Else Wildhagen: Trotzkopfs Brautzeit

 

 

Else Wildhagen

Trotzkopfs Brautzeit

 

 

 

Else Wildhagen: Trotzkopfs Brautzeit

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

ISBN 978-3-8430-6628-0

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8430-6040-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-6049-3 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Else Wildhagen. Erstdruck: 1894.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Ilse und Leo saßen lustig plaudernd auf der Veranda vor dem Macketschen Hause. Der warme Mittagssonnenschein eines heiteren Oktobertages stahl sich durch das dichte Blättergewirr des herbstlich gefärbten Weinlaubes zu ihnen herein.

Leo Gontrau erzählte soeben von seinem Leben in der kleinen Stadt, in welcher er als Assessor angestellt war, und nach der er Ilse im kommenden Frühjahr als seine Frau heimführen wollte. Sie unterhielt sich köstlich über seine ebenso drastischen wie komischen Erzählungen und sah im Geiste die geschilderten Personen leibhaftig vor sich. Natürlich war sie schon jetzt der Gegenstand des lebhaftesten Interesses in dem kleinen Ort und Leo konnte nicht genug berichten, wie neugierig man sich nach ihr erkundigte.

»Und mit all den langweiligen Tanten soll ich verkehren?« rief sie endlich, »mit ihnen Kaffee trinken, klatschen, womöglich grauwollene Strümpfe dabei stricken?« Sie warf sich in den Stuhl zurück und brach in ein unbändiges Gelächter aus.

»Na – es wird so schlimm nicht werden, Kind, und[2] mir zuliebe mußt du es eben auch mal über das Herz bringen, mit alten Tanten Kaffee zu trinken.«

Das heitere Lächeln verschwand von ihrem Gesicht, und sie sah ihn erstaunt an.

»Du meinst doch nicht im Ernst, Leo, daß ich mit allen diesen Damen verkehren muß?«

»Ja, Schatz«, gab er ihr zur Antwort, »das müssen wir, ich bin Beamter und habe Rücksichten zu nehmen, das ist nun einmal nicht anders und da wird sich denn meine kleine Frau auch fügen müssen.«

»Fügen«, rief sie sich aufrichtend, »nein, Leo, fügen werde ich mich nicht, besonders nicht, diese Besuche zu machen.«

»Wie kannst du dich nur so ereifern, Ilse«, sagte er lächelnd und schüttelte den Kopf.

»Übrigens findest du in B.... auch einige sehr nette junge Frauen, welche dir gewiß gefallen werden.«

Sie unterbrach ihn spöttisch. »Du bist ja sehr entzückt von unsrem künftigen Bekanntenkreis; ich muß gestehen, mich verlangt es nicht nach Bekanntschaften, wenn wir erst verheiratet sind. Nur dir will ich leben, weiter niemand; du aber zählst mir jetzt schon vor, mit wem ich verkehren soll – dir liegt also nichts, gar nichts daran, mit mir allein zu sein.«

Sie sah hübsch aus in ihrer Erregung; Leo mochte sie gern so sehen, mit funkelnden Augen und geröteten Wangen.

Zärtlich zog er sie zu sich heran und strich liebkosend über ihr Haar.

»Kleiner Brausekopf«, sagte er, »kannst du denn nicht ruhig denken, nicht ruhig mit mir über unsre Zukunft sprechen?«

Sein etwas überlegenes Lächeln bei diesen Worten brachte sie noch mehr aus der Fassung.

»Ja, du natürlich fügst dich willig in alles, aber das kann und tue ich nicht! Denke nicht, daß ich eine unterwürfige Frau werde, so eine ›Magd‹, wie sie Chamisso besingt.«[3]

Trotzig warf sie die Lippen auf und zerzupfte mit solchem Eifer eine schöne dunkle Rose, als wäre die unschuldige Blume die Urheberin ihres Ärgers.

»Nein, nein«, lachte er, »ich weiß, ich bekomme ein widerspenstiges Käthchen, kein sanftes Gretchen zur Frau. Aber du weißt doch auch, Lieb, wie Petruchio sein Käthchen bezwang, daß sie zuletzt ganz gefügig ward und, wenn er es wünschte, die Sonne für den Mond ansah?«

Sie hörte nicht auf seine scherzenden Worte, ihre lebhafte Phantasie war mit ihr weit fort geeilt. Sie sah sich im Geiste als junge Frau, brav und ehrbar wie die andern Frauen, von denen ihr Leo erzählt hatte; da durfte sie gewiß nicht scherzen, lachen und sagen, was sie wollte, mußte gute Lehren anhören, wurde gefragt und ausgeforscht. Das würde sie aber nicht ertragen, das ging nicht, und sie wollte sich von Leo das feste Versprechen geben lassen, daß er sie nicht zwingen würde, diese schrecklichen Besuche mit ihm zu machen.

Schweigend hatte der junge Mann seine Braut beobachtet und an ihrem wechselnden Mienenspiel bemerkt, wie aufgeregt sie in ihrem Innern war. Jetzt trat sie zu ihm heran und legte ihre Hand an seine Schulter.

»Leo, lieber Leo«, sagte sie fast flehend, »versprich mir eins, wenn du mich wahrhaft liebst! Laß uns, wenn wir erst verheiratet sind, ganz für uns leben; niemand soll unser Heim sehen, niemand wollen wir besuchen, das denke ich mir reizend; nicht wahr, Schatz, du versprichst mir das? Gib mir die rechte Hand darauf.«

Unwillig wandte er sich ab.

»Nun kommst du wieder auf das alte Thema zurück; ich muß gestehen, du stellst ein unvernünftiges Verlangen an mich, und ich kann dir deine Bitte nicht erfüllen. Du mußt doch einsehen, daß es zu meiner Stellung nicht paßt, wenn ich alle gesellschaftlichen Pflichten unbeachtet lasse! Ich hoffe auch noch immer, du machst nur Scherz.«[4]

»Scherz?« brauste sie auf. »Du mußt nicht glauben, daß ich noch ein dummes Kind bin, Leo. Ich weiß genau, was ich will, und ich sage dir vorher, ich mache deine langweiligen Besuche nicht mit.«

Ihr alter leidenschaftlicher Trotz sprach bei diesen Worten aus ihren Blicken, und gerade ihn, den sie so innig liebte, mußte sie damit kränken.

»Wenn du erst meine Frau bist, liebe Ilse, so wirst du dich auch nach meinen Wünschen zu richten haben«, gab er ihr bestimmt zur Antwort, und sein ernster Blick richtete sich fest auf sie. Aber schon gereute ihn seine Entschiedenheit wieder, denn er liebte seine Braut über alles, und gerade ihr oft sprödes Wesen hatte ihn stets entzückt. Sie war ja noch ein halbes Kind, bald wurde sie seine Frau und dann würde alles anders sein; er kannte ja den lieben Trotzkopf.

Sie stand an die Brüstung der Veranda gelehnt und hielt die entblätterte Rose noch immer in ihren Händen. Die braunen Locken waren ihr wirr in die heiße Stirn gefallen, und die langen Wimpern lagen auf den tief geröteten Wangen. Leo konnte den Blick nicht von ihr wenden, er sah nur das liebreizende Bild vor sich, und aller Unmut war verraucht. Er sprang auf und eilte zu ihr, seinen Arm zärtlich um ihren Nacken schlingend.

»Komm her, Lieb, setze dich wieder zu mir. Wollen wir uns um solche Nichtigkeiten streiten, während uns eine selige, rosige Zukunft winkt? Wenn du erst mein kleines Weib bist, dann sprechen wir wieder über diese Sache und dann – ich weiß es – dann denkst du ganz anders darüber.«

Aus seinen schönen Augen sprach die innigste Liebe, aber Ilse war in diesem Augenblick mit Blindheit geschlagen, sie empfand nur das Eine, – er gab diesmal nicht nach.

Unwillig machte sie sich aus seinem Arm los und trat zurück.

»Das also ist deine Liebe«, fuhr sie auf, »nicht den[5] kleinsten Wunsch erfüllst du mir. Aber ich wiederhole noch einmal, ich will mich nicht fügen, jetzt nicht und wenn ich deine Frau bin, erst recht nicht. Nein – ich will dich auch nicht heiraten, denn ich sehe ein, du liebst mich nicht mehr.« Hier brach sie in Tränen aus, in kindische, zornige Tränen. Wollte sie ihn dadurch zwingen, ihr nachzugeben? Dieser Gedanke stieg plötzlich in Leo auf; aber das durfte nicht, das sollte nicht sein. Mit der wärmsten, zärtlichsten Liebe hatte er sie zu beruhigen gesucht, und immer wieder war er auf Trotz und Widerstand gestoßen. Er war ärgerlich, sehr ärgerlich, und sein Stolz bäumte sich in ihm auf.

»Schäme dich, Ilse«, stieß er hervor, »du beträgst dich wie ein ungezogenes Kind.«

In der Erregung klang seine Stimme vielleicht härter, als er beabsichtigte, denn Ilse fuhr fast entsetzt zurück bei seinen Worten. »Schämen!« wiederholte sie und sah ihn ganz erstarrt an.

»Leo – Leo«, rief sie mit zitternder Stimme, »nimm zurück, was du eben sagtest.«

»Ich kann meine Worte nicht zurücknehmen, Ilse«, gab er ruhig zur Antwort, »denn du beträgst dich wirklich wie ein recht ungezogenes kleines Mädchen.«

Das war zu viel! Ihr Atem flog, und sie war nicht fähig, ein Wort zu erwidern. Ohne Leo noch eines Blickes zu würdigen, lief sie in das Haus und stieß in der Türe fast mit ihrem Vater zusammen, der eben auf die Veranda kommen wollte.

»Was hast du denn, Kind?« fragte er, als sie so hastig an ihm vorbeistürmte und er ihre verweinten Augen sah. Doch sie gab ihm keine Antwort; wie ein gescheuchtes Reh lief sie die Treppen hinauf in ihr Zimmer und riegelte die Türe fest hinter sich zu. Sie warf sich in einen Stuhl und brach in leidenschaftliches Schluchzen aus, als wäre ihr das größte Unglück geschehen.[6]

»Schämen« hatte er gesagt, und sie ein »ungezogenes Kind« genannt. Wie demütigend klangen diese Worte; glaubte er denn ein Schulkind vor sich zu haben, das er nach Belieben ausschelten konnte? – Sie richtete sich auf und preßte die Lippen fest aufeinander. Sie war kein Kind mehr, das wollte sie ihm zeigen! Wie konnte er nur so zu ihr sprechen – fühlte er nicht, wie furchtbar er sie kränkte? Ein neuer Tränenstrom brach aus ihren Augen, sie legte die Hände vor das Gesicht und schluchzte bitterlich. Immerfort tönten in ihrem Ohr die Worte: »Schäme dich, du beträgst dich wie ein ungezogenes Kind«, und »nein, nein, er liebt mich nicht mehr«, antworteten ihre Gedanken. Daß sie ihn durch fortwährenden Widerspruch erst zu dieser Äußerung gereizt hatte, das kam ihr nicht in den Sinn, das gestand sie sich nicht ein. Er hatte ihr großes Unrecht zugefügt, nur das empfand sie in ihrer aufs höchste gesteigerten Aufregung. – Was sollte sie tun, was beginnen? Wenn sie der Mama ihr Herz ausschüttete? Sie fühlte wohl, daß diese ihr nicht recht geben würde. Wenn sie zum Papa ginge? Ja, der würde seinen verzogenen Schützling gewiß in Schutz nehmen, aber lachend und scherzend wie immer – und das ging nicht, dazu war die Sache zu ernst. – Nein, es war auch am besten, wenn kein Mensch von dieser Kränkung erfuhr. Niemand wollte sie ihr Leid klagen. Ja, wäre Nellie hier – ihr würde sie alles anvertrauen, die würde sie verstehen. Aber die geliebte Freundin war in weiter Ferne; ach, wie schmerzlich sehnte sie sich in diesem Augenblick nach ihr. Sie stützte den brennenden Kopf in ihre Hand und blickte lange sinnend vor sich hin. Nellies Bild stand lebhaft im Geiste vor ihr, sie sah die treuen lieben Augen und hörte ihr kindlich frohes Lachen.

Könnte sie sich doch an ihre Brust lehnen, ihr alles erzählen, was sie so schwer bedrückte! Sie kam sich verlassen und einsam vor. Niemand verstand sie, und sie wollte auch niemand sehen mit dieser Schmach im Herzen. Leos Bild,[7] das vor ihr auf dem Schreibtisch stand, schien sie spöttisch anzulächeln; sie stellte es fort, denn sie konnte diesen Blick nicht ertragen. Die Luft in dem kleinen Zimmer kam ihr erdrückend vor, sie konnte kaum Atem holen, und erst als sie beide Fensterflügel geöffnet hatte und die frische Herbstluft hereindrang, wurde ihr leichter.

Die Sonne war hinter Wolken verschwunden, welche immer dunkler und schneller herangezogen kamen und auch das letzte helle Blau am Himmel bedeckten. Ein starker Wind hatte sich aufgemacht und rauschte in den alten Bäumen, vor Ilses Augen tanzten wirbelnd welke Blätter durch die Luft. Wie öde und unfreundlich kam ihr mit einem Male die Natur vor, und doch hatte sie heute im sonnenhellen Lichte noch so freundlich gelächelt. So trübselig wie draußen sah es jetzt auch in ihrem Innern aus, sie glaubte nie wieder froh werden zu können.

Ob Leo nicht zu ihr kommen würde? Er mußte doch einsehen, welch schwere Beleidigung er ihr zugefügt hatte. Aber wenn er jetzt käme, wenn er jetzt an ihre Türe klopfte – nein – sie würde ihm nicht öffnen. Noch konnte sie ihn nicht sehen und hören – noch stürmte es zu heftig in ihrer Brust, und so leicht wollte sie ihm nicht verzeihen, er hatte es nicht verdient.

Unten im Garten knirschte der Kies unter festen Tritten, und laute Stimmen wurden hörbar. Hatte der Papa Besuch bekommen? Sie bog sich hinaus und sah ihn mit Leo daherschreiten, welcher lebhaft zu ihm sprach. Seine Stimme klang ruhig ohne die mindeste Erregung, als wäre nichts vorgefallen. Jetzt schien er sogar einen guten Witz zu erzählen, denn Herr Macket brach in ein schallendes Gelächter aus, in welches Leo lustig mit einstimmte. Wie ein Mißklang tönte dieses Lachen an ihr Ohr. Empört schlug sie das Fenster zu, daß die beiden im Garten verwundert herauf sahen, – aber sie war schnell zurückgetreten, und von neuem[8] wurde sie von leidenschaftlichem Zorn erfaßt. Das war zu viel! Also gleichgültig war ihm alles, er dachte wohl gar nicht mehr daran, wie er sie gekränkt hatte. Er war zum Lachen und Scherzen aufgelegt, während sie so schwer litt. Sie konnte das nicht ertragen, sie wollte ihm beweisen, daß er kein Kind mehr vor sich hatte – sie mußte ihm zeigen, daß sie sich eine solche Demütigung nicht gefallen ließ. Ja – das wollte sie ihm zeigen! – Aber wie? Was konnte sie beginnen? – Wie ein Blitz durchfuhr sie plötzlich ein Gedanke, an dem sie sich zitternden Herzens festklammerte. Sie wollte fort, fliehen, dann würde er ja wohl einsehen, daß er ihr bitteres Unrecht getan hatte. Sie sah in ihrem törichten Sinn nicht weiter, sie dachte nicht an die Sorge, den Kummer, den sie ihren Eltern und Leo durch einen solchen Schritt bereiten würde. Der plötzlichen Eingebung folgte sie, ja sie kam sich in diesem Augenblicke wie eine Heldin vor, ihr sonst so kindliches Gesicht nahm einen entschlossenen Ausdruck an, und die Lippen waren trotzig aufeinander gepreßt.

»Ich will fort und gleich – gleich jetzt!« Sie sagte diese Worte laut vor sich hin, als wollte sie sich dadurch selbst in dem Entschluß befestigen, ihr abenteuerliches Vorhaben auszuführen. Hastig durchschritt sie das Zimmer. Die kleine Uhr, welche auf dem Ofensims stand, fing eben an zu schlagen; »drei – vier« zählte Ilse. Um fünf Uhr ging ein Zug nach F., wo Nellies Mann seit seiner Verheiratung Oberlehrer am Gymnasium war. Eine Reise zu ihr war schon längst geplant, und Ilse hatte von den Eltern die Erlaubnis erhalten, nach Weihnachten einige Wochen in F. zuzubringen. Der stets sorgsame Papa hatte das Kursbuch schon genau studiert und für sie den Zug nachmittags fünf Uhr als den besten bestimmt. Den Bahnhof erreichte sie von Moosdorf bequem in einer halben Stunde – danach war es aber die höchste Zeit zum Aufbruch. Die verweinten Augen wusch sie mit frischem Wasser und ordnete ihr wirres Haar; sie setzte[9] ihren Hut auf, holte ihren Mantel und hing ihn über den Arm. So, nun war sie fertig; sie dachte nicht daran, noch etwas andres mitzunehmen; sie tat alles mit einer fliegenden Hast, als könnte es sie doch am Ende noch gereuen, den tollen Streich beschlossen zu haben. Zum Glück fiel ihr im letzten Moment, als sie schon die Türklinke in der Hand hielt, ein, daß sie auch Geld haben müßte. Sie ging zurück und schloß ihren Schreibtisch wieder auf. Aus einem Kästchen nahm sie 30 Mark, die ihr der Papa erst gestern schenkte, weil sie irgend eine Dummheit begangen hatte, welche ihn entzückte und die er unbedingt belohnen mußte. Sie steckte das Portemonnaie in die Tasche und ging nun schnell zur Türe hinaus und die Treppe hinab. An der Haustür blieb sie zögernd und tiefaufatmend stehen. Lucies Bild trat ihr plötzlich deutlich vor Augen, mahnend schien es ihr zuzurufen: »Kehre um, kehre um!« Fast war es, als würde sie schwankend in ihrem Entschlusse, denn auf ihrem Antlitz spiegelten sich bange Zweifel, aber Leos Bild drängte sich dazwischen, sie sah sein heiteres Antlitz, hörte sein ausgelassenes Lachen – und »fort! fort!« rief es nun in ihrem Innern. Lucie hatte keine Gewalt mehr über sie, ihr ungestümer Sinn trieb sie zu einer Torheit, welche ihr die bittersten Stunden ihres Lebens bereiten sollte. Hätte sie ihren Bräutigam betrübt und niedergeschlagen gesehen, vielleicht würde sie diesen folgenschweren Schritt nie gewagt haben; aber er lachte ja und war vergnügt, – nichts hätte sie mehr darin bestärken können, ihr Vorhaben auszuführen, als sein harmloses Lachen.

Sie horchte, – nichts regte sich im Hause, die Mama war bei dem Brüderchen im Kinderzimmer; vor einer Begegnung mit ihr war sie also sicher. Durch ein Fenster spähte sie in den Garten – er war leer, die beiden Herren schienen weiter gegangen zu sein. Über den Hof konnte sie unbehindert gehen; die Mägde und Knechte waren draußen beschäftigt,[10] die übrige Dienerschaft war in den Wirtschaftsräumen, welche auf der andern Seite des Hauses lagen.

Sie wollte niemand begegnen; es war ihr, als könnte man es auf ihrer Stirn lesen, was sie vorhatte. Deshalb lief sie schnell über den Hof durch das Tor auf die Dorfstraße und schlug den Weg zum Bahnhof ein. Wie ein gehetztes Wild floh sie dahin und wagte nicht, nach dem Hause zurückzublicken; nur von Zeit zu Zeit sah sie ängstlich zur Seite, ob auch keiner sie bemerkte. Es begegneten ihr einige Bauernfrauen, welche sie gut kannte, und die sie schon von weitem grüßten, denn sie war im Dorfe bei alt und jung beliebt. Heute dankte sie nur flüchtig für die freundlichen Grüße und eilte scheu an den Leuten vorbei; sie fühlte, daß ihr eine brennende Röte in die Wangen stieg, und sie kam sich wie eine ertappte Sünderin vor. Der Gedanke an das erlittene Unrecht beflügelte ihre Schritte, sie lief auf Koppelwegen durch die Felder, den aufgeweichten Boden nicht achtend, der sich schwer an ihre Sohlen hing. Aus den Stoppeln flog bei ihrem Nahen mit lautem Gekreisch eine Schar Krähen in die Höhe, und ängstlich erschrocken zuckte sie zusammen. Endlich sah sie von weitem das rote Bahnhofgebäude schimmern, und in kurzer Zeit hatte sie es atemlos erreicht.

Mit unsicherer Stimme forderte sie am Schalter eine Fahrkarte nach F. und setzte sich in das kleine, halbdunkle Damenwartezimmer an das Fenster. Der Zug mußte in wenigen Minuten eintreffen; sie wollte aber den Perron nicht eher betreten, bis er da war, aus Furcht, sie könnte noch Bekannte treffen. Richtig, da kam auch schon jemand, den sie kannte. Es war der dicke Oberförster, ein alter Freund ihres Vaters, der mit einem Herrn auf und ab ging; wahrscheinlich hatte er denselben zur Bahn gebracht. Sie drückte sich ganz in die Ecke, als die beiden am Fenster vorbeigingen. Wenn sie nun nachher nicht unbemerkt an ihm vorübergehen konnte, dachte sie ängstlich, und wenn er sie fragte, wohin[11] sie reisen wolle, was sollte sie ihm antworten? Dieser peinvollen Ratlosigkeit machte der langgezogene Pfiff des erwarteten Zuges ein Ende; wenige Augenblicke darauf stand er vor dem Bahnhofgebäude still. Zitternd erhob sich Ilse und ging hinaus. Der dicke Oberförster unterhielt sich jetzt eingehend mit dem Bahnhofinspektor und wandte ihr glücklicherweise den Rücken zu. Sie trat schnell an den nächsten Schaffner heran und ließ sich von ihm ein Damencoupé anweisen. Ihr Herz schlug rasch, und es wurde ihr beklommen zu Mute, als sie einstieg; sie war froh, daß das Coupé leer war, denn sie hätte jetzt keinem Menschen frei ins Gesicht sehen können. Die Türen wurden zugeschlagen, noch ein Hin- und Herlaufen, dann läutete die Glocke zur Abfahrt, ein schriller Pfiff ertönte und die Wagen setzten sich langsam in Bewegung. Sie wagte es nicht, aus dem Fenster zu sehen, denn die Stimme[12] des Oberförsters war immer noch deutlich vernehmbar. Erst als der Zug im schnellen gleichmäßigen Tempo dahinfuhr, stand sie auf und trat an das offene Fenster; die frische Luft wehte ihr erquickend um die Schläfen und kühlte ihr den fieberheißen Kopf. Mehr und mehr entschwand die heimatliche Gegend ihren Blicken, sie kannte schon keins der Dörfer mehr, an denen sie vorbeiflog. Wie es wohl jetzt daheim aussah, ob sie ihre Flucht schon bemerkt hatten? Im Geiste sah sie die bestürzten Gesichter ihrer Eltern – der Papa würde außer sich sein. In ihrer Aufregung hatte sie daran noch nicht gedacht, aber mit einem Male stieg dieser Gedanke qualvoll in ihr auf. War es nicht unrecht, die Eltern so zu ängstigen? Sie nahm sich vor, sofort nach ihrer Ankunft bei Nellie einen langen Brief an sie zu schreiben, sie um Verzeihung zu bitten und ihnen zu sagen, daß sie nicht anders habe handeln können. Was würde aber Leo zu ihrer Flucht sagen? Sie dachte mit einer gewissen Genugtuung daran, wie er nun doch einsehen müßte, daß sie einen festen Willen besaß, und ausführte, was sie wollte. Nun würde er wohl eine andre Meinung von ihr bekommen.

Wie konnte er sie nur so tief kränken, wenn er sie wirklich liebte – sie vermochte es nicht zu fassen. Er war doch sonst nie so hart gegen sie gewesen, und sie hatten sich schon so oft gestritten. Bis jetzt fügte er sich stets ihrem Willen, so oft sie ihn auch schon im tollen Übermut herausgefordert hatte; warum erfüllte er ihr heute nicht den kleinen Wunsch? Warum betonte er immer wieder, daß er als Beamter Rücksicht zu nehmen habe? Das klang so unterwürfig, so demütig; sie wollte ihn stolz haben, über alles Kleinliche erhaben.

Wie fing der dumme Streit denn nur eigentlich an? Sie waren ja so lustig gewesen und hatten von der Zukunft geplaudert; in einem halben Jahre, im Frühling sollte ja die Hochzeit sein. Leo war in dem nahen B. als Assessor[13] angestellt und arbeitete schon seit einigen Wochen am dortigen Landgericht. Meistens besuchte er Sonntags seine Braut und scherzend erzählte er ihr dann von seinen Erlebnissen, von den Bekanntschaften, welche er gemacht hatte. Komisch und naturwahr schilderte er die Fehler und Schwächen von allen, was Ilse den größten Scherz bereitete. Da war die Frau Amtsrichter, welche alle jungen Ehepaare unter ihre Fittiche nahm und die Ansicht hatte, daß sich die jungen Frauen entschieden dem Rate der älteren »fügen« müßten. Dann die Frau eines Arztes, die Neugierige, welche nicht ruhte noch rastete, bis sie die täglichen Neuigkeiten glücklich eingesammelt hatte. – Leo erzählte, wie er ihren Angriffen auf ihn stets geschickt ausgewichen wäre und daß es ihr nicht gelungen sei, auf ihre vielen Fragen über seine Braut, seine künftige Einrichtung und dergleichen eine Antwort zu erhalten. Er ahmte dabei das vor nervöser Ungeduld unruhige und bewegliche Mienenspiel der Dame so treffend nach, daß Ilse gar nicht aus dem Lachen kam. Heute hatte er zum erstenmal erwähnt, daß sie sich bald selbst von der Wahrheit seiner Schilderungen überzeugen könnte, denn alle diese Familien würden sie besuchen, teilweise auch mit ihnen verkehren.

Damit hatte der Streit angefangen. Er habe Rücksichten zu nehmen, hatte er gesagt, und das wollte sie nicht gelten lassen, ihr künftiger Mann sollte und brauchte das nicht. Die kleine Ilse hatte noch keine Ahnung von der Welt, wie oft und wie viel der Mensch, welcher etwas erreichen will, Rücksichten nehmen muß. Ihre Wege waren bisher stets geebnet gewesen, und deshalb wollte es ihr durchaus nicht in den Sinn, warum sie und Leo künftig nicht ganz nach ihrem Gefallen leben könnten.

Ob sich wohl Nellie in allem ihrem Manne fügte? Gewiß nicht, und Dr. Althoff war kein Tyrann, das wußte sie. Die liebe einzige Nellie! – Ilse konnte sich gar nicht[14] vorstellen, wie sie als junge Frau sein würde. Wie herzlich hatte sie sich auf ein Wiedersehen mit ihr gefreut, und schrecklich war es, daß sie nun als eine Fliehende mit tief betrübtem Herzen zu ihr kam. Sie war so glücklich gewesen – und jetzt? Wieder füllten sich ihre Augen mit Tränen, welche langsam über ihre Wangen rollten. Sie kam sich so bedauernswürdig vor, als wäre sie hinausgestoßen in die weite Welt, und nicht als hätte sie nur ihre eigene unglückselige Laune zu diesem Schritte getrieben.

Die Dämmerung brach jetzt mit aller Macht herein und breitete ihre dunklen Schatten immer tiefer über die herbstliche Natur. Nur nebelhaft noch waren die Gegenstände zu erkennen, die vor Ilsens Augen auftauchten, um schnell wieder zu verschwinden. Einzelne Regentropfen schlugen trübselig gegen das Fenster, und das einförmige Geräusch der Räder wirkte fast betäubend auf sie. Ein unbehagliches Frösteln stellte sich ein, furchtsam blickten ihre Augen in dem halbdunklen Coupé umher; das unheimliche Gefühl des Alleinseins überfiel sie mit einem Male, und ihr Heldenmut sank immer tiefer. Unbeweglich saß sie in ihre Ecke gedrückt, ihre Aufregung steigerte sich von Minute zu Minute. Wie spät mochte es denn sein? Sie zog ihre Uhr hervor und konnte nur mühsam entziffern, welche Zeit es war. – Gott sei Dank, die Hälfte der Fahrt hatte sie hinter sich, schon zwei Stunden war sie unterwegs. Sie waren ihr schnell vergangen, aber nun mußte sie noch eine ebenso lange Zeit ausharren, bis sie in F. eintraf. Gegen neun Uhr sollte der Zug dort sein – es wurde gewiß sehr spät, bis sie bei Nellie war. Ob Althoffs wohl weit vom Bahnhof entfernt wohnten? – Wenn sie dieselben nur zu Hause traf! Oder – ihr Herz pochte stürmisch bei diesem Gedanken – wenn sie vielleicht noch verreist wären? Die Herbstferien waren erst in diesen Tagen zu Ende. Nellie schuldete ihr seit einiger Zeit einen Brief, und sie wußte[15] deshalb nichts Näheres von ihr. O Gott, was sollte sie dann beginnen, allein in der fremden Stadt? Sie konnte doch in kein Gasthaus gehen und ein Zimmer fordern? Das ging nicht, das würde sie nie tun! Aber wo sollte sie in der Nacht bleiben? Dieser Gedanke bereitete ihr entsetzliche Qualen, und zum ersten Male gelangte sie zu dem vollen Bewußtsein, wie abenteuerlich ihr Unternehmen war. Sie fing in ihrer Herzensangst an zu weinen. Fast empfand sie Reue; wie behaglich und sorgenlos könnte sie jetzt zu Hause sein, und mußte nun statt dessen in die dunkle Nacht hinein fahren mit einem Herzen voll Angst und Bangen.

Auf der nächsten Station fragte sie den Schaffner, welcher Licht in dem Coupé anzündete, wie lange sie noch bis F. zu fahren hätte. »Noch vier Haltestellen«, brummte er unfreundlich, und Ilse wagte keine weiteren Fragen. Die Helle im Coupé machte wenigstens ihrer Furcht ein Ende, sie konnte nun deutlich erkennen, daß auf den Polstern neben ihr und gegenüber niemand weiter saß, wie sie vorhin in ihrer Furchtsamkeit geglaubt hatte. Sie freute sich, wenn wieder eine Station vorüber war, und alle Augenblicke sah sie nach der Uhr, ob der Zeiger noch nicht weiter vorgerückt war. – Jetzt hatte der Zug zum letztenmal gehalten, noch eine kurze Zeit und sie war da. Ungeduldig ging sie auf und ab, krampfhaft den Schirm in der Hand haltend, mit dem Mantel über dem Arm. Unaufhörlich schlug jetzt der Regen gegen das Fenster, stockdunkel war es draußen, und nur hier und da blitzten in der Ferne Lichter auf. Fast wünschte Ilse, es wäre auf der letzten Strecke jemand eingestiegen, der ihr möglicherweise Auskunft über die Althoffsche Wohnung hätte geben können. Und doch wieder war sie ganz froh, allein geblieben zu sein, weil sie fühlte, daß sie ihre Aufregung nicht verbergen könnte.

Endlich ertönte der lang anhaltende Pfiff der Lokomotive, und mit zitternder Ungeduld sah sie ihrer Erlösung[16] entgegen; der Zug war in die Bahnhofhalle eingefahren und hielt jetzt still. Neugierig spähte Ilse durch das Fenster auf den erleuchteten Perron, wo eine Menge Menschen standen. Die Türe wurde geöffnet, und sie stieg aus. Ängstlich sah sie sich um, die vielen lauten Stimmen, das Gedränge und Hinundherstoßen machten sie ganz beklommen. Bunte Studentenmützen konnte man überall aus dem Gewühl hervorleuchten sehen. Scheu wich sie denselben aus, denn sie dachte noch mit Schrecken an ihre Studenten-Begegnung bei ihrer Abreise aus der Pension.

Als sie einen Bahnbeamten nach einem Gepäckträger fragte, wies sie der vielbeschäftigte Mann nach dem Ausgang der Halle, und sie drängte sich glücklich bis dahin durch. Sie sah sich suchend um und war froh, als sie ganz in der Nähe noch einen Mann mit blauem Kittel und einer Gepäckträgermütze entdeckte. Sie trat auf ihn zu und fragte, ob er die Wohnung von Dr. Althoff wüßte. Er rührte sich nicht aus seiner Stellung; faul, beide Hände in den Hosentaschen, stand er an die Mauer gelehnt und glotzte sie mit verglasten Augen an; ein widerwärtiger Branntwein-Geruch stieg ihr unter die Nase. Sie mußte ihre Frage wiederholen, und diesmal schien er sie wirklich verstanden zu haben, denn er setzte sich statt aller Antwort langsam in Bewegung; ein Wink mit der Hand machte ihr klar, daß sie ihm folgen solle.

Bedenklich schwankend ging ihr Führer voran, Ilse angstvoll hinterher. Der Mann war ja total betrunken, er taumelte hin und her und konnte nur mühsam das Gleichgewicht halten. Wenn er sie nur nicht den verkehrten Weg führte! Sie wollte ihn aber nicht noch einmal nach der Wohnung fragen, denn sie war sicher, doch keine verständliche Antwort zu bekommen. So waren sie schon eine ganze Strecke zusammen gegangen durch enge, winklige, schlecht erleuchtete und gepflasterte Straßen, in denen der strömende[17] Regen große Pfützen gebildet hatte. Den besten Weg schien der Betrunkene auch nicht gewählt zu haben; unbekümmert um den gräßlichen Schmutz und die großen Wasserlachen, in welche er mitten hinein patschte, so daß Ilse vor den nach allen Seiten spritzenden Tropfen ausweichen mußte, trottete er weiter. Ihre Unruhe wuchs immer mehr. Wohin führte er sie eigentlich? In einer dieser schmalen, übelriechenden Gassen würden Althoffs doch schwerlich wohnen. Sie faßte sich schließlich ein Herz und fragte ihren stummen Begleiter, ob sie nicht bald da wären. Sein aufgedunsenes Gesicht drehte sich zu ihr herum, und seine Augen sahen sie keineswegs liebenswürdig an.

»Können Se nich die Zeit abwarten, dann loofen Se doch allene«, – bellte er mit unsicherer Stimme.

Erschreckt wich Ilse zurück; wenn das der Papa wüßte, daß dieser betrunkene Mann jetzt ihr einziger Schutz war, er würde außer sich sein. Wie sorgsam wurde sie stets behütet, und hier war sie ganz allein in einer fremden Stadt.

Endlich erreichten sie eine besser beleuchtete breite Straße, und Ilse fiel es wie ein Stein vom Herzen, als sie diese menschenleeren, unheimlichen Gegenden verließen. Die Straße führte auf einen großen Platz, den sie überschritten, worauf sie wieder in eine schmalere Straße einbogen. Hier schienen sie in dem Villenviertel zu sein, denn die Häuser zu beiden Seiten hatten Vorgärten, wie Ilse trotz der Dunkelheit erkennen konnte. Neugierig sah sie in die hellen Fenster, an denen sie vorbeikamen, denn in dieser Straße wohnte gewiß Nellie. Sie dachte sich das bestimmt, wagte aber nicht danach zu fragen. Ihre Sehnsucht nach Nellie und ihre Ungeduld wuchsen immer mehr, seufzend ging sie weiter, es kam ihr vor, als nähme dieser Weg kein Ende. Endlich blieb der Mann vor einer eisernen Gittertür stehen und wies auf ein Haus im Hintergrund – »da«, sagte er lakonisch und streckte ihr zugleich die Hand[18] verlangend entgegen. Ilse griff in die Tasche und nahm ihr Portemonnaie hervor, das er mit geldgierigen Blicken betrachtete. Sie gab ihm in ihrer Angst ein blitzendes Fünfmarkstück, nur um ihn los zu werden. Der über Erwarten reichliche Lohn stimmte ihn doch etwas freundlicher. Er öffnete ihr mit großer Ungeschicklichkeit die Tür, und Ilse ging schnell hinein. Sie bemerkte nicht mehr, welche verzweifelte Anstrengung er machte, sich von ihr zu verabschieden, indem er seine Mütze abnehmen wollte. Einigemale griff er vergebens danach, und als er sie glücklich gepackt hatte, entfiel sie seiner Hand. – Fluchend bückte er sich nach ihr und ließ die Türe mit lautem Krach ins Schloß fallen, daß Ilse heftig zusammenschrak.

Zögernden Fußes hatte sie den kleinen Vorgarten durchschritten, und blieb vor der Haustür stehen – zitternd und zagend! Die Fenster in der Parterrewohnung, welche Althoffs bewohnten, waren bis auf zwei unbeleuchtet. Vergebens spähte Ilse durch die Vorhänge, ob sie nicht eine Gestalt erblicken oder Stimmen hören könne. Aber nichts regte sich, alles blieb still.

Das Herz klopfte ihr zum Zerspringen. Ach, wäre sie nur erst bei Nellie, und wäre doch der Augenblick des Wiedersehens erst überstanden! Sie konnte sich nicht entschließen, die Glocke zu ziehen, sondern blieb wartend, ob nicht jemand käme, an der Türe stehen. Einförmig tönte das Regengeplätscher fort; sie fühlte sich bis auf die Haut durchnäßt, denn in ihrer Aufregung hatte sie nicht daran gedacht, sich den Mantel anzuziehen, der nun schwer vom Regen über ihrem Arm hing. – Ihre Füße waren eiskalt, dazu kam ein Gefühl der Nüchternheit, denn sie hatte seit Mittag nichts genossen.

Länger konnte sie es so nicht mehr aushalten. Ach Gott, kam denn kein Mensch, sie aus ihrer Pein zu erlösen? Erschöpft lehnte sie sich an die Mauer. Endlich hörte sie[19] im Hause Stimmen. Vorsichtig beugte sie sich vor und sah durch das Fenster in der Haustüre, wie Nellie mit ihrem Mann aus einem der Zimmer heraustrat. Sie holte erleichtert Atem, als sie das treue, liebe Gesicht der Freundin wiedersah, und wäre am liebsten sofort zu ihr geeilt, aber Dr. Althoffs Anwesenheit hielt sie zurück. Er schien fortgehen zu wollen, wie sie zu ihrer größten Beruhigung bemerkte, denn er hatte Hut und Schirm in der Hand. Arm in Arm ging das junge Ehepaar bis zur Treppe, dann beugte sich Dr. Althoff zu Nellie herab und küßte sie. Glückstrahlend sah sie zu ihm auf, und er streichelte zärtlich ihr liebliches Gesicht.

»Adieu, Liebste«, hörte ihn Ilse deutlich sagen, »ich gehe jetzt. Spät werde ich nicht zurückkehren.«

Nellie nickte ihm herzlich zu.

»Ich schlafe gewiß schon, wenn du heimkommst«, sagte sie, »ich bin sehr schläfrig diesen Abend.«

Sie blieb an der Treppe stehen, bis er aus der Türe verschwunden war. – Ilse war bei seinem Kommen schnell zurückgefahren und hatte sich hinter ein dichtes Gebüsch geflüchtet. Jetzt ging er durch die Gartenpforte; zugleich öffnete sich eines der erleuchteten Fenster und eine Gestalt ward in demselben sichtbar. Es war Nellie, welche ihrem Manne noch zunickte und ihm nachsah, bis er verschwunden war.

Ilse horchte atemlos, bis seine Schritte in der Ferne verhallt waren. Sie war seelenfroh, Nellie allein zu treffen, denn Dr. Althoff ihre Flucht einzugestehen –, es wurde ihr jetzt erst klar, wie beschämend das für sie gewesen wäre. Nellie konnte sie nun in Ruhe alles erzählen, und diese sollte ihr fest versprechen, ihrem Manne nichts davon zu sagen. Und nun faßte sie sich ein Herz und zögerte nicht länger mehr, sich Nellie bemerkbar zu machen. Aus ihrem Versteck hervortretend, rief sie schüchtern deren Namen.[20] Erschrocken zuckte die junge Frau zusammen und, als sie Ilse erkannte, welche in dem matten Lichtschein, den das helle Fenster in den Garten warf, leibhaftig vor ihr stand, schrie sie laut auf. Sie war leichenblaß geworden, und ihre Augen blickten so starr, als sähe sie einen Geist vor sich.

»Nellie«, rief Ilse noch einmal leise, und nun kam jene, so schnell sie ihre zitternden Füße trugen, zum Hause heraus gelaufen, vor welchem ihr Ilse in die Arme stürzte.

»Um Gottes willen, Ilse, wo kommst du her?« brachte sie atemlos hervor.

»Meine einzige Nellie«, das war alles, was Ilse sagen konnte, während die Aufregung und die körperliche Anstrengung der letzten Stunden sich in einem krampfhaften Schluchzen auflösten.

Nellie führte sie in das Zimmer, selbst nicht fähig ein Wort zu sprechen. Sie nahm der heftig Weinenden Hut und Mantel ab und führte sie zum Sofa. Auf keine ihrer eindringlichen Fragen bekam sie eine Antwort, ratlos stand sie neben der Freundin und betrachtete sie voll Entsetzen. Was war denn nur geschehen, wie sah Ilse aus? Ihr nasses Kleid war über und über beschmutzt und die vor Feuchtigkeit tropfenden Haare hingen ihr aufgelöst in die Stirn. Nellie nahm ihr Taschentuch und trocknete damit das wirre Haar, dann setzte sie sich still neben die Freundin und lehnte ihren Kopf an deren Schulter.

So saßen sie eine Weile wortlos nebeneinander.

Endlich fragte Nellie leise: »Ilse, süßer darling, was ist mit dich passiert, wie kommst du hierher?«

Die hellen Tränen schimmerten bei diesen Worten in ihren Augen, ihr weiches Herz wurde von dem Jammer der Freundin so gerührt, daß ihre Stimme bebte. Sie streichelte Ilses Hände und nannte sie mit den zärtlichsten Schmeichelnamen. Alle Versuche sie zu beruhigen, zum Sprechen zu bringen, halfen nichts. Sie wußte nicht mehr, was sie anfangen[21] sollte, die kleine Frau, und hilflos sah sie sich um. Ihr praktischer Sinn gab ihr schließlich das Richtige ein; sie stand auf und schenkte am Büffet ein Glas Wein ein, welches sie Ilse brachte.

»Trink, Kindchen«, sagte sie, das Glas an Ilses Lippen setzend, »das wird dich gut tun. O, nur ein kleiner Schluck, mehr will ich dich auch nicht quälen«, bat sie schmeichelnd, als Ilse das Glas zurückschob und ablehnend mit dem Kopf schüttelte.

»Du mußt, darling«, entschied sie endlich kurz, und jetzt widersetzte sich Ilse auch nicht länger, nahm das dargebotene Glas und trank es in hastigen Zügen leer. Nellie trug es auf das Büffet zurück.

»Fühlst du dich wohler?« fragte sie teilnehmend und setzte sich wieder neben Ilse, welche sich in die Sofaecke zurückgelehnt hatte und mit dem Taschentuch ihr Gesicht bedeckt hielt. Auf Nellies Frage nickte sie mit dem Kopf. Die junge Frau seufzte leise. Wenn sie doch endlich einmal ein Wort spräche, dachte sie, denn Ilses Schweigen wurde nachgerade unheimlich. Unruhig rückte Nellie hin und her; was mochte denn nur vorgefallen sein, daß sich die Freundin gar nicht fassen konnte?

»Lieb Ilschen«, sagte sie endlich und griff nach ihrer Hand, »sieh mich doch einmal an, weißt ja noch garnicht, wie ich mir als würdiges Hausfrau ausnehme.« Sanft zog sie dabei Ilse die Hand vom Gesicht fort. »O sieh doch her«, bat sie und beugte sich vor, um ihr in die Augen zu sehen, »du wirst in dies brave, ehrbare Gestalt deine Nellie nicht wieder erkennen. Alles Dumme ist aus mein Sinn heraus, ich bin ein vernünftiges, kleines Hausfrau geworden.«

Sie sagte das so drollig, und Ilse sah, als sie aufblickte, in so schelmische Augen, daß sie nicht widerstehen konnte und durch Tränen lachend die Arme um Nellies Hals schlang. Erleichtert atmete diese auf, denn das wort[22] lose Schluchzen war ihr zu schrecklich gewesen. Sie küßte die Freundin innig und streichelte liebkosend ihre heißen Wangen.

»Armes darling, wie erhitzt hast du dir und wie elend siehst du aus. Ich werde dir ein wenig Essen holen, sonst habe ich eine kranke Ilse. Bleib hier nur sitzen, gleich bin ich wieder zurück«, sagte sie und stand auf.

»Bitte, bitte, Nellie, geh nicht fort«, bat Ilse und hielt sie am Arm fest, »ich bin ja garnicht hungrig, ich kann nicht essen, wirklich nicht.«

»Du wirst dich zwingen, nur einige Bissen mußt du essen.« Mit diesen Worten machte sie sich von Ilse los und ging hinaus, um sehr bald mit einem Präsentierbrett zurückzukommen, auf welchem ein Teller mit appetitlich belegten Brötchen stand. Sie rückte ein kleines Tischchen an Ilses Seite, das sie flink und zierlich deckte.[23]

»Wirklich, ich kann nichts essen«, beteuerte Ilse wieder, als Nellie sie zum Zugreifen einlud. Aber ihr Sträuben half ihr nichts, wohl oder übel mußte sie essen; bald schmeckte es ihr auch vortrefflich, und sie speiste mit großem Appetit. Befriedigt sah ihr Nellie zu und nötigte sie immer von neuem.

»Du, nun kann ich aber nicht mehr«, sagte Ilse endlich und schob den Teller zurück, »ich bin furchtbar satt.«

Nellie stellte das Tischchen zur Seite und ließ sich auf einem kleinen Schemel nieder, den sie dicht neben das Sofa schob. Ihre beiden Hände legte sie in Ilses Schoß und sah fragend zu ihr empor. Ilse verstand die stumme Frage in ihren Augen, es wurde ihr aber doch schwerer, als sie gedacht hatte, Nellie eine Aufklärung über ihre Flucht zu geben. Seufzend lehnte sie sich zurück und sah vor sich hin.

»Lieb Ilschen«, sagte Nellie leise und fuhr bittend und zögernd fort: »Willst du mir nicht erzählen, warum du in die dunkle Nacht zu uns kommst? Darling, schütte dein armes Herz in mich aus.«

Da richtete sich Ilse heftig auf.

»Nellie, ach, wenn du wüßtest, wie unglücklich ich bin!« rief sie leidenschaftlich. »Leo liebt mich nicht mehr, er hat mich nie geliebt! Seine Sklavin soll ich werden, keinen freien Willen haben, mich immer fügen, und das kann ich nicht, das tue ich nicht, ich lasse mich von ihm nicht wie ein Kind behandeln, ich bin erwachsen und – und –« hier stockte ihre Stimme unter hervorbrechenden Tränen, die Erinnerung an das erlittene Unrecht brachte sie von neuem in Aufregung.

»O, bitte Kind, beruhige dir«, bat Nellie, »kannst du mir jetzt deine Geschichte noch nicht erzählen, so warte ich bis morgen. Weine nicht mehr, armes darling

Doch unaufhaltsam flossen Ilses Tränen. Nellie war aufgestanden und nahm einen Leuchter vom Tisch, den sie anzündete. Sie wußte jetzt genug und drang deshalb nicht weiter in Ilse. Also ein Streit mit Leo war die Ursache[24] ihrer Flucht! Aber wie konnte sich Ilse zu solchem Streite hinreißen lassen! Sie war aufs höchste erschrocken, bezwang sich aber, möglichst ruhig zu erscheinen, so sehr sie auch über die kühne Tat ihrer Freundin innerlich erregt war.

»Komm, Ilse«, sagte sie, »ich führe dich in dein Zimmer und du legst dir schlafen. Rieke macht dein Bett schon in Ordnung; ich habe ihr gesagt, du hättest mich mit deiner Ankunft überrascht. Aber sie darf dich so mit deinen Tränen nicht sehen, sonst glaubt sie mich meine Lüge nicht.« Damit zog sie Ilses Arm durch den ihrigen und führte sie in ein erleuchtetes Zimmer, wo ein helles Feuer im Ofen knisterte.

»Ach, wie gemütlich ist es hier, Nellie«, rief Ilse unwillkürlich aus und sah sich neugierig in dem Raume um. Wie freundlich und einladend war hier alles! Zu der hellgeblümten Tapete paßten die Gardinen, und der zierliche Toilettentisch war so duftig und graziös aufgesteckt, daß Ilse sofort erriet, nur Nellie könne dieses Werk geschaffen haben.

»Reizend ist es bei dir, Nellie, alles so blendend sauber und fein«, sagte sie wieder bewundernd und betrachtete die Fläschchen und Büchsen von glänzendem Kristall, welche die Toilette zierten.

»Ich sagte dich ja schon, daß ich ein braves Hausfrau geworden bin, sittsam und ordentlich wie unsre artige Rosi; du wirst große Wunder an mir erleben«, erwiderte Nellie, und der Schelm lachte aus dem Grübchen in ihrer rosigen Wange.

»Du einzige Nellie, du bist doch noch ganz wie früher, wie furchtbar lieb habe ich dich, am allerliebsten auf der ganzen Welt.«

»O nein, so darfst du nicht sprechen, Ilse; deinen Bräutigam mußt du am liebsten auf die ganze Welt haben, dann deine lieben Eltern, und zuletzt kommt erst Frau Elinor nebst Gemahl.« Um Ilses Mund zuckte es spöttisch, und eine bittre Antwort drängte sich auf ihre Lippen, aber sie[25] bezwang sich und schwieg. Nellie sollte nur wissen, wie sie ihr Bräutigam behandelt hatte! Konnte er da noch ihr Liebstes auf der Welt sein?

Nellie hatte die Gardinen am Fenster zugezogen und trat nun wieder zu Ilse.

»So, jetzt ist alles fix und fertig, nun schnell in deine Bett. Komm, ich helfe dich.«

Als sich Ilse niedergelegt hatte und es ihr ersichtlich behaglicher zu Mute wurde, ergriff sie Nellies Hand.

»Jetzt will ich dir auch beichten«, sagte sie, und als Nellie meinte, sie solle das am andern Tage tun, denn sie würde sich wieder zu sehr aufregen, bat sie flehentlich, sie doch anzuhören.

»Ich kann nicht schlafen, Nellie, wenn du nicht alles weißt!« rief sie und erzählte ausführlich alle Einzelheiten des Streites mit Leo und ihrer Flucht. Ihre Wangen glühten beim Sprechen vor Eifer und Zorn, und sie wunderte sich nur, daß Nellie nicht fortwährend in lautes Bedauern über ihr trauriges Schicksal ausbrach. Die Freundin sah schweigend vor sich hin, denn sie war entsetzt über Ilses abenteuerlichen Streich und durchschaute klar, daß dieselbe im Unrecht war. Wie hatte sie nur so unüberlegt handeln können! Sie zitterte bei dem Gedanken an die vielen unglücklichen Stunden, welche diese Tat der Freundin noch bereiten würde.

»Nicht wahr, Nellie, so durfte mich Leo nicht beleidigen, wenn er mich wahrhaft lieb hat, – was sagst du dazu?« fragte Ilse schließlich, als Nellie sinnend dasaß, und sah ihr dabei forschend ins Gesicht.

»Ich sage garnichts diesen Abend, Kind«, erwiderte sie ausweichend, denn sie wußte, daß eine ehrliche Antwort Ilse in ihrer jetzigen Stimmung nur kränken würde; gegen ihre Überzeugung aber wollte sie auch nicht sprechen.

Als sie in Ilses Zügen eine Enttäuschung bemerkte, streichelte sie zärtlich ihre Stirn. »Du mußt jetzt schlafen,[26] klein Ilschen, deine Augen haben eine so müde Aussicht. Morgen früh sprechen wir über deine Sache, nicht wahr? – Gute Nacht, darling.« Mit diesen Worten erhob sie sich, um jedes weitere Gespräch abzuschneiden.

»Ruhe dir schön aus, mache die Augen zu und nicht eher auf, bis morgen früh; du brauchst dich nicht zu fürchten, in das andre Zimmer daneben schlafen Fred und ich und hören, wenn du rufst. Ich muß jetzt gehen, denn kommt der liebe Mann nach Hause und findet mich noch wachsam, so macht er ein böses Gesicht.«

»Nellie!«

»Ja, Ilse, was soll ich?«

»Bitte, bitte, Nellie, versprich mir eins.«

»Was soll ich dir versprechen, darling

»Sage deinem Manne nicht, daß ich geflohen bin, ich müßte mich ja zu Tode vor ihm schämen.«