Theodor Storm: Schweigen

 

 

Theodor Storm

Schweigen

 

 

 

Theodor Storm: Schweigen

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Iwan Iwanowitsch Schischkin, Im russischen Wald, 1896

 

ISBN 978-3-7437-0065-9

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-779-5 (Broschiert)

ISBN 978-3-8430-4967-2 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck in: Deutsche Rundschau (Berlin), Mai 1883.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Theodor Storm: Sämtliche Werke in vier Bänden. Herausgegeben von Peter Goldammer, 4. Auflage, Berlin und Weimar: Aufbau, 1978.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

Schweigen

Es war ein niedriges, mäßig großes Zimmer, durch viele Blattpflanzen verdüstert, beschränkt durch mancherlei altes, aber sorgsam erhaltenes Möbelwerk, dem man es ansah, daß es einst für höhere Gemächer angefertigt worden, als sie die Mietwohnung hier im dritten Stock zu bieten hatte. Auch die schon ältere Dame, welche, die Hand eines vor ihr stehenden jungen Mannes haltend, einem gleichfalls alten Herrn gegenübersaß, erschien fast zu stattlich für diese Räume.

Das zwischen den drei Personen herrschende Schweigen war einer längeren Beratung gefolgt, welche Mutter und Sohn soeben mit ihrem langjährigen Arzte gehalten hatten. Veranlassung zu dieser mochte der Sohn gewesen sein: denn obwohl von hohem, kräftigem Wuchse gleich der Mutter, zeigten die Linien des blassen Antlitzes eine der Jugend sonst nicht eigene Schärfe, und in den Augen war etwas von jenem verklärten Glanze, wie bei denen, welche körperlich und geistig zugleich gelitten haben.

»Du gehst, Rudolf?« sagte die Mutter, während der Zug eines rücksichtslosen Willens, der sonst ihren noch immer schönen Mund beherrschte, einer weichen Zärtlichkeit gewichen war.

Der Sohn neigte sich auf ihre Hand und küßte sie ehrerbietig. »Nur meine noch immer vorgeschriebene Stunde, Mutter.« Dann grüßte er freundlich nach dem alten Herrn hinüber und verließ das Zimmer.

Fast leidenschaftlich, als könne sie ihn allein nicht gehen lassen, waren die dunkeln Augen der Mutter ihm gefolgt;[436] schweigend starrte sie auf die wieder geschlossene Zimmertür, während ihr Ohr lauschte, bis die Schritte in dem Unterhause verhallt waren.

Der alte Arzt hatte seinen Blick, in dem die Gewohnheit ruhigen Beobachtens unverkennbar war, eine Weile auf ihr ruhen lassen; jetzt ließ er ihn durch die offene Tür eines anstoßenden Zimmers über die in Öl gemalten Bildnisse einiger stern- und bandgeschmückten Herren wandern, welche dort samt ihren geschwärzten Goldrahmen eine Unterkunft gefunden hatten. Aber ein Seufzer, der der Frauenbrust entstieg, als ob eine schwere Gedankenreihe dadurch abgeschlossen würde, wandte seinen Blick zurück. »Mein Sohn!« murmelte die Dame schmerzlich und streckte beide Arme nach der Tür, durch welche dieser fortgegangen war.

Der Arzt rückte seinen Stuhl neben ihren Sessel. »Beruhigen Sie sich, gnädige Frau«, sagte er beschwichtigend, »Sie haben ihn ja wieder.«

Sie blickte ihn rasch und durchdringend an: »Ist das Ihr Ernst, Doktor? – Habe ich ihn wirklich wieder? Wird sie Bestand haben, diese – Heilung?«

»Ich bin nicht Spezialist, sondern nur Ihr Hausarzt«, erwiderte der alte Herr; »aber nach dem Schreiben des dirigierenden Arztes – auch ist hier eine äußere Ursache unverkennbar: Ihr Rudolf hatte erst eben die Akademie verlassen; die Verantwortlichkeit des Amtes war bei seiner zarten Organisation – denn die hat er trotz seines kräftigen Baues – zu unvermittelt über ihn gekommen; ich entsinne mich ähnlicher Fälle aus meiner Praxis.«

Die Frau Forstjunkerin von Schlitz – auf dieser Titelstufe hatte ihr früh verstorbener Gemahl die Dame mit ihrem einzigen Kinde zurückgelassen – blickte eine Weile vor sich hin. »Ja, ja, Doktor«, sagte sie dann, und ihr Ton war nicht ohne Bitterkeit, »des Herrn Grafen Exzellenz, dem mein Sohn so glücklich ist zu dienen – je mehr ihm Gold und Ehren zufließen, desto unersättlicher verlangt er auch die letzte Kraft des Menschen, und seine Forstbeamten – Wege- und Brückenbauen[437] ist noch das mindeste, was sie außer ihrem Fach verstehen sollen. Aber – die ähnlichen Fälle, deren Sie erwähnten, wie wurde es damit?«

»Es wurde dann nichts weiter«, erwiderte der Arzt; »sie waren beide nur vorübergehend.«

»Und die Verhältnisse waren ähnlich?«

»Ganz ähnlich; nur daß dort nicht ein Amt, sondern in beiden Fällen ein verwickeltes Kaufgeschäft auf junge, ungeübte Schultern fiel. Eines freilich, was ich nicht gering anschlagen möchte, ja was wohl erst die Heilung sicherstellte, war dort anders.«

»Und was war dieses eine?« unterbrach die Dame, die ihm die Worte von den Lippen las.

»Es ist nicht eben unerreichbar«, sagte der alte Herr lächelnd; »von meinen dermaligen Patienten war der eine eben verheiratet, der andere heiratete gleich darauf.«

»Verheiratet!« – fast wie eine Enttäuschung klang dieser Ausruf – »Sie sagen das so leichthin, Herr Doktor; aber ich habe bei meinem Sohne kaum jemals eine Neigung noch entdecken können; – freilich einmal in den Ferien bei ihrem Liebhabertheater – Sie entsinnen sich wohl der schlanken, schwarzäugigen Baronesse? Sie hatte ihn einmal, da er in der Probe steckenblieb, so boshaft ausgelacht!«

Der Doktor streckte abwehrend beide Hände aus: »Nein, nein, Frau Forstjunker; solche Damen, erste Liebhaberinnen auf der Bühne, Amazonen zu Pferde, die sind hier nicht verwendbar. Ein deutsches Hausfrauchen, heiter und verständig; nur keine Heroine!«

Frau von Schlitz schwieg. Während der Doktor dieses Thema eingehender behandelte, stand die Gestalt eines blonden Mädchens vor ihrem inneren Auge: aus der geißblattumrankten Gartenpforte eines ländlichen Pfarrhauses war sie ihr entgegengetreten; so hoch fast wie sie selber, und doch als ob sie mit den vertrauenden Augen zu der älteren Frau emporblicke; dann wieder sah sie das Mädchen in der engen, aber sauber gehaltenen Kammer, wie sie mit ihren kleinen, festen[438] Händen neben dem eigenen Bette ein halb gelähmtes Brüderchen in die Kissen packte und nach fröhlichem Gutenachtkuß gleich wieder helfend zu der Mutter in die Küche eilte; und wiederum – vor einen Kinderwagen hatte das schlanke Mädchen sich gespannt; der Wagen war voll besetzt, und es ging durch den tiefen Sand eines Feldweges; mitunter entfuhr ein lachendes »Oha!« den frischen Lippen, und sie mußte stillehalten; die gelösten Haare aus dem geröteten Antlitz schüttelnd, kniete sie plaudernd zu der kleinen Fahrgesellschaft nieder; aber überall mit ihr waren die schönen, gläubigen Augen und ihre reine, heitere Stimme.

Der Doktor wollte sich zum Gehen rüsten; doch die Frau vom Hause, die eben aus ihrem Sinnen aufsah, legte die Hand auf seinen Arm. »Nur noch eine Frage, lieber Freund; aber antworten Sie mit Bedacht! – Würden Sie einem so Geheilten Ihre Tochter zur Ehe geben?«

Der Doktor stutzte einen Augenblick. »Der Fall, gnädige Frau«, sagte er dann, »müßte wenigstens möglich sein, um Ihnen hierauf antworten zu können; Sie wissen, daß ich keine Tochter habe.«

Die Dame richtete sich mit einer entschlossenen Bewegung in ihrer ganzen Gestalt vom Sessel auf. »N'importe!« rief sie, die geballte Hand gegen die Tischplatte stemmend. »Ich habe nur den Sohn und sonst nichts auf der Welt!«

Der Arzt blickte sie fragend an, aber nur einen Augenblick; jene Worte lagen jenseit der Grenze seiner Pflicht; er empfahl nur noch, die letzten Wochen des dem Sohne gewährten Urlaubs zu einer Herbstfrische auf dem Lande zu benutzen.

Frau von Schlitz nickte. »Ich dachte eben daran«, sagte sie leichthin. Kaum aber hatte hinter dem Fortgehenden sich die Tür geschlossen, als sie schon in dem anstoßenden Zimmer an ihrem Schreibtische saß, über dem das Bildnis ihres Vaters in der roten Kammerherrnuniform auf sie herabsah.

»Meine gute Margarete« ... diese Worte waren mit fliegender Feder aufs Papier geworfen; denn jenes blonde Mädchen war kein bloßes Phantasiebild: es war die Tochter einer[439] Jugendbekanntschaft, der Gattin eines Landpfarrers, in dessen Hause sie auf dem Wege nach Rudolfs amtlichem Wohnorte im Frühling eingekehrt und aufs dringendste zu längerer Wiederholung ihres Besuches nebst ihrem Sohne eingeladen war.

Aber der rasch geschriebenen Anrede folgte zunächst nichts Weiteres; war es der Schreiberin doch, als habe plötzlich die Hand der hübschen Baroneß sich auf die ihrige gelegt. Langsam lehnte sie sich zurück; ein Strom erwünschter Bilder und Gedanken zog an ihr vorüber; gewiß, das übermütige, nur noch kurze Zeit von einem Vormunde abhängige Kind würde gar gern ihr Freifrauenkrönchen gegen den schlichteren Namen einer Frau von Schlitz vertauschen. Rudolf und dieses Mädchen! Sie hob sich unwillkürlich von ihrem Sessel; ihr war, als würden vor einem kerzenhellen Saal die Flügeltüren aufgerissen und sie schreite als Mutter neben dem prächtigen Paare hindurch. – Aber – der Doktor! Die stolze Frau sank düster in sich zusammen; der Doktor hatte ja nur ausgesprochen, was sie in ihren eigenen Gedanken längst auf und ab erwogen hatte. Ja, wenn das Letzte nicht gewesen wäre! Eine Angst vor der Zukunft, eine furchtbare Vorstellung überfiel sie. »Mein Sohn! Mein Kind!« Es kam wie ein lauter Aufschrei aus ihrer Brust; und als habe sie sich selbst aus einem Traum erweckt, blickte sie unsicher und mit großen Augen um sich: »Gott sei gelobt; er selber weiß es nicht, an welchem Abgrund er gestanden hat.«

Bald hatte sie sich gefaßt; es mußte sein, es mußte gleich geschehen. Flüchtig streiften ihre Augen über das kalte Antlitz, das im Bilde auf sie herabsah; dann schrieb sie in kräftigen Zügen und mit Bedacht den Brief an die Frau Pastorin zu Ende.

Seit drei Wochen waren Mutter und Sohn nun auf dem Dorfe; ein eigenes Quartier zwar hatten sie in der Küsterwohnung gefunden, im übrigen aber gehörten sie bei den gastfreien Pfarrersleuten fast wie zur Hausfamilie. Rudolf war sichtbar gekräftigt; seine Wangen hatten sich gebräunt, Aug[440] und Ohr begannen wieder ein heiteres Begegnen mit allem, was er in Haus und Feld auf seinem Wege traf. Dazu hatte nicht nur die Gegenwart der anmutigen Pfarrerstochter, sondern fast nicht weniger das tüchtige Wesen des Pfarrers selbst geholfen, der es meisterlich verstand, was er »ein Schwachgefühl« zu nennen liebte, mit schelmischen Worten aus den geheimsten Winkeln aufzujagen. So war denn auch in den hell getünchten Zimmern des Pfarrhauses wenig davon zurückgeblieben; nur die Frau Pastorin mochte sich wohl einmal, vielleicht zur Erholung von all der Kinder- und Küchenwirtschaft, eine sentimentale Anwandlung zu Gemüte führen, wobei sie dann ihren Redeschmuck den zwei einzigen Opern, welche sie in ihrem Leben gesehen hatte, dem »Freischütz« und der Weiglschen »Schweizerfamilie«, zu entlehnen pflegte. Wenn aber der Pfarrer nach einer Weile ruhigen Gewährenlassens wie in gutherziger Teilnahme sich ihrer Hand bemächtigte: »Mutter, ist heut wohl Emmelinentag?«, dann flog freilich ein Wölkchen leichten Mißbehagens über ihr braves Angesicht, bald aber mußte sie doch selber lachen und war wieder daheim in der Luft ihres werktätigen Hauses.

Auch Rudolf mußte sich bald diese freundliche Überwachung gefallen lassen. Eines Nachmittags, als eben die Septembersonne ihr letztes Abendgold über die Wände des gemeinsamen Wohnzimmers warf, hatte er das alte Klavier zurückgeklappt und ließ nun eine der schwermütigen Notturnoklagen des von ihm vielgeliebten und – studierten Chopin in den sinkenden Tag hinausklingen. Der Pastor, durch das meisterhafte Spiel aus seiner Studierstube hervorgelockt, hatte sich leise hinter seinen Stuhl gestellt und verharrte so in aufmerksamem Lauschen bis ans Ende; dann aber legte er schweigend die Haydnsche G-Dur-Sonate mit dem Allegretto innocente aufs Pulpet, die er schon bei seinem Eintritt in der Hand gehalten hatte. Rudolf blickte auf und um, und da er den Pastor erkannte, nickte er gehorsam, schüttelte wie zur Ermunterung noch ein paarmal seine geschickten Hände, und bald erklangen die heiteren Fiorituren des unsterblichen[441] Meisters und füllten das Zimmer wie mit Vogelsang und Sommerspiel der Lüfte. »Bravo, junger Freund!« rief der Pfarrer, der wie alle andern, die Frau Forstjunkerin nicht ausgeschlossen, mit entzücktem Angesicht gelauscht hatte; »das hat rote Wangen; wir haben kaum gemerkt, wie Sie uns durch die Dämmerung hindurchgespielt haben. Nun aber Licht! Die Schneiderstunde ist zu Ende!«

Die zehnjährige Käthe lief hinaus; Anna aber, als wollte sie sich zu ihm emporstrecken, hatte sich dicht an die Schulter des kräftigen Vaters gestellt und blickte mit aufmerkendem Lächeln zu ihm auf; es war recht sichtbar, daß die beiden eines Blutes waren.