sie jetzt gleich an.«

Zumindest hatte sie es vor Quincy erfahren. Das war ja schon etwas. Aber es war auch kleinlich und furchtbar, so etwas zu denken. Da freute sie sich, dass sie als Erste vom Tod ihrer Mutter erfuhr. Endlich begriff sie es. Meine Mutter ist tot. Der Schmerz schnürte ihr die Kehle zu. Laut schluchzend sank sie in Dannys Arme. Seine Wärme umhüllte sie tröstend, und sie legte den Kopf an seine Brust.

»Ich breche morgen früh nach Shadow Falls auf«, sagte Margaret. »Wie schnell kannst du da sein?«

Rose wischte sich über die Augen. »Ich buche gleich einen Flug.« Der Flug von Sacramento nach Seattle dauerte fast drei Stunden. Dort musste sie sich einen Wagen mieten und noch einmal fünf Stunden über die Cascade Mountains nach Shadow Falls fahren. »Aber Montag in einer Woche beginnen die Ferienspiele, und die Kinder und der Bezirk verlassen sich auf mich. Ich kann also nicht lange bleiben.«

»Ich auch nicht.«

Susan ist tot. Mama. So durften Rose und ihre Schwestern sie nie mehr nennen, seit ihr Vater mit einer blonden Nutte durchgebrannt war.

Rose schüttelte den Kopf. »Ich kann es nicht glauben.«

»Nein, ich habe es auch noch nicht ganz begriffen«, sagte Margaret. Sie klang traurig und müde.

Erneut liefen Rose die Tränen über die Wangen. Danny reichte ihr eine Papierserviette. Sie tupfte sich die Augen ab und zerknüllte das Papier.

»Mrs Overman bezieht die Betten«, sagte Margaret. »Du und Danny, ihr könnt in Susans Zimmer schlafen.«

Danny kannte ihre Mutter kaum. Sie waren sich genau zweimal begegnet, bei ihrer Hochzeit im Frühling vor vier Jahren und an Thanksgiving im gleichen Jahr. Das war der schlimmste Feiertag in Roses Leben gewesen, was ja wohl alles sagte. Und dass ihre Schwestern ausnahmsweise einmal einer Meinung mit ihr gewesen waren, sagte noch mehr. Danach waren sie nie wieder nach Shadow Falls gefahren.

Rose wollte nicht, dass Danny mitkam. Er konnte ja zur Beerdigung nachkommen. »Äh, Danny kommt nicht mit.«

Er warf ihr einen verletzten, verwirrten Blick zu. Sie legte die Hand über den Hörer. »Du kannst es dir nicht leisten, die Önologie-Konferenz in San Francisco zu verpassen.« Die Konferenz begann morgen. »Komm einfach zur Beerdigung nach. Ich schaffe das schon.«

Schniefend erhob sie sich.

»Wenn du willst.« Er verzog schmollend den Mund.

Aber sie hatte jetzt keine Zeit, sich um seine Gefühle zu kümmern. Sie ging mit dem Telefon in die Küche. »Ich rufe besser Quincy an«, sagte sie zu Margaret. »Wir können uns in Seattle treffen und dann gemeinsam mit dem Auto nach Shadow Falls fahren.«

»Oh, ich weiß nicht, ob das so eine gute Idee ist. Ihr habt euch wahrscheinlich schon gegenseitig umgebracht, bevor ihr aus dem Flughafen raus seid.«

Das konnte tatsächlich passieren, da Rose und Quincy sich überhaupt nicht verstanden. Und mit Margaret kamen sie auch nicht aus. Und jetzt war ihre verbitterte, selbstsüchtige Mutter, die sie alle gehasst hatten, tot.

»Auch wenn wir uns die ganze Zeit streiten, ist es sinnvoll, gemeinsam ein Auto zu mieten«, beharrte Rose. »Ich rufe sie an.«

»Gut, aber lass mir zehn Minuten Zeit, damit ich ihr die Nachricht beibringen kann.«

Schwer atmend wälzte Duke sich von Quincy herunter. »Das war toll.«

Ja, wenn man auf Männer stand, die nur an ihrer eigenen Befriedigung interessiert waren. Quincy rang sich ein Lächeln ab. »Ja, das war es.«

Duke, der alt genug war, um ihr Vater zu sein, zog sie an seine schlaffe Seite. Sie versuchte, nicht das Gesicht zu verziehen. In den letzten zwei Wochen war er jeden Abend im Blue Dove, der Cocktail Lounge, in der sie arbeitete, aufgetaucht. Und gestern Abend hatte ihr Chef sie gefeuert. Ein betrunkener Gast hatte sie einmal zu oft ins Hinterteil gekniffen, und sie hatte die Nerven verloren und ihm eine Ohrfeige verpasst.

Da sie kaum in der Lage war, die Miete und die anderen Rechnungen zu bezahlen - erst recht seit Chuck ausgezogen

war saß Quincy tief in der Tinte. Sie hasste es, allein zu sein. Und deshalb war sie mitgegangen, als Duke, der die Szene beobachtet hatte, ihre Hand ergriffen und gesagt hatte: »Komm, Baby, wir gehen.«

Er hatte sie zum Abendessen eingeladen, was nett von ihm war. Allerdings hielt er sich eher an Gin Tonic als ans Essen. Ihr zweiter Ehemann war Alkoholiker gewesen, und mit einem Säufer wollte Quincy nichts zu tun haben. Noch vor dem Salat beschloss sie, Duke sausen zu lassen.

Und doch lag sie jetzt hier mit ihm im Bett und war so allein wie eh und je. Ohne Job und restlos pleite.

Angeekelt von sich und ihrem Leben, wand sie sich aus seinen Armen. Sie würde sich waschen und sich einen Morgenmantel anziehen. Und dann würde sie ihn nach Hause schicken. »Bin gleich wieder da, Süßer.«

Da sie wusste, dass er ihr nachblickte, fuhr sie sich durch die roten Haare und schwang ihr vollkommenes Hinterteil. Das war natürlich nicht gerade das Richtige, wenn sie ihn nach Hause schicken wollte, aber nach ihrem Gesicht war ihr Körper ihr größtes Kapital, und sie konnte einfach nicht anders.

Sie war gerade im Flur, als das Telefon klingelte. Dass es schon nach elf an einem Samstagabend war, interessierte sie nicht. Das hier war Las Vegas, und die Nacht fing gerade erst an. Quincy fuhr herum, lief ins Schlafzimmer zurück und schnappte sich das Telefon, das auf dem Nachttisch lag.

»Quincy«, schnurrte sie. Sie zwinkerte Duke zu, dessen Augen vor Alkohol und Lust glasig waren.

»Ich bin es, Margaret. Habe ich dich geweckt?«

»Wer ist das, Püppchen?«, lallte Duke.

»Machst du Witze?« Quincy zwang sich zu einem Lachen. »Ich bin nicht allein, Mags, und er ist bestückt wie ein ...«

»Quincy, bitte«, unterbrach ihre Schwester sie.

Margaret hatte bestimmt seit Jahren mit keinem Mann mehr geschlafen, dachte Quincy. Ihre Stimme klang verächtlich. Oder war es Neid? Quincy grinste. Ihr war beides recht. »Entschuldigung, Mags.«

»Ich heiße Margaret.«

Sie klang so, als würde sie mit den Zähnen knirschen. Es machte immer noch Spaß, sie auf die Palme zu bringen, zumal es so einfach war. »Wie kommt es, dass du an einem Samstagabend um diese Uhrzeit noch auf bist?«, fragte Quincy.

Margaret reagierte nicht auf die Spitze. »Mutter ist tot.«

Quincys Lächeln erlosch. »Das kann nicht sein.« Sie ging mit dem Telefon ins Badezimmer. »Was ist denn passiert?«

»Dr. McElroy hat gesagt, es sei ein Verkehrsunfall gewesen. Ihre Schuld. Sie ist über eine rote Ampel gefahren. Zeugen sagen, sie hat sich gebückt. Wahrscheinlich hat Suzette sie abgelenkt. Irgend so ein armer Junge, der durch den Ort gefahren kam, ist in sie hineingerauscht.«

»Wow.« Quincy ließ sich auf die Toilette sinken. »Suzette also?« Sie schüttelte den Kopf. »Dann hat Susans Liebling ihren Tod verursacht. Wie passend.«

»Püppchen?«, rief Duke.

Quincy legte die Hand über den Hörer. »Halt den Mund!« Sie schob die Tür mit dem Fuß zu, was nicht schwierig war, da das Badezimmer klein war und sie von der Toilette aus überall drankam. Dann wandte sie ihre Aufmerksamkeit wieder Margaret zu. »Ich muss meinen Chef bitten, mir freizugeben«, log sie. »Mehr als eine Woche wird er mir nicht genehmigen.« Und schon die konnte sie sich kaum leisten. »Wie ist der Plan?«

»Noch habe ich keinen, aber da wir alle zu tun haben, würde ich vorschlagen, wir bringen es so schnell wie möglich hinter uns.« Margaret schniefte. »Wenn wir alle da sind, können wir immer noch darüber reden. Ich fahre morgen früh nach Shadow Falls. Rose nimmt den nächsten Flieger. Das solltest du auch machen. Sie meinte, ihr zwei könntet euch zusammen ein Auto leihen und gemeinsam dorthin fahren.«

»Rose und ich fünf Stunden lang alleine in einem Auto?« Trotz ihrer Trauer musste Quincy lachen.

»Nun, von einem praktischen Standpunkt aus betrachtet, ist es durchaus sinnvoll.«

Praktisch. Das war Rose. Und Margaret auch. Und was hatte es ihnen eingebracht? Die eine Schwester verbrachte ihr Leben isoliert in einem Labor, und die andere gab Kindern auf der Highschool Haushaltsunterricht und war mit einem Mann verheiratet, der nicht den leisesten Hauch von Fantasie besaß. Wie langweilig. Quincy war die Einzige, die das Leben in vollen Zügen genoss. Obwohl, »genießen« klang im Moment ein wenig übertrieben.

Meine Mutter ist tot. Susan war zwar eine lausige Mutter gewesen, aber ihr Tod schmerzte dennoch unerträglich. Tränen traten Quincy in die Augen. Am liebsten hätte sie Duke auf der Stelle nach Hause geschickt und geheult wie ein Baby. »Ich buche gleich einen Flug«, sagte sie.

»Nein, warte lieber, bis du von Rose gehört hast, damit du dich mit ihr abstimmen kannst. Sie ruft wahrscheinlich jetzt gleich an.«

Trotz ihrer Trauer und ihres heftigen Verlangens zu weinen, beschloss Quincy, Duke doch noch nicht nach Hause zu schicken. Wenn Rose anrief, sollte er total scharf auf sie sein. Damit Rose neidisch wurde.

Trauer hin oder her, sie hatte schließlich einen Ruf zu verlieren.

Kapitel 2

Sonntag

Margaret war die Fahrerei leid. Sie bog in die Mayfair Street ein, wo ihre Mutter über dreißig Jahre lang gewohnt hatte. Für Juni war es ungewöhnlich heiß und trocken, und der Rasen in den Vorgärten war hier eher braun als grün. Wahrscheinlich war das Wasser rationiert worden. Die meisten Nachbarn waren in Susans Alter. Sie hatten ihre Kinder hier großgezogen, ihre Häuser abbezahlt und genossen jetzt die Ruhe. Es gab kaum Kinderlärm, zumal es so heiß war, dass die meisten Leute wohl jetzt nach Kirche und Mittagessen ein Nickerchen auf der Veranda hielten.

Susans Bungalow hatte keine Einfahrt, deshalb parkte Margaret den Wagen unter der großen Magnolie vor dem Haus. Alles sah so aus wie immer. Weiße Fensterrahmen aus Kunststoff und schwarze Fensterläden. Schwarz und weiß. Das war Susan.

Jemand hatte den braunen Rasen gemäht, das Unkraut gejätet und die Blumenbeete gewässert. Zu beiden Seiten der Eingangstreppe blühten weiße Rosen und Löwenmäulchen.

Die Hitze sprang Margaret förmlich an, als sie die Autotür öffnete. Sofort bildeten sich Schweißtropfen auf ihrer Oberlippe. Sie nahm ihre Tasche vom Rücksitz und ging zur Haustür.

Mit der Hüfte hielt sie die Fliegengittertür auf, während sie die unverschlossene Haustür öffnete, dann trat sie in die dämmerige Stille. Die Luft war wunderbar kühl hier. Durch die geflieste Diele ging sie direkt ins Wohnzimmer.

Margaret stellte Reisetasche und Handtasche ab. Alles war unverändert. Die beigen Vorhänge, die wegen der Sonne zugezogen waren; der beige, abgetretene Teppich; die eierschalenfarbenen Wände und die dreißig Jahre alten Möbel. Da sich Moden jedoch immer wieder wiederholten, sahen Couchtisch, Sofa und Sessel beinahe schick und modern aus. Der Kamin, den ihre Mutter nur angezündet hatte, wenn Besuch da war, war sauber ausgefegt, und an der Wand darüber hing ein großes Gemälde von Suzette. Margaret fand es geschmacklos und hässlich. Auf dem Kaminsims stand derselbe unpersönliche Nippes wie immer - vier Porzellanhunde, zwei goldene Kerzenhalter und eine kleine Messingglocke. Keine Fotografien. Als ob es Margaret und ihre Schwestern gar nicht gäbe.

Das hatte ihr schon immer wehgetan, und heute schmerzte es sogar noch mehr. So selbstsüchtig Susan auch gewesen war, Margaret liebte sie doch, und sie wünschte sich, alles wäre anders gewesen. Aber jetzt war es zu spät.

Ziellos wanderte sie durchs Haus. Mrs Overman, die Frau, die Susan nach dem Auszug ihrer Töchter zum Saubermachen eingestellt hatte, hatte gesaugt und alles abgestaubt. Das leise Summen der Klimaanlage machte noch deutlicher, wie still es im Haus war. Margaret ging an dem kleinen Esszimmer vorbei in die Küche, um das Radio einzuschalten.

In der Tür blieb sie stehen und blickte auf die Kuchen, Pasteten und Brote, die auf der Arbeitsplatte und dem Küchentisch standen. Es wäre Susan, die Unordnung hasste, sicher nicht recht gewesen.

Margaret brauchte sich gar nicht erst zu fragen, wie das ganze Essen hierhergekommen war. In Shadow Falls ging jeder bei jedem ein und aus, eine Angewohnheit, die sie schrecklich fand.

Da sie keinen Klassik-Sender fand, wählte sie einen Sender mit Rock-Oldies. Ein früher Song von den Beatles ertönte. Aber da ihre Mutter gerade erst gestorben war, fand sie das doch zu pietätlos und schaltete auf einen Gospel-Sender um.

Seit dem Frühstück hatte sie nichts mehr gegessen, und angesichts der Überfülle an Speisen spürte sie auf einmal, wie hungrig sie war. Sie schnitt sich zwei Scheiben von einem selbst gebackenen Brot ab und machte sich ein Schinken-Käse-Sandwich, das sie am Spülbecken stehend verschlang.

Sie kaute noch, als es an der Vordertür klopfte. »Huhu, Maggie, ich bin’s, Fiona.«

Die beste Freundin ihrer Mutter. Margaret unterdrückte ein Stöhnen. Sie musste Fiona so schnell wie möglich wieder loswerden.

»Äh, ich komme sofort.« Sie schaltete das Radio aus, wischte sich die Hände ab und eilte zur Tür.

Leicht übergewichtig, aber gepflegt wie immer, sah Fiona in ihrem leichten Sommerkleid, den Sandalen und einem Strohhut tadellos aus. Wahrscheinlich hatte sie das Kleid auch in der Kirche angehabt.

»Oh Mann, ist das heute heiß.« Ihr sorgfältig geschminktes Gesicht war kummervoll verzogen, als sie Margaret einen Strauß Blumen hinhielt. »Aus meinem Garten, mit Liebe.«

Margaret biss sich auf die Lippe. »Danke.«

»Es ist wundervoll, dich zu sehen, selbst unter diesen Umständen.«

Fiona war mit vierzig Witwe geworden und hatte ihren Sohn, der damals ein Teenager gewesen war, alleine großgezogen. Sie wusste, wie weh es tat, einen geliebten Menschen zu verlieren. Und sie wusste auch, dass man Trost brauchte. Sie legte ihren Hut aufs Sofa und breitete die Arme aus. Margaret ließ sich bereitwillig von ihr umarmen, und als sie sich voneinander lösten, schnieften sie beide.

»Wie geht es dir?«, fragte Fiona und wischte sich die Tränen mit den Knöcheln ab.

»Ganz okay. Ich habe es immer noch nicht ganz begriffen, weißt du?« Eigentlich konnte Fiona doch ein Weilchen dableiben, dachte sie. »Ich stelle schnell diese wunderschönen Blumen ins Wasser. Kann ich dir was zu essen oder zu trinken anbieten?«

»Ich muss auf mein Gewicht achten, deshalb besser nichts zu essen, danke. Und eigentlich trinke ich ja um diese Tageszeit nichts, aber ein Glas Weißwein wäre jetzt gut. Ich glaube, im Schrank neben der Spüle ist noch eine ungeöffnete Flasche Pinot Grigio, aus diesem Karton, den Rose und Danny zu Weihnachten geschickt haben.«

Auch Margaret hatte Lust auf ein Glas Wein. »Ich hole ihn«, sagte sie. »Setz dich doch schon mal.«

In der Küche arrangierte sie die Blumen in einer Vase und gab Wasser hinein. Sie stellte sie auf den Esstisch, wo schon mehrere Sträuße aus dem Blumengeschäft im Ort standen. Als sie mit der geöffneten Flasche und zwei Gläsern ins Wohnzimmer zurückkam, hatte Fiona sich mit züchtig übereinandergeschlagenen Beinen auf das Sofa gesetzt.

Margaret schenkte Wein ein. Sie reichte Fiona ein Glas und stellte die Flasche auf den Wohnzimmertisch. Die einzigen Stühle waren die beiden beige und weiß gestreiften Queen-Anne-Armlehnstühle. Mit ihren harten Sitzen und der starren Rückenlehne waren sie alles andere als bequem, aber sonst gab es nur noch den Polsterschemel.

»Auf deine Mutter.« Fiona hob ihr Glas.

Margaret erwiderte die Geste, und sie tranken beide einen großen Schluck.

»Das ist schon besser«, erklärte Fiona und schmatzte mit den Lippen.

Ihr roter Lippenstift zeichnete sich am Glasrand ab. Es sah aus wie eine Kosmetikwerbung. Margaret war nicht geschminkt, und ihren Lippenabdruck sah man kaum auf dem Glas. In ihren bequemen Khakishorts und dem weiten, weißen T-Shirt kam sie sich entschieden unattraktiv vor.

»Reverend Hill hat mich gebeten, dir zu sagen, dass er den Mittwoch für die Beerdigung reserviert hat«, sagte Fiona. »Du und deine Schwestern, ihr sollt morgen bei ihm vorbeikommen. Habt ihr euch schon über den Gottesdienst Gedanken gemacht?«

Margaret fügte den Besuch beim Pfarrer ihrer mentalen To-do-Liste hinzu. Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Hast du eine Ahnung, was für eine Art von Beerdigung Susan gerne gehabt hätte?«

»Du liebe Güte, nein. Deine Mutter war noch viel zu jung, um sich über solche Fragen den Kopf zu zerbrechen. Was ihr entscheidet, wird schon in Ordnung sein.«

Hoffentlich wurde es eine kurze Beerdigung, dachte Margaret. Sie wollte es möglichst schnell hinter sich bringen, damit sie wieder zur Tagesordnung übergehen konnte. »Ich sage dir Bescheid.«

»Ja, bitte. Ich möchte euch Mädchen sowieso so viel wie möglich helfen, also meldet euch ruhig bei mir.« Fiona trank ihr Glas aus und schenkte sich nach. »Was wollt ihr mit dem Haus machen?«

Fiona war Immobilienmaklerin, deshalb kam die Frage nicht unerwartet.

»Wir wollen es verkaufen.« Da sie alle an dieses Haus nur schmerzliche Erinnerungen hatten, galt ihre Aussage auch für Rose und Quincy.

»Wenn ihr es anbieten wollt ... sprecht mich an.«

»Auf jeden Fall.«

Auf einmal wollte sie Fiona gerne wieder loswerden. Margaret trank noch einen Schluck und verschloss dann demonstrativ die Weinflasche. »Mehr Wein vertrage ich jetzt nicht«, sagte sie. »Danke, dass du vorbeigekommen bist.«

»Ich bin noch nicht bereit zu gehen.«

Entschlossen zog Fiona den Korken wieder aus der Flasche. »Wann erwartest du Rose und Quincy?«, fragte sie.

»Irgendwann heute Abend.«

»Oh, das ist blöd. Ich wollte eigentlich mit euch allen dreien sprechen, aber du kannst es ja deinen Schwestern später erzählen.« Sie beugte sich vor und fuhr leiser fort: »Es gibt etwas, was du wissen solltest, und du solltest es auf jeden Fall von mir erfahren.«

»Und was ist das?«

»Über die Jahre hatte deine Mutter verschiedene ... wie soll ich es ausdrücken? ... Herrenbekanntschaften.«

Margaret riss verblüfft den Mund auf. »Das ist unmöglich. Susan hat Männer verabscheut.«

Jeden Tag hatte sie mindestens eine abschätzige Bemerkung über das männliche Geschlecht gemacht und ihren Töchtern geraten, sich von Männern fernzuhalten. Jeder Junge, der an die Tür klopfte, wurde auseinandergenommen wie frisch gefangener Fisch, und die Zeit auf der Highschool war die reine Hölle gewesen.

Um Auseinandersetzungen zu vermeiden, hatten Margaret und Rose gelogen und sich heimlich davongeschlichen. Die eigensinnige Quincy jedoch ignorierte die Warnungen ihrer Mutter einfach und handelte sich jede Menge Ärger ein. Das galt auch für die Jungs, die hinter ihr her waren, aber sie hätten für Quincy sowieso alles auf sich genommen. Quincy war immer schon ein wandelnder Männermagnet gewesen.

»Sie hat sich doch von Männern ferngehalten, seit mein Vater abgehauen ist«, sagte Margaret.

»Da irrst du dich.« Fiona drehte ihr Weinglas in der Hand. »Susan hat Männern nicht getraut, aber sie mochte sie. Sie hatte Bedürfnisse, Maggie. Sexuelle Bedürfnisse.«

Das wollte Margaret eigentlich gar nicht wissen. »Iih! Sie ist doch noch nicht einmal vierundzwanzig Stunden tot. Ihr Sexleben interessiert mich nicht. Und im Übrigen werde ich mittlerweile Margaret genannt.«

Die ältere Frau presste die Lippen zusammen. »Du musst es aber erfahren. Seit einigen Jahren war sie mit niemandem mehr zusammen, aber du kannst darauf wetten, dass alle ihre alten Flammen zur Beerdigung kommen. Deine Mutter war zwar sehr diskret, aber die Leute werden sicher reden. Deshalb wollte ich es euch vorher sagen.«

»Alle ihre alten Flammen? Wie viele waren es denn?«

»Warte mal.« Fiona blickte zur Decke. »Da war Matt Greenwald. Das ist schon lange her. Du warst damals etwa zehn. Matt hatte gerade eine schlimme Scheidung hinter sich. Er und Susan waren ungefähr ein Jahr zusammen.« Sie strich sich übers Kinn. »Danach hat sie ein paar Jahre gewartet, ehe sie sich mit Tom Brewster eingelassen hat. Ja, genau, seine Frau Maybelline war damals seit anderthalb Jahren tot. Kannst du dich noch an diesen schrecklichen Unfall in der Konservenfabrik erinnern? Die Sache mit Tom dauerte ungefähr sechs Monate. Frank Vale war der Nächste - du warst mittlerweile schon auf der Highschool. Die Beziehung hat drei Jahre gedauert. Und die letzte und längste Beziehung hat sie mit Eric DelVaio gehabt. Sie hat fast elf Jahre gedauert. Aber dann wollte Eric heiraten, und deine Mutter wollte nicht.« Fiona zuckte mit den Schultern. »Also hat er sich von ihr getrennt. Das muss vor vier Jahren, direkt vor Thanksgiving gewesen sein.«

Das Jahr, in dem sie zum letzten Mal einen Feiertag gemeinsam verbracht hatten. Susan war verbittert, manipulativ und echt gemein zu allen gewesen. Hatte das etwas mit der Trennung von Eric zu tun gehabt? Das musste sie unbedingt Rose und Quincy erzählen.

»So viele?« Margaret schüttelte den Kopf. »Wir sind schon lange erwachsen. Warum sollte Susan uns das verheimlicht haben?«

»Am Anfang hauptsächlich deshalb, weil ihr schon so viel durchgemacht hattet. Susan hatte nicht vor, einen dieser Männer zu heiraten, deshalb solltet ihr gar nicht erst eine Beziehung zu ihnen aufbauen. Und später ... vielleicht hatte sie sich daran gewöhnt, ihr Liebesleben geheim zu halten, aber vielleicht war es ihr auch nur unangenehm, mit ihren Töchtern über ihre Liebhaber zu sprechen. Wer weiß?«

Margaret hörte sich alles an, ohne es richtig zu begreifen. Das hatte Zeit bis später. »Wie hat sie es geschafft, sich ohne unser Wissen mit all diesen Männern zu treffen? Und wann hatte sie überhaupt Zeit dazu? Sie hat entweder gearbeitet, geschlafen oder sich mit dir getroffen.« Susan hatte jahrelang in einer Anwaltskanzlei gearbeitet, bevor sie sich selbstständig gemacht hatte.

»Sie hat ihre Überstunden abgefeiert, ohne dass ihr es mitbekommen habt. Manchmal hat sie im Motel vor der Stadt auch eine verlängerte ›Mittagspause‹ gemacht. Und manchmal hat sie nur gesagt, sie trifft sich mit mir.«

Dass ihre Mutter ihre wenige Freizeit lieber mit ihren Liebhabern als mit ihren nach Zuneigung hungernden Töchtern verbracht hatte, überraschte Margaret nicht. Aber es tat doch weh. Sie schwieg. Sie wollte, dass Fiona jetzt ging.

»So, jetzt weißt du es.«

Fiona hatte kaum den letzten Schluck Wein getrunken, als Margaret auch schon aufstand. »Wenn es dir nichts ausmacht - es war ein langer Tag, und ich bin erschöpft.«

»Ich lasse dich sofort in Ruhe. Jetzt habe ich es dir ja gesagt.«

Sie nahm Margaret das Versprechen ab anzurufen, wenn sie etwas brauchte, und schloss sie erneut in die Arme. Dann ging sie.

Endlich war es wieder still im Haus. Fionas Enthüllungen bereiteten Margaret Kopfschmerzen. Sie nahm zwei Tabletten und beschloss, sich hinzulegen. Am Badezimmer vorbei, ging sie zu Susans Schlafzimmer, dem einzigen Schlafzimmer im Erdgeschoss.

Die beigen Kopfkissen waren perfekt auf der gleichfarbigen Daunendecke arrangiert, so wie immer. Genau in der Mitte des Bettes saß zwischen zwei kleinen Zierkissen Suzette in all ihrer rehbraunen, mumifizierten Pracht. Wahrscheinlich hatte Mrs Overman sie dorthin gesetzt, während sie saubergemacht hatte.

Nachdem Glory Lansing seine Frau verlassen hatte, war der Chihuahua, damals noch ein Welpe, die große Liebe seines Frauchens geworden. Ihr Herz verfügte nur über eine beschränkte Menge an Liebe, und damit überschüttete sie ihr Hündchen und anscheinend auch Matt, Tom, Frank und Eric. Ihre Töchter behandelte sie als lästiges Übel. Sie mussten ernährt und gekleidet werden, und sie schubste sie herum oder auch einfach beiseite, während der Hund wie eine Prinzessin verwöhnt wurde.

Nachdem Suzette im hohen Hundealter von siebzehn Jahren gestorben war, hatte Susan ein Vermögen ausgegeben, um sie für die Ewigkeit zu erhalten. Sie nahm den ausgestopften Köter überallhin mit. Und wenn sie zu Hause war, wachte Suzette vom Bett aus über das Schlafzimmer, wie jetzt auch.

Margaret verzog das Gesicht. Hier würde sie auf keinen Fall schlafen. Rose oder Quincy konnten das Zimmer benutzen.

Sie schloss die Tür. Aber die Erinnerungen konnte sie nicht ausschließen.

Sie wirbelten durch ihren Kopf, während sie ihre Reisetasche nach oben in die winzige Dachkammer trug, die sie bezogen hatte, als Quincy alt genug war, um sich ein Zimmer mit Rose zu teilen. In der Woche, in der Margaret ausgezogen war, um aufs College zu gehen (auf Wiedersehen, Margaret, und komm nicht zurück), hatte sich Susan ihr Büro dort eingerichtet. Jetzt standen ein Computer, ein Schreibtisch und ein Bücherregal in dem Zimmer.

Das einzige andere Zimmer oben war neben einem winzigen Bad die Kammer, die sich Quincy und Rose geteilt hatten. Das Zimmer war so bunt, dass es einem in den Augen wehtat, mit Bettüberwürfen, Raffgardinen und einem verschlissenen Teppich in Knallrosa. Die Wände waren in einem blasseren Rosé gestrichen. Die gerahmten Bilder von Clowns, die eher traurig als fröhlich aussahen, hingen immer noch an der Wand, aber die Punk-Rock-Poster, die Quincy in ihren rebellischen Jahren an die Wand geklebt hatte, waren verschwunden.