Peter Hille: Kleine Prosa

 

 

Peter Hille

Kleine Prosa

 

 

 

Peter Hille: Kleine Prosa

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Peter Hille, Fotografie, ca. 1903

 

ISBN 978-3-7437-0434-3

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-877-8 (Broschiert)

ISBN 978-3-86199-881-5 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

Kinderliebe

So ein Kirchhof mit seinen Anpflanzungen und spielartig aus der Fläche herausgeschaufelten Gräbern hat für die Kinder etwas Anheimelndes.

Nun ist gar noch ein Brunnen da, aus dem der Gärtner des Todes an einer Welle das Wasser aufwindet, mit dem er Blumen und Sträucher erfrischt.

Da sitzen die Kinder gern und schneiden mit großem Ernst sich im Wasser längsame Fratzen.

Paul und Mariechen!

Oft hocken sie hier schon bei blassem, eben vom Schüttelfrost des Winters genesenem Sonnenschein.

Klein Mariechens Vater ist Arzt und hält den Drang des Kindes ins Freie für ein Naturgesetz, das ihm nicht verkümmert werden darf, für einen Instinktschrei, der gehört werden muß von einsichtiger Aufsicht.

Und so wuchsen sie nebeneinander auf, von Tag zu Tag, bei ungebärdiger Witterung im lau wie ein Bad geheizten Kinderzimmer, sonst hier draußen, immer aber unter den hütenden, Maschen und Schützlinge unter einen Blick nehmenden Augen einer stillstrickenden, gütesinnenden Tante.

Regte sich auch bisweilen leise Ungeduld bei ihnen, oder gelüstete es ihre kleine schelmische Schlauheit nach einem leider alsbald ertappten Triumphe: im Grunde fühlten sich beide unter dieser Obhut recht sicher und angenehm: es war das so eine Art göttlicher Vorsehung ins Irdische übersetzt, eine Schutzengelschaft mit einer Haube auf.

Und bisweilen nahm dieser Schutzengel so ein rosiges, frischgetüpfeltes, weißkerniges Wädlein und zog einen warmen, strähnig gefurchten Beinling darüber mit kühlem klapperndem Stricknadelgerüst.

Das machte dem kleinen Fuß Vergnügen, die große Zehe krümmte sich nach oben und unten vor Behagen.

Dieser muntere Fuß und dieses frische Bein gehörte vorzugsweise Mariechen. Jedoch auch Paulchen bekam seine Strümpfe; Tantchen war ja so gut und Pauls Mama tot, und die gekauften hielten so schlecht und waren auch gar nicht so warm.

Mariechen aber, als Kind des Hauses, hatte begreiflicherweise den Vorzug. Pauls Beinchen waren aber mehr gelblich bleich und seine Zehen so ernst, so ruhig und gelassen wie der Kleine selbst mit seinem kurz geschorenen großen, priesterlich ernsten Kopfe und den großen, schweren, fast schwarzen, braunen Augen.

Sie sprachen wenig, wenn sie zusammen waren.

Nur der Kleinen, die oft aufsprang und emsig hin und her eilte, während er bedacht handelte und wandelte und seinen Sand ausgoß, langsam und planhaft, als sei es ein kostbarer Samen – nur ihr ging das Mündchen.

Aber sie sprach gewöhnlich halblaut, mehr zu sich selbst.

Und doch genossen sie alles, genossen ihren wachsenden und abnehmenden Schatten, dem sie den Kopf zu zertreten sich bestrebten, als handle es sich um jene alte Schlange; genossen den großen, braunen Hund, der wohl bei ihnen vorsprach, sich zausen, streicheln, schmeicheln, ja sogar reiten ließ.

Das heißt: er duldete die Versuche; hinauf auf ihn kam keines.

Und wer hinaufkam, konnte sich nicht behaupten. Und dabei stand das gutmütige Tier ganz ruhig und lüftete seine rote Zunge.

Beide waren fünf Jahre.

Das ist das schöne Alter: die Sinne haben bereits ihre volle, eifrige Regsamkeit, aber noch immer behauptet die Kindheit ihr eigenes Reich, worin der Himmel noch so ganz voller Onkel hängt; jenes Reich, das gewöhnlich mit dem Beginn der Schule, der langsam wachsenden Pflicht und Arbeit abbricht. Aber auch ohne Schule würde diese erste Kindheit gegen das sechste Jahr aufhören, denn immer lebhafter öffnen sich die Sinne, immer mehr Welt braust hinein, und das kleine Wesen, das so gern »groß« sein möchte, drängt es selbst, diesem einzigen Zauber, diesem Dornröschentum des Lebens ein unersetzliches Ende zu bereiten.

Wie die Blume das Lächeln der Pflanze, so ist die Kindheit das Lächeln des Menschenlebens.

Aber schon die Blüte streckt und dehnt sich nach allen Richtungen und möchte lieber ganz dem Kelch entfliehen. Nur die Knospe wohnt noch traut beisammen.

Die Lebenszeit des Paradieses auf Erden ist kurz, jene glücklichen Zeiten, da alles Geschöpf: Sonne und Wauwau, Mond und Bonbon noch so köstlich eins ist und zusammen hockt in der Geschwisterschaft des All, voll drolliger Anmut, träumerisch traut.

Nichts taten sie lieber, die beiden, als nach Beendigung ihres Tagewerks, ihrer erst so gelassen und eifrig geformten Staubbauten, die vollendet dem Verfall überlassen wurden, nichts taten sie lieber, als sich an den Brunnen zu setzen. Dann legten sie wie ein paar zufriedene Götzenbilder die molligen Hände auf die Knie und führten mit ihren schwimmenden Ebenbildern da in der Tiefe feierlich stumme Mienengespräche.

Ließ Paul mit seinem großen, ernst ausgewölbten Priesterkopf einmal auf sich warten, dann ward Mariechen unruhig und sogar eigensinnig und vergaß in der Ungebärdigkeit der ihr sonst eigenen Niedlichkeit.

Der Priesterkopf seinerseits aber blieb zuerst ganz ruhig bei einem Wegbleiben der Gespielin, nur seine Augen nahmen etwas Leeres und Fragendes an.

Nach und nach aber wurde sein Gesicht geradezu verzweifelt. Endlich fiel er auf die Erde und dick stürzten die Tränen.

Erst wußte man gar nicht, was ihm fehlte, bis er auszurufen begann: »Mariechen! Wo ist Mariechen? Ich will zu Mariechen!« Damit hörte er dann gar nicht mehr auf.

Jeden Abend aber betete er:

 

»Ich bin noch klein,

Mein Herz ist rein,

Soll niemand drin wohnen

Als Jesus allein –

Und Mariechen«

 

setzte er so recht innerlich seufzend hinzu.

Paul hatte Scharlach gehabt.

Seit einigen Tagen durfte er wieder aufsitzen, aber noch nicht heraus.

Nun wars schon so lange her, seit er Mariechen nicht mehr gesehen, und immer mehr wuchs diese Sehnsucht und jeden Tag diese stundenlange hingeworfene Trauer und jeden Tag trostloser, länger und verzweifelter.

Man hätte ja nun gern seine Leidenschaft erfüllt, nun, da die Gefahr der Ansteckung für die Kleine vorüber – wäre diese nur nicht schon fortgewesen!

»Aber Paul, Mariechen ist ja gar nicht da, sie ist ganz weit weg von hier, ihr Papa und ihre Mama sind gestern weggegangen.«

»Mariechen, ich will Mariechen!«

Ja, so war es: dem Arzt hatte sich plötzlich Gelegenheit geboten zum Erwerb einer Heilanstalt. Man packte schleunig ein, und Mariechen hatte mit ihrer kleinweiblichen Lebhaftigkeit vor dieser Veränderung ganz des Abschiedes vergessen und an den eben erst vom Scharlach genesenen Spielgenossen nicht mehr gedacht, da ihr ein paarmal gesagt war, sie dürfe jetzt nicht hin.

Allmählich ward Paul stiller, aber dafür auch noch stummer und brütender als zuvor.

Er mußte ja mit seinem Schmerz allein fertig werden, dem unfaßbaren, für den keine Linderung wuchs.

Für solchen Schmerz hat der Erwachsene ja gar kein Verständnis. »Albernheit, Faxen!« Und dabei hat man gar keine Ahnung, wie tief, märchenhaft und alles ergreifend so ein Kindergefühl geht.

Rachel weint und will sich nicht trösten lassen, denn ihre Kinder sind nicht mehr.

So bohrt auch der Kinderschmerz weiter und weiter, wenn in so einem Herzchen schon die Leidenschaft zuckt, wenn so ein unselig-unverstandenes kleines Wesen in sich einen Roman lebt zu einer Zeit, wo noch niemand das vermutet. Und nun saß der Knabe allein am Brunnen.

Neue Gespielen wollte er nicht, er schüttelte mit dem Kopfe, und brachte man sie, verhielt er sich ablehnend, so daß die Verschmähten, Gelangweilten aus seiner Gesellschaft weinend fortbegehrten.

So einen stillen Verzicht, so einen selbstverständlichen Entsagungswillen äußerte Paul, daß man nichts mehr mit ihm anzufangen wußte und ihn gewähren lassen mußte. Man sprach ihm von der Schule und versprach sich davon Wandel. Sein Gleichmut blieb, der Verzweiflung brütender Gleichmut.

Da, wie er wieder einmal trauervoll Fratzen schnitt in dem nun vereinsamten Spiegel des Trauerteiches, kam seiner regellosen verschlossenen Sehnsucht ein Gedanke, den ihm der bereits aufblitzende Schulgeist eingab, der erwägsam prüfende. Nämlich: da war doch früher noch ein anderes Mariechen?!

Eins ist nur gegangen, das andere muß noch dasein. Und da will ich hin!

Seine Sehnsucht wallt auf, sein Herzchen pocht so freudig, so schnell wie ein Weihnachtsherzchen unter kinderduftigem Christbaum, sein Seelchen steigt und steigt – und er lehnt – die Tante Schutzengel war ja auch fort! – sich über den niederen Holzrand des Brunnens.

Erschrocken fuhr das Bild darin auseinander. Erst langsam beruhigten sich die Züge des Wassers.

Einige Berge weiter aber guckte gerade jetzt Mariechen in den Spiegel und lachte sich an: sie hat einen neuen Hut bekommen, und das Band darauf war so wunderschön blau ...

Im Dorfe aber hieß es: »Winkelhagen Paul ist ins Wasser gefallen.«

 

Gewitter auf dem Meere

Es ist so ein eigener Schein, so ein grün feiner innerer Ton wie eine Wiese, von der niemand weiß, wo sie herkommt und mit ihrem Wachstum leuchtet dann mitten auf den Wellen, wo sie sich wie ein Hügel erheben.

Höher und höher sich dehnen.

Und da am Strand zu meinen Füßen wie Ackerkrumen ist das, wie Ackerkrumen mit ihren schwarzen, fruchtschwellenden Kämmen, die sich vornüber zur Seite legen.

Wie üppige Wünsche, ungeheuer und lüstern wölbt sich das blaue Gewölk zu wilden Hallen dröhnend zuckender Leidenschaften. Bleiches Grauen in dünnen Streifen zieht darüber, ein ohnmächtiges Gewissen, das Furcht hat.

 

Wassermann

Ich mag schon an tausend Jahre hier unten sein, nach Menschenkinder Maß seit jenem glücklichen Sturme damals. Das nenne ich noch Leben? Lust und Schönheit ist so kühl und frisch. Wie eigen scheint das Korallenzweiggeäder der gleitenden Leiber, flutet das bunte Haar, wie Orangeneis munden die duftenden Küsse. Sterben? Altern? Hat jemand schon eine greise Welle gesehen? Geist, Unterhaltung?

Hört euch nur mal den Schwertfisch an! Wenn euch da nicht das Herz im Leibe lacht vor seiner göttlichen Bosheit, doch ich vergaß: Das Echte erschreckt euch, ihr künstlichen Söhne der Natur! Eure Entwicklung ist Verwicklung.

Und der Haifisch?

Seegeruch sucht ihr? Da bedient euch der Hering, daß euch die Augen übergehen und ihr niesen müßt trotz Björnson und Lie.

 

Abendrot

Wie resch ist es, so raschelnd durch die seidene Brandung domschlanker Buchenwaldung zu schreiten! Jungen Burschen gleich, ihre Hüte schwingend, steigen die jungen Buchen mit hinan. Zart und voll, wölbt der rötlichbraune Hang sich hin.

Wie sich die Lunge in vollen Zügen erquickt an der köstlichen Luft! So, nun wie ein Fuß des Eroberers auf Feindesnacken, zieht mein rechtes Knie den letzten Schritt hinauf.

Da liegt vor mir Pyrmont, der freundlich-zierliche Badeort. Links das lange, einer kahlen Höhe zustrebende Holzhausen mit seinen warmroten Dächern. Rechts Desdorf mit seiner fast tausendjährigen, schwerverwitterten Kirche, das wie ein spielender Knabe den vorzüglich gewachsenen, an den angelegten Nacken einer Römerin erinnernde, krausgrünen Waldkegeln zuläuft, die hier wie gewandte Gesellschaftsroben gruppenschön zusammenstehn.

Im Hintergrunde lippisch-hannöversche Waldnacken. Die Kuppeln einzeln, bedeutsam selbstruhig. Die hannoverschen flutend, vielverschlungen: Waldmeervorläufer. Die Sonne sank ... Am Himmel lodert düstere Andacht. Immer heftiger, ungestümer blutet die Glut.

Feindselig drohen befehdende Röte, leidenschaftliche Verklärung, Fleischeslust der Himmel. Hingeträumte Göttergestalten liegen die Berge da. Die nächste aber hat vor sich in der Tiefe einen kleinen Spiegel: der ist rot von der Freude an all der himmlischen Schönheit.

 

Herbstseele

So eine herbstfrische Waldluft. Und so ein Mutwill stöbert unter dem bunten Laub wie Knabenstiefel sich freuen, die purpurne Brandung und heiter zu empören.

So ein jubelnder Mutwill unter all diesen fallenden Kronen, diesen wildwachsenden Blutstropfen sterbenden Jahres!

Und jeder Blutstropfen schön gestaltetes Schweben. Und so frank und frei in all den niedlich Wichtigen da. Was war und verging, ein goldener Schatz in wölbendem Blau und frank und frei und gütig nah ist es, freundlich und hat nicht teil, und himmelsstolz oder höheneigen schaut es weich hinaus und immer tiefer blau.

 

Aus »Seelentage«

Wie ein Testament das Laub: Gold und voll Liebe, Seele im Vermächtnis. Und dieser klare Tag in seiner tiefen Reinheit allsagendem Scheiden, grüßend ruht sein heiterer Blick auf allem, allem.

Ein welker, wehmütiger Freier, wie er die Tragödie tief macht und versöhnend, mit knorrig weit ausgedehnten Stammtrieben im Schloßgarten des Belvedere. In müdem Rot wie Georginen stehen in den scheidend leisen Vorgärten Kinder.

Ihr Haar eins mit welken Sonnenblumenblättern. Auch die Spiele haben nun etwas Welkes, wie die wehmütige Reife der Lese.

 

Höhenstrolch

Ein großer Lump schreitet durch die Himmel. Seine gewaltigen Knie verlieren sich im strahlenden Glanz. Aus allen Taschen muß es fallen, aus allen zerrissen hängenden Taschen.

Und der lallende Schritt in schreienden Schuhen, stark und fröhlich singt er weiter.

Und alle Gassenjungen der weiten Welt – in grinsend kichernder Freude –, lautlos schlau, sammeln die goldene Ernte hinter diesem verwahrlosten Schreiten. Was für ein Lump: der Weltbeglücker.

 

Vom kleinen Dante

Er hieß Dante und das Hemdchen hing ihm aus der Hose. Das war in Mailand.