Wilhelm Hauff: Jud Süss

 

 

Wilhelm Hauff

Jud Süss

 

 

 

Wilhelm Hauff: Jud Süss

 

Neuausgabe mit einer Biographie des Autors.

Herausgegeben von Karl-Maria Guth, Berlin 2017.

 

Umschlaggestaltung unter Verwendung des Bildes:

Überhöhte Darstellung der Hinrichtung des Joseph Süß Oppenheimer am 4. Februar 1738 vor den Toren Stuttgarts

 

ISBN 978-3-7437-0024-6

 

Dieses Buch ist auch in gedruckter Form erhältlich:

ISBN 978-3-86199-820-4 (Broschiert)

ISBN 978-3-86199-821-1 (Gebunden)

 

Die Sammlung Hofenberg erscheint im Verlag der Contumax GmbH & Co. KG, Berlin.

 

Erstdruck: 1827 im »Morgenblatt«.

 

Der Text dieser Ausgabe folgt:

Wilhelm Hauff: Sämtliche Werke in drei Bänden. Nach den Originaldrucken und Handschriften. Textredaktion und Anmerkungen Sibylle von Steinsdorff, München: Winkler, 1970.

 

Die Paginierung obiger Ausgabe wird in dieser Neuausgabe wortgenau mitgeführt und macht dieses E-Book auch in wissenschaftlichem Zusammenhang zitierfähig. Das Textende der Vorlagenseite wird hier durch die Seitennummer in eckigen Klammern mit grauer Schrift markiert.

 

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind über http://www.dnb.de abrufbar.

 

 

 

Ein ernstes Spiel wird euch vorübergehen,

Der Vorhang hebt sich über einer Welt,

Die längst hinab ist in der Zeiten Strom,

Und Kämpfe, längst schon ausgekämpfte, werden

Vor euren Augen stürmisch sich erneun.

L. Uhland

 
1

Das Karneval war nie in Stuttgart mit so großem Glanz und Pomp gefeiert worden, als im Jahr 1737. Wenn ein Fremder in diese ungeheuern Säle trat, die zu diesem Zwecke aufgebaut und prachtvoll dekoriert waren, wenn er die Tausende von glänzenden und fröhlichen Masken überschaute, das Lachen und Singen der Menge hörte, wie es die zahlreichen Fanfaren der Musikchöre übertönte, da glaubte er wohl nicht in Württemberg zu sein, in diesem strengen, ernsten Württemberg, streng geworden durch einen eifrigen, oft asketischen Protestantismus, der Lustbarkeiten dieser Art als Überbleibsel einer andern Religionspartei haßte; ernst, beinahe finster und trübe durch die bedenkliche Lage, durch Elend und Armut, worein es die systematischen Kunstgriffe eines allgewaltigen Ministers gebracht hatten.

Der prachtvollste dieser Freudentage war wohl der zwölfte Februar, an welchem der Stifter und Erfinder dieser Lustbarkeiten und so vieles andern, was nicht gerade zur Lust reizte, der Jud Süß, Kabinettsminister und Finanzdirektor, seinen Geburtstag feierte. Der Herzog hatte ihm Geschenke aller Art am Morgen dieses Tages zugesandt; das Angenehmste aber für den Kabinettsminister war wohl ein Edikt, welches das Datum dieses Freudentages trug, ein Edikt, das ihn auf ewig von aller Verantwortung wegen Vergangenheit und Zukunft freisprach. Jene unzähligen Kreaturen jeden Standes, Glaubens und Alters, die er an die Stelle besserer Männer gepflanzt hatte, belagerten seine Treppen und Vorzimmer, um ihm Glück zu wünschen, und manchen[474] ehrliebenden biedern Beamten trieb an diesem Tage die Furcht, durch Trotz seine Familie unglücklich zu machen, zum Handkuß in das Haus des Juden.

Dieselben Motive füllten auch abends die Karnevalssäle. Seinen Anhängern und Freunden war es ein Freudenfest, das sie noch oft zu begehen gedachten; Männer, die ihn im stillen haßten und öffentlich verehren mußten, hüllten sich zähneknirschend in ihre Dominos und zogen mit Weib und Kindern zu der prachtvollen Versammlung der Torheit, überzeugt, daß ihre Namen gar wohl ins Register eingetragen und die Lücken schwer geahnet würden; das Volk aber sah diese Tage als Traumstunden an, wo sie im Rausch der Sinne ihr drückendes Elend vergessen könnten; sie berechneten nicht, daß die hohen Eintrittsgelder nur eine neue indirekte Steuer waren, die sie dem Juden entrichteten.

Der Glanzpunkt dieses Abends war der Moment, als die Flügeltüren aufflogen, eine erwartungsvolle Stille über der Versammlung lag, und endlich ein Mann von etwa vierzig Jahren, mit auffallenden, markierten Zügen, mit glänzenden, funkelnden Augen, die lebhaft und lauernd durch die Reihen liefen, in den Saal trat. Er trug einen weißen Domino, einen weißen Hut mit purpurroten Federn, auf welchen er die schwarze Maske nachlässig gesteckt hatte; es war nichts Prachtvolles an ihm, als ein ungewöhnlich großer Solitär, welcher am Hals die purpurrote Bajute von Seidenflor, die über den Domino hinabfiel, zusammenhielt. Er führte eine schlanke, zartgebaute Dame, die, in ein mit Gold und Steinen überladenes orientalisches Kostüm gekleidet, aller Augen auf sich zog.

»Der Herr Finanzdirektor, der Herr Minister«, flüsterte die Menge, als er vornehm grüßend durch die Reihen ging, die sich ihm willig öffneten; und als er in der Mitte des Hauptsaales angekommen war, begrüßten ihn Trompeten und Pauken, und ein nicht unbeträchtlicher Teil der Masken klatschte ihm Beifall, während man andere wie von einem unzüchtigen Schauspiele sich abwenden sah. Aber allgemein schien die Teilnahme, womit man die schöne Orientalin betrachtete, die mit dem Minister gekommen war. Seine Lebensweise war zu bekannt, als daß nicht die meisten unter der Larve der reich geschmückten Dame eine seiner Freundinnen geahnet hätten, nur darüber schien man uneinig, welcher von diesen solche Auszeichnung zuteil geworden sei; die eine schien zu klein für diese Figur, die andere zu korpulent für diese zierliche Taille, die dritte zu schwerfällig, um so leicht und[475] beinahe schwebend über den Boden zu gleiten, und einer vierten, bei welcher man endlich stillestehen wollte, konnte nicht dieses glänzend schwarze Haar, das in reichen Locken um den stolzen Nacken fiel, nicht dieses herrliche, dunkle Auge gehören, das man aus der Maske hervorleuchten sah.

Die Menge pflegt, wenn ihre Neugier nicht sogleich befriedigt wird, bei Gelegenheiten von so glänzender und rauschender Art, wie dieser Karneval war, nicht lange bei einem Gegenstand stille zu stehen. »Wenn sie die Maske abnimmt, wird man ja sehen«, sprach man, ohne der Dame noch längere Aufmerksamkeit zu schenken, als nötig war, um zu bemerken, wie sie zum Menuett antrat. Aber drei junge Männer, die müßig hinter den Reihen der Tanzenden standen, schienen diese Erscheinung noch immer unablässig zu verfolgen.

»Wer sie nur sein mag!« rief der eine ungeduldig; »ich wollte gern dem verzweifelten Juden fünfzig Eintrittskarten abkaufen, wenn er mir sagte, woher dieses Mädchen kommt, das er wie eine Fürstin in den Saal führte.«

»Herr Bruder!« erwiderte der zweite, indem er unter dem Sprechen kein Auge von der Orientalin abwandte, »Herr Bruder, parole d'honneur! diese Widersprüche kann ich nicht vereinigen, und wenn ich bei Cartesius selbst die Logik samt dem Cogito, ergo sum studiert hätte; eine so ungewöhnlich feine Gestalt, diese Haltung, diese nach den neuesten und vornehmsten Regeln abgemessene Bewegung, diese Art, das Handgelenk rund und spielend zu bewegen, wie ich sie nur in den bedeutendsten Zirkeln zu Wien und Paris sah, dieser Anstand, womit sie den Nacken trägt –«

»Gott verdamm mich, du hast recht, Herr Bruder«, unterbrach ihn der dritte, »dieses alles und – mit Süß auf den Ball zu kommen! Nein, ein solcher Kontrast ist mir in meinem Leben nicht vorgekommen!«

»Aus unserer Bekanntschaft«, fuhr der erste fort, »aus unsern Kreisen kann sie nicht sein; denn wenn es auch wahr ist, was man flüstert, daß schon mancher elende Kerl von einem Vater seine Tochter mit einer Bittschrift zum Juden schickte, so laut läßt keiner seine Schande werden, daß er sein leibliches Kind mit dieser Mazette auf den Ball schickt!«

»Bitte dich ums Himmels willen, Herr Bruder, nicht so laut, er hat überall seine Spione, und uns ist er ohnedies nicht grün; denk an deine Familie, willst du dich unglücklich machen? Aber[476] wahr ist's, es kann kein Mädchen aus bessern Ständen sein, und doch ist ihr Wesen für eine Bürgerstochter zu anständig. Doch halt, wer ist der Sarazene, der dort auf uns zukommt? Die Farbe seines Turbans ist ja dieselbe, wie ihn die Charmante des Juden hat!«

Die jungen Männer wandten sich um und sahen einen schlanken, schöngewachsenen Mann, der, als Sarazene gekleidet, sich durch die einfache Pracht seines Kostüms, wie durch Gang und Haltung vor gemeineren Masken auszeichnete. Auch er schien die jungen Männer ins Auge gefaßt zu haben, denn er ging langsam an sie heran und zögerte, an ihnen vorüberzuschreiten.

»Was ist deine Parole«, fragte der eine der jungen Männer, der in der Maske einen Freund zu erkennen glaubte; »hast du nur dein ›Allah‹ zum Feldgeschrei, oder weißt du sonst noch ein Sprüchlein?«

»Gaudeamus igitur juvenes dum sumus«, erwiderte der Sarazene, indem er stille stand.

»Er ist's, er ist's«, riefen zwei dieser jungen Herrn, und schüttelten die Hand des Sarazenen; »gut, daß wir die Parole gaben, ich hätte sonst kein Erkennungszeichen für dich gehabt, denn ich war meiner Sache so gewiß, du seiest als Bauer hier, daß ich mit dem Kapitän eine Flasche gewettet habe, du müßtest ein Bauer sein!«

»Laßt uns ans Büffet treten«, sagte der zweite, »ich habe dir hier jemand vorzustellen, Bruder Gustav, der sich auf deine Bekanntschaft freut, und du weißt, in Larven erkennt man sich schlecht.«

»Freund«, erwiderte Gustav, »ich nehme die Larve nicht ab, ich habe Gründe; so angenehm mir die Bekanntschaft dieses Herrn wäre, so muß ich sie doch bis auf morgen versparen.«

»Und wenn es nun Pinassa wäre, nach welchem du so oft gefragt?« antwortete jener.

»Pinassa? mit dem du dich geschlagen? Nein, das ändert die Sache, den will ich sehen und begrüßen; aber – meine Maske nehme ich nur auf zwei Augenblicke und im fernsten Winkel des Speisesaals ab.«

»Wir sind's zufrieden, Bruder Sarazene«, antwortete der Kapitän. »Aber laß uns nur erst an die zweite Flasche kommen, dann sollst du auch die Gründe beichten, warum du dein Angesicht nicht leuchten lassen willst vor den Freunden!«[477]

 

2

In dem Speisesaal, welchen sie wählten, waren nur wenige Menschen, denn man verkaufte hier nur ausgesuchte Weine, feine Früchte und warme Getränke, während die größeren Trinkstuben, wo Landwein, Bier und derbere Speisen zu haben waren, die größere Menge an sich zogen. In einer Ecke des Zimmers war ein Tischchen leer, wo der Sarazene, wenn er dem übrigen Teil des Saales den Rücken kehrte, ohne Gefahr erkannt zu werden die Maske abnehmen konnte. Sie wählten diesen Platz, und als die vollen Römer vor ihnen standen, legten die zwei jungen Krieger die Masken ab und der Kapitän begann: »Herr Bruder, ich habe die Ehre, dir hier den unvergleichlichen Kavalier Pinassa vorzustellen, den berühmtesten Fechter seiner Zeit; denn es gelang ihm, durch eine unbesiegliche Terz-Quart-Terz, mich, bedenke mich, den Senior des Amizistenordens, in Leipzigs unvergeßlichem Rosenthal hors de combat zu machen. Er hat gleich mir die Musen verlassen, hat gesungen: ›Will mir Minerva nicht, so mag Bellona raten‹, und hat den alten Hieber und sein ungeheures Stichblatt, worauf er sein Frühstück zu verzehren pflegte, mit dem Paradedegen eines herzoglich württembergischen Lieutenants vertauscht.«

»Der Tausch ist nicht übel, Herr von Pinassa, und mein Vaterland kann sich dazu Glück wünschen«, sagte der Sarazene, indem er sich vor dem neuen Lieutenant verbeugte. »Wollet Ihr einmal in unsern Dienst treten, so war diese Laufbahn die angenehmste. Der Zivilist hat zu dieser Zeit wenig Aussicht, wenn er nicht ein Amt für fünftausend Gulden, oder für sein Gewissen und ehrlichen Namen beim Juden kaufen will. Doch diese dünnen Bretterwände haben Ohren – stille davon, es ist doch nicht zu ändern. Wie anders sind Eure Verhältnisse! Der Herzog ist ein tapferer Herr, dem ich einen Staat von zweimal hunderttausend Kriegern gönnen möchte; für uns – ist er zu groß. Der Krieg ist sein Vergnügen, ein Regiment im Waffenglanz seine Freude; leider fällt für uns andere selten eine müßige Stunde ab, und daher kommt es, daß diese Juden und Judenchristen das Szepter führen. Er gilt für einen großen General, er hat mit Prinz Eugen schöne Waffentaten verrichtet, und ein schlanker junger Mann, mit einer Narbe auf der Stirne, Mut in den Blicken, wie Ihr, Herr von Pinassa, ist ihm jederzeit in seinem Heere willkommen.«[478]

»Was der Sarazene altklug sprechen kann über Juden und Christen!« sprach der Kapitän. »Doch öffne dein Visier und zeige deine Farben, mein Kamerad soll nun auch wissen, mit wem er spricht; das ist der umsichtige, rechtskundige, fürtreffliche Herr juris utriusque Doctor Lanbek, leiblicher Sohn des berühmten Landschaftskonsulenten Lanbek, welchem er als Aktuarius substituiert ist; ein trefflicher Junge, parole d'honneur! wenn er sich nicht neuerer Zeit hin und wieder durch sonderbare Melancholie prostituierte, noch trefflicher, wenn ihm der Herr auch einen Sinn für das schöne Geschlecht eingepflanzt hätte.«

Lanbek nahm bei diesen Worten die Maske ab und zeigte dem neuen Bekannten ein errötendes Gesicht von hoher Schönheit. Unter dem Turban stahlen sich gelbe Locken hervor und umwallten kunstlos und ungepudert die Stirne. Eine kühn gebogene Nase und dunkle, tiefblaue Augen gaben seinem Gesicht einen Ausdruck von unternehmender Kraft und einen tiefen Ernst, der mit den weichen Haaren und ihrer sanften Farbe in überraschendem Widerspruche war. Doch das Strenge dieser Züge und dieser Augen milderte ein angenehmer Zug um den Mund, als er antwortete: »Ich öffne mein Visier und zeige Euch ein Gesicht, das Euch recht herzlich bei uns willkommen heißt. Ich trinke auf Euer Wohl dieses Glas, dann aber werdet Ihr entschuldigen, wenn ich aufbreche.«

»Pro poena trinkst du zwei«, rief der Kapitän mit komischem Pathos, indem er einen ungeheuern Hausschlüssel aus der Tasche nahm und ihn als Szepter gegen den Sarazenen senkte; »hast du so wenig Ehrfurcht vor deinem Senior, daß du dich erfrechst, in loco Gläser zu trinken, ohne daß sie dir ordentlich vom Präses diktiert sind? O tempora, o mores! Wo ist Zucht und Sitte dieser Füchse hin? Pinassa! zu unserer Zeit war es doch anders!«

Die jungen Männer lachten über diese klägliche Reminiszenz des ehemaligen Amizistenseniors; der Kapitän aber faßte Lanbek schärfer ins Auge und sagte: »Herr Bruder! nimm mir's nicht übel, aber in dir steckte schon lang etwas, wie ein Fieber, und heute abend ist die Krisis; ich setze meine verlorene Flasche, davon geht nichts ab, aber ich wette zehn neue; sei ehrlich Gustav – du warst heute abend schon als Bauer hier, und dein Alter weiß nichts vom Sarazenen.«

Gustav errötete, reichte dem Freunde die Hand und winkte ihm ein Ja zu.

»Alle Tausend!« rief der Kapitän, »Junge, was treibst du?[479] Wer hätte das hinter dem stillen Aktuarius gesucht? auf dem Karneval das Kostüm zu ändern! Und so ängstlich, so geheimnisvoll, so abgebrochen; willst du etwa dem Juden zu Leibe gehen?«

Der Gefragte errötete noch tiefer und nahm schnell die Maske vor; ehe er noch antworten konnte, sagte Reelzingen: »Herr Bruder, du bringst mich auf die rechte Fährte. Wo habt ihr beide, du und die Orientalin, die der Finanzdirektor führte, das Zeug zu euren Turbanen gekauft? Gustav, Gustav! –« setzte er, mit einem Finger drohend, hinzu – »du wohnst dem Juden gegenüber, ich wette, du weißt, wer die stolze Donna ist, die er führt.«

»Was weiß ich!« murmelte Lanbek unter seiner Larve.