Erst maulte sie, dass es nichts werden würde mit EU Töpfen und Anfragen aus der Wirtschaft und überhaupt hatte sie keinen Bock mehr auf diese ewige Verarscherei und diese tauben Ohren und diese ganzen wichtigen Menschen, die einem viel Glück wünschten und mit ihrem falschen, wohlwollenden Getue nach draußen lächelten. Als hatte ich es nicht vorausgesehen. Und sie brauchte keine Eltern, die sie damit belatscherten, sich doch in Kiel und Bremerhaven zu bewerben, weil sie dann doch erstmal etwas hätte. Sie wollte endlich etwas bewirken und als sie mir dann damit kam, sich den Sea Shepherds anzuschließen, zündete es in mir. Auch das hatte ich gesehen und was mich in jener Sekunde erwärmte, war nicht mein sechster Sinn, der einen zum Besten gegeben hatte und nicht ein plötzliches inneres Leuchten in ihr, das sie sich, am Telefon eben, nicht eingestehen wollte. Ich hatte dieses Bild, vor eineinhalb Jahren, als eine bestechend deutliche Vision überreicht bekommen, von einem Wesen, das manche Leute wohl als Engel bezeichnen würden. Ich denke eher, es war ein leuchtender Krümel der ganzen Wahrheit, in dessen Nähe wir uns manövriert hatten. Ich habe über diese Zeit nie nachgedacht, sie ferngehalten, aber was soll mir passieren? Ich habe sie leidenschaftlich dazu ermuntert, sie angestiftet, jenen von ihr angedachten Weg zu gehen und sie durch meine Bestätigung rumgekriegt. Mir steht das Gewesene vor Augen, die ich nicht schließen kann.

Inhaltsverzeichnis

EDEN

Am Anfang war ein ewiges Winden, drei Tage brannte mein Hintern auf dem warmen Sitz. Dann waren wir oben und mein Kopf sauste und pfiff von der plötzlichen Stille. Als wurde endlich ein dröhnender Fernseher abgeschaltet. Sofort kam uns Herr Dröger, der Vermieter, entgegengelaufen und berieselte uns mit seinen Einweisungen. Als wussten wir nicht, was ein Ofen oder ein Bett war, hatte ich Hanna genervt zugeflüstert − dabei ging es, in jenem entlegenen Haus mit seinen Klärtanks, seiner Wasserpumpe und seinem für Notfälle vorgesehenen Generator, der eine gelbe Fabrik war, die sich in einem eigens abgetrennten Abstellraum befand, durchaus um zahlreiche wichtige Dinge, aber ich konnte nicht mehr. Ich hatte eine absolut beschissene Zeit hinter mich gebracht, meine Antennen waren verknöchert wie eine entzündete Sehne, die eigentlich weich und geschmeidig sein sollte und zudem standen weitere Autofahrten an: Die Einkäufe, die weitere drei Tage im Auto bedeuteten. Und dann, es war kurz vor Hannas Abreise, überkam mich, am See, beim Betrachten des Spiegelspiels der stillen Wasserhaut, ein sanfter Schwindel: „Nein, nein … scheiße, scheiße … endlich … Junge, dass du … man … Scheiße…“ Nässe sammelte sich in meinen Augen, ich ließ los, sackte endlich ab.

Einige Schritte Abseits wühlte Hanna im Auto. Wenn sie fertig war, würde sie aufbrechen. Ich versuchte, meinen Tränenfluss zu veratmen und machte ein paar Schritte auf das Haus zu. Ein Volltreffer. Nichts mehr lag zwischen uns. Es besaß eine modernistische, fein gerippte Fassade mit einem großen, übers Eck verlaufenden Panoramafenster im Hauptzimmer, das einen weiten Blick auf den langgestreckten See frei gab. Vorder-und Seitentür gingen nach außen auf, was ihm den Charme einer Forschungsstation verlieh. Es war schlicht und leblos, machte dem Leben seines Bewohners keine Konkurrenz. Eine durchs Nichts driftende Raumstation. Mich interessierten keine Sehenswürdigkeiten, Menschen oder irgendwelche Kulturdenkmäler oder Vogelwelten. Ich hatte geplant, zu Schreiben und hatte dabei auf den nordischen Winter gesetzt, der mich wie ein dunkles Geheimnis einweben sollte. In bleibender Nacht, am Kamin und bei Kerzenschein, wollte ich irgendeiner vergessenen Magie nachspüren, die vom Lärm einer überhitzten, toll gewordenen Welt längst totgeschlagen war. Vage Bilder waren mir erschienen, die an Ölgemälde des Niederländischen Barocks erinnerten, wo sich im Spiel der glitzernden Weinreben und gefallenen Holzlocken mächtige und unsagbare Geheimnisse verbargen, die sich nur wenigen erlesenen und empfänglichen Betrachtern offenbarten. Vergessene, normale Menschen wollte ich in meinen Erzählungen hervortreten lassen, Bauern in mediävalen Gewändern, die ihre Felder in heiliger Bescheidenheit bestellten, Seefahrer, deren Fernrohre und Sextanten ehrwürdige Wunderwerke waren, Symbole eines versiegten und wahrhaftigen Stolzes. Nur nicht dieser zeitgeistige Stuss. Nur in kurzen, zerbrechlichen Momenten waren mir meine Sagengestalten erschienen und dann hatte ich mir, in tagträumerischen Schwärmereien, für die ich eigentlich keine Zeit hatte, dabei zugesehen, wie ich meine inneren Bilder hervorholte, mir dabei die Haut meiner Fingerbeeren am Notebook blank tippte. Und bloß keine verrückten Einfälle mehr, bloß nichts kurzweilig Zersägtes. Endlich konnte ich jene Welt widerlegen, mich ihrer entledigen, wie wenn man sich nach dem Zusammenbruch einer Diktatur seiner Uniform entledigt und wieder als Mensch dasteht. Als ich mit nassen Augen vor diesem Haus stand, erschien es mir plötzlich wie ein Kloß feuchter Erde, in den ich wie ein Keimling hineingedrückt wurde. Mein Vorhaben wurde war, wie ein Traum, der ins Diesseits einbrach. Am Tag unserer Ankunft, ich stand erstmals an diesem See, hatte ich noch gekontert, einen auf dummdreisten Besatzer gemacht: „Stille Wasser sind ja oft auch in der Tiefe still.“ Ich hatte meine Gehässigkeit aber sofort bemerkt, also einen Tick zu spät, wie es bei so etwas üblich ist. So blieb ich stehen und gaffte und atmete, bis plötzlich Hanna meinen Arm ergriff und sich an mich schmiegte. Ich drehte mich zu ihr und ihre dunkelrot geschminkten, unendlich langsam welkenden Lippen strahlten mich an. „So, ich wäre dann soweit … Na, was ist denn mit Dir? Kommen Dir die Tränchen?“ Ich umschloss sie, murmelte ihr Bruchstücke meiner frischen Eingebungen an die Schläfe. Und dann? Wir hatten alles gesagt und beredet und das Gesagte und Beredete über Monate wiederholt, eigentlich waren da zum Abschied keine unvorhergesehenen Emotionen, die noch erledigt werden mussten und so waren wir kühl: „Komm im Mai wieder heil nach Hause.“ „Mach keinen Scheiß und lass Dich nicht ärgern.“ Unsere Holzigkeit verdeutlichte, dass es noch nicht soweit war. Auf der Eingangstreppe stand meine Thermoskanne. Mein Blick fiel auf sie, Hanna folgte: „Ja, trinken wir noch einen Tee, bevor ich abhaue?“ Dann saßen wir auf dem oberen Treppenbrett. Zum Sitzen fand ich es fast zu kühl, dabei reichte mir der Mantel über die Jeans, während ihre Jacke nicht über ihren Minirock reichte. Und froh war ich, mir diese zweitausend Kilometer nicht noch einmal geben zu müssen. Hanna: Dünn, süß, fast fünfzig, sie arbeitete beim Radio, ›beim Sender‹, wo sie auch von niederen Rangeleien umgeben war. Im Forum, das zum Theater gehörte und das schlicht ein schlichtes Café war, saß sie irgendwann mit am Tisch. Mein Sarkasmus, mit dem ich mein berufliches Leid bekundete, brachte sie zum Lachen, wir redeten, ihre laute Stimme verschaffte mir Halt, wir hatten uns gefunden. Sie hatte eine Woche ihres Urlaubs geopfert und mich diese zweitausend Kilometer chauffiert, die vielen Einkäufe mit mir erledigt. Selbst Autofahren konnte ich nicht. Autofahren war für mich immer eine lächerliche und gefährliche Kinderei gewesen, die mich nie angezogen hatte. Dank ihrer Unterstützung war es mir möglich gewesen, mehr als das übliche Reisegepäck mitzunehmen. Zwei Kisten mit meinen älteren Büchern und die vielen Altarkerzen. Die albern waren, aber ich war innerlich wund, blank gescheuert, ich hatte keinen Bedarf mehr, mich albernen Ideen nicht zu ergeben. Der Tee plätscherte in den Becher, den ich ihr mit zeremonischer Langsamkeit reichte. Langsamkeit, Bedächtigkeit, allein schon das genussvolle Verrichten einer an sich banalen Handlung waren Dinge, die über Jahre verboten, verloren, kaputt gewesen waren. Sie nahm ein paar Schlucke, dann schlürfte ich von dem eben noch heißen Tee. Ich trank, bedächtig, genussvoll. Meine matten Blicke schlenderten längst wieder über den See. Schelmisch war die Wasserhaut, glatt und kraus, geheimniskrämerisch und aufgebracht. Über dem anderen Ufer floss schroff und sanft die Hügelkontur, als waren es schlafende Saurier, deren Rücken sich, entsprechend ihrer Atemfrequenz, mit kosmischer Langsamkeit hoben und senkten. Als Folge der Gezeiten pulsierte der Erdboden und fünfzig Zentimeter je zwölfeinhalb Stunden – Poesie hinter Zahlen, eine Transzendenz zwischen Wissenschaft und Kunst, unendliche Physik und machtvolle Kreativität deuteten sich an. Und jedes Luftrauschen war eine Schallschwingung ihrer Schnarchgeräusche, angesiedelt im tiefsten Infraschallbereich. Plötzlich riss Hannas Geplapper mich aus meiner dusigen Versunkenheit. Sofort raffte ich mich zusammen, diese Versunkenheit war mein Bier und ich empfand es als unhöflich, es vor ihren Augen zu schlürfen. „[…] weil ich ihr das wirklich oft genug gesagt hatte. Also, ich weiß wirklich nicht, wohin das noch führen soll.“ Sie war in Gedanken schon am Wochenanfang, die Arme. Mich verließ ein kraftloses „Wä?“, ich glotzte tranig auf die großen Zähne, die aus ihrem Lachmund starrten. „Th! Du schläfst mir gleich ein! Nicht, dass Du mich hier noch ansteckst und wir hier beide gleich in einen tiefen Schlummer sinken.“ „Entschuldige. Ich entspanne mich gerade so völlig. Und hast Du Dich schon entschieden, wie weit Du heute noch fahren wirst?“ „Na, entschieden habe ich noch gar nichts, ich fahre erst mal los, dann werde ich halt einfach sehen, wie weit ich noch komme. Wenn ich heute Abend das Gefühl habe, ich möchte weiterfahren, dann fahre ich halt einfach weiter. Und wenn ich keinen Bock mehr habe, dann suche ich mir eben was. Ich glaube ja auch nicht, dass ich jetzt noch bis nach Stockholm durchfahre, aber das überlege ich mir dann. Ich habe auch überlegt, an einem Rasthof zu übernachten, weil da musst du halt nicht so ewig lange suchen. Bevor ich da mitten in der Nacht wieder so ewig in einer fremden Stadt herumkurve und dann eh nix Besseres finde. Aber notfalls penne ich einfach im Auto. Wo man jetzt die Sitze wieder zurückstellen kann, damit habe ich auch kein Problem.“ „Also, wenn Du hier noch einen Tag bleiben möchtest, das ist völlig in Ordnung. Echt. Auf den einen Tag kommt es doch überhaupt nicht an.“ „Du, ist schon okay. Ist zwar schon ein reizvoller Gedanke, hier noch einen Tag so am See zu hocken, aber ich will auch lieber los. Meine Sachen sind ja jetzt auch schon eingeladen, und mir reicht es auch langsam. Ich bin zwar schon tagelang gefahren, aber wenn es jetzt nach Hause geht … das ist schon okay. Bevor ich hier noch völlig abschlaffe und überhaupt nicht mehr loskomme. Bei meinen Eltern habe ich dann noch genug Zeit, mich zu entspannen. Wenn mir nach der langen Fahrt dann noch danach ist. Aber mit unserem Kneipenabend habe ich dann ja die entsprechende Möglichkeit.“ Sie hatte ein Wiedersehen mit alten Freunden geplant, sie quatschte darüber, ich war längst wieder woanders. Dann klatschten ihre Hände auf die Schenkel und rissen mich abermals aus meinem Tran: „So, und jetzt gehe ich noch mal aufs Klo und dann haue ich ab.“ Ihre dünnen, rot bestrumpften Beine entknickten sich und sie verschwand ins Haus. Eine Kippe hatte sie vor unsere Füße geschnippt, zwei Meter vor mir stieg der Rauch auf. Ich hatte nicht bemerkt, dass sie geraucht hatte und nun starrte ich in diesen Rauch und stellte mir den Verrottungsprozess dieser Kippe vor, um mir dann vorzustellen, wie ich jede Stunde ein Foto schoss und diese Fotos zu einem Film zusammenschnitt. Wobei mir das lange Tageslicht während des Sommeranfangs nützlich gewesen wäre. Doch schnell machte es Klick und ich wischte diese kreative Überdrehtheit weg. Wegen genau solcher Dinge hatte ich keinen Fotoapparat oder sonstige tollen Werkzeuge mit. Mein Handy war uralt, konnte nicht fotografieren. Ich hatte Papier und Kugelschreiber dabei, falls meine Notebooks versagen oder mir in der vergessenen Natur zu technoid erscheinen sollten. Und: Viel Bargeld, fast zwanzigtausend Euro. Von meinem Vater hatte ich es bekommen, es war Teil meines Erbes und sollte, so seine Worte, mir bei einem zweiten Karrierestart Hilfe leisten. Ich hatte dieses Geld mit nach Schweden genommen, um für irgendeinen brennenden Unsinn gerüstet zu sein. Einige Tage auf Spitzbergen oder in Helsinki, mit einem Wasserflugzeug. Vielleicht musste es einfach nur Tinte und Federhalter sein. Tatsächlich sollten es Seile und Kleber werden, in grotesken Mengen. Zweiter Karrierestart, bei dem Gedanken machte es in mir pff, was diese Sache betraf, betrachtete ich mich schon zu jenem Zeitpunkt als geheilt. Mein verbrauchtes Sitzfleisch brachte mich dazu, aufzustehen und ich ging wieder zum See. Von der Haustreppe bis zum Ufer waren es keine fünfzehn Meter. Ich blickte nachdenklich auf dieses Wasser, ohne zu denken. Ohne Grund hämmerte eine Männerstimme in dieser Leere in mir und erzählte von Brasilien. Die Kriminalität in São Paolo, eine Hacienda mit Rindern, ich verstand nicht, woher das jetzt kam, warum ich mir das anhören musste. Um meiner inneren Unruhe zu begegnen, versuchte ich, meine Antennen auszurichten. Ich schaute, wartete. Der Himmel, der Wald, der See, das Ufer, meine Füße, mein durchgesessenes Sitzfleisch, all das umgab mich wie ein vollständiger Kosmos, mit mir darin, als ein noch nicht auskondensierter Urplanet, um den sich aber, sehr langsam, alles zu drehen begann. Nach einigen Minuten kam Hanna aus dem Haus. „So, Mik, dann mache es mal gut.“ Es würde keinen Aufschub geben. Wir gingen zu ihrem Auto und hingen uns dann an der Wagentür nochmals in den Armen. Schnell gingen Abschiedsformeln in einem Plausch auf, minutenlang umklammerte sie den Türgriff mit der rechten Hand, während ihre linke mir um die Hüfte lag. Schließlich die allerletzte Umarmung, dann entschlüpfte sie mir und rutschte mit einem verliebten Zwinkern auf den Sitz. Dann drehte sie ihr Gesicht nach vorn, der Motor startete, sie schaltete, als der alte Kombi sich dröhnend in Bewegung setzte, winkte sie mir zu. Dann wendete sich das Fahrzeug und ich beugte mich vor, um ihrer winkenden Hand durch die Heckscheibe nachzusehen. Das Auto wurde kleiner, ein schmelzender Fremdkörper. Das Motorengeräusch hatte sich längst verflüchtigt, während ich noch immer wie leicht verblödet auf den leeren Flecken glotzte, wo die Zufahrt eine Kurve machte und vom dünnen Wald verschluckt wurde. Der Weg endete wie der Stumpf einer abgetrennten Nabelschnur. Ich war raus. Stille, Leere, acht Monate. Mir war danach, mich auf den steinigen Boden abzulegen und mich mit dem Ohr an ihn zu drücken. Ein esoterischer Halbspinner, der in Mutter Erde horchte. Ich blickte zu Boden, starrte meine Schuhe an, blieb stehen. Nach noch einigen tiefen Atemzügen ging ich rein.

Vor mir: Kisten. Das L-förmige Wohnzimmer war überzeltet von einem Sternenhimmel aus Astlöchern in orangenem Holz. Die obligatorische Sitzgruppe hatte ich mit smaragdgrünem Vorhangstoff eingehüllt, der gleich auf unserer ersten Einkaufsfahrt besorgt werden musste, da ich mich von dem cremefarbenen Bezugsstoff abgestoßen fühlte. Mit seinem bieder deutlichen Leuchten hatte das helle Sofafleisch sofort klargestellt, nicht benutzt werden zu wollen und das war für die lange Zeit kein Zustand. Wenn sich am Ende Herr Dröger über eine von mir verschuldete, brünette Speckigkeit beschwerte. An der Waldseite des L-Raums, vor der Sitzgruppe, prankte der Kamin, steinern, prall, US-amerikanisch. Im Cottage-Stil, hatte Herr Dröger mich aufgeklärt. Reichlich altbacken wirkte dieser Cottage-Stil im Vergleich zu der kühlen, modernistischen Feinrippfassade und dem warmen Holzzelt, eine Geschmacksverirrung, die allerdings auch nicht weiter wichtig war. Hauptsache, echtes Feuer zum echten Winter. Herr Dröger war ein höherer Beamter, pensioniert und verwitwet und ein Bekannter von Hannas Vater und wenn unsere Geschmäcker einander hier und da und zufällig ähnelten, so war das mehr, als man erwarten konnte. Wie gesagt, ein Volltreffer. Gegenüber, seewärts, vor der Fensterfront und neben dem Eingang, ein großer Holztisch. Darauf standen meine zwei Notebooks, plus der periphere Elektrosalat, die externe Platte, zwei Speaker und andere Dinge und all das reichte nicht, die riesige Tischfläche unwohnlich vollzumüllen. Das Glas der Panoramascheibe war extra dick, vermutlich bot es besonderen Schutz vor tiefen Temperaturen. Darunter bildete die überbreite Fensterbank aus dunklem Juramarmor, die bis auf das Telefon nutzlos leer war, eine Fortsetzung der riesigen Tischfläche, die zwei Zentimeter höher war. Vier Holzstühle standen mit am Tisch und implizierten, je nach Seelenlage, An- oder Abwesenheit anderer Menschen. Und, diagonal gegenüber, die Bücher. Raunzend warf ich meinen Mantel über die Lehne des nächsten Stuhls: „Pfff.“ Denn vor mir, mitten im Raum, zwischen dem Tisch und der Sitzgruppe, standen zwei brusthohe Türme aus stapelbaren Kisten. Sie waren mit den letzten Einkäufen gefüllt, vieles musste in die Tiefkühltruhe. Ich verlangte einen Pagen und befahl den Türmen, sie mögen sich bitte unverzüglich an ihren Lagerplätzen einfinden. „Nun macht schon, hopp, hopp.“ Ich motzte ihnen noch eifrige Füßchen an ihre Standflächen, als das nicht half, bekam ich Fluchtgedanken. Denen ich mich sogleich ergab, denn niemand mehr setzte mich unter Druck, wenn ich einer Pflicht aus dem Weg ging. Also machte ich kehrt und goss mir vor der Tür den letzten Schluck Tee in den Hals. Dabei erinnerte mich an noch eine Aufgabe: Albert und Emine hatte ich noch das Lebewohl auf Zeit zu übermitteln. Ich entschied mich dazu, die Anrufe vor dem Verstauen der Lebensmittel zu erledigen. Albert sprach ich auf die Mailbox und bei Emine erreichte ich Samad, meinen Schwiegersohn. Ich bat ihn, liebe Grüße auszurichten, mehr redeten wir nicht. Dann die Idee, sich bei Lore zu melden, die Mutter der beiden. Frei und ungezwungen, wie ich jetzt war, ergab ich mich. Lore: Über einem breiten Dekolleté schwebte eine Adlernase zwischen den silbernen und schwarz ummalten Glupschaugen. Als war sie einer runischen Finsternis entsprungen, ein magischer Fremdkörper aus mystischen Jahrtausenden. Sie zu lieben war Kinderkram, den ich zwanzig Jahre zuvor mit Reife verwechselte. Nachdem sie es für nötig hielt, mich zu betrügen, durfte auch ich wieder: „Du hast doch mit dem Theater auch etwas ganz Neues. Wir haben noch so viel vor uns.“ Als hatte sie einen neuen Laden entdeckt. Die Kinder waren ja längst in der Schule. Ich erreichte ihren Neusten, Alister. Halb so alt wie sie, eine schwarze Mähne bis zum Po, Schokolade wie früher ich. Mir ging endlich die Lächerlichkeit meines Anrufes auf und nach einer knappen Bitte, liebe Grüße auszurichten, ließ ich das Telefon auf die Basis gleiten wie eine müffelnde Unterhose, die man in Waschlauge fallen ließ. Also die Kistentürme. Ich schleppte sie in den hinteren Teil des Hauses, in die Abstellkammer, wo in satt gefüllten Regalen wenige verbliebene Stellflächen warteten. Die Regale schienen aus der Raumfahrt zu stammen, sie waren Dunkelblau, sechzig Zentimeter tief und perfekt neu. Ich hatte meinen Lebensmittelvorrat reichlich durchkalkuliert, um nicht einkaufen zu müssen. Denn ich wollte mich festsetzen, nicht ständig wohin müssen, bis ich, möglicherweise, die Einsamkeit, die mir vorschwebte, ein für allemal überhatte. Beim Einsortieren verblieb ich mit meinen Gedanken bei Emine. Wegen ihr hatte ich die meisten Zweifel. Ob ich mir meine Auszeit wirklich geben durfte. Seit drei Monaten war sie verheiratet und ein Jahr zuvor, mit siebzehn, war sie zum Islam übergetreten. Lore fand es furchtbar, ich zumindest gewöhnungsbedürftig. Aber auch nur am Anfang, denn wenn ich den Sorgen der anderen Väter zuhörte, bzw. jenen verschnapsten Mädchen zusah, die morgens um drei die öffentlichen Verkehrsmittel bevölkerten, blöd quietschend und in den Armen eines angekifften Akneschnösels, sah ich mich auf den besseren Platz verwiesen. Emine hatte für ein Nachtleben soviel übrig wie ein Frosch für ein Auto, hatte sie gesagt, sie wollte lieber am Herd enden, für ihre Kinder, anstatt an einem Computer, für einen Chef, und sie brauchte keine große und sterile Singlewohnung, hatte sie gesagt. Lore konnte nicht davonlassen, darauf zu kauen und als ich den Schachteln zusah, wie sie in meinen Händen in die Tiefkühltruhe wanderten, fragte ich mich, was ich jetzt an Lore kaute. Ich nahm Kraft raus. Ich machte langsamer und gestand den Bewegungen meiner Hände einen albern bedächtigen Unterton zu. Das Gefriergut würde nicht antauen und verfaulen. Immer sanfter und gemächlicher glitten die kalten Quader an ihr Ziel. Schachtel für Schachtel für Schachtel. Vorsätzlich übertrieb ich es, ich trieb diese hohle Bedächtigkeit ins Lächerliche, aber ich hatte Lust auf diese Regie. Ich arrangierte, bewegte und war glücklich darüber, mir nicht für jede Mikroregung Rechtfertigungen abringen zu müssen. Vor meinem Exchef, er wartete auf mich, es war fast ein Wunder, wie wenig ich bis dahin an ihm gekaut hatte. Es würde bald soweit sein, auf jeden Fall würde seine Lava mich verfolgt haben und meinen Freiraum fluten.

Ich lag ausgestreckt auf dem smaragdgrün verhangenen Sofa unter dem rötlichen Holzzelt, im Zentrum des L-Raums. Meine Blicke streiften auf dem nordischen Gebälk entlang und blieben immer wieder an verschiedenen Konstellationen der Astlöcher haften. Blickte ich abwärts, starrte im Augenwinkel dumpf der filmreife Gruseltunnel. Hinter der Sofalehne fand ein merkwürdiger Tumult statt: Denn dort standen zwei Kisten, die meine älteren Bücher enthielten und dahinter klaffte, am Kopfende des L-Raums, eine massive Bücherwand, die Herrn Drögers Bücher enthielten und nun war mir, als haderten seine mit meinen. Seine: Da waren die Philosophen, vornehmlich die alten Deutschen, die garantiert kaum gebraucht waren, und dazu mischte sich eben viel wahrhaft Unbrauchbares: Erwachsenenbilderbücher und Chroniken, die einem freiatmenden Geist nicht wirklich etwas zu bieten hatten. Einige Schwarten hatten es mir durchaus angetan hatten, eine über das Mittelalter, aber die vielen Bildbände, die einkaufende Indios und Roller fahrende Vietnamesen zeigten, waren mir unheimlich. Diese Bücher waren Menschenzoos und ich hatte mir die Frage gestellt, ob es in China oder Brunei Atlanten gab, die junge Deutsche in Bückeburg und Goslar beim Grillen im Park zeigten. Alltägliche Szenen mit eigenen Augen – und überdies auch mit Ohren und Nase – zu beobachten, war mir die bessere Menschensafari, für die ich höchstens eine Straßenbahn brauchte oder das Wartezimmer einer Arztpraxis. Meine gesunde Schmacht nach menschlicher Authentizität, die für einen Autor unerlässlich war, wurde von hiesigen Darbietungen zu Genüge befriedigt. Aber ich hatte verstanden: Mit jenen Büchern befriedigte Herr Dröger eine Fernsucht, die sein Leben als höherer Beamter ihm verwehrt hatte. Und so haderten sie. Ich konzentrierte mich auf meine, indem ich gedanklich deren Titel überflog, während meine Blick im Holzzelt umherschweiften, doch sehr weit kam ich dabei nicht. Mein Gedankenfluss hakte immer wieder aus, was allerdings weder an Herrn Dröger, noch an seinen Büchern lag. Ich war zu aufgeraut. Die vorangegangenen Jahre machten sich bemerkbar in jener Ödnis und Stille, sie steckten in mir wie ein Giftstachel, von dem ich mich nun entwöhnte und der, wenn er aus mir herauseiterte, immer deutlicher schmerzen würde. Plötzlich war mir nach Dusche. Als ließe sich der Rotz jener Jahre einfach abwaschen. Eine rituelle Waschung, ja, richtig, sehr gut. Das Badezimmer war neu, weiß, hell, klinisch, steril, ein geeigneter Ort und dann, unter der Brause, stellte ich mir vor, wie ich mir jene Jahre vom Körper rieb. Es war wichtig, es zu auszusprechen: „Dieses Jahr … und dieses Jahr … und dann dieses Jahr … so … runter damit.“ Nach dem Duschen vertrat ich mir die Zeit wieder am See und dann, nach einer gefühlten Stunde trieb es mich ins Haus und ich zog mir einen Schlafanzug an. Müde war ich nicht, es war auch nicht Schlafenszeit, eher war es eine Lust auf einen ewigen Schlaf, auf das große Ausruhen. Dann lag ich, auf dem platten Doppelbett. Merkwürdig: Kein Boiler brüllte hinter Wohnungswänden, kein Verkehrsrausch verleitete zu somatischen Verstauungen, keine Vögel tschirpten ihre morgendlichen Kräfte durch sonnengrelle Scheiben, kein digitales Weckerpiepen zerhackte Nachtschäume, nichts. Weiter verharrte ich wandernd in der Stille und sie in mir und Bilder entstanden: Hinter mir fielen Türen zu und verschwanden spurlos in den Wänden. Ich überwanderte eine brüchige Brücke, die hinter mir in eine tiefe Schlucht krachte, wo ihre Splitter von wirren Stromschnellen zerquirrlt wurden. Ich würde mein einziger Zuschauer bleiben und als diese Vorstellung in mir aufging, kamen mir wieder die Tränen. Ich veratmete sie nicht und weinte das harmlose Holz der Zimmerdecke an. Mein Körper krümmte sich, ich schloss die Augen. Dann lag ich weiter teilentspannt auf dem Rücken. Die zugezogenen Vorhänge zerrieben das Tageslicht zu einer diffusen Milch, das ich mit einem Kissen auf der Nasenwurzel abzuwehren versuchte. Ich wollte die Nacht, ich wollte die ihr innewohnende heilsame Zeitvergessenheit. Tag und Nacht waren zu einer hastigen Uhr geworden und mein Körper musste, er sollte einen neuen Rhythmus finden, sich seinen eigenen Rhythmus erfinden, in dem tote Uhrenzahlen egal sein würden. Ich war die Uhr, eine atmende, Stoff wechselnde. Fast wollte ich Schreiben, um über dieses Bild nachzudenken, aber da war wieder dieser kreative Eifer, die Gefahr, eiliger, überflüssiger Sekundenzeiger zu sein. Bedingt durch seine Geschwindigkeit machte sich der Sekundenzeiger am deutlichsten bemerkbar, dabei war er der unwichtigste Zeiger. Ich wollte Sonnenuhr sein. Ich empfand das Kissen auf meinem Gesicht als störend und versuchte es wieder mit offenen Augen. Ich lag und lag, auf der platten Fläche, ich horchte auf meine Atmung und fuhr weiter runter und indem ich weiter runterfuhr, begann in meinem Kopf ein anstrengender Film abzulaufen. Ich sah, wie wir die stapelbaren Kisten schleppten, die die Müsliflocken, die Trockenmilch, das Knäckebrot, das Dosenobst und all das enthielten. Wir fuhren die endlosen Strecken, ich mit brennendem Sitzfleisch, wir schleppten wieder und dann fuhren und fuhren wir. Hanna saß am Steuer, unter uns rauschte der Asphalt, manchmal lächelte sie zu mir rüber. Fahrgeräusch und Motorenlärm vereinigten sich zu einer eintönig hämmernden Kadenz.

Ein seltsames Gefühl, einfach aufzuwachen. Ich tauchte aus einem tauben Zwischensein ein, in neumondig verlesene Dunkelheit. Ich fühlte mich wie in leichte Rotation versetzt, hörte ein schwaches Fiepen und sah schwaches Krisseln. Ein ekelhaftes Weckerpiepen kam nicht. Vermutlich hatte ich längst einen leichten Tinnitus. Ich erinnerte mich: Wie ich zwei Stunden vor den Proben, bei einem Glas Tee und einer Scheibe Brot, Regieanweisungen und Dialoge zu wiederkäuen hatte, da sie genau so und nicht so zu sein hatten und dann erschien er mir: „Genau so“, hatte er genervt, „das sitzt sonst nicht, das muss genau so sein“, das verkniffene und von mir abgewandte Gesicht zwischen den zu Scheuklappen erhobenen Händen und weil es so sein musste, musste ich umbauen, verwerfen, funktionierende Abläufe wieder zerstören. Ich musste Beschissenes schlucken und es, gegen meinen Instinkt, dem Publikum servieren. Jetzt hatte er mich, er peitschte mich hoch. Ich machte Licht. Im Bad blickte ich in mein Gesicht. Ich sah viel zu jung aus, in mich gekratzte Furchen zeigten sich nicht. Meine kastanienbraunen Haare sahen aus wie gefärbt. Worauf ich ständig angesprochen wurde, so dass ich, zugegeben nicht ernsthaft, es in Erwägung gezogen hatte, mir graue Strähnchen machen zu lassen. Die sterile Lautlosigkeit dröhnte und pfiff und ich klapperte mit dem Zahnputzbecher, um dieses Dröhnen mit winzigen Geräuschen zu brechen. Es war absehbar, dass er mir folgen würde, ich hatte ihn mitgenommen, nach Nordschweden, in meine Träume. Seine Lache, seine Ignoranz, er zog mich auf, in mir pochte und zitterte es. Ich begann, auf- und abzulaufen, gestikulierte dabei, meine Lippen zitterten. Seine Phrasen und Floskeln hallten in mir, Beschimpfungen wollten aus mir raus. „So musst Du das machen“, sagte er, wenn er sich in eine völlig beschissene Idee verknallt hatte, „darauf werden die total drauf abfahren“ und „ich sage Dir“, das ›Dir‹ als war ich sein lieber Sohn, ekelhaft, „so kannst Du das nicht machen, ich würde es Dir gerne zugestehen, aber man versteht es nicht.“ Er hatte entschieden, was man versteht und oft, wenn ich es gefressen hatte, hatte er, Demokratie und Mitgefühl heuchelnd, nachgetreten, mit „jedenfalls nicht in der Form“, abmildernd, weich, falsch. Eine Gummizelle, nur für mich. Um die Übung sauber abzuschließen, endeten die Absätze in seinen Ansprachen oft mit einem „mein Lieber“, das er flapsig aussprach, wie mit einem doppelten B, wohl damit ich mich nicht zu sehr verkrampfte. Mit immer kleineren Nuancen hatte er mich in eine immer eisigere Erstarrung versetzt, mich in einen immer toteren Winkel gezählt. Ich wolle mir, lachte er, „damit wohl eine goldene Himbeere verdienen.“ Sein vordenkerisches „Du musst da mal in Dich gehen.“ Als hätte er mich nicht bereits hunderttausendmal dazu getrieben, in eine immer gleichere und noch totere Ecke. Und dann dagegen sein frei entschiedenes „ich muss da nochmal in mich gehen.“ Ständig waren Andere, Freunde von ihm, anwesend und guckten zu. Wenn sie nervten, scherzte er „bring mir da unseren Autoren nicht durcheinander.“ Dazu hatte nur er das Recht. Seine Frau war ein unattraktiver Mann. Sie war kein Transexueller und auch kein Transvestit, sie war schlicht unattraktiv. Der Ansatz ihrer strähnigen und seltsam ungepflegt wirkenden Blondhaare saß viel zu weit hinten, so dass ihre Stirn einer aufgepumpten Vorderglatze glich. Meistens war sie beige gekleidet, wodurch sie reich aussah, vermutlich kleidete sie sich nur deshalb beige. Reich und etwas lesbisch. Immer öfter war sie anwesend, nervte mit Ideenkack. Sie beschwor Teamgeist, als gehörte sie zum Team, womit sie sich über das Team stellte. Und ständig kam sie gerade von einer wichtigen Verabredung oder musste gleich wieder los, sie heuchelte permanent permanenten Termindruck, der sich mit meinem kaum würde messen können, sie verschwand dann aber oftmals nicht, sondern nervte noch minutenlang weiter, stand da und ging nicht. Sie fand dies so toll und könnten wir das nicht so machen. Ich versuchte, mich zu sortieren, zwang mich wieder ins Bett. In den drei Nächten zuvor, mit Hanna an meiner Seite, war ich nicht so dermaßen hochgeheizt. Ich lag mit ausgestreckten Armen und Beinen auf dem Bauch und presste mein Gesicht in die Decken und während ich ihren Geruch in mich einsog, drückte ich mich gegen den harten und weichen Bettgrund. In dieser Spannung verblieb ich, wie eine Ballerina, die ihren Einsatz erwartet. In der Erinnerung kramte ich nach schönen Dingen. Am Anfang war das pure Glück, es endlich geschafft zu haben, endlich gehört zu werden. Ich glaubte an mich, arbeitete hart und leidenschaftlich und gewöhnte mich rasch an die große, schwarze Kiste, in die ich nach den Aufführungen hineinsah, aus der mir Scheinwerferlicht und Applausrausch entgegenkam. Ich gewöhnte mich an die Lorbeeren, an die Zusprüche, an die schlaf-mit-mir-Blicke abgeschmackter Schönheiten, an das was-müssen-wir-jetzt-hier-blöde-rumstehen-und-lange-applaudieren-Gemuffel reicher Stinkstiefel, an das das-war-wirklichäußerst-interessant-Gesäusel der hinreißenden Kleinfans. Für Lore der richtige Zeitpunkt, mich abzustreifen und als ich einigermaßen Erfolg darin hatte, es zu verdauen, kam er. Sein Vorgänger hatte mich entdeckt, mich bezahlt, warum sollte ich nicht weitermachen, bot doch der neue Intendant mit seinen weißen Bürstenhaaren, seiner ungesunden, gelblich schimmernden Haut und der immer sehr schwarzen Kleidung eine charismatische Erscheinung. Er wirkte erfahren und ambitioniert, trat selbstbewusst hervor, aus dem Schatten eines modernen Begründers, und er brachte sein neues Konzept mit, das aufgehen würde. Platzhirschig näselte der Spitzbauch über der engen Lederhose, ich hätte es wissen müssen. Ich war naiv und geblendet, hatte gedacht, alles würde so cool und wie von selbst weiterlaufen wie bisher und verlängerte. Überdies war mir nicht nach Arbeitslosigkeit und der damit verbundenen Kontemplation, um dann an Lore zu kauen. Sein stereotypes, prophylaktisches Selbstbefriedigungsgequatsche hatte sich rasch von selbst entzaubert und statt auf seinen silberstacheligen Kopf hatte ich immer mehr auf seine Wampe, über der sich das schwarze Hemd spannte, gestarrt. In seinem Beisein konnte ich Dinge nicht mehr so inszenieren, wie sie sein mussten, wie ich sie haben wollte, weil sie zu unspektakulär und unskandalös waren oder umgekehrt. Coole, poppige Verrücktheiten von der Stange, volldosierte Frechheiten, erlaubte Tabubrüche waren gefragt, das längst gängig gewordene Anstinken gegen Konventionen. Eine Melange, die zu meinem Unglück ankommen sollte. Und um Himmels Willen keine echte Magie, eine neue, andere, noch fehlende. Was wir produzierten hatte plötzlich auf mich gewirkt wie Hochhäuser, die gebaut wurden für den neuen Menschen, den es nicht gab, bzw. es gab diesen neuen Menschen, in Massen, wie ich lernen sollte, nur hasste ich ihn. Irgendwann hatte ich mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Er reagierte darauf, als hatte ich nicht mit der Faust auf den Tisch geschlagen. Als meine Ausbrüche sich häuften, wurden sie abgetan als die entzückenden Wallungen eines verrückten Künstlers. An sich brillant, Streitfälle zu erledigen, indem sie vorsätzlich nicht als solche erkannt wurden. Meine Wutausbrüche und Faustschläge brachten mich jedoch endlich davon ab, es in mich hineinzufressen. Rasch hatten meine Fluchtfantasien sich ausgedehnt, immer schwärmerischer schwelgte ich in ihnen, ähnlich dem Fastenden, der sich opulente Malzeiten erträumt. Bestätigung erfuhr ich von Samad: Anfangs hatte ich seine Beleidigungen als überzogen und ungerechtfertigt empfunden, aber schnell musste ich zugeben, dass sie viel Wahres enthielten und gerechtfertigt waren, da er völlig simpel und aus dem Stand das mit mir machte, was wir unter Mühen dem Publikum verkaufen wollten. Samad stellte bloß, riss frech das Maul auf, brachte die unbequeme Wahrheit ans Licht: „Was ihr da macht, ist Scheiße, das ist total flach, das ist nichts weiter, als Intellektuellen was vor die Füße zu werfen, damit ihnen beim Sektschlürfen nicht langweilig ist.“ Aus mir war ein vierzigjähriger Hampelmann geworden, der sich unter Mühen in eine Welt manövriert hatte, in der er schlicht nichts zu suchen hatte. Meine Füße zuckten vor Wut, Hannas Körpergeruch half nicht mehr und wieder hastete ich im Wohnzimmer umher, wetzte Wege, den Flur auf und ab, ich stampfte, gestikulierte, saß mal kränklich, wie ein Besoffener, mal in alberner Denkerpose auf dem Holzstuhl in der Küche. Über mir, an der Wand, das Holz umeckte Brötchenleben, wie eine leere Gedankenblase zierte es den Luftraum über meinem Kopf. Ich stand wieder auf, ging auf und ab und saß wieder, auf dem Sofa, vor dem dunkeldumpfen Kaminloch. Dann auf den Stühlen vor den ausgeschalteten Notebooks. Wieder zwang ich mich, an etwas Positives zu denken, das jene Zeit in sich barg. Es gab doch so Vieles. Die zwei jungen Frauen mit ihrer quirligen Grammofon- und Kekstapetenromantik, die an süße Uromis erinnerten. Diese stoppeligen Mannsbilder, die kaputt und erst dadurch ganz waren. Oder diese lachhaften und oberflächlichen Kulturschnicksen mit ihrem Gequassel, das pures Verbal-Make-up war. Die selbstdarstellerischen Hochleistungsamateure, die sich bisweilen anzubiedern versuchten und sich mit ihren abgedroschenen Vorstellungen vom hach so verrückten Künstlerleben lächerlich machten. Es gab einen spindeldürren Menschen namens Boris, ein eindrucksvolles Nachwuchstalent, das nur eine Spielzeit bei uns war. Er besaß einen seltsam kreidigen Teint, dazu merkwürdig aschfarbenes Haar und stets trug er eine merkwürdig biedergraue Kleidung, wodurch seine Erscheinung an einen Vampir erinnerte. Als schlief er in einem mit Puder gefüllten Sarg. Sein übertrieben nüchternes Äußeres machte Sinn, er war darauf bedacht, seine Spiritualität nicht durch das falsche Ventil zu entsorgen. Helga, die Schreckliche. Die wie aus dem Ei gepellte Theaterzicke. Sie markierte die desolate Edelschlampe, kontrollierte mit ihrem Getue ihre Schar. „Gibst Du mir eine Zigarette? Na, komm, das wäre von Dir jetzt wunderbar.“ In einem Ton, mit dem sie sich gleichermaßen charmant und angepisst gab. Sie war so hoffnungslos abgeschmackt, doch wer sie hasste, bewunderte sie doch dafür, dass sie sich ihr Verhalten leisten konnte und damit so weit gekommen war. Und die Medien, die Kritiker. Kritiker: Machen Unzulänglichkeiten sichtbar, die man ohne sie nicht hätte. War mir mal aufgegangen. „Ach ja, der Karl Kraus, der mit der nackten Frau auf dem Panzer“, hatte einer von ihnen gesagt, mir anbei seine ätzende Pfefferminzfrische ins Gesicht geweht. Seines hätte ich ihm aufräumen können. Dann trat wieder er hinzu. Ich begriff: Es war falsch, sich um innere Ruhe zu bemühen, sich zu sortieren, sich um andere Gedanken zu bemühen. Es war richtig, zu Stampfen, zu Gestikulieren, die Fäuste zu ballen, ich musste diese kranke Energie ableiten. Ich schlug mit Fäusten in die Luft, ich boxte, gegen einen Dämon, gegen mein Scheitern, er hatte mir meine Zeit an Theater zerstört, ich traf, traf, traf und traf, Stunden waren es, in denen ich brummte, gestikulierte, boxte und fauchte, wieder entleert zusammensackte, bis er mich abermals hochpeitschte und eine weitere Runde begann. Ich machte die Therapie, für die ich endlich Zeit hatte. Nach Stunden das befreiende Morgengrau. Es befreite mich, da es mich an meinen Abgang erinnerte, an die Endgültigkeit, dass ich weg war von alldem, denn wie sonst konnte ich mir eine solche Nacht leisten? Wieder breitete ich mich auf der Bettfläche aus. Ich lag und zuckte nicht mehr. Wie viele solcher Nächte musste ich in den vor mir liegenden acht Monaten noch durchleiden und reichten diese acht Monate überhaupt, mich zu reinigen? Und dann sah ich mich mit der Fußspitze in einen Ozean eintauchen, der ruhig war und an dessen Geheimnisse sich meine Hoffnungen klammerten. Nach dem Aufwachen schmerzte mein Kopf, ich war fertig, wie von einem Jetlag.

Langsam kaute ich mein Marmeladenknäckebrot und indem ich langsam kaute, wie man soll, feierte und besiegelte ich abermals meine Befreiung. Nach dem Frühstück wollte ich Holz spalten, worin ich eine Möglichkeit sah, mich im Erhalt dieser Langsamkeit zu üben. Ich öffnete den Seiteneingang und nahm einen kräftigen Zug von der kargen und frischen Luft. Ich stellte mir vor, das Nadelgrün selbst einzuatmen. Ein völlig ungefährlicher, störungsfreier Tag erwartete mich, ich konnte mich wie von einem Strom treiben lassen. Etwa zwanzig Meter vor mir begann der lichte Nadelwald, in dem sich meine Blicke sammelten. Ich empfand dieses Gestrüpp entspannend und befreiend, weil es pflanzlich war, weil es mich nichts anging, weil sich keine beengenden Eindeutigkeiten fanden, die forderten, befahlen, die so und nicht so waren. Ich würde diesem Gestrüpp ähnlich werden, sein Flüstern würde mir verständlich werden. Ich würde zausig und drahtig werden, grün, braun, grau, flechtig, rau, rillig, ein seltsames und schwer greifbares Etwas, ich würde eins werden mit den Felsgnomen, den Steintrollen, den Baumschraten, dem biosphärischen Bindegewebe. Mich erheischte eine erste Andeutung dessen, was vor mir lag, aber noch war es nicht soweit. Auf halber Strecke zwischen dem Haus und dem Wald befand sich der Holzschauer, der ein Bretterschuppen war, der an ein leicht überdimensioniertes Wartehäuschen einer Bushaltestelle erinnerte und der etwa zu einem dreiviertel Meter mit Baumscheiben angefüllt war. Mir zur Seite stand eine neue und schicke Fiskars Axt, die strahlender Gegensatz war zu den abgenutzten Dingern, die wir früher in unserer Land-WG zur Verfügung hatten. Sie gehörte mir, gleich am Tag unserer Ankunft hatte ich sie mir auf unserer ersten Einkaufstour zugelegt. Herr Dröger ließ sich immer gespaltenes Holz bringen, ich dagegen bestand darauf, es selbst zu spalten. Zur Erfrischung, um meinen Organismus mit Sauerstoff aufzufüllen, um mich geistig fit zu halten, um mich in den Schreibpausen mit einem Kontrastprogramm zu betätigen. Über den gesamten Winter würde ich mich jedoch nicht mit Holz hacken vergnügen können, es musste in den ersten Wochen erledigt werden: Gestapelte Holzscheite brauchten Zeit zum Trocknen, wogegen die aufgehäuften Scheiben faulen würden, hatte Herr Dröger mich aufgeklärt. Ein Amboss stand im Schauer, er befand sich, zum Glück, bereits in Herrn Drögers Besitz. Er war uralt, vom Vorbesitzer zurückgelassen und er glich einem Pilzstiel, mit einer weichen und zerschnittenen Fläche, auf der die Scheiben zum Spalten abgestellt wurden. Er wirkte verbraucht und erfahren, bot einen Kontrast zu dem ansonsten sehr neuen Interieur des Hauses und besonders meiner schicken Axt. Ich rückte ihn zurecht, prüfte ihn auf einen stabilen Stand, dann stellte ich einen der Körbe bereit, die sich mit im Inventar befanden, und begann. Das Spalten fühlte sich gut an, ehrlich, materiell, sinnlich, so wahrhaft schneidig, wie das Zerteilen von knackigem Gemüse mit einem sehr scharfen Gemüsemesser. Da ich keinen Grund hatte, mir schmerzende Schwielen zuzuziehen, beließ ich es bei den wenigen Baumscheiben. Außerdem war mir in meiner Daunenweste längst warm geworden. Die Holzstücke legte ich an der Außenwand des Kamins aneinander, mit einigen Zoll Abstand zur Wand. Das Schreiben näherte sich. Noch eine Kanne mit frischem Tee, dann konnte es losgehen. Ich hing meinen Mantel weg, der immer noch über der Stuhllehne hing und setzte mich endlich hin an meinen Riesentisch.

Die Enden meiner angewärmten Hände ruhten zu den Ecken der mehrreihigen Unterkieferschnauze. Hoffentlich gehorchte der breitgesichtige Zyklop. Während der immer gleichen Laderevue schaute ich aus dem Fenster, was ein übliches Ritual war, mit dem ich seltene Sekunden der Freiheit genoss und auch jetzt, obwohl von Freiheit umgeben wie ein Fisch von Wasser, verzichtete ich nicht darauf: Es war albern, auf den Screen zu glotzen, während ein Rechner hochfuhr oder sonst wie mit sich selbst beschäftigt war, was auch so eine Erkenntnis war, die andere immer nicht hatten. Dann strahlte mein Desktophintergrund, eine polare Eisküste. Sie hatte meine Sehnsucht wiedergegeben und war nun nicht mehr nötig, daher ersetzte ich das obsolet gewordene Bild durch einen grauen Hintergrund. Dann startete ich Word und so breitete sich vor mir meine leere und weiße Fläche virtuellen Papiers aus. Mir war, als kommentierte mich diese Fläche, als spiegelte sie mich, denn ich wollte eigentlich meine tollen Gedanken haben und nun überkam mich das Gefühl oder das Bedürfnis, mich sammeln zu müssen, um mich überhaupt sammeln zu können. Ich schaute wieder in die reale Natur hinter dem Fenster und schnell dachte ich an Hanna. Ich kämpfte erst gar nicht gegen das Bedürfnis, sie anzurufen. Ablenkungen, Konzentrationsschwäche, Lustlosigkeit waren nicht mehr verboten. Und ich hatte Glück, sie machte gerade Rast. „Na, das trifft sich ja. Du rufst gerade im richtigen Moment an. Ich sitze hier im Halbschlummer auf einem wunderschönen Rasthof.“ Das ›wunderschönen‹ brachte sie mit ihrer typischen Ironie. Sie war die Nacht durchgefahren, befand sich vierhundert Kilometer vor Kopenhagen und mochte nun von der Bank, auf der sie saß, mit leicht beuligem Blick über familiendunstig klaffende Hecktüren wandern, von der aus Muttis und Vatis zum Klohäuschen watschelten und kreischende Kleinkinder mit Schoko riegelten. Sie hatte viel und deftig zu Mittag gegessen und fast war mir, als kroch mit ihren Schilderungen der Geruch von etwas Deftigem durch die Leitung, irgendein Elchragout von der Ikeapause. Ich erzählte ihr, wie ich mich durch die Nacht gequält hatte. „Na, ist ja auch kein Wunder. Das braucht seine Zeit.“ Wir verloren noch wenige Worte über dies und jenes, sie redete noch davon, wie sie nach ihrer Ankunft ihr Wochenende im Liegestuhl bei ihren Eltern auf der Terrasse verbringen wollte, dann war es das. Wir hatten eine Kommunikationssperre vereinbart, die zwar erst nach ihrer Ankunft gelten sollte, aber instinktiv galt sie eben doch schon ein wenig. Nach dem Gespräch widersetzte ich mich ablenkenden Kochfantasien und begnügte mich mit einem zweiten Frühstück, bestehend aus Milchpulvermüsli, das ich verträumt am Küchentisch kaute. Bedächtig streichelte ich mit dem Löffel die Schale leer. Gleich würde es beginnen, ich freute mich darauf, mich zu erforschen, mich zu verlieren, mich diesen heilsamen, eigentlichen Spielereien hinzugeben, die mir der Kulturbetrieb verwehrt hatte. Drauf los tippen wie ein plätschernder Bach, mit meiner blöden Romanidee als Meer in stetiger Ferne. Hannas Worte wiederholten sich, ›na, ist ja auch kein Wunder‹. Und schon strahlte mir wieder die virtuelle Leere entgegen, während ich in die reale Wildnis hinter den großen Scheiben schaute. „Wahnsinn.“ Denn ich konnte jederzeit mit den Augen in die Ferne schweifen oder mich ganz direkt und physisch real in dieses perfekte Panorama hineinbegeben. So weit weg war jede Anstrengung und er, er watete nicht durch den See, immer seinem Spitzbauch hinterher, auf der Suche nach seinem Seelenklo. Ich drehte das zweite Notebook zu mir, an dem Hanna über Eck gesessen hatte, ließ jedoch ab. Da ich es nicht leiden konnte, wenn ein Browser oder ein Duden mir die Sicht auf meine Schreibarbeit verquastete, hatte ich mir von vornherein zwei baugleiche Modelle zugelegt, eben auch ein sekundäres, aber nun bestand kein Bedarf danach. Ich wollte schlicht drauf los und dabei selbst Quelle meiner Recherchen sein. Eigentlich war das von vornherein klar gewesen, allerdings musste wenigstens für den Notfall schon ein Zweitgerät mit. Oder hatte mir der Mut zum Risiko oder zur Romantik gefehlt? Eine eventuelle Rückbesinnung auf einen alternativen Kugelschreiber löste in mir nicht unbedingt Angstzustände aus wie bei einigen Kollegen, die sich das Schreiben mit der Hand inzwischen hoffnungslos abgewöhnt hatten. Aber der Gedanke daran, den eigenen, genialen Schrieb zur Einreichung nochmals sauber abtippen zu müssen und dann dabei von einem zerstörerischen Bedürfnis nach kleinlichen Verbesserungen ausgebremst zu werden, war doch eher säuerlich. Dann eher eine in sündigem Knallrot lackierte Reiseschreibmaschine. Und mit der allein in Benares, wo man, mit nacktem Oberkörper, Krawatte um den Hals und Hut auf dem Kopf, im heruntergekommenen Zimmer eines einst luxuriösen Hotels unter einem nervös eiernden Ventilator saß, dazu von Mücken umtanzt und von Schaben umkrabbelt wurde − und vor sich, auf einem winzigen Tischlein, zwischen den Knien, glänzte makellos und devot die blutrote Begleiterin. Zu ihren Flanken jeweils ein überquellender Aschenbecher und ein warmer Whiskey und unter den Händen der schwarze, scharmhaarig drahtige Dschungel mit den schwarzen und harten Pfennigabsätzen darauf, an denen zarte Typen hingen, die ihre scheuen Spuren auf unschuldiges Weiß hackten, die Rs schief. Ein paranoider Erotikthriller, der nie geschrieben werden würde. Benares war für meine Auszeit auch im Gespräch gewesen, allerdings hatte ich dieses Reiseziel früh verworfen, weil es für meine Bedürfnisse zu aufrei