Annemarie Schwarzenbach: Freunde um Bernhard

 

 

Annemarie Schwarzenbach

Freunde um Bernhard

 

 

 

Annemarie Schwarzenbach: Freunde um Bernhard

 

Neuausgabe.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2016.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

John Singer Sargent, Junger Mann, 1876

 

ISBN 978-3-8430-8221-1

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-8619-9349-0 (Broschiert)

ISBN 978-3-8619-9350-6 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: Zürich, Amalthea-Verlag, 1931.

 

Dieses Buch folgt dem in der Schweiz geschriebenen Deutsch ohne Eszett (ß).

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Um zwölf Uhr mittags drängen sich die Menschen aus ihren Arbeitsräumen, die Omnibusse und Tramwagen stauen sich, Polizisten stehen auf den grossen Plätzen und regeln mit weissen Handschuhen den Verkehr; Radfahrer schiessen zwischen den Wagen hindurch, die in langer Reihe vor einer Kreuzung stehen, immer neue Ströme von Menschen dringen aus geöffneten Türen, eilen die Treppen hinunter und mischen sich auf den Bürgersteigen mit der rastlos vorbeiziehenden Menge.

Unvorsichtig versucht eine kleine Dame, sich zwischen den wartenden Automobilen hindurchzudrängen, ein junger Mann, der am Steuer seines Wagens sitzt, gibt warnende Signale und winkt ihr mit der Hand. Er trägt keinen Hut, sein dunkles Haar fällt in die Stirn, er ist von der Sonne verbrannt, selbst die Hände auf dem Steuerrad sind braun, man sieht es, weil er ohne Handschuhe fährt. Endlich gibt der Polizist ein Zeichen, ungeduldig schaltet Gert ein und fährt in der langen Reihe quer über den Platz. Durch eine Nebenstrasse kommt indessen der Knabe Bernhard; er hatte Klavierstunde und trägt die Mappe unter den linken Arm geklemmt. Auch er ist ohne Hut, sein blondes Haar ist aber ordentlich gebürstet und lässt die helle Stirn frei. Er achtet kaum auf den Weg, er weiss ihn auswendig, eine stille Allee nimmt ihn auf, an deren Ende hinter breitem Gittertor das Haus seiner Grossmutter ihn erwartet. Inzwischen haben sich die Leute zerstreut, nur einzelne Wagen rollen durch die Strassen, die Restaurants füllen sich, man hört das Klappern der Teller und sieht durch die Fenster Serviermädchen und Kellner mit hochgetürmten Tabletts vorübereilen. Alle Schornsteine rauchen, in ruhigeren Quartieren steigen schwarzgekleidete Herren aus ihren Wagen, die Chauffeure grüssen und fahren wieder fort, Kies knirscht, und Hunde bellen aufgebracht hinter den Gittern.

Der weisse Hund Flock, reichlich schmutzig und eben vom Spaziergang zurückgekommen, springt an Ines hoch, sie schickt ihn fort und öffnet die Haustür. Ein junger Diener eilt herbei, nimmt den Hund am Halsband und sagt, der Herr sei schon im Esszimmer. Ines bürstet vor dem Spiegel ihre Haare; sie sind dunkelblond und haben einen schönen, matten Glanz. Dann läuft sie ins Esszimmer, wo der Diener eben zu servieren beginnt, und küsst ihren wartenden Vater.

Mittagsruhe breitet sich über die Stadt.

 

Der Knabe Bernhard, von seinen Freunden vertrauterweise »Berchen« genannt, sitzt nachmittags im Wohnzimmer seiner Grossmutter am Klavier und übt. Die Stunde ist leidlich verlaufen, sein Lehrer hat ihm aber gesagt, dass seine Tonleitern an einen Feldweg erinnerten statt an eine glatte und eben verlaufende Asphaltstrasse, und dieser Vergleich, der Anschaulichkeit nicht entbehrend, brachte Bernhard zu dem mutigen Entschluss, fortan täglich eine Stunde Tonleitern zu üben. Nachher, als Belohnung gedacht, folgt das schwere, aber beglückende Studium einer Fuge von Bach, dem grossen Meister, den Bernhard bis vor kurzem wenig schätzte, dessen offenbarende Gewalt ihn aber jetzt plötzlich ergriffen und überwältigt hat. Da ist beispielsweise die vierte Fuge aus dem wohltemperierten Klavier, die ihn mit scheuer Weihe erfüllt und die seiner Empfindung eine Reinheit gibt, die er nicht anders als überirdisch nennen möchte. Zunächst aber übt Bernhard Tonleitern; gewissenhaft versucht er, sich an alles zu erinnern, was sein Lehrer ihm mit immerwährender Geduld einprägte, jene gelockerte Spannung, jenes mühelose und doch intensive Anschlagen der Tasten, jene gleichmässige und geschmeidig fortlaufende Bewegung des Armes. Sein Lehrer wiederholte ihm, dass man in das Klavier eindringen müsse, als seien die Töne anzufassen, zu formen, festzuhalten. »Il faut modeler le piano« ist einer seiner beliebtesten Aussprüche, aus Paris mitgebracht, denn er ist Franzose und beabsichtigt, in nächster Zeit in seine schmerzlich entbehrte Vaterstadt zurückzukehren. Gern würde er dann seinen Schüler Bernhard mitnehmen, den einzigen jungen Deutschen, dessen Begabung er schätzt und dessen weitere Ausbildung er mit Freude übernehmen würde.

Bernhard hat nicht geringe Lust, ihn zu begleiten, aber er weiss nicht, ob seine Eltern ihm den für sie absonderlichen Plan erlauben werden. Er ist kaum siebzehn Jahre alt und schuldet ihnen allen Gehorsam eines noch nicht der Schule Entwachsenen. Es wäre auch denkbar, dass man ihn aus Mangel an Geld nicht im Ausland studieren liesse; verschiedene Bemerkungen seines Vaters lassen Bernhard darauf schliessen, obwohl sie in einem grossen Landhaus mit Pferden und Automobilen recht angenehm und anscheinend in den sichersten Verhältnissen leben. Bernhard fühlt sich durch die Möglichkeit, weniger reich zu sein, als er bisher annahm, durchaus nicht beunruhigt. Die meisten seiner Freunde haben kein Geld, besonders aber der Konservatoriumsschüler Ferdinand, dessen Spiel sein Entzücken und seinen Ehrgeiz hervorruft. Gert allerdings hat reiche Eltern und besitzt ein Auto, und auch Ines ist selbstverständlich reich und verwöhnt; es wäre ein unnatürlicher Gedanke, sich Ines in irgendwelcher Bedrängnis vorzustellen. Doch wie gesagt, Gert und Ines sind Ausnahmen, die anderen essen am Ende des Monats in einer kleinen Kneipe, wo ein Mädchen namens Anna serviert und wo man nur Würstchen mit Bier bekommen kann.

Unter Bernhards Bekannten finden sich auch solche, die immer gut gekleidet gehen und denen ein ansehnliches Taschengeld zur Verfügung steht. Es sind seine Schulkameraden, die ihm aber weniger vertraut sind als der eben genannte Ferdinand und dessen musikalische Studiengenossen. Immerhin ist da beispielsweise ein Junge namens Karl, bei dessen Eltern er jede Woche einmal zum Mittagessen eingeladen ist und mit dem er gemeinsam lateinische Schulaufgaben macht – oder auch der kleine, hellblonde und kindliche Hans Ahlberg, der eine grosse, wunderschöne Mutter hat. Sie hat sehr sanfte Hände, deren innere Flächen weich wie Sammet sind; Bernhard erinnert sich immer daran, dass sie ihn einmal besuchte, als er krank war, und dass sie sein heisses Gesicht streichelte. Karl und Hans Ahlberg sind seine einzigen Schulfreunde, denn Bernhard führt gewissermassen ein geteiltes Leben, und die Schule spielt darin neben der Musik, seinem eigentlichen Herzenswunsch, eine recht geringe Rolle. Dabei ist Bernhard durchaus kein schlechter Schüler, er lernt mühelos und fleissig, und die meisten Fächer interessieren ihn. Allerdings hängt seine Neigung nicht wenig von den Lehrern ab, besonders ist das von der Mathematik zu sagen, die anfänglich Ursache manchen Kummers war und ihm ganz unverständlich blieb, bis endlich ein neuer Lehrer auftauchte, ein klar denkender junger Mann, dessen angenehmer Stimme man gern und mühelos zuhörte. Ihm gelang es, die verwickelten und früher so unverständlichen Sätze in wundervolle Übereinstimmung zu bringen, alles traf jetzt in erstaunlicher Weise zu, und zudem ahnte man, dass alle besprochenen Fälle nur Einzelbeispiele eines grossen Prinzips waren, dem sie alle gehorchten; wahrhaft packende Aussichten eröffneten sich, Zusammenhänge tauchten auf und liessen schliesslich das ganze Weltall als ein noch nicht klar begriffenes, aber überwältigend bewunderungswertes System erkennen, das einen mit Andacht und brennendem Interesse erfüllte.

Bernhard dachte in solchen Stunden an die himmlisch sich aufschwingenden, kunstvoll verschlungenen und fehlerlosen Fugen Johann Sebastian Bachs, seine Gedanken verirrten sich zuweilen, und er war gänzlich betroffen, wenn sein junger Lehrer ihn plötzlich aufrief und ihn aufforderte, das eben Erklärte zu wiederholen. Er schwieg verwirrt, worauf der Lehrer ihn fragte, an was er denn gedacht habe. Gern hätte er gesagt, wohin er durch die Mathematik geführt worden sei, doch schien ihm der Zusammenhang zu problematisch, und er fürchtete, man würde ihn missverstehen. Der Lehrer fragte freundlich, ob Bernhard die Aufgabe denn verstanden habe, worauf dieser sich mutig erhob und es unternahm, die Formel an der Wandtafel abzuleiten. Übrigens war Bernhard zweifellos ein bisschen überlastet, denn neben den Schulaufgaben übte er mit Ausdauer, und abends blieben noch Theorieaufgaben zu erledigen, was viel Zeit in Anspruch nahm. Morgens weckte man ihn früh, er schlief wieder ein, fuhr dann erschreckt in die Höhe, fror beim Anziehen und stürzte ohne Frühstück in die Schule, die er knapp, aber immer noch im rechten Augenblick erreichte.

Gert behauptete, es sei ungesund, so viel zu arbeiten, besonders wenn man Musik studiere, müsse man sich Schlaf gönnen, und nächtliches Aufgabenmachen sei durchaus verwerflich. »Warum machst du denn das Abitur«, sagt er, aber Bernhard besteht darauf, dass er die Schule auf Wunsch und zur Befriedigung seines Vaters durchführen müsse, gleichgültig, ob gern oder ungern. Es muss gesagt sein, dass Bernhard ein ehrgeiziger Junge ist, es schmeichelt ihm, dass man ihn für vielseitig begabt hält, und er möchte gern allen Anforderungen genügen. Ganz im Gegensatz zu Gert, welcher darüber spottet, als verachte er alle ehrgeizigen Ziele. Das kann nicht nur daran liegen, dass Gert Geld hat und ein Auto besitzt oder dass er der Freund von Ines ist. Er ist nicht eingebildet im gewöhnlichen Sinn, er leidet sogar an häufigen bitteren Selbstvorwürfen, denn sein einziges Interesse ist die Malerei, zu der ihn eine ausgesprochene Neigung und sicherlich auch Begabung treiben. Aber durch seine Umgebung wird er wenig gefördert, seine Eltern wünschen, dass er einen Beruf ergreife, und er entschloss sich deshalb unter dem Anschein völliger Gleichgültigkeit zum Studium der Jurisprudenz. Aber es ist ihm nicht ernst damit, man sieht ihn selten im Kolleg, er verbringt seine Zeit mit zeichnerischen Versuchen. Unter solchen Umständen darf man sich nicht wundern, dass er dem Lerneifer seines jungen Freundes Bernhard gleichgültig und nahezu verachtungsvoll gegenübersteht; andererseits betreibt er aber seine Kunst heimlich und lebt deshalb in ständigen Zweifeln, ob diese Art seiner Betätigung berechtigt sei. Das heisst, dass Gert sein Talent häufig in Frage stellt und diese Unsicherheit unter einem kühnen und anspruchsvollen Auftreten verbirgt. Er ist sehr empfänglich, seine Freunde Ines und Bernhard liebt er mit Hingabe, besonders Ines kennt wie niemand die Ursache seiner oft gestörten, weiblich-zarten und zum Leiden geneigten Empfindsamkeit, und sie versteht es, ihn zu schonen. Bernhard bewundert ihn und ist von seiner Freundschaft beglückt. Gert aber liebt ihn auf eine seltsame und beunruhigende Weise; er findet ihn schön und ist von seiner grossen Jugend gerührt. Für ihn kann es keine grössere Freude geben, als Bernhard zu zeichnen und ihn in seiner Nähe zu haben; nicht ohne Grund hat er die Gewohnheit angenommen, jeden Samstag mit ihm und Ines aus der Stadt hinauszufahren. Anfänglich war Bernhard nach dem Essen zu Gert gegangen, doch langweilte ihn das lange Stillsitzen, und er schlug vor, Gert sollte umgekehrt ihn besuchen, er könne ihn zeichnen, während er Klavier übe, so sei für beide die Zeit nicht verloren. Seither kam Gert ziemlich oft, er gefiel Bernhards Grossmutter ausserordentlich, weil er wohlerzogen und unaufdringlich war, und er wurde von ihr einige Male aufgefordert, zum Essen zu bleiben.

Während er zeichnete, machte er häufig kleine Bemerkungen, die Bernhard in Verlegenheit brachten. Regelmässig sagte er: »Berchen, Junge, du hast einen verdammt hübschen Kopf«, wobei Bernhard errötete und den Blick unsicher auf die Tasten senkte. Gert, der es einmal bemerkte, stand auf und nahm Bernhards Kopf zwischen seine Hände. »Es ist keine Schande, hübsch zu sein«, sagte er, und als Bernhard ihm auswich, bog er sein Gesicht ein wenig aufwärts und küsste ihn langsam auf den Mund.

Samstags wird nicht gezeichnet; mit Spannung wartet Bernhard nach dem Mittagessen auf das wohlbekannte Signal und nimmt die dringenden Ermahnungen seiner Grossmutter: langsam zu fahren, abends den Zug nicht zu verfehlen und die Eltern zu grüssen, in Empfang. Denn jeden Samstag fährt Bernhard nach Hause, eine Gewohnheit, die er niemals verletzen würde, obwohl sie ihn daran hindert, Gerts Einladung zu grösseren Fahrten anzunehmen. Das ist schmerzlich genug, denn Bernhard kann sich nichts Schöneres vorstellen, als mit seinen lieben Freunden Gert und Ines durch das sommerliche Land zu fahren, man isst in kleinen Gasthöfen unter grossen Lindenbäumen, man schläft in rauhen Betten, welche nach frischer Wäsche riechen, am Morgen dringt die Sonne durch das Fenster und das Geräusch eines plätschernden Brunnens im Hof.

Aber vorläufig muss sich Bernhard mit dem Samstagnachmittag zufriedengeben, man fährt abends in die Stadt zurück und bringt ihn auf die Bahn, worauf er mit Handköfferchen und Schulmappe nach Hause fährt, wie sich das für artige Jungen geziemt. Dieser Nachsatz stammt natürlich von Gert, ist aber nicht böse gemeint.

Heute kommt Ines mit. Berchen merkt es schon, weil Gert besonders pünktlich ist und weil er vor dem Haus wilde Signale gibt. Seine Grossmutter ist ganz erschrocken, sie ruft, Bernhard solle sich beeilen, man dürfe seine Freunde nicht warten lassen. Und Berchen stürzt die Treppe hinunter und geradewegs in das Auto, dessen Tür schon offen steht. Erst jetzt fällt ihm ein, dass er seine Mappe vergessen hat, er will noch einmal hinauflaufen, aber Gert sagt bloss: »Quatsch, sei froh, wenn du mal nicht arbeiten kannst, du Bleichschnabel«, und schon fährt er ab, ohne sich um Berchens sichtbare Verzweiflung zu kümmern. Ines wartet vor ihrer Tür; sie trägt einen hellen Mantel und helle Handschuhe, und an der Leine hält sie Flock. Flock, den Bernhard manchmal spazierenführt, ist ein ziemlich kleiner, zweideutig geratener Hund, dessen Fell weiss sein sollte und der deshalb ziemlich viel Arbeit gibt. Heute beispielsweise ist er grau meliert, und Ines entschuldigt sich, sie habe leider keine Zeit gehabt, ihn zu waschen, und Franzl, der Hausdiener, habe Ausgang. »Dein Freund Franzl«, sagt sie zu Gert, »der dich grüssen lässt.« Gert hat eine besondere Neigung zu Franz, der ein schöner Bursche ist, gross und blond und viel stärker als Berchen, wenn auch nur ein Jahr älter. Ines missfällt diese Neigung, obwohl sie gegen Franzl an sich nichts einzuwenden hat. Aber es stört sie, wie sie sagt, nicht zu wissen, ob Gert eigentlich ihretwegen kommt oder um Franzl zu sehen. »Immerhin«, verwahrt sich Gert, welcher eben den widerspenstigen Flock zu seinen Füssen unterbringt, »du willst doch nicht Franzl als Eifersuchtsgrund anführen«, aber Ines sagt ganz ohne Lachen, das tue sie wohl, denn schliesslich habe sie ältere Rechte – ausserdem werde Franzl verdorben und frech, wenn Gert ihm Zigaretten schenke und ihn auf diese Weise unnötig verwöhne. Bernhard, der die Diskussion ziemlich lächerlich findet, merkt an Ines' Stimme, dass doch etwas Wichtiges vorgehen muss, und er schweigt beklommen und streichelt Flock. Aber inzwischen hat sich Ines schon etwas anderem zugewandt, sie legt Berchen den Arm um die Schulter, rückt ein wenig seitwärts, um ihm Platz zu machen, und nun sind sie ja auch vor der Stadt, die Felder breiten sich aus, am Horizont dehnt sich die dunkle Linie des Waldes, Staub wirbelt, die Kinder am Strassenrand winken und rufen, und der Wind nimmt Berchen beinahe den Atem.

Es ist ziemlich anstrengend, zwischen Gert und Ines zu sitzen, denn Berchen muss ständig die Unterhaltung vermitteln: »Ines«, ruft Gert, »halte Flock fest, er stört mich«, und Ines, die nicht versteht: »Was sagt er, Berchen?«, während Bernhard sich schon über Flock beugt und ihn an seine Knie zieht. Dann beginnt Ines: »Warum bist du gestern nicht gekommen? Dein Professor war da und sagte, er habe dich seit drei Wochen nicht im Kolleg gesehen, es wäre sehr nützlich gewesen, wenn du ihn gesprochen hättest!« Gert schreit: »Ich verstehe kein Wort«, und Berchen wiederholt: »Es wäre sehr nützlich gewesen ...« Aber Gert unterbricht ihn schon wieder, nützlich sei samstags ein verbotenes Wort, ausserdem habe er seine Chancen schon zu sehr verdorben.

Sie fahren heute sehr weit, und als sie unter einer grossen Linde Kaffee trinken, sieht Bernhard, dass es schon fünf Uhr ist und dass er seinen Zug verfehlen wird. Gert findet das herrlich. »Du bleibst einfach bei uns«, sagt er, »du darfst wählen, ob du bei Ines oder bei mir schlafen willst, und deinen Eltern telephonieren wir als altes Ehepaar!«

Berchen ist verzweifelt, aber er wagt nicht, es zu sagen, denn Gert würde ihn auslachen. Ines, die sein Gesicht beobachtet, sagt: »Deine Eltern würden sehr böse sein?«

»Ja.«

»Auch wenn ich telephoniere?«

»Ja.«

»So ein Unsinn«, unterbricht Gert, »man muss seine Eltern erziehen!«

Aber Ines bestimmt, dass man in diesem Fall Berchen nach Hause bringen müsse, und sie sagt es so, dass sich dagegen nichts einwenden lässt.

Sie kommen um halb acht Uhr an, nachdem Berchens süsse Mama schon geglaubt hat, er sei unterwegs verlorengegangen, da der Chauffeur ohne ihn von der Station zurückkehrte. Natürlich werden Berchens Freunde zum Abendessen da behalten; Moni, seine kleine Schwester, kommt im Nachthemd in die Halle gelaufen, um sie zu sehen, und ist recht erschrocken, weil es »ein wirklicher Herr und eine wirkliche Dame« seien, und als Gert sie auf die Knie nimmt, ist sie nahe daran zu weinen. Erst als Flock gebracht wird, kehrt ihr Mut zurück, sie streichelt zuerst zaghaft seine weisse Schnauze, balgt sich aber nach wenigen Minuten mit ihm auf dem Teppich herum, kleine Schreie jauchzender Befriedigung ausstossend. Inzwischen ruft man zum Essen, und Bernhards Vater kommt aus seinem Schreibzimmer. Berchen stellt vor und ist furchtbar verlegen dabei; dann gehen alle in das anstossende Esszimmer, wo zwei grosse silberne Kerzenleuchter auf dem Tisch stehen und zwei frische Servietten die Plätze der Gäste bezeichnen. Für Bernhard ist die Mahlzeit nicht sehr lustig, er sitzt stumm an seinem Platz und antwortet nur manchmal seiner Mutter, die ihm zulächelt. Sein Vater unterhält sich lebhaft mit Gert und Ines, besonders Ines scheint ihm sehr zu gefallen, er macht ein paar Bemerkungen, die zeigen, dass er sie schön findet, und darüber ist ja auch kein Zweifel möglich: Allein schon ihr dunkelblondes Haar, welches in weichen Wellen ihr Gesicht umrahmt, ist der Beachtung wert, auch hat sie kluge, graue Augen, die aufmerksam und freundlich alles beobachten, und einen bezaubernden Mund. Auch ihr Lachen ist bezaubernd, hell und freundlich gewinnend, dabei spricht sie niemals laut, sondern gedämpft und langsam und mit grosser Wärme. Ines kann sich für alles mit gleicher Herzlichkeit interessieren; eben spricht sie mit Bernhards Vater über die Unterschiede von weissem und rotem Wein, genau wie sie mit Gert über Automobile spricht und mit Berchen über Musik. Dabei fällt es ihr nicht ein, zu heucheln oder nachher zu sagen, es sei abscheulich und langweilig gewesen, und das ist es, was Bernhard besonders an ihr schätzt. Sie ist uns allen überlegen, denkt er, während er sie beobachtet, und sie lässt es sich nicht anmerken.

In diesem Augenblick sagt sein Vater: »Siehst du nicht, dass dein Freund nichts mehr zu trinken hat. Du musst lernen, aufmerksamer zu sein!« Und während Berchen errötend Gerts Glas füllt (er selbst hat nur ein Wasserglas), hat er die unangenehme Empfindung, dass Gert ihn nicht ohne Spott betrachte. Sehr ungeschickt schiebt er ihm das Glas zu und bemerkt dann, dass er einen Weinflecken auf das Tischtuch gemacht hat. Aber seine Mutter lächelt nur ein wenig und stellt den Untersatz der Flasche darüber.

Beim schwarzen Kaffee denkt Bernhard, dass er ebensogut zu Bett gehen könne, niemand würde ihn vermissen. Er ist deswegen verletzt, möchte es aber nicht verraten. Auch ist er ja sehr froh, dass seine Freunde einen so guten Eindruck erwecken – er beschäftigt sich also mit Flock auf dem Fussboden, sagt ihm Kosenamen und holt ihm Brot aus der Küche, das er zur Vorsicht mit etwas Wurst bestrichen hat, denn er hat Angst, dass Flock es sonst verschmähen könnte.

Während er, vor dem Hund kniend, das schmutzigweisse Fell streichelt, fühlt er plötzlich eine Hand auf seinem Nacken; es ist Ines, die sich zu ihm niederbeugt und ihm sagt, dass sie jetzt fahren müssen. Daran hatte er noch gar nicht gedacht – sie würden also nach Hause fahren und ihn zurücklassen wie einen Fremden! Wenn sie ihm wenigstens Flock lassen würden ...

Als Berchen später in seinem Bett lag, fiel ihm plötzlich ein, dass er seine Schulmappe in der Stadt vergessen hatte und dass er also morgen seine Aufgaben nicht machen konnte. »Quatsch«, hatte Gert gesagt. Aber was wusste denn Gert von solchen Dingen! Der fuhr jetzt mit Ines und Flock ... Von plötzlichem Kummer überwältigt, verbarg Berchen sein Gesicht in den Kissen und begann heftig zu weinen.

 

Bernhard schlendert die Theaterstrasse entlang, es ist erst sieben Uhr, und vor halb acht wird keiner von seinen Kameraden da sein. Sie wollen heute alle in der kleinen Kneipe an der Ecke essen und nachher zu Gert gehen. Es handelt sich um ein Abschiedsfest für Ferdinand, der morgen nach Berlin fährt. Ferdinand ist dreiundzwanzig Jahre alt und möchte Dirigent werden. Er spielt sehr gut Violine, und seine Lehrer am Konservatorium raten ihm, er solle eine Stelle als Geiger annehmen, die ihm hier im Stadttheater angeboten wurde. Aber er, merkwürdig verbissen in eine Art von leidenschaftlichem Ehrgeiz, schlägt die Stelle aus, um die ihn seine Kameraden beneiden würden, und erzwingt es, beinahe ohne Geld nach Berlin zu fahren. Er sagt, dort werde er Furtwängler und Bruno Walter hören, er wolle gern neben dem Studium arbeiten, um Geld zu verdienen. Dabei ist er doch ein ganz schmächtiger Junge, viel zu gross und so mager, dass ihm alle Kragen zu weit sind. Auch ist er gar nicht hübsch, sein sehr bleiches, beinahe ein wenig graues Gesicht hat einen starren Ausdruck, und wenn er den Mund öffnet, sieht er immer aus, als habe er Durst. Seine Augen passen nicht recht dazu, sie sind gross, scheu und traurig. Ines sagt, man könnte ihn lieben um seiner Augen willen.

Ferdinand also wird morgen abreisen, mit seiner Geige und einer alten Handtasche und mit vielen kleinen Paketen, die ihm seine Freunde an die Bahn bringen werden: Pakete mit Kuchen, Taschentüchern, Äpfeln und anderen nützlichen Dingen. Berchen hat eine besondere Überraschung für ihn: eine Photographie von Ines, die er ihr heimlich entwendet hat. Denn auch Ferdinand liebt Ines, das ist sicher!

Berchen sieht auf die Uhr: Nun ist es aber wirklich halb acht, ausserdem hat er Hunger. Entschlossen tritt er in das matt erleuchtete Lokal ein, wo Studenten und dicke Beamte an kleinen Tischen Karten spielen. Er setzt sich an einen Tisch, der den Musikschülern vorbehalten ist, und bestellt mit lauter Stimme Würstchen mit Kraut.

»Nimmt der Herr Bier dazu?« fragt die Kellnerin.

Berchen, etwas verlegen, dankt.

 

Ferdinand war wohl schon in der Kneipe etwas betrunken gewesen, jetzt sitzt er bei Gert, in einen grossen Stuhl zurückgelehnt, und sieht mit abwesendem Gesichtsausdruck die Zimmerdecke an. Die anderen unterhalten sich geräuschvoll und lustig, Gert, der Hausherr spielt, läuft unaufhörlich mit Zigaretten hin und her und spricht bald zu diesem, bald zu jenem, heiter und freundlich und mit ein wenig Herablassung. Mädchen sind keine da. Obwohl die Jungen am Konservatorium natürlich auch Freundinnen haben, werden selbst die Kolleginnen zu solchen Festen nicht eingeladen. Es findet hier eine gewisse Annäherung an studentische Bräuche statt, etwas von Biertischtradition und männlichem Selbstbewusstsein ist trotz allen Bemühungen, »modern« zu erscheinen, zurückgeblieben und dringt an Abenden wie dem heutigen sogar in bedrohlichem Masse durch. Eine Ausnahme macht man natürlich mit Ines. Ines wird immer gebeten zu kommen. Obwohl sie viel strenger und zurückhaltender ist als alle anderen Mädchen, verschmäht sie es nicht, manchmal mitzumachen, und als einzige Frau unter zehn oder fünfzehn Jungen nimmt sie sich noch wundervoller aus als gewöhnlich.

Ferdinand fragt auch heute nach ihr und wiederholt mit böser Beharrlichkeit, man müsse ihr telephonieren. Die anderen sehen erwartungsvoll auf Gert.

»Es ist doch schon elf Uhr, ihr alter Herr wird sie nicht fortlassen, und sie wird finden, wir seien unverschämt«, sagt er unentschlossen und hilflos.

»Lass Bernhard telephonieren.«

»Als ob das besser wäre.«

»Natürlich ist es besser, auf Berchen wird sie nicht böse.«

»Nun gut. Berchen!«

Bernhard hört nicht. Man hat ihn gezwungen, ein halbes Glas Bier zu trinken, es schmeckte säuerlich und sah abstossend aus, aber Gert und Ferdinand hielten ihn fest, und da musste er es tun. Jetzt liegt er schläfrig auf Gerts Bett und denkt gerade daran, dass mindestens vier oder sechs Zeichnungen, welche Gert von ihm gemacht hat, an den Wänden hängen. Wahrscheinlich haben alle sie bemerkt und machen ihre Witze darüber. Bernhard kann nicht verstehen, warum er heute so erbittert ist, er schämt sich, denn die Jungen sind alle sehr nett zu ihm, er aber möchte, dass sie gehen, möglichst rasch, und dass er allein zurückbleibt und auf Gerts Bett schlafen kann. Statt dessen kommen sie lachend von allen Seiten, er sieht sich plötzlich umstellt und ruft ganz laut: »Was wollt ihr denn, was wollt ihr denn bloss?« Aber die Jungen lachen noch mehr und heben ihn auf, mindestens zehn Arme auf einmal, und tragen ihn durch das ganze Zimmer bis zum Telephontisch. Dort sitzt Gert in einem breiten Ledersessel, er nimmt Berchen auf die Knie und drückt ihm den Hörer in die Hand.

»Hallo«, sagt Berchen noch ganz verstört, »kann ich Fräulein Ines sprechen?«

Jemand antwortet: »Wer ist denn am Apparat?«

»Bernhard«, sagt Berchen und vergisst, dass er noch einen zweiten Namen hat. Dann kommt Ines wirklich und fragt, ob er eigentlich ganz von Sinnen sei.

»Nein«, sagt er, »aber du sollst herkommen. Alle wollen es. Gert und Ferdinand und ...«

»Und was hast du denn dabei zu tun, Berchen?« Die Stimme klingt jetzt ein wenig freundlicher.

»Ich weiss nicht«, stottert Bernhard, »ich – wir feiern doch Abschied!«

»Ach so, und deshalb seid ihr wohl alle betrunken? Du auch, Berchen?«

»So sprich doch, Mensch!« Die anderen nehmen ihm den Hörer ab und rufen hinein, alle durcheinander, und merken gar nicht, dass Ines längst nicht mehr am Apparat ist. Sie kann es nicht leiden, wenn die Leute sie auf solche Weise überfallen.

Aber Ferdinand ist jetzt nicht mehr zu halten, er läuft im Zimmer auf und ab, mit seinem schrecklich blassen Gesicht, und hat völlig verzweifelte Augen. »Sie hätte mir doch auf Wiedersehen sagen müssen«, sagt er und bleibt vor seinen Freunden stehen. »Findet ihr nicht, sie hätte das tun müssen!« Und er läuft wieder auf und ab, das Gesicht anklagend gegen die Decke gewendet.

Beinahe hätten sie überhört, dass draussen die Hausglocke geläutet hat, dann stürzt aber Ludwig hinunter, und bevor sie sich besonnen haben, steht Ines mitten im Zimmer, gerade vor Ferdinand, der sie verständnislos anstarrt. »Guten Abend, meine Herren«, sagt sie. »Guten Abend, Ferdinand. Was fehlt Ihnen denn, Sie sind also wirklich betrunken!«

Ferdinand lächelt plötzlich. Sein starres Gesicht löst sich ganz auf in diesem Lächeln, es ist, als hätte ihn jemand geweckt oder als sei er eben aus schmerzlicher Dunkelheit herausgeführt worden. Er steht ziemlich lange da, ohne sich zu bewegen, und sieht Ines an. Die anderen, ein wenig entfernt, beobachten ihn wie einen Kranken ...