Theodor Storm: Zur Chronik von Grieshuus

 

 

Theodor Storm

Zur Chronik von Grieshuus

 

 

 

Theodor Storm: Zur Chronik von Grieshuus

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

ISBN 978-3-7437-0066-6

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-788-7 (Broschiert)

ISBN 978-3-86199-789-4 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck in: Westermann's Monatshefte (Braunschweig), Oktober/November 1884.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Peter Goldammer, 4. Auflage, Berlin und Weimar: Aufbau, 1978.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Zur Chronik von Grieshuus

Zu meinen Jugendfreuden in der Heimat, wo uns die alte Gelehrtenschule nicht zu sehr den Geist verschnürte, gehörten die Wanderungen aus der Stadt ins Freie. Zwar ging es nicht, wie anderswo, durch Feld und Wald, auch selten nur durch Feld und Busch; denn nach Süden hin dehnte sich die Marsch mit ihrer weiten, von Wassergräben durchschnittenen Weidefläche, während nordwärts, zu Osten der nordfriesischen Küste, die sandige Geest aufsteigt, ohne Wälder oder Bäume, nur selten mit Schwarz- oder Weißdornbüschen auf den niedrigen Wällen, welche die einzelnen Felder voneinander scheiden. Gleichwohl fand sich für die Knabenseele Augenweide und anregendes Geheimnis hier genug: über den Sand am Wegrande huschten die Schlupfwespen, flogen die schönen grünen oder kupferfarbigen Cicindelen; an den gelbschimmernden Abstürzen der Sandgruben, die man hie und da passierte, zeichneten sich die dunkeln Eingänge zu den unabreichbaren Nestern der Uferschwalbe; kletterte man hinauf und stampfte oben auf der dürren Bodendecke, so huschten, einer nach dem andern, die schlanken Vögel aus ihren Höhlen und wimmelten oft scharenweise in der Luft, während über ihnen aus nimmermüder Kehle der unablässige Gesang der Lerchen tönte.

Wohin es aber an freien Nachmittagen mich am stärksten lockte, was auch noch jetzt mit seinem weltfremden Zauber der rauschendste Laubwald mir nicht ersetzen kann, das war die Heide, welche derzeit nach dieser Richtung hin noch unabsehbare Strecken mit ihrem bräunlichen Steppenkraut bedeckte.[502] Besonders eine Stelle, welche von der Stadt aus nur nach mehrstündigem Wandern zu erreichen war, die ich aber gleichwohl am liebsten und fast immer nur allein besucht habe; und deutlich steht es vor mir, wie ich sie zuerst entdeckte.

Ich saß schon eine Zeitlang auf den Bänken unserer Prima, als ein stürmischer Oktobernachmittag mit seiner nordischen Sagenstimmung mich herausgelockt hatte; kein Tier ließ sich sehen, der feine Sand flog in Wolken vor mir auf; nur einmal huschte ein grauer Vogel über den Weg und verschwand in einer Ritze des seitwärts laufenden Steinwalles. Nach ein paar Stunden erreichte ich ein kleines Dorf; es lag zwischen mageren abgeheimsten Feldern, der aus rohen Felsquadern aufgemauerte Turm der tiefliegenden Kirche überragte kaum die niedrigen, nur selten durch eine Rüster oder Pappel halb verdeckten Strohdächer. Jenseit derselben begegnete mir ein alter Mann mit einer Furke auf der Schulter. »Guten Tag!« rief ich durch den Wind ihm zu. »Guten Tag auch!« wiederholte der Alte wie im Widerhall; ich sah es nicht, aber ich glaubte es zu fühlen, wie er stehenblieb und mir verwundert nachsah.

Ich schritt rüstig durch den Wind hindurch, bald auf schmalem Feldweg, bald quer über Feld und Wälle; ein paarmal flog die Mütze mir vom Kopf, aber der Boden stieg jetzt merklich aufwärts, und so war sie immer wieder bald zu haschen. Endlich stand ich vor der eingestürzten Wand einer ungewöhnlich großen, aber, wie es schien, seit lange außer Brauch gesetzten Sandgrube, welche mir jeden weiteren Ausblick wehrte. Als ich mit Hülfe einiger Ginsterbüsche emporgeklettert war, befand ich mich auf einer ebnen Fläche; doch kaum ein halbes Tausend Schritte weiter ging es, wenn auch ganz allmählich, wieder abwärts; und da hatte ich sie, die Heide.

Die Zeit ihrer Blüte mit dem bläulichroten Seidenschimmer war vergangen; düster, in ihrer ganzen feierlichen Einsamkeit, lag sie vor mir: ein breites, muldenförmiges Tal, anscheinend[503] ohne Unterbrechung von der dunkeln Pflanzendecke überzogen, das sich wohl eine halbe Wegstunde weit zu meinen Füßen dehnte und sich dann durch die zusammenlaufenden, fast ganz mit niedrigem Eichenbusch bedeckten Höhenseiten abschloß.

Ich war oben bis an den Rand der Fläche vorgetreten: ein schmaler, scheinbar wenig benutzter Fußsteig lief in das Heidekraut hinab und mochte drüben an dem jetzt kaum erkennbaren Ausgang der Talmulde wieder zur Ebene emporsteigen. Als meine Blicke länger an dem fernen Punkt gehaftet hatten, meinte ich den Rest eines turmartigen Mauerwerkes zu gewahren; aber die Dämmerung brach jetzt rasch herein, im Westen lagerte unter schwarzvioletten Wolken ein Streifen düsteren Abendrots, und die Nacht begann das Heidetal zu füllen; auf den Höhen hörte ich wohl das Sausen des Windes in den Krüppeleichen; aber meine Augen sahen bald auch hier nur ein unterschiedloses graues Wogen. Nur meine Phantasie hatte sich dort den Turm erbaut. »Nicht jetzt, einst«, sagte ich mir, »hatte ein derartiges Gemäuer dort gestanden«; denn ich glaubte plötzlich zu wissen, wohin der Zufall mich geführt hatte. Nicht, daß ich jemals selber hier gewesen wäre, aber mit aufhorchenden Knabenohren hatte ich, und mehr als einmal, von diesem Orte reden hören.

Ich wandte mich zurück, denn es trieb mich, trotz der Dunkelheit, noch nähere Zeichen aufzuspüren; auch hatten am Westhimmel die Wolken sich verzogen, und es leuchtete noch ein letzter Abendschein über den mit kurzem Gras und Thymian bewachsenen Boden. Und bald, hin und wider gehend, erkannte ich breite Streifen auf demselben, die in hellerer Färbung nicht so ganz das karge Licht verschlangen, wo wie aus Schutt nur dürre Halme aufgeschossen waren. Augenscheinlich hatte ich drei Seiten eines geräumigen Vierecks vor mir; zwei derselben liefen bis an den Rand der Grube, die fehlende, welche das Ganze abgeschlossen hatte und von der an der Südostecke nur noch ein Stück erkennbar war, mußte darüber hinaus gelogen haben und später[504] fortgegraben sein. Als ich mich über den Rand der Grube beugte, bemerkte ich drunten ein paar gewaltige Granitquadern, wie sie zu Fundamenten breiter Mauern dienen, die zwischen Backsteintrümmern aus dem Sande ragten.

Gegenüber, nach der Talmulde zu, schien eine kleinere, viereckige Zeichnung zwischen schmäleren Streifen anzudeuten, daß einst ein Torhaus hier gewesen sei.

»Grieshuus!« rief ich fast laut. »Hier hat Grieshuus gestanden!«

Noch einmal war ich gegen den Rand der Fläche vorgetreten und blickte in die jetzt so große Einsamkeit hinaus. Es reizte mich, da vor meinen Füßen den nur noch für die nächsten Schritte erkennbaren Heidestieg hinabzugehen; aber, ein Wort war plötzlich in mir laut geworden: »Die schlimmen Tage!« Wenn eben jetzt die schlimmen Tage wären! – Unwillkürlich hielt es mich zurück: ein Aberglaube schwebte über dieser Heide, der letzte Schatten eines düsteren Menschenschicksals, womit ein altes Geschlecht von der Erde verschwunden war. Es sollte eine Zeit im Jahre gehen oder einst gegeben haben, wo dem, welcher nach Sonnenuntergang dies Tal durchschritt, etwas Furchtbares widerfuhr, das die Kraft seines Lebens abstumpfte, wenn nicht gar völlig austat.

Auch war nicht alles Sage; man wußte noch von denen, welche als die Letzten hier gehaust hatten, wo jetzt der Sturm über die Heide fegte. Zum Teil lag es in alten Archiven, und es kam jeweilig bei dem Aufsuchen eines vergrabenen Dokumentes mit diesem oder jenem Brocken an das Tageslicht; anderes hatten die Augen der damals Lebenden gesehen, oder ein Wort, einen Ton, den man zu deuten wußte, hatte hier oder dort die Luft ihnen zugetragen; und an Winterabenden, hinter dem Bierkrug wie am Spinnrad, nicht nur im Dorfe, auch drüben in der Stadt, saß man beisammen und erzählte und fügte scheinbar sich Fernliegendes aneinander, von den Urahnen herab bis fast an den heutigen Tag; denn außer auf einem gar bald fürstlich und dann königlich gewordenen[505] Gute hatte kein anderes Adelsgeschlecht in unserer Nachbarschaft gesessen.

 

An jenem Tage war ich spät erst heimgekommen; freilich zum Schlafen früh genug, denn immer wieder stiegen die alten Mauern vor mir aus dem Boden: ich stand in dem umschlossenen Hofe und sah durch den gewölbten Torweg auf das Heidetal hinaus: auf beiden Höhenseiten zogen sich jetzt dichte Eichenwälder bis drüben an den Aufstieg, wo ihre Kronen sich vereinten; der Mond stand am Himmel und beleuchtete dort ein stumpfes Turmgemäuer; mir war, als sähe ich eine hohe Gestalt in die Heide hinabschreiten und dort verschwinden. Während von den Höhen das Rauschen der mächtigen Laubmassen, die der Sturm bewegte, an mein Ohr drang, hatte ich mich umgewandt: ich sah auf die langgestreckte Front des Hauses, dessen graue Mauern von einer Doppelreihe niedriger Fenster durchbrochen waren; in der Mitte unter einem spitzen Treppengiebel lag das hohe Haustor, von welchem eine Steintreppe mit breiten Beischlägen auf den weiten Hof hinablief. – Schon wollte ich hinauf und in das Innere des Hauses treten; aber das Brausen des Sturmes wurde stärker, und ich sah plötzlich nichts als nur den Sand in Wirbeln über einem leeren Absturz treiben.

Die Bilder, welche in dieser Nacht in mir lebendig wurden, waren nicht nur Phantasiegemälde; in einem älteren Werke über die einstigen Herrensitze unseres Landes, das vor Jahren mir zur Hand gekommen war, hatte ich den Grundriß nebst einer kleinen äußeren Ansicht von Grieshuus gefunden und mich schon derzeit ganz darin vertieft. Von nun an aber ließ es mir keine Ruhe mehr; wo ich irgend in Schrift- oder Druckwerk oder im Gedächtnis eines Menschen derart Verborgenes witterte, mußte es hervorgegraben wer den; vom Bürgermeister bis zu dem würdig redenden Barbier und Amtschirurgus, dessen Becken, wie der Staupbesen unseres letzten Scharfrichters, durch Jahrhunderte auf den jetzigen Inhaber herabgeerbt waren, mußten mir alle stillhalten. Auch trugen[506] mein Fleiß und meine Unverschämtheit mir unerwartet reiche Frucht; mein Vater aber, wenn er mich die eingeheimsten Kunden in das eigens dazu hergerichtete Heft eintragen sah, nannte mich scherzend den »Chronisten von Grieshuus«.

Und als solcher, nachdem seit damals wiederum ein halbes Jahrhundert abgelaufen ist, will ich es jetzt erzählen.

 

Erstes Buch

Um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts und noch während eines Dezenniums später saß zu Grieshuus ob der Heidemulde, »braven de Heidkul«, wie es in gleichzeitigen Akten heißt, ein Junker, dessen Familienname seit lange aus den Geschlechtsregistern unseres Adels verschwunden ist; auch weiß man von ihm selber nicht viel mehr, als daß seine Wirtschaft und sein Wappen die beiden Dinge gewesen sind, von denen er, wenn überhaupt, bei gutem Trunk am breitesten geredet hat; wie er dafür gerühmt worden, daß er seinen Acker nicht verunkrauten lasse, so hat er auch mit lebender und fast mit toter Hand gewehret, daß sein adeliges Blut sich nicht an dem gemeinen roten Blut verfärbe. Gereiset ist er stets im Sattel; doch wenn die Glocken zum Gottesdienst geläutet haben, ist er in einen offenen Kastenwagen mit hohen roten Rädern eingestiegen; denn als Patron stand ihm allein das Recht zu, auf dem Kirchhof bis vor den Eingang in die Kirche anzufahren, das durfte nicht versäumt werden. An der Ostseite der Mauer, wo die Gruftkapelle war, befinden sich noch jetzt zwei ungefüge Ringe, an denen der Fuhrknecht dann die Pferde anband. Aber das alte Haus hat derzeit, die seinen ungerechnet, nur auf vier Augen noch gestanden.

Ein Paar von Zwillingsbrüdern ist es gewesen, im Anfang fast sich gleich an Antlitz und schlanker Wohlgestalt: ein schmales Haupt mit hart an der vorspringenden Nase stehenden Augen und schwarzbraunem Haupthaar ist allen dieses Geschlechtes eigen gewesen; bei dem ältesten der Brüder[507] aber, dem Junker Hinrich, hat an den Schläfen sich das Haar gleich einem dunklen Gefieder aufgesträubt, so daß man ihn mit seinen grauen, oft jähe Funken werfenden Augen einem Adler soll verglichen haben. Bei dem Junker Detlev dagegen ist das anfangs wellige Haar allmählich schlichter worden, bis es in Strähnen auf das Wams herabfiel, und wenn, was drum nicht seltener geschehen, Zorn oder Grimm ihn überkommen, so sind seine Augen wie stumpf geworden, und hat niemand sehen können, was dahinter vorgegangen. Es ist nicht kundgeworden, daß er den Hörigen oder dem Gesinde etwas Übles angetan, aber dennoch sind sie gern ihm aus dem Weg gegangen, als ob solches gleichwohl von ihm zu fürchten sei.

Zwischen den Brüdern soll kaum je ein Zank, noch weniger aber eine Kameradschaft gewesen sein, ersteres wohl nur, weil jeder seinen eigenen Weg gegangen; denn während der Jüngere Liebling des Informators gewesen und auch noch nach den Lehrstunden in ihrer Kammer über den Büchern gesessen ist, hat der Ältere alsbald den Bauern und Knechten draußen bei der Arbeit zugesehen, auch wohl selber Sichel oder Pflug mit angefaßt; am liebsten ist er aus dem Torweg und dann geradezu den Fußsteig durch die Heidemulde hinabgerannt und hat drüben oberhalb des Aufstiegs, wo mit mächtigen Kronen die Wälder auf den Höhenseiten zueinandertraten, bei dem alten Revierjäger angeklopft, der dort mit einem Knechte in einem turmartigen Aufbau hauste. Unterweilen, wenn er trotz dessen Warnung an Spätherbstnachmittagen, die Mütze in der Hand, mit heißen Wangen durch das Hoftor stürzte, hat wohl der Alte ihn gescholten: »Was ist? Du hast den Wolf gesehen!« und »Komm mir so allein nicht wieder, Junker Hinrich!« Dann hat der Bube nur gelacht: »Brumme nicht, Owe Heikens! Komm und laß uns nun die Grube richten!« Und dann ist der Alte doch nur zu gern mit ihm gegangen.

Der Vater mochte, soweit er darum wußte, dies alles so geschehen lassen; denn obwohl ihm das Gut zu freier Erbverfügung[508] stand, so war doch nach Haus- und Landesbrauch der Erstgeborene allzeit als künftiger Gutsherr angesehen worden, auch mag der Knabe selber solchen Sinns gewesen sein; die Bauern aber und die Hofesleute sind, je mehr die Brüder aufgewachsen, des nur immer froher worden. Zwar ist der Junker Hinrich, wie auch sonst die meisten seines Stammes, jach zur Tat gewesen; der Bibelspruch, das »Selig sind die Sanftmütigen«, den bei der Einsegnung der beiden Brüder der Geistliche ihm auf den Weg gab, hat dagegen nicht verschlagen wollen. Denn nicht lange danach war es, an einem Novembernachmittage die Dämmerung fiel schon herab, und noch immer suchte er nach seinem weißen Leibhund, den er seit Mittag schon vermißte. Grollend war er aus dem Torweg und bis zum Abstieg vorgeschritten. »Tiras! Tiras!« schrie er; dann ließ er durch die Finger einen gellen Pfiff erschallen; und alsbald, da er sich lauschend vorgebeugt, kam es wie Klagelaute drunten aus der Heide. Da lief er in das hohe Kraut hinab, dem Schalle folgend, der wieder und immer näher ihm entgegendrang, und schon erkannte er einen von den Knechten, der trug das große Tier auf seinen Armen. »Was soll das?« rief er. »Laß den Hund zu Boden!«

Das Tier aber streckte winselnd den Kopf nach seinem Herrn. »Es geht nicht«, sagte der Knecht; »unten am Moorloch hat er im Fuchseisen festgesessen.«

Der Junker stieß einen Fluch aus und wuchtete in der Faust den dicken Knotenstock, womit er es vorhin dem Hunde zugedacht hatte. »Wo ist Hans Christoph?« frug er. »Er sollt es fortnehmen; schon vor Mittag hatt ich's ihm geheißen.«

»Der Junge ist was vergeßlich, Herr; ich denk, er ist wohl schon zu Hof gegangen.«

Als der Junker nach der wunden Pfote faßte, schrie das Tier erbärmlich. »Vorwärts«, rief er dem Knechte zu; »wir wollen auch zu Hof!«

Der Junge Hans Christoph aber stand noch droben vor dem Torhaus und ein süßes zehnjähriges Dirnlein neben ihm. »Was willst du denn so spät noch?« frug er; »es wird ja balkendunkel,[509] eh du wieder heim im Dorf bist; und hörst du? Es kommt Unwetter aus Nordwest!«

»Ja«, sagte sie und nickte mit ihrem blonden Köpfchen, »ich fürcht mich auch; aber ich trag hier Schriften, die so spät erst fertig worden; mein Vater hat sie für euren alten Herrn geschrieben, und du könntest sie ihm wohl bringen; ich scheu mich so vor ihm.«

Aber Hans Christoph antwortete nicht; mit entsetzten Augen starrte er auf den kleinen Zug, der eben jetzt den Heidestieg hinaufkam; denn in erschreckender Deutlichkeit baumelte das vergessene Eisen an der Hand des voraufgehenden Knechtes; darüber erblickte er den weißen Hund, der gleich einem wunden Wild auf dessen Armen lag. Und schon waren sie oben, und der Junker stand mit grimmem, schier verzerrtem Antlitz vor dem Jungen.

»Herr! Ach, Herr!« Im Schrecken suchte der des Junkers Arm zu fassen; aber schon hatte der schwere Stock des Jungen Kopf getroffen, daß er lautlos auf den Boden fiel.

Ein Schrei des blonden Dirnleins hat die Stille unterbrochen: »Pfui, pfui, der böse Junker!« Einen Augenblick noch hat sie groß und angstvoll zu ihm aufgeschaut; dann, unter stürzenden Tränen die Schriften, die sie noch in Händen hatte, von sich werfend, ist sie den Seitenstieg hinabgerannt, der um die Gebäude nach dem Dorfe führte.

Der Junker Hinrich, der wie leblos dagestanden, ist plötzlich aufgefahren: »Bärbe! Bärbe!«, denn er pflegte mit dem Kinde sonst manch gütig Wort zu reden; dann aber, da sie ihn nicht hörte, hat er sich über den wimmernden Jungen auf den Boden hingeworfen, Haar und Wangen ihm gestreichelt und ihn letzlich mit dem Knechte nach seiner Kammer und auf sein eigen Bett getragen.

Die dicke Ausgeberin, die mit der Magd schon vor der Küchentür gestanden, ist emsig hinterhergetrabt: »Nun, Junker, da habt Ihr Sauberes angerichtet; da draußen nichts als Nacht und Unwetter, und der Chirurgus meilenweit da drüben in der Stadt!«[510]