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Eva M. Bauer

Findelkind

Geschichte einer Münchner Familie

ISBN 978-3-948065-08-9

eISBN 978-3-948065-13-3

Alle Rechte der Ausgabe

© STROUX edition München 2020

Covergestaltung: Matthias Mielitz · München

Alle Abbildungen aus dem Privatbesitz der Autorin

www.stroux-edition.de

Du willst wissen, wie alles gewesen ist?
Das kann ich selbst nicht so genau sagen.
Es gibt nur ein paar Daten und Namen, mehr nicht.
Aber wenn es nicht anders geht, wird das schon reichen
.

Inhalt

Der Himmel mag grün gewesen sein

Anna-Maria wuchs in einer Stadt auf

Ich stelle mir vor

Keine Fotos also, keine Briefe, kein Grab

War Anna-Maria mit ihren 12 Jahren nicht zu jung

Wusste Anna-Maria überhaupt, was Liebe war?

Bald nach dem Sohn

Im Weinrestaurant ‚Kaiserstuben‘

Nicht nur die Gäste

Johann Euringer mochte nicht mehr

Johann war wirklich ein Hübscher

Ein Glück war es

Politik war Sache der Männer

Am 7. November 1918

Im Sommer 1919

Das kleine Ernal entwickelte sich prächtig

Bei den Euringers ging es bergauf

An Silvester kaufte Paula etwas zum Bleigießen

Der Großvater wurde jetzt schnell alt

Lange hielt es Paula nie aus

Die Euringers fanden also eine neue Bleibe

Als Anfang 1933 ein neuer Reichskanzler eingesetzt wurde

Erna war eine hübsche junge Frau

München wurde zur ‚Hauptstadt der Bewegung‘

Anna war allein in der Küche

Nach ein paar Wochen

Ins Kino gingen sie jetzt wieder

Die Versorgung über Lebensmittelmarken

In diesem Frühsommer

Überall in München waren die Amis präsent

Als Erstes kaufte Paula süße rote Kirschen

Ich konnte mir nur ausdenken

Im Sommer kaufte Oskar eine Vespa

Oskar war über einen Monat mit der Vespa unterwegs

Es war eine Nacht Anfang Dezember

Vor dem Entbindungsheim

Epilog

Der Himmel mag grün gewesen sein

Der Himmel mag grün gewesen sein an diesem frühen Morgen, im milchigen Ton von Isarwasser nach der Schneeschmelze. Ein Zeichen der Hoffnung also, wenigstens das, als sie den Korb auf die Stufen stellte. Nochmals die Tücher fester gestopft, damit sich die Wärme des kleinen Körpers länger hielt. Ein letzter Blick ins schlafende Gesicht. Zarte, fast durchscheinende Lider, eine winzige Nase. Und zwischen den aufgeworfenen Lippen atmete es unmerklich in die feuchte Morgenluft.

Irgendwo schlug eine Kirchenglocke, und sie zuckte zusammen. Da riss das Kind die Augen auf, graue Augen, die noch nichts sahen und doch schon zu fixieren suchten. Die junge Frau wich zurück, blickte sich hastig um, raffte die Röcke und eilte davon. Lautlos fast, denn der Boden des Platzes war ungepflastert, und nur sehr aufmerksame Ohren hätten das Knirschen der schnellen Schritte im sandigen Kies hören können. Oder ihren keuchenden Atem.

Niemand hörte sie. Wurden ihre Schritte an der nächsten Ecke noch einmal langsamer? Stockten sogar? Mag sein, dann aber nur einen Augenblick lang, und der ging vorüber. Eines wusste sie bestimmt: Sie durfte nicht umkehren. Durfte nicht den einzigen Ausweg gefährden, der ihr in der Not eingefallen war. Für den sie sich die letzten Monate verborgen hatte in dieser Stadt, die eine Residenzstadt war und damit bessere Möglichkeiten bot. Zumindest für eine wie sie, eine vom Land. Die daheim jeder kannte und auf die jeder mit dem Finger gezeigt hätte.

Sie wandte sich nicht um. Zog nur das Tuch fester um die schmalen Schultern und tauchte ins Gewirr der Gassen ein. Ihre Schritte entfernten sich endgültig, jetzt aber schwerfälliger, kraftloser, mit einem leichten Schlurfen, wie es Wöchnerinnen oft zu eigen ist.

Auf den Stufen aber blieb ein Korb zurück und darin ein Bündel, aus dem es leise wimmerte. Ein zartes Stimmchen, kaum hörbar in der morgendlichen Kühle. Und in den offenen Augen des Kindes spiegelte sich das Licht des Himmels.

Wenig später hat es der Pfarrer gefunden, hier auf den Stufen seiner Kirche. Er hat dafür gesorgt, dass das greinende Bündel aus dem Korb gehoben und in die Sakristei getragen wurde, dass es trockengelegt und mit Milch getränkt wurde. Dann wurde ihm ein Mohnbeutelchen in den Mund geschoben, damit es ruhig wurde und schlief.

Es war ja nicht das erste Mal, dass ein junges Ding vom Lande die Frucht ihres Leibes dort ablegte, an der Pforte zum Hause des Herrn. Nicht zum ersten Mal wurde so etwas dem Herrgott in die Obhut gegeben.

Ob es genau so gewesen ist? Ganz sicher nicht. Aber ich stelle es mir so vor, weil mir nie viel erzählt wurde. Nur ganz früher hieß es mal: „Sie ist ein Findelkind gewesen.“ Mehr wurde nicht gesagt. Und ich, noch zu klein um nachzufragen, hab mich in Märchengeschichten versponnen. Von bösen Stiefmüttern, von ausgesetzten Prinzessinnen und den sieben Zwergen hinter den Bergen. Aber zum Schluss wurde ja alles wieder gut, oder? ‚Und wenn sie nicht gestorben sind, dann leben sie noch heute‘, hieß es immer.

Auch dieses Kind hat überlebt, Gott sei Dank.

Am nächsten Tag ging es in die Kirche, wo vor den Mosaikfenstern bunte Lichtsäulen im Raum standen. Eine Kerze wurde entzündet und das schlafende Kind übers steinerne Becken gehalten. Der Pfarrer schöpfte mit der hohlen Hand Wasser auf den kleinen Kopf. Und während der Täufling das Gesicht verzog und unwillig maunzte, widersagte die Pfarrersköchin an dessen Stelle dem Satan für heute und immerdar. So wurde die Kleine auf den Namen Anna-Maria getauft. Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.

Gleich zwei Namen auf einmal. Als sollte damit der Mangel wettgemacht werden, der sie ein Leben lang begleiten würde.

Der Name Anna war im katholischen Bayern nicht ungewöhnlich, hatte doch die Mutter der Hl. Jungfrau Maria so geheißen. Außerdem bedeutet Anna Liebreiz und Anmut, Eigenschaften, die solch ein armes Ding natürlich gut gebrauchen konnte. Vor allem wenn es keinen roten Heller besaß und hoffen musste, dass sich irgendwann einmal ein braver Mann fand, der sie trotzdem nahm.

Vielleicht hatte diese Namensgebung aber auch einen anderen Grund. Vielleicht weist sie auf das Datum hin, an dem der Korb gefunden wurde auf den abgetretenen Stufen der Kirche. Dann wüssten wir wenigstens, dass es der 26. Juli war, denn an diesem Tag feiern alle, die Anna heißen, ihren christlichen Namenstag.

In Verbindung mit dem zweiten Namen, Maria, sollte dem kleinen Mädchen der Auftrag in die Wiege gelegt werden, ein gutes und gottesfürchtiges Leben zu führen.

Das war gar nicht so einfach für ein Findelkind im 19. Jahrhundert. Die Kindersterblichkeit war hoch, nur jeder zweite Säugling überstand das erste Lebensjahr. Und von den überlebenden Kindern wurde nochmals ein großer Teil hinweg gerafft durch Krankheiten und Seuchen, die in manchen Jahren wie eine Epidemie die Stadt heimsuchten. Oder durch Unfälle. Die Gefahr war größer, wenn es keine Mutter gab, die das Kind vor Schaden zu bewahren suchte. Und auch keinen Vater weit und breit.

Sicher, es wurde das Möglichste getan: Von der Pfarrei wurde nach einer Amme geschickt, die sich in den ersten Monaten um das Mädchen kümmerte. Eine einfache Frau aus der Nachbarschaft, die ihm die Brust gab und seinen Hunger stillte, ihm dabei auch mal mit rissigen Händen über die dunklen Haare strich. Aber für mehr Zuwendung war keine Zeit, hatte die Frau doch neben der Arbeit noch den eigenen Säugling zu versorgen. Und für die paar Groschen lohnte sich der ganze Aufwand sowieso kaum. Es war fast für Gotteslohn.

Gierig saugte die kleine Anna-Maria, obwohl sie immer erst angelegt wurde, wenn das Kind der Amme sich schon satt getrunken hatte. Anna-Maria schien zu merken, dass ihr Überleben davon abhing. Hätte sie weniger laut gebrüllt, wäre sie übergangen worden. So aber kam sie zu ihrem Recht, auch wenn sie der Ziehmutter vor Hunger die Brust wund biss, dass der die Tränen in die Augen schossen. „Bist ein kleiner Teufel“, schimpfte die dann und legte das Kind hart in den Korb zurück.

Statt der unbekannten Eltern wurde der kleinen Anna-Maria ein amtlicher Vormund zur Seite gestellt. Er legte fest, dass sie mit Nachnamen Körblin heißen sollte, war sie doch in einem Korb gefunden worden. Anna-Maria Körblin also.

Der Zeitpunkt ihrer Geburt ist nicht bekannt, nicht der Tag und nicht das Jahr, aber es muss irgendwann um 1850 gewesen sein.

Ich weiß nicht viel über diese Anna-Maria, obwohl sie meine Urgroßmutter war. Und wenn ich meine Mutter fragte, so schüttelte sie ihren weißhaarigen Kopf.

„Ach“, meinte sie bloß, „was du alles wissen willst! Ich hab meine Großmutter doch eh kaum gekannt. War ja noch ganz klein, als sie gestorben ist.“

„Und deine Mutter, was hat die so erzählt?“

„Fürs Erzählen hatte man früher keine Zeit“, sagte sie und dann wollte sie noch ein Tasse Tee und noch einen Keks.

Ablenkungsmanöver, dachte ich und war mir nicht sicher, woran es lag, dass solche Gespräche so unergiebig blieben. Aber auch früher hatte meine Mutter nie viel erzählt, und ich hatte wenig nachgefragt. Jetzt tat mir das leid. Nicht einmal ein Foto dieser Anna-Maria gab es mehr.

„Was, Fotos? Die sind doch im Krieg alle verbrannt.“ Soviel wusste meine Mutter also noch.

Ich aber las viel über München in jener Zeit und sah mir alte Bilder an. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es sich angefühlt haben mag, vor über hundert Jahren hier seine Kindheit zu verbringen.

Anna-Maria wuchs in einer Stadt auf

Anna-Maria wuchs in einer Stadt auf, deren Mauern und Türme sich so lange schon über dem breiten Bett des Flusses erhoben, dass es undenkbar schien, es könnte einmal anders gewesen sein. Es hieß, Mönche seien die ersten gewesen, die auf einer Anhöhe siedelten. Nach ihnen wurde die Stadt München genannt.

Im Kern hatte sie sich noch den mittelalterlichen Charakter bewahrt. Mit schmalen Bürgerhäusern und hohen Giebeln, mit engen Torbögen und Gassen, durch die geschäftige Schritte eilten. Kleinteilig und düster das Ganze. Eine Stadt der schweren Gerüche, nicht nur zur Mittagszeit, wenn es aus Küchen und Kellern nach dunklem Bier und Braten roch. Und gleichzeitig nach Küchenabfällen, Kot und Urin, die durch hölzerne Abtritte hinter den Häusern in die Stadtbäche fielen. Hier schien es über die Zeiten unverändert, auch wenn die Holzhäuser nach und nach durch steinerne Gebäude ersetzt und manche Kirchen und Klöster neu dazu gekommen waren.

An diesem Ort also wuchs Anna-Maria auf.

Sie war noch nicht mal ein Jahr alt, als sie der Amme entwöhnt wurde und woanders in Pflege kam. Dort reihte sie sich in eine Schar schmutziger Kinder ein, für die es jeden Tag ums Überleben ging. Denn die Stadt zahlte für die Versorgung der Waisen zwar etwas Geld; aber es war nicht ungewöhnlich, wenn eines der Kinder an Mangelernährung und Verwahrlosung starb. Dann setzte der Vormund ein Armenbegräbnis an, und man hatte schon einen nächsten Zögling parat für die vakante Stelle.

Anna-Maria wurde in einer stickigen Kammer in ein Bett gelegt, das sie nachts mit anderen Kindern teilte. Dort lag sie anfangs in eine sackartige Vorrichtung geschnürt, die mit Gurten an den Bettpfosten befestigt war; das sollte verhindern, dass sie sich aufsetzen oder gar aus dem Bett stürzen konnte. Sie sollte schlafen. Oft lag sie aber wach, lauschte den fernen Stimmen im Hause oder dem Atmen der anderen auf der Liegestatt nebenan. Oder sie hörte im stillen Zimmer auf das Ticken des Holzwurms und das Knacken im Gebälk.

Als hätte sie geahnt, dass auf ihr Wimmern niemand antworten würde, verstummte sie. Starrte auf die dunkle Holzdecke des Schlafraumes. Und sah zu, wie in mondhellen Nächten ein bläulicher Schein über Betten und Wände wanderte. War sie von solchen immer gleichen Bildern erschöpft, so schlug sie den Kopf abwechselnd nach rechts und links auf das harte Kissen, schnell und pochend. Bis sich die Augen von alleine schlossen und sich ein angenehm schummriges Gefühl einstellte. Dann glitt sie in einen leichten Schlaf hinüber.

Irgendwann lernte sie, sich aufzurichten und zu stehen, wackelig zuerst, dann sicherer. Auch die ersten Schritte, tapsig noch. Kleine nackte Füße auf dunklen Dielen. Niemand da, der sie lobte und die Arme weit aufmachte für sie. Der tröstete, wenn sie fiel. Alles immer alleine, vom Bett zum Stuhl, vom hölzernen Treppengeländer zur Truhe im Gang. Mit konzentriertem Blick, mit gefurchter Stirn. Aber mit einem festen Willen. So lernte sie gehen, so lernte sie sprechen. Auch wenn ‚Mama‘ und ‚Papa‘ sicher nicht ihre ersten Worte waren.

Vieles schaute sie den anderen Kindern ab. Trug mit ihnen die Löffel zum Tisch und die Becher, mittags beim Zwölfuhrläuten, bekam den Latz umgebunden, kletterte auf den Stuhl. Vorweg die Hände gefaltet und ein ‚Komm Herr Jesus und sei unser Gast‘. Dann sollten sie schweigen und essen. Das Besteck klapperte schon rundum, Kindermünder schlürften und schmatzten.

Anna-Maria beugte sich über den Teller mit dem bräunlichen Spinat und den grau verkochten Kartoffeln. Säuerlich vergorene Kost. Der Geruch ließ sie den Atem anhalten, Ekel stieg in ihr hoch. Sie nahm einen Löffel davon, hob ihn zum Mund, schluckte. Da würgte es sie, alles schoss wieder hoch, sie spuckte es auf den Teller zurück. Schob ihn von sich, elend wie sie sich fühlte.

Da wurde sie von hinten gepackt, geschüttelt und angeschrien. Angehoben und an den Trägern ihrer Schürze nach draußen gehalten, durchs offene Fenster in den Hof. Sie würde fallen gelassen, kreischte es hinter ihr, wenn sie nicht sofort parierte und aufaß, auf der Stelle und ohne Widerworte! So hing sie über der Tiefe, kniff die Augen zu, hielt den Atem an. Tränenblind nickte sie und versprach alles.

Saß dann alleine da, die anderen Kinder lärmten schon draußen im Hof. Sie musste den Teller leer essen und konnte doch nicht. Irgendwann war ihr der Kopf schwer, sie legte ihn auf den Tisch, die Augen zu, alles drehte sich, und ihr war heiß und kalt zugleich. So lag sie eine ganze Weile.

Bis sie eine kühle Hand auf ihrer Stirne spürte, bis eine Stimme von Fieber sprach und mürrische Worte dazu gab. Und zur Strafe ab ins Bett. Das Bett aber schwankte, während die Wände ringsum Blasen schlugen. Und die Stimmen im Haus waren zu laut für ihren Kopf. Da zog sie die Decke über und verkroch sich wie ein Tier. Manche Tage und Nächte lang. Und konnte nur noch dem Geflüster ihrer Träume lauschen.

Anna-Maria sollte diese ersten Jahre aus ihrer Erinnerung tilgen. Was davon blieb, war ein dunkler Fleck. Alles ausgelöscht. Und weil niemand danach fragte, fiel das nicht weiter auf.

Je älter meine Mutter wurde, desto mehr Lücken zeigte ihr Gedächtnis. Aber sie war erfinderisch, wenn es darum ging, ihre Vergesslichkeit zu verbergen.

Einmal hatte sie bei mir ein Kreuzworträtsel gefunden – eine alte Leidenschaft von ihr. Sofort beugte sie ihren Kopf über die Zeitung und machte sich ans Ausfüllen.

„Wie heißt denn der altägyptische Gott der Unterwelt?“, fragte sie, „fängt mit A an?“

Ich putzte gerade Salat, hielt inne und überlegte.

„Anubis?“, schlug ich vor. Es passte.

„Und ein Fragewort mit fünf Buchstaben?“

„Wohin? Wobei? Warum? Wieso?“, antwortete ich. Sie schrieb bereits.

„Fischfett?“, fragte sie weiter.

„Keine Ahnung.“ Ich erklärte ihr, dass ich kein wandelndes Lexikon sei und dass sie das Rätsel doch bitteschön alleine lösen solle. „Außerdem wird das Essen so nie fertig“, fügte ich hinzu.

Ich antwortete nicht mehr auf ihre Fragen, sie aber füllte Kästchen um Kästchen. Bis ich das Essen auf dem Tisch stellte.

Später, als ich Mutter nach Hause gebracht hatte, fand ich die Seite mit dem Kreuzworträtsel: Alle Kästchen waren sauber ausgefüllt, allerdings oft mit beliebigen Buchstaben, die keinen Sinn ergaben. Das jedoch schien ihrem Stolz keinen Abbruch zu tun. Denn darunter stand, in ihrer schwungvollen Schrift, die schon ein bisschen wackelig geworden war: ‚Vollständig gelöst von Ernestine Bauer in nur 10 Minuten!‘

Ich stelle mir vor

Ich stelle mir vor: Anna Maria war ein dünnes Kind, blass und klein, mit dunklen Schatten unter den Augen. Und trotzdem zäh, mit einem unbändigen Lebenswillen. Als sie irgendwann dem städtischen Waisenhaus übergeben wurde, überlebte sie trotz der mageren Kost und der üblichen Kinderkrankheiten; Mumps und Masern, Windpocken und Röteln waren in manchen Jahren eine wahre Heimsuchung fürs Haus.

Dabei war sie eine Ruhige, Ernste, die sich in den Ecken herumdrückte und sich am liebsten unsichtbar machte. So versuchte sie Ärger zu vermeiden. Und wenn doch mal eins der anderen Kinder ein Opfer suchte für seine Wut, so wandte sie den Blick ab und drehte sich weg, ging ein paar Schritte zu Seite und lief in den Hof hinaus.

Dann stand sie am geschlossenen Tor und starrte durch die Gitterstäbe auf die Straße, wo sich, wenn sie Glück hatte, gerade ein Bierwagen mit großen Holzfässern die Gasse hinunter bewegte; von Rössern gezogen, die ihre schweren Hufe aufs Kopfsteinpflaster schlugen und deren mit Schellen behangene Kraft nur die Bierkutscher zu bändigen wussten. Der Wagen gehörte zu einer der zahlreichen Brauereien, die in der Vorstadt lagen und die Luft manchmal mit schweren Malzgerüchen schwängerten.

Oder sie sah zu, wie längliche Eisblöcke von Männern geschultert und vom Wagen in die Bierwirtschaft gegenüber getragen wurden. Was dort mit ihnen geschah und warum niemals einer der Blöcke wieder zum Vorschein kam, das verstand sie nicht. Manchmal beobachtete sie auch, wie Lehrbuben im Auftrag ihrer Meister an die Gassenschänke kamen; zuerst war ihr Schritt beschwingt, und den grauen Steinkrug schlenkerten sie in der Hand; traten sie dann den Rückweg an, hielten sie den Krug beidhändig, den Blick konzentriert auf die Schaumkrone gerichtet, und ihr Schritt hatte jede Leichtigkeit verloren.

Wenn aber eine junge Frau vorbei ging, so veränderte sich Anna-Marias Blick. Nicht mehr ein forschendes Betrachten war es jetzt, mit dem sie das Geschehen zu erfassen suchte, sondern ihr Blick rastete gleichsam ein: Die aufgerissenen Augen auf die Gestalt gerichtet, schaute und schaute sie.

Und während sie so stand und beide Hände ins Gitter krallte, begann sie sich ganz sachte zu wiegen, verlagerte das Gewicht mal aufs rechte, mal aufs linke Bein, so dass sie in ein leichtes Schwanken geriet, hin und her, hin und her. Die dunklen Augen dabei auf einen fernen Punkt gerichtet, die Stirne gerunzelt, angestrengt und ernst.

So starrte sie den Frauen nach, auch wenn die schon längst am Gittertor vorüber und um die nächste Ecke gebogen waren. Wochentags mit ihren langen Schürzen und den Henkelkörben, auf dem Weg zum Bäcker oder Metzger. Sonntags dann, wenn die Glocken der nahen Mariahilfkirche die Luft zum Erzittern brachten, schlenderten sie Arm in Arm vorbei, mit schwingenden Röcken und klackernden Schritten. Sie schwatzten und lachten, während die Burschen ihnen zotige Rufe nachschickten.

Dann stand Anna-Maria mit offenem Mund und konnte den Blick nicht abwenden. Träumte sie? Sie hätte nicht gewusst, wovon. Aber immer wieder war es mühsam, in die Wirklichkeit zurückzufinden.

Die Wirklichkeit, das war die karge Kost aus Kartoffeln und Kraut jeden Tag. Die Wirklichkeit waren Schläge auf den Hinterkopf und Tatzen auf die Finger, waren Frostbeulen an den Füßen und Rotz bis zum Kinn. Die Wirklichkeit war eine Kindheit, die den Namen nicht verdient. Weil sie als Kind eh nichts galt und als Findelkind umso weniger. Arbeiten hatte sie zu lernen und Gehorsam gegenüber König und Vaterland. Und natürlich gegenüber dem Herrn Lehrer und dem Pfarrer und allen anderen Erwachsenen auch.

Warum sollte ihre Kindheit anders gewesen sein? Obwohl von ihrem Leben nicht viel mehr bekannt ist, als dass sie ein Findelkind war und wahrscheinlich im Waisenhaus groß geworden ist. Dass sie in München geheiratet und eine Familie gegründet hat und dass sie hier auch gestorben ist. Verscharrt auf dem Sendlinger Friedhof, wo heute kein Grabstein mehr ihren Namen trägt.

Dabei gibt es ein Familiengrab auf diesem Friedhof, fast hundert Jahre schon. Seit ich mich erinnern kann, ist es ein grau verwittertes Holzkreuz gewesen. Mit Schnitzereien und einem geschwungenen Dach über der Christusfigur. Die Figur ist schon längst gestohlen worden und von der Familie durch einen Kranz aus Zweigen ersetzt. Dahinter hatte mal eine Amsel ihr Nest gebaut.

An Ostern legen wir ein buntes Ei hinein, nach dem Oktoberfest eine Papierrose mit Glitzer und an Weihnachten eine Christbaumkugel. Kleine Liebesgaben. Sonst ist das Grab schmucklos und nur mit niedrigem Blaustern bewachsen. Die knorrigen Buchsbaumbüsche zu beiden Seiten, die das Kreuz früher fast überwucherten, gibt es nicht mehr. Denn nach der letzten Beerdigung musste alles neu bepflanzt werden. Und es dauert, bis die jungen Triebe wieder gewachsen sind.

Meine Mutter hatte alle möglichen Papiere der Familie in Kisten gesammelt. Chaotisch, denn Ordnung war nie ihre Stärke. Ein Wust aus Briefen, Fotos und Zeugnissen, alten Pässen und Geburtsurkunden. Dazwischen Postkarten mit unlesbarer Schrift, Einladungen, Kochrezepte, Kalenderblätter mit Sprichwörtern. Und vieles mehr, was ihr wichtig erschien.

Als meine Mutter umzog, war kein Platz mehr dafür. „Sowas übernimmst am besten du“, meinte meine jüngste Schwester. Sie packte alles in einen großen Karton und schob ihn mir zu. Wie selbstverständlich habe ich ihn genommen, ins Auto gestellt und nach Hause gefahren. In meiner Wohnung wurde die Kiste eine Zeit lang von einer Ecke in die andere geschoben. Erst mussten trübe Regentage kommen, bevor ich mich darüber her machte. Ich sortierte die Papiere, legte für meine Geschwister etliches zur Seite und warf vieles weg. Der Rest war überschaubar: Die zwei alten Fotoalben und die Dokumente zur Familiengeschichte kamen ins Bücherregal.

Von dem Findelkind Anna-Maria fand ich keinen einzigen Beleg. Als habe es nie existiert.

Keine Fotos also, keine Briefe, kein Grab

Keine Fotos also, keine Briefe, kein Grab von dieser Anna-Maria. Nicht einmal Geschichten über ihr Leben. Und trotzdem ist nicht alles vergessen und vorbei. Weil ihre Nachkommen noch immer hier leben. Weil einige Ecken an die früheren Zeiten erinnern. Etwa in der Au, wo manche Gassen noch heute mit Kopfsteinen gepflastert und von kleinen Häusern gesäumt sind und wo das erste Münchner Waisenhaus gestanden hat. Hier mag sie aufgewachsen sein, die Anna-Maria, und hier hat sie ihre frühe Jugend verbracht. Später werden ihre Kinder zurückkehren und sich hier niederlassen, noch später Enkelinnen und Urenkelinnen, wenigstens für ein paar Jahre. Als hätte dieses Quartier unsichtbare Fäden ausgeworfen und würde von Zeit zu Zeit einzelne Mitglieder der Familie nach Hause holen. Mit gleichsam magischen Kräften.

Dabei war es nicht das Gelobte Land, das seine Lockrufe aussandte, eher im Gegenteil: Nie waren hier die Lebensbedingungen einfach. Nicht für Anna-Maria und nicht für andere.

Die Au lag auf dem unfruchtbaren Schwemmland rechts der Isar, am Fuße des ‚gachen Steigs‘, der später zum ‚Gasteig‘ werden sollte. Er lief vom Hochufer herunter auf die einzige Brücke zu, die ehedem zur Stadt hinüber führte. Schon früh hatten sich in der unteren Au die kleinen Leute angesiedelt. Zuerst waren es Fischer, dann auch Tagelöhner, Handwerker und Gewerbetreibende. Tagsüber gingen sie zum Arbeiten in die Stadt hinüber, schufteten auf einer der Baustellen als Maurer, Zimmerer und Schreiner, als Gehilfen und Steinträger. Oder als Dienstmägde, Köchinnen und Kindermädchen bei den alteingesessenen Münchner Bürgerfamilien. Abends aber mussten sie die Stadt wieder verlassen und sich über den Fluss zurückziehen.

Diese Leute hausten in Herbergen, die mit dünnen Holzwänden und tief gezogenen Dächern die Gassen säumten. Mit schiefen Anbauten, mit Kaninchenställen und Schuppen in den staubigen Höfen. Sie waren in viele Kleinstwohnungen aufgeteilt, oft nur von der Größe eines Zimmers, jede mit eigenem Zugang über hölzerne Stiegen und Gänge. Düster war das alles und beengt. Und in den Häusern und Höfen wimmelte es von Kindern.

Wenn das Isarwasser stieg, im Frühjahr zur Schneeschmelze und im Herbst zur Regenzeit, wurde das Quartier regelmäßig überschwemmt. Da halfen auch die Bittprozessionen nichts, die der Pfarrer durchs Viertel führte. Ins Erdgeschoss drang faulige Nässe, und Ratten flüchteten über die Gassen. Dann hetzten ihnen die Buben mit Holzlatten hinterher und trugen danach die pelzige Beute an den dünnen Schwänzen durchs Viertel.

Aber trotzdem hatten die Menschen hier ihren Stolz und ließen sich von anderen so leicht nichts sagen. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts waren sie noch eine eigene Stadt gewesen mit eigenem Stadtrecht, einem eigenen Rathaus und einem Bürgermeister. Und sogar mit einem eigenen Wappen, das der Schullehrer der Klasse vorzeigte: Drei silberne Lilien auf blauem Grund.

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1854 war die Au ein Teil von München geworden. War ‚eingemeindet‘ worden, wie der Herr Lehrer sagte und mit schmalen Lippen dazu eine Handbewegung machte, als würde er heimlich und unrechtmäßig etwas in die eigene Tasche schieben. Dazu schrieb er Sätze an die Tafel und ließ sie auswendig lernen. Und die ganze Klasse sprach sie im Chor.

Ob Anna-Maria gerne in die Schule ging und leicht lernte? Wahrscheinlich saß sie in einem überfüllten Klassenzimmer und duckte sich wie alle anderen unter dem Zorn des Lehrers und seinem Stock, der schmerzhafte Striemen auf den Handflächen hinterließ. Schrieb Zahlen und Buchstaben auf die Schiefertafel mit ungelenker Schrift und leise quietschendem Griffel. Und hatte dabei die Zungenspitze im Mundwinkel oder das nass gekaute Ende ihres Zopfes.

Als sie schließlich das Stillsitzen gelernt hatte sowie etwas Lesen, Schreiben und Rechnen, als sie „Jawohl, Herr Lehrer“ sagen und saubere Hände vorzeigen konnte, da war die Schule auch schon vorbei. Was ihr sonst noch blieb? Sie würde weiterhin jeden Sonntag in die Kirche gehen, den Rosenkranz beten, das Vaterunser aufsagen und das ‚Gegrüßet seist du Maria‘. Denn manchmal half nur der Glaube, ein hartes Leben geduldig zu ertragen.

Meine Mutter hatte im Alter wieder zu ihrem Kinderglauben gefunden. Wenn ich sie ins Bett brachte, faltete sie die Hände, und wir sprachen ein einfaches Gebet. ‚Lieber Gott, mach mich fromm, dass ich in den Himmel komm.‘ Ein Ritual, das ihr beim Einschlafen half.

Einmal schien meine Mutter nicht müde genug. Oder ihr ging noch etwas im Kopf herum. Sie lag mit offenen Augen und sah zur Decke hoch.

„Was meinst’“, fragte sie, „ob ich mal in den Himmel komm?“

War Anna-Maria mit ihren 12 Jahren nicht zu jung

War Anna-Maria mit ihren 12 Jahren nicht zu jung, um in Stellung zu gehen? So dünn und zart wie sie war? Aber im Waisenhaus war kein Platz mehr für sie. Also hatte sie ihre Siebensachen zu packen, sie bekam ein Empfehlungsschreiben in die Hand gedrückt und wurde quer durch die Stadt geschickt.