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Mohsen Charifi

DAS GLÜCK
WÄCHST AUF EINEM
WALNUSSBAUM

– – – – – – – –

Kleine Geschichten für
das große Leben

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2. Auflage 2018
© 2017 Windpferd Verlagsgesellschaft mbH, Oberstdorf
Alle Rechte vorbehalten

Kein Teil des Buches darf in irgendeiner Form oder zu irgendeinem Zweck
elektronisch oder mechanisch, einschließlich Fotokopie, Recording und
Wiederherstellung, ohne schriftliche Genehmigung des Verlages wiedergegeben
werden.

Umschlaggestaltung und Illustrationen: Jennifer Jünemann | www.bitdifferent.de

Satz und Layout: Marx Grafik & ArtWork

Lektorat: Sarah Varga

Korrektorat: Sylvia Luetjohann

eISBN 978-3-86410-212-7
www.windpferd.de

INHALT

Über die Verzauberung der Geschichten

1.Das Kamel, das zur Panik neigte

Wie wir die Angst nähren

2.Der Traumdeuter

Vom Segen und Fluch der Worte

3.Das schwere Kreuz, das wir Schicksal nennen

Das versteckte Glück

4.Der schwangere Kochtopf

Die Weisheiten in unserem Unbehagen

5.Tod ohne Stachel

Der Augenblick entmachtet den Tod

6.Die reitenden Imame

Von Maßstäben und Urteilen

7.Sternennacht

Vom Scheinen und Dienen

8.Das Labyrinth der Entscheidung

Ein Zuhause für Verlust und Fehler

9.Fliegende Scheiße

Die schützende Haut der Seele

10.Der unbesiegbare Ringer

Von der Überwindung des Unmöglichen

11.Der Preis der Rache

Von der Zähmung der Rache

12.Gespräch zweier Umschläge

Auf der Suche nach dem Sinn

13.Späte Einsicht

Der Beitrag zum eigenen Schicksal

14.Der verräterische Hahnenschwanz

Wenn die Worte ihre Macht verlieren

15.Das blaue oder das weiße Hemd?

Dünne Haut und leises Nein

16.Die Geburt des Drachen

Der Drache namens Angst

17.Wie einem Bild Leben eingehaucht wurde

Gut Ding will Weile haben

18.Verkannte Feinde

Die Verführung der Seele

19.Das Geheimnis hinter jedem Ziel

Vom guten und schlechten Handeln

20.Das Glück wächst auf einem Walnussbaum

Der geheime Ort des Glücks

21.„Große Fische leben im großen Ozean“

Die Begegnung von Überzeugung und Fakten

22.Der stumme Berater

Im Fluss des Lebens

23.Liebe findet immer die richtigen Worte

Das verbindende Nein

24.Der Physiker und der Sufi

Die Ufer des Sinns

25.Vom guten Ruf des Stolzes

Der Deckmantel namens Stolz

26.Der Wettbewerb zwischen Zwiebeln und Knoblauch

Wahre Lebenskünstler

27.Der kranke Sultan

Der unbekannte Feind des Glücks

28.Die Kehrseite der Überzeugung

Wie viel Freiheit kostet eine Überzeugung?

29.Von dem Leib und der Seele eines Geschenkes

Wann ist Geben ein Geschenk?

30.Als der Hirsch seinem Freund und Feind begegnete

Der Preis der Stärken und der Sinn der Schwächen

31.Die Spuren der Vergangenheit

Wie aus den bitteren Früchten der Vergangenheit eine blasse Erinnerung wird

32.Der Lebenslauf zweier Hamster

Vom tieferen Sinn des Gebens

33.Die Weisheit des Universums

Die Leichtigkeit am Ufer des Kosmos

34.Der üppige Garten

Die Quelle der Lebendigkeit

35.Meinungsverschiedenheiten in der Vogelfamilie

Wer ist unser größter Helfer?

36.Um Gott zu gefallen …

Vom Tauschwert des Guten

37.Logische Gedanken haben kurze Beine

Der Tiegel der weisen Entscheidungen

38.Enttäuschte Rosen

… und eine Rose, die nie enttäuscht wird

39.Zarathustras Traum

Wie klug ist das Herz und wie einfühlsam der Kopf?

40.Als die Engel sich bei Gott beschwerten

Die Weisheit der Hand

41.Die Flut der hundert Ängste

Die mächtige Ohnmacht des inneren Kindes

42.Liebesbotschaften aus Okzident und Orient

Jesu Botschaft und das menschliche Wesen

43.Die geteilte Ernte

Die Spuren der guten Taten

44.Rundling, der fröhliche Wassertropfen

Ich, das kosmische Juwel

45.Namenloses Verlangen

Das wahre Ich

Für die Liebe in Person,
meine Schwester Ashraf

ÜBER DIE VERZAUBERUNG DER GESCHICHTEN

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Seit eh und je, seit allen Zeiten und in allen Kulturen haben Menschen gerne Geschichten erzählt und ebenso gerne gehört. Geschichten haben nicht nur Kinder verzaubert und waren die beste Begleitung beim Einschlafen; ihre Verzauberung ergreift auch Erwachsene. Warum?

Der Zauber der Geschichten hängt damit zusammen, dass sie das Verborgene in uns, das wir lieber nicht berühren wollen, ansprechen. Durch Geschichten geht man auf eine Reise, auf der man nicht nur seinen Wünschen, Bedürfnissen, Ängsten und seiner Ohnmacht begegnet, sondern auf der man auch seine Möglichkeiten, seine Potenziale, seine verborgenen Schätze entdeckt. So wie der Wind die Wolken vertreibt, vermitteln Geschichten einen klaren Blick auf das, was tief in uns verborgen ist. Sie spiegeln nicht nur die menschlichen Daseinsprobleme wider, sondern auch unser Bedürfnis, ein erfülltes Leben zu erlangen. Geschichten berühren uns in einer Tiefe, die weit über psychologische Ansätze und psychotherapeutisches Wirken hinausgeht. Sie sind das sanfteste Elixier, um die Schmerzen unserer Wunden zu lindern.

Wissenschaft und Vernunft versuchen von außen und über den holprigen Weg der Gedanken den Menschen zu erreichen. Geschichten aber gehen direkt unter die Haut, zu dem Zentrum, zu dem Herzen, zu der obersten Instanz, aus der Gedanken, Gefühle und Handlungen herausströmen.

Vor diesem Hintergrund kann man die Geschichten in diesem Buch erzählen und es dabei belassen. Mir war es jedoch ein Bedürfnis, etwas dazu zu sagen, was diese Erzählungen mir persönlich vermittelt haben und wie ich ihre Botschaften interpretiere. Deshalb habe ich nach jeder Geschichte ein Kapitel mit meinen Gedanken eingefügt. Es steht dir frei, nur die Geschichten auf dich wirken zu lassen oder auch einen Blick auf meine psychologisch geprägte und mystisch inspirierte Lesart zu werfen.

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1. DAS KAMEL, DAS ZUR PANIK NEIGTE

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Diese Geschichte hat uns unser Vater erzählt, weil er in seiner übermäßigen Fürsorge überzeugt war, er müsse uns darauf aufmerksam machen, dass man nicht vorsichtig genug sein kann.

Ein Pferd stand am Stadttor und sah verwundert, wie eine endlose Schar von Füchsen rennend die Stadt verließ. Plötzlich aber sah das Pferd, dass mitten unter den Füchsen auch ein Kamel in vollem Galopp floh.

Da rief das Pferd dem Kamel voller Erstaunen zu:

„Was ist passiert? Warum rennt ihr alle so?“

Das Kamel bremste ab und keuchte:

„Der Stadthalter hat befohlen, alle Füchse, die sich in der Stadt aufhalten, zu verhaften.“

Da fragte das Pferd, nur noch verwunderter:

„Aber was ist mit dir? Du bist doch kein Fuchs! Also warum fliehst du?“

Das Kamel antwortete voller Panik:

„Wer weiß, was mir alles passiert, bis ich bewiesen habe, dass ich kein Fuchs bin!“

Dann rannte es weiter, ohne noch ein einziges Wort zu verlieren.

WIE WIR DIE ANGST NÄHREN

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Die Angst und Panik dieses Kamels und wie es sie begründet erinnert an ein sehr vertrautes Verhaltensmuster bei uns Menschen. Es ist bekannt, dass eine Kette so stark ist wie ihr schwächstes Glied. Das bedeutet: Jeder hat einen wunden Punkt. Und wenn bestimmte Lebensumstände und Situationen diesen Punkt berühren, reagiert ein Mensch, der sonst besonnen handelt, überempfindlich und erlebt alles unter dem Eindruck der Ohnmacht, die dieser wunde Punkt erzeugt. Bei jedem Menschen hat der wunde Punkt seinen Ursprung in einem geringen Selbstvertrauen, aber er ist sehr individuell gefärbt. Dort, wo man Selbstzweifel hat, ist man verletzbar. Zum Beispiel basiert die Flucht des Kamels auf einem übermäßigen Sicherheitsbedürfnis; deshalb genügt ein Hauch von Unsicherheit, dass man ein Kamel mit einem Fuchs verwechseln könnte, um es in Panik zu versetzen. Wir neigen dazu, in kleinen Schicksalsschlägen Vorboten großer Katastrophen zu sehen. Hierzu zwei Beispiele:

Ein Mann wurde von seiner Freundin verlassen. Er erklärte mir, sein Fehler sei gewesen, nicht auf seinen Bruder zu hören. Bei seinem Bruder dürfe keine Frau einen Fuß in das Haus setzen. So beschloss er, ebenfalls nie wieder eine Frau kennenzulernen. Hier heißt die individuelle Färbung, die das geringe Selbstvertrauen hat: Angst vor Ablehnung.

Ein Bauleiter bewarb sich immer wieder auf verschiedene Stellen, aber noch während der Probezeit kündigte er regelmäßig selbst, weil er Angst davor hatte, gekündigt zu werden. Der wunde Punkt ist hier Versagensangst.

Nicht nur das Kamel, auch unsere beiden Protagonisten haben in der Tat erreicht, dass ihr schwächstes Glied nicht berührt wird und sie nicht mit dem konfrontiert werden, wovor sie Angst haben. Ihre Ängste schaffen ein Szenario der Vermeidung, in welchem sie dem Schicksal sozusagen zuvorkommen und es vermeintlich überlisten. So wird das Kamel nicht verhaftet, der Mann wird nie mehr von einer Frau verlassen und dem Bauleiter wird nie gekündigt. Aber zu welch hohem Preis, mit welcher Reduzierung des Reichtums des Lebens! Es ist mein Wunsch, die Leser mit den Geschichten in diesem Buch für die Wahrnehmung des „wunden Punkts“ zu sensibilisieren. Er ist kein unumgängliches Schicksal, wir sind ihm nicht ausgeliefert, sondern können ihn und die damit verbundene Angst sehr wohl bändigen und reduzieren.

Nachdem wir gesehen haben, dass Angst mit unterschiedlichen Gesichtern erscheint, möchte ich die Botschaft dieser Geschichte, die für ein Leben ohne Angst plädiert, bildlich darstellen: Angst ist ein besonderes Lebewesen und braucht eine besondere Nahrung. Wir nähren die Angst, indem wir Situationen, die Angst machen, vermeiden. Außerdem ist die Angst sehr eitel – wenn wir ihr keine besondere Aufmerksamkeit schenken, ist sie beleidigt und verschwindet.

Dazu möchte ich eine Situation aus meinem Leben mit dir teilen: In der Verarbeitung einer Trennungsphase, die mit größten Ängsten verbunden war, habe ich eine Erkenntnis gewonnen, von der ich mit Freude sagen kann, dass sie eine meiner wertvollsten ist. Ich habe erkannt, dass ich bei jeder Beziehung von vornherein überzeugt war, dass diese Beziehung die Basis meines Glücks und meines Lebens sein wird. Und dabei übersah ich, dass gerade diese Überzeugung die Quelle meiner Verlustangst, meines Klammerns und meiner Abhängigkeit war. Als mir dies bewusst wurde, kam die Erleuchtung von selbst: Ich kann meine Angst überwinden, wenn ich mein Brauchen und meine Abhängigkeit reduziere. Ich erkannte: „Ein Ja ist ein Geschenk und ich habe kein Anrecht darauf.“ All diese Erkenntnisse mündeten in einer für mich gänzlich neuen Einstellung: „Kein Mensch ist die Basis meines Lebens. Ich kann immer gehen, und wenn jemand mir begegnet, der mich berührt, kann er mich begleiten, aber er wird nie mein Rollstuhl sein.“ Dank der Einsicht, die ich aus dieser Trennung gewonnen habe und dank meines Willens, in Liebe gehen zu lassen und in Liebe zu bleiben, erlebte ich das Geschenk der Freiheit: die unendliche Leichtigkeit durch die Befreiung von jeglicher Angst. In dieser Zeit war es für mich ein heilsamer Prozess, meine Gefühle und Einsichten durch Gedichte zum Ausdruck zu bringen.

Warte nicht mein Herz

bis die Angst geht;

sie geht nie,

solange du wartest.

Warten ist ihr Zuhause.

Komm und bring deine Angst

mit all ihren Kindern.

Wir werden sie verzaubern

im Zirkus des Lebens.

Fliehen werden sie,

denn

Glück ist tödlich für die Angst.1

1Aus dem Buch „Der sanfte Weg der Poesie“ von Mohsen Charifi.

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2. DER TRAUMDEUTER

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Eine meiner liebsten Gutenachtgeschichten, die mir meine Großmutter erzählt hat.

Der Amir von Bazrah träumte mehrere Nächte in Folge, er würde alle seine Zähne verlieren. Dies beunruhigte ihn und er ließ einen Traumdeuter kommen. Der Traumdeuter hörte sich den Traum aufmerksam an und sagte schließlich:

„Mein Gebieter, dieser Traum bedeutet, dass du alle Menschen, die du liebst, verlieren wirst.“

Der Amir war so erbost und wütend über diese Deutung, dass er dem Traumdeuter den Kopf abschlagen ließ. Der Traum kam aber immer wieder und verfolgte ihn. Er ließ einen anderen Traumdeuter kommen. Dieser Traumdeuter sagte:

„Du großer Amir, es liegt ein Fluch auf dir. Alle Menschen, die du liebst, werden vor dir sterben.“

Entsetzt und erschrocken über diese Deutung ließ der Amir auch diesen Traumdeuter köpfen. Dies wiederholte sich und das Schicksal der Traumdeuter sprach sich herum, sodass keiner mehr wagte, den Amir aufzusuchen und seinen Traum zu deuten. So litt der Amir weiter unter seinem allnächtlichen bösen Traum und wurde von Tag zu Tag verbitterter und jähzorniger, mit der Folge, dass er sein Reich zunehmend ungerecht und unbesonnen regierte und das Volk darunter litt. Eines Tages kam ein alter Greis an die Residenz des Amirs und sagte:

„Ich bitte um eine Audienz bei dem Amir, denn ich will seinen Traum deuten.“

Die Wächter am Tor warnten ihn. Sie fragten, ob er denn nicht wisse, was mit den anderen Traumdeutern geschehen sei. Er antwortete:

„Ja, ich weiß es. Trotzdem will ich eine Audienz beim Amir.“

So geschah es auch. Als der alte Mann vor den Amir trat, war der Amir überrascht, dass ein Traumdeuter wagte, ihn aufzusuchen, und vor ihm stand und nicht einmal zitterte. Mit zorniger Stimme fragte der Herrscher ihn:

„Weißt du denn nicht, was dir bevorsteht?“

„Nein, du großer Amir. Was du sprichst, ist das, was du glaubst, das mir bevorsteht. Aber das ist nicht das, was ich glaube.“

Überrascht und neugierig, aber auch wütend erwiderte der Amir:

„Du Knecht, hast du denn keine Angst, so mit mir zu reden?“

Voller Demut und Bescheidenheit antwortete der alte Mann:

„Nein. Denn ich weiß, deine Güte und deine Neugierde zu erfahren, was dein Traum dir sagen will, schützen mich vor deinem Zorn.“

Nach einem bedächtigen Schweigen erzählte der Amir seinen Traum. Dann wartete er sorgenvoll und gespannt auf die Deutung dieses seltsamen Traumdeuters.

So sprach der alte Mann:

„Du erhabener Amir, das Schicksal hat etwas Großes mit dir vor. Es ist deine Bestimmung, viele gute Taten zu vollbringen. Deshalb schenkt das Schicksal dir ein sehr langes Leben, sogar länger als das Leben aller Menschen, die du liebst, damit du als Auserwählter die Zeit hast, all deine großen Werke zu vollenden.“

Der Amir sprang vor Glück auf und umarmte den alten Mann. Er ließ ihn reichlich beschenken und machte ihn zu seinem Berater. Durch diese Deutung des Traumes entwichen die Bitterkeit und Angst aus seiner Seele und beflügelt regierte er das Land ab diesem Tag besonnen, gerecht und voller Hingabe.

VOM SEGEN UND FLUCH DER WORTE

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Der alte Mann hat den Traum im Kern genauso gesehen wie seine Vorgänger und ihn auch inhaltlich entsprechend gedeutet. Aber siehe und staune, seine Deutung hat ihn nicht den Kopf gekostet – ganz im Gegenteil wurde er sogar königlich belohnt. Was ist passiert? Was hat der alte Mann anders gemacht als alle anderen Traumdeuter vor ihm?

Die anderen haben nur die negativen Folgen ihrer Deutung vermittelt: dass der Amir alle verlieren wird, die er liebt. Etwas Düsteres und Bedrohliches. Sie haben seine Ängste geschürt und den tobenden Teufel in ihm geweckt. Seine innere Ohnmacht gegenüber dem grausamen Schicksal reagierte er durch seine Todesurteile ab.

Der alte Mann mit seiner großen Lebenserfahrung wusste jedoch um die Gebrechlichkeit der menschlichen Seele. Er wusste: Der Mensch ist wie eine Blume. Wenn die Wahrheit wie Hagel auf ihn niederprasselt, kann er sie nicht verkraften und wird daran zerbrechen. Aber wenn die Wahrheit ihn wie eine frische Brise streichelt und sich sanft wie der Morgentau auf ihn legt, dann blüht er auf. Im Grunde deutete der alte Mann den Traum des Amir genauso wie die anderen Traumdeuter vor ihm. Doch er verstand, bevor er dem Amir die Deutung seines Traumes vermitteln konnte, musste er Worte finden, die in dessen Herz und Seele Platz für diese Botschaft schaffen. Er wusste, dass in jedem Menschen nicht nur Ängste schlummern und wütende Teufel lauern, sondern dass in jedem auch Engel leben, mit der Sehnsucht nach Güte und Geben, nach Lieben, Schaffen und Werden. Deshalb hat der alte Mann erst diesen Teil in der Seele des Amir aufgeweckt. Indem er vermittelte, dass der Amir auserwählt sei, um Großes zu schaffen, inspirierte er das Gute und Große in ihm, das viel größer war als die Angst, seine Geliebten zu verlieren. Er ließ den Amir in seinem Traum eine frische und belebende Brise sehen und keinen zerstörerischen Hagel.

Man könnte den Geist dieser Geschichte so zusammenfassen: Wenn man das Herz des anderen gewinnt, findet man immer einen gemeinsamen Weg. In allen Bereichen unseres Lebens haben wir mit Menschen zu tun und wir setzen uns mit ihnen über vielfältige Themen und Sachen auseinander. Wenn wir aber von vornherein nur um die Sache kämpfen, haben wir einen viel schwierigeren Weg, als wenn wir den Menschen und seine Bedürfnisse im Blick haben und unseren Beitrag leisten, um ihn für die Sache zu gewinnen – wie es der alte Mann mit dem Amir gemacht hat.

Noch ein Wort zu der verborgenen Weisheit in dieser Geschichte: Wenn man den Menschen die Chance gibt, etwas Gutes zu tun und ein guter Mensch zu sein, ist diese Chance oft sehr verlockend und sie nehmen sie gerne an – denn wer möchte nicht ein guter Mensch sein?

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3. DAS SCHWERE KREUZ, DAS WIR SCHICKSAL NENNEN

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In einem Verein sammelten wir Geld für bedürftige Ausländer. Ein aktives Mitglied dieser Gruppe war ein herzensguter Priester. Einmal fragte er mich direkt: „Sie wirken auf mich bedrückt. Was haben Sie denn?“ Und ich sagte: „Eine schwere Last.“ Er lächelte und sagte: „Wir Christen nennen es ‚ein Kreuz auf den Schultern‘.“ Er lud mich auf einen Tee ein und erzählte mir dabei folgende Geschichte.

Ein fleißiger und warmherziger Mann lebte mit seiner Familie in bescheidenen Verhältnissen. Er machte seine Arbeit gewissenhaft und voller Hingabe, aber es gab immer wieder diese oder jene Schwierigkeiten. Einmal fehlte das Geld, um das Dach zu reparieren, dann verlor er eines seiner Schafe, kurz darauf wurde sein Kind schwer krank und kaum war es gesundet, brach er sich das Bein. Ihm schien es, als würde die Kette von Unglücken nicht abreißen.

Aus seinem Leid sah er keinen anderen Ausweg, als zu beten. Immer wieder klagte er im Gebet:

„Ich mache doch alles so gut ich kann und tue auch niemandem etwas Böses. Lieber Gott, warum bestrafst du mich? Warum hast du mir so ein schweres Kreuz auf die Schultern gelegt?“

Nachdem dieser gute Mensch mit seinem reinen Herzen immer wieder so gebetet und sich über sein schweres Kreuz beklagt hatte, wurden seine Gebete erhört. So befahl Gott einem seiner Engel:

„Bringe meinen treuen Diener in die Sammelhalle der Kreuze, sodass er sich dort ein Kreuz aussuchen kann, das er gerne tragen würde.“

So geschah es auch. Der Engel brachte den Mann in jene Halle, in der alle Kreuze der Menschen aufbewahrt waren. Es war eine sehr lange Halle. Links und rechts lagen Kreuze aufgestapelt bis zur Decke. Der Mann sah sich um. Es fiel ihm auf, dass ein Kreuz aus massiven Eisenstangen zusammengesetzt war. Es wirkte mächtig und sehr schwer. Das nächste war zwar schmaler als das erste, aber es war übersät mit Dornen. Und wieder ein anderes war weder groß noch stachlig, aber es war sehr heiß und glühte. Und das nächste war voller Löcher, aus denen Ungeziefer herauskroch.

Jedes Kreuz, das der Mann sah, war schlimmer als das andere, und so lief er bestürzt und verzweifelt die Halle mehrmals auf und ab. Er war untröstlich, dass er kein einziges Kreuz fand, das er gerne tragen würde. Als er schließlich enttäuscht und resigniert die Halle verlassen wollte, entdeckte er ein kleines Kreuz aus Holz mit zierlicher Form und in warmen Farben, welches ihn direkt anzog. Er schrie vor Freude:

„Oh Gott, das ist das Kreuz, das mir wirklich gefällt. Bitte schenke mir dieses Kreuz!“

Da erklang die Stimme des Herrn:

„Das habe ich dir schon längst geschenkt, denn es ist genau das Kreuz, das du schon dein ganzes Leben trägst.“

DAS VERSTECKTE GLÜCK

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Wir sind gesund, alle Organe funktionieren und tun das, wofür sie da sind. Sie tun in jedem Augenblick ihren Dienst und wir machen von ihnen Gebrauch, ohne dass uns bewusst wird, wie kostbar dieses Geschenk, die Gesundheit, ist. Dann fällt aus Versehen eine Tür zu, ein Finger ist dazwischen und wird eingeklemmt. Oh Schmerz! Ab diesem Augenblick merken wir bei fast jeder Tätigkeit, wie dieser verletzte Finger uns behindert und so manche Tätigkeit erschwert. Aber genau genommen sind dieser kleine Finger und seine Funktionen nur ein Hauch dessen, was unseren Körper ausmacht und was er täglich bewältigt. Doch der schmerzende Finger steht im Fokus unserer Aufmerksamkeit.

Genau wie dieser Schmerz an einem Finger uns vergessen lässt, wie zuverlässig und reibungslos der gesunde und wunderbare Rest unseres Körpers funktioniert, so lässt uns ein Schmerz, ein Verlust oder allgemein ein Unbehagen in unserem Leben vergessen, wie reich unser Leben ansonsten ist und wie es sich aus seiner inneren Kraft von selbst fortsetzt. Offensichtlich handelt es sich dabei um eine emotionale Routine, eine „schlechte Denkgewohnheit“, die bewirkt, dass ein Defizit, Verlust, Misserfolg oder Ähnliches einen Schatten auf unser gesamtes Leben wirft und zum Fokus unseres Empfindens wird.

Genau dieser Schatten war wohl die Ursache dafür, dass der Mann in der Geschichte sein Leben nicht mit allen Facetten wahrgenommen hat; seine liebevolle Familie, sein wärmendes Zuhause, seinen Beruf, den er gerne ausübt, die schönen Stunden mit seinen Freunden – all das verblasste angesichts des schmerzenden Teils, der seinem ganzen Leben eine düstere Farbe gab. Erst die Gnade, mit einem Engel die Halle der Kreuze betreten zu dürfen, ebnete ihm den Weg zu einer Einstellung, durch die er mit seinem Leben, so wie es war, zufrieden sein konnte. Diese Haltung, mit dem Leben, so wie es ist, zufrieden zu sein, ist der Inbegriff der Dankbarkeit. Dankbarkeit lockt das Glück aus seinem Versteck. Dankbarkeit bedeutet nicht nur, für einen Gefallen, für schöne Augenblicke oder Ähnliches dankbar zu sein; sie ist vielmehr ein Lebenskonzept und eine Grundeinstellung. Dankbarkeit in ihrer ganzen Tiefe ist eine reife, harmonische und fruchtbare Auseinandersetzung mit der Realität und ein Schlüssel zum Glücklichsein.

Das Glück in dem zu suchen, was sein könnte, ist wie Einatmen im Vakuum: Man atmet Leere ein. Dagegen ist Dankbarkeit als Grundeinstellung Einatmen des Lebens in seiner ganzen Fülle.

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4. DER SCHWANGERE KOCHTOPF

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In persischen Erzählungen gibt es eine Figur, den Mullah, der oft der Hauptakteur in scharfsinnigen und witzigen Geschichten ist – aber nicht immer zu seinem Vorteil.

Der Mullah hatte einen seltsamen Nachbarn, der schlau, gerissen, egoistisch und nur auf seinen Vorteil bedacht war, und die ganze Gegend hielt ihn für einen Gauner. Eines Tages kam dieser Nachbar zum Mullah, um sich einen großen Kochtopf zu leihen. Der Mullah gab den Topf ein wenig widerwillig aus der Hand, denn einerseits traute er sich nicht ganz, seinem Nachbarn den Wunsch abzuschlagen, aber andererseits hatte er ein Unbehagen, ihm etwas zu leihen, weil er ihm misstraute.

Der Nachbar brachte den Topf aber am nächsten Tag anstandslos zurück. Mehr noch: Als der Mullah den Deckel hob, sah er, dass sich in dem großen Topf ein winzig kleiner Topf befand. Da fragte er überrascht:

„Wo kommt denn dieser kleine Topf her? Das ist doch gar nicht meiner.“

Da erwiderte der Nachbar:

„Doch, er gehört dir! Denn als du mir deinen Topf gegeben hast, da muss er wohl schwanger gewesen sein. Jedenfalls brachte er gestern Abend diesen kleinen zur Welt.“

Da hatte der Mullah wieder gemischte Gefühle. Denn es war ihm völlig klar, dass ein Kochtopf kein Kind gebären kann, und er dachte, der kleine Topf stehe ihm nicht zu. Er dachte aber auch, durch die Dummheit von solch einem Gauner zu einem zusätzlichen Topf zu kommen ist zwar moralisch nicht ganz korrekt, aber vertretbar. Letztlich siegte die Gier über die Moral und er nahm auch den kleinen Kochtopf an.

Als der Nachbar ihn in der nächsten Woche wieder um den großen Kochtopf bat, half ihm der Mullah mit der leisen Hoffnung aus, sein Topf könne wieder „gebären“. Doch diesmal kam der Nachbar nicht, um ihm den Topf wiederzubringen. Der Mullah wartete und wartete. Schließlich, nach einer Woche, ging er zu seinem Nachbarn hinüber.

„Warum bringst du mir meinen Topf nicht zurück?“, rief er. „Ich brauche ihn jetzt selbst!“

Da antwortete der Nachbar mit einem traurigen Gesicht:

„Es tut mir furchtbar leid, lieber Nachbar, aber ich kann dir deinen Topf nicht wiedergeben. Denn diesmal ist er bei der Geburt gestorben …“

DIE WEISHEITEN IN UNSEREM UNBEHAGEN

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Diese Geschichte deckt von den vielfältigen menschlichen Facetten zwei Schwächen auf: Die eine ist zu wenig Grenzsetzung und ein halbherziges Nein, die andere ist Habgier. Der Mullah, sonst ein rechtschaffener und besonnener Mensch, hat nicht auf seinen inneren Impuls geachtet. Er hatte ein Unbehagen, als er seinem berüchtigten Nachbarn einen Topf leihen sollte. Er spürte auch ein Unbehagen, als er die Wahl hatte, den kleinen Topf anzunehmen oder nicht. Beide Male überging er sein Unbehagen und zahlte schließlich den Preis dafür.

Das Unbehagen des Mullah wollte ihn auf diese Schwächen aufmerksam machen und ihm sagen, wie er solche Situationen meistern kann. Es wollte ihm nahelegen:

Überwinde die Angst, die ein Nein mit sich bringt, und sprich das Nein aus, das du fühlst.

Das unrechte Verhalten anderer ist keine Rechtfertigung dafür, selbst unrecht zu handeln.

Wenn du selbst weißt, dass das, was du nimmst, einem anderen schadet, dann nimm es nicht.

Wenn dir die Dummheit einmal nützt, sei gewiss, sie wird dir hundertmal schaden. Also begegne der Dummheit besonnen und mit Klugheit.

Nun schauen wir uns „Nehmen“ und „Nein-Sagen“ genauer an:

Nehmen hat tausende Facetten und kommt in jedem Lebensbereich vor: im materiellen, emotionalen, sozialen, sexuellen und allen weiteren Lebensbereichen. Und bei vielem, was wir unbedacht nehmen, glauben wir, es koste nichts. Aber wir müssen es doch bezahlen, ob unmittelbar oder später. Die bittere Wahrheit ist: Preise, die nicht bekannt sind, sind meistens höher, als man denkt. Wenn du möchtest, schau, aus welchem Bereich du hin und wieder von jemandem genommen hast oder noch nimmst. Und wenn du ganz ehrlich zu dir bist, wird dir vielleicht bewusst, dass du doch einen Preis in irgendeiner Form dafür zahlst und dass das eine oder andere Nehmen doch zu teuer ist. Also: Nicht den Kaffee trinken, der schmeckt, sondern den Kaffee, den man auch gerne bezahlt.

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