Mario Schrader wurde 1967 in Helmstedt geboren, ist seit 2001 verheiratet und seit 26 Jahren bei der Stadt Helmstedt als Verwaltungsbeamter beschäftigt. Über 13 Jahre gab er für die Beschäftigten der Stadtverwaltung ein Info-Magazin heraus. Seine Film- und Kinoleidenschaft war für ihn der Anlass, dieses Buch zu schreiben. „Kleine Kinos ganz groß“ ist seine erste Buchveröffentlichung.

Kleine Kinos ganz groß

Ein Streifzug durch 100 Jahre Kinogeschichte
im Landkreis Helmstedt

von

Mario Schrader

Books on Demand

Prolog

Die Reise zum Mond

(Frankreich 1902, Regie: Georges Méliès)

Patriotisch angehauchter, 16 Minuten langer Science-fiction-Film, der den ersten bemannten Raumflug zum Mond beschreibt. Angetrieben durch den Abschuss in einer gigantischen Kanone landen die französischen Astronauten im rechten Auge des Mondgesichtes. Zunächst begeistert von der bizarren Mondoberfläche, stoßen die Reisenden schon bald auf sogenannte Seleniten, grausame Bewohner des Mondes, die den Besuchern nicht gerade freundschaftlich gegenüber stehen. Schließlich gelingt ihnen die Flucht und sie landen wie durch ein Wunder wieder auf der Erde, wo sie wie Helden gefeiert werden.

Uns allen ist dieses Gefühl vertraut. In Erwartung faszinierender Bilder und einer Geschichte, die uns tief im Herzen berührt, lösen wir die magische Karte und betreten sodann einen dunklen Saal, um uns gemeinsam mit anderen Menschen in eine Traumwelt zu begeben. Eine Welt, wie sie nur auf der Leinwand existiert. Eine Abfolge von Eindrücken, die uns amüsiert, erschreckt, befremdet oder vielleicht auch den Atem stillstehen lässt. Wir genießen es, bei Cola und Popcorn abzuschalten, den Alltag hinter uns zu lassen und manche Träne vor Lachen oder vor Weinen zu vergießen. Es können noch so viele Schurken ins Gras beißen, indem ihr Kopf in Großaufnahme mit wuchtigem Donner vor uns im Wüstensand aufschlägt, wir schmeißen uns das nächste Weingummi in den Schlund und lachen uns insgeheim ins Fäustchen, dass nicht wir es sind, die da die letzten Geigen spielen hören.

Auch der mit einem gewaltigen Fischerhaken bestückte Serienschlitzer, der unerwartet hinter dem nächsten Baum hervorspringt, beeindruckt uns wenig. Sein Ziel ist es, das offensichtlich frisch vom Messerschärfer bearbeitete Utensil ausgerechnet in den Leib des einzigen blonden und weiblichen Teenagers zu rammen, das sich in einem Zeltlager aufhält. Zwar leiden wir sicherlich für einen kurzen Moment zusammenzuckend mit dem Opfer, an dem der Fischer seine Filetierkunst zu verfeinern versucht. Sekunden der seelischen Erbauung später jedoch nehmen wir einen kräftigen Zug aus der Limoflasche, egal ob es sich nun um die eigene oder um die des Sitznachbarn handelt. Kann er doch letztendlich froh darüber sein, dass es nur eine klitzekleine Portion fremder Speichel ist, der da in seinem Getränk herumschwimmt und nicht eine filigrane Klinge in diesem Moment seinen Leib nach Widerständen durchforstet.

Keine Angst, liebe Leserinnen und Leser, Sie haben nicht zum falschen Buch gegriffen! Nicht jeder genießt auf Sperrsitz oder Loge den atemberaubenden Thrill, die Freude an der Angst und am Entsetzen. Spaß ist schließlich auch dann garantiert, wenn der smarte Jüngling aus armen Verhältnissen alle nur erdenklichen Hürden überwindet, damit er die adelige Angebetete in einer entlegenen Kabine des Luxusliners in die Arme schließen kann, um sie anschließend, wie Gott sie schuf, mit Pinsel und Geschick auf die Leinwand zu bannen. Die Herren der Schöpfung, die in diesem Moment noch, fasziniert von so viel weiblicher Anmut, die Handlung verfolgen, haben später alle Hände voll zu tun, ihre Freundinnen zu trösten, wenn der traurige Held des Films den rühmlichen Abgang macht, freilich nicht in die Arme einer Anderen, sondern vielmehr mit wässrigem Blick und bis auf den Grund des Ozeans, um genau dort zu ruhen, wo seitdem auch das prächtige Schiff sein Dasein fristet.

Nicht jede Geschichte, die hier erzählt wird, endet so tragisch. Als Beispiel sei hier nur der Antrittsbesuch des zukünftigen Schwiegersohnes bei seinen Eltern in spe genannt. Während der nicht ganz unvoreingenommene Vater der Braut den Liebhaber seiner Tochter mit allen Finessen eines ehemaligen CIA-Agenten zu filzen beginnt, führt der junge Mann sich recht locker in diese bis dahin recht geordnete Familienatmosphäre ein, indem er mit einem Sektkorken die in Ehren gehaltene Urne auf dem Kaminsims prompt ins Schleudern bringt. Schlecht für ihn, dass diese Urne ausgerechnet die Asche der verstorbenen Mutter seines Schwiegervaters enthält. Zum Abschuss freigegeben sorgt das zerberstende Gefäß nicht nur für ein ziemlich verstaubtes Wohnzimmer, auch die gerade aufgebauten zarten Bande zum Schwiegersohn zerbrechen durch dieses Missgeschick explosionsartig in Tausende von Scherben. Während wir wiederum erleichtert sind, dass wir nicht in der Haut des Tollpatsches stecken und begeistert loslachen möchten, schäumt die Freude unseres Sitznachbarn zur Linken derart über, dass er vor Begeisterung die Arme hochreißt, ohne zuvor seine Brauseflasche in die Halterung zurückzustellen. In der Zeit, in der alle anderen sich von einem Kalauer zum nächsten kichern, überlegt unsereins dann bis zum gnadenlosen Rest des Filmes, ob sich Colaflecken aus einem weißen T-Shirt wirklich wieder entfernen lassen.

Alle diese eben genannten Eindrücke und Erfahrungen kennen die meisten von uns in mehr oder weniger extremer Intensität sicherlich, wenn wir uns in diese faszinierende Welt begeben, von der in diesem Buch die Rede sein soll: in die unglaubliche Welt des Kinos.

Es gab selbstverständlich auch andere Zeiten. Nicht immer wurde auf der Leinwand geschlitzt, gehechelt, gebeamt, mit Laserschwertern um sich geschlagen oder gealbert. Und es war beileibe auch nicht von Anfang an üblich, sich in Jeans oder Shorts in die Kinosessel zu flätzen, um zwischendurch seine Kumpels per Handy anzutickern, dass es sich nicht lohnt, den neuen Bond im Internet herunterzuladen.

Das Kino begann streng genommen bereits im vorletzten Jahrhundert und in einer ganz anderen Form, als wir es heute erleben. Die Pioniere des Films arbeiteten aus heutiger Sicht mit äußerst spartanischen Mitteln. Dennoch sorgten sie mit ihren Ideen dafür, dass sich der Stellenwert der Unterhaltungsindustrie für alle Zeiten nachhaltig verändern sollte.

Die französischen Gebrüder Lumière werden in vielen Nachschlagewerken als die eigentlichen Erfinder des Kinos genannt. Am 28. Dezember 1895 luden sie in einem Kellersalon namens „Salon Indien“ im „Grand Cafe“ in Paris zu ihrer ersten öffentlichen Vorführung ein. Den Besuchern verschlug es nicht nur die Sprache, als sie auf einem als „Kinematograph“ bezeichneten Bewegungsschreiber die ersten, wenn auch kurzen Dokumentarfilme sahen. Sie rieben sich auch verwundert die Augen, denn lebendige Bilder zu betrachten, war für die Menschheit etwas bis zu diesem Zeitpunkt völlig Neues.

Weitaus weniger bekannt ist allerdings, dass bereits Wochen vorher, nämlich am 01. November 1895 eine öffentliche Filmvorführung vor zahlendem Publikum im Berliner „Wintergarten“ stattfand. Schon lange, bevor der Lindenberg´ sche Sonderzug in Pankow Station machte, lebten in diesem Stadtteil die Brüder Max und Emil Skladanowsky, die mit dem Bioskop den ersten tatsächlichen Filmprojektor entwickelten. An besagtem Abend führten sie ihre Lichtspielprojektionen vor, die aus einem Potpourri von einminütigen Sequenzen bestanden. Es lässt sich heute nicht mehr sagen, ob in den Folgetagen vermehrt Kieferorthopäden in Anspruch genommen werden mussten, weil die den ganzen Abend mit offenem Mund dasitzenden Zuschauer womöglich Schaden genommen hatten. Fakt ist zumindest, dass die Kurzfilme mit Titeln wie „Komisches Reck“, „Serpentintänzerin“ und „Das boxende Känguruh“ einschlugen wie eine Bombe.

Zuvor war Emil Skladanowsky zwar schon jahrelang mit der als „Laterna magica“ bekannt gewordenen Attraktion auf Jahrmärkten herumgetingelt, doch hinter dem Ofen vorlocken konnte er mit diesem Projektionsgerät für optische Effekte und Farbspielereien, das es bereits seit dem 17. Jahrhundert gab, niemanden mehr. So hing er die Funzel an den Nagel und konzentrierte sich auf die Weiterentwicklung, indem er echte Bilder zum Laufen brachte. Dennoch waren es die Gebrüder Lumière, die mit ihrer Erfindung im Paris des noch jungen Jahres 1896 fast noch mehr Aufmerksamkeit erregten, als das merkwürdige Stahlgeflecht, dass sieben Jahre zuvor zusammengeschweißt wurde, um der Stadt fortan als Wahrzeichen zu dienen und nach seinem Erbauer mit dem einprägsamen Namen „Eiffel“ genannt zu werden. Der Grund dafür, dass sich der Kinematograph in Windeseile über den gesamten Kontinent verbreitete, war nicht zuletzt der, dass er einfach technisch ausgereifter als das Bioskop war. Und somit durfte sich die Nation von Croissant und Baguette fortan damit rühmen, eine neue Unterhaltungsära ins Leben gerufen zu haben.

Kinosäle im heutigen Sinne gab es Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht. Es handelte sich meistens um Wanderkinos als Jahrmarktattraktionen, die in Zelten oder Holzbuden zu finden waren. Auf einem weißen Laken präsentierte der Betreiber derartiger Stände einen Kinematographen, der mit Handkurbel bedient wurde, tontechnisch meistens begleitet von einem Grammophon. Da ein Film zu dieser Zeit fast noch etwas Magisches war, konnten die Menschen teilweise kaum begreifen, was sich da im Dunkeln vor ihren Augen abspielte. Wenn plötzlich eine Dampflok in schnellem Tempo auf das Publikum zuraste, kam es vor, dass die Menschen noch schreiend das Zelt verlassen haben. Woher sollten sie schließlich ahnen, dass das Gefährt nicht wahrhaftig, sondern nur die Illusion auf weißem Grund war, die eine Kamera eingefangen hatte. Heutzutage würde niemand mehr kreischend einen Kinosaal verlassen, es sei denn, David Hasselhoff würde sein Comeback als Bademeister feiern oder Uschi Glas wäre im gleichen Film erneut in einer Nacktrolle zu sehen.

Aus den kleinen beschaulichen Gebilden, die auf nahezu jedem Jahrmarkt einer größeren Stadt zu finden waren, entwickelten sich im Laufe der nächsten Zeit immer größere Kinozelte, die mit auffällig farbenfrohen Reklametafeln und einer Vielzahl von Lichtern um Kundschaft warben. Mit Hilfe von Dampfmaschinen war dies mittlerweile möglich geworden.

Es dauerte nicht lange, bis die ersten festen Lichtspielhäuser in vielen Städten eröffnet wurden. Oft waren es kleinere Ladenlokale, die man provisorisch zum „Kintopp“ umbaute. Bereits im Jahre 1910 gelang es durch die immer weiter verbesserte Technik Kinofilme zu produzieren, die über eine durchgehende Handlung verfügten. Da auch die Länge der Filme zunahm, begleitete man diese bald auch mit Musik. In kleineren Kinos setzte man dafür einen Klavierspieler ein, in größeren Häusern konnte die Begleitung auch durchaus schon mal durch ein Orchester erfolgen. Auch wenn es sich noch durchweg um Stummfilme handelte, die man dem begeisterten Publikum präsentierte, so sollte zumindest die Geräuschkulisse nicht nur aus verlegenem Husten oder gar peinlicheren Lauten bestehen, sondern fröhlich und ungezwungen sein. Besonders mit dem Orchester war dies kein Problem.

Als die „gehobenen Kreise“ der Gesellschaft begannen, sich für das Medium Kino zu interessieren, spiegelte sich dies auch im Baustil der zukünftigen Lichtspielhäuser wider. Beispielhaft genannt werden soll an dieser Stelle nur das Union-Theater am Berliner Alexanderplatz, das im Jahre 1909 eröffnete und mit Gold und Purpur im Innern des 800 Sitze fassenden Saals aufwartete. Ob durch diese edle Ausstattung auch die Filme besser wurden?

In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts nahmen die Kinosäle eine rasante Entwicklung. Es entstanden regelrechte Kinopaläste in antiker, barocker oder anderer prachtvoller, historischer Bauweise. In Berlin etwa wurde mit dem Ufa-Palast ein Großkino gebaut, das sage und schreibe 2.665 Besucher fasste, in New York gab es sogar eines mit 6.200 Plätzen. Nach heutigen Maßstäben wäre das so, als würde man in der Allianz-Arena in München eine Leinwand auf den Rasen setzen und „Das Wunder von Bern“ zeigen.

In derartigen Filmpalästen ließ sich der Besuch eines Kinofilmes durchaus als die Reise in eine andere Welt verkaufen. Der britische Filmtheoretiker L´Estrange Fawcett beschrieb in einer Abhandlung dieses besondere Gefühl beim Betreten eines solchen Lichtspieltheaters mit folgenden bildhaften Worten: „Die überhitzte Atmosphäre, der Staub und der Trubel der hauptstädtischen Straßen sind unerträglich; wie matte Fliegen schleppen sich die Leute durch den glühenden Hexenkessel–da reißt ein prächtig uniformierter Portier die doppelten Flügeltüren des Lichtspieltheaters auf, und wenn wir eintreten, fühlen wir uns in eine schönere Welt versetzt. Die Temperatur ist sofort um 6 bis 7 Grad gesunken, reine, duftende, eisgekühlte Luft durchflutet das ganze Gebäude (…) alles richtet sich auf, man fühlt sich neu belebt und das Leben ist wieder einmal wert, genossen zu werden.“ Angesichts derartiger Sätze erahnt man die Faszination, die in der damaligen Zeit von den Kinos ausgegangen sein muss. So ist auch der Boom zu erklären, der damals zum Bau immer weiterer Kinos führte. Im Jahre 1927 gab es allein in Deutschland 4.300 davon, heute sind es noch knapp 1.800. Illuminationen an Decken und Wänden sorgten schon beim Betreten der Häuser für eine ganz besondere Atmosphäre, die sich in Erwartung des bevorstehenden Filmes noch steigerte.

Bereits wenige Jahre nach Beginn der Kinogeschichte experimentierte man damit, Filme mit Ton zu versehen. Dies versuchte man beispielsweise auch mit gleichzeitig zum Film ablaufenden Schallplatten. Diese Versuche scheiterten jedoch kläglich, weil es schier unmöglich war, den Ton der Platte synchron zum Film ablaufen zu lassen. Sobald ein Filmriss auftrat, was damals nicht selten der Fall war, musste das Bildmaterial geschnitten und geklebt werde, was zur Folge hatte, dass der Film immer kürzer wurde. Dementsprechend hinkte der Nadelton der Platte der Handlung hinterher und die Zuschauer wunderten sich, dass der Schauspieler erst später sprach, obwohl er schon längst vorher den Mund aufgemacht hatte.

Auch wenn das Raunen und vielfältige Getuschel in den Foyers der Kinos immer mehr zunahm, so mussten die Zuschauer doch noch bis zum Jahr 1926 warten, um mit großer Gewissheit zu erfahren, dass es sich bei den Schauspielern nicht um durchweg taubstumme Menschen handeln konnte. Mit dem Film „Don Juan“, der erste kleinere Tonpassagen in Nadeltontechnik enthielt, begann das Kino zu sprechen. Interessant hierbei ist, dass der „sprechende Film“ nicht nur für Zustimmung sorgte. Sowohl Filmindustrie als auch Musiker und Komponisten zeigten lange Zeit kein wirkliches Interesse am neuen Ton zum Bild, weil sie verständlicherweise um ihre Existenz fürchteten. Und obwohl sich der Tonfilm im Jahre 1928 sehr schnell in Europa durchsetzte und bald auch den Stummfilm verdrängte, gehörten Kinoorgeln und Orchester noch lange Zeit zur Standard-Ausstattung in vielen Lichtspieltheatern. Für einige Filme in der heutigen Zeit wäre es zweifelsohne besser gewesen, wenn man den Tonfilm nie erfunden hätte. Das damalige Publikum wäre mit derart schnellen Geräuscheffekten, wie sie heute fast zur Normalität gehören, niemals klar gekommen und hätte beim Zuhören eines solchen Plappermaules wie Eddy Murphy mit großer Wahrscheinlichkeit einen Sprung in der Schallplatte vermutet.

Bis zur Erfindung des Farbfilmes war das Kino zwar eine faszinierende, aber dennoch recht farblose Geschichte und stets in dezentem schwarz-weiß gehalten. Bis zum Jahre 1941 mussten die Deutschen warten, um endlich den ersten Film in bunten Bildern auf der Leinwand zu erleben. Mit dem Streifen „Frauen sind doch die besseren Diplomaten“ mit Marika Rökk und Willy Fritsch in den Hauptrollen ging dieser Traum in Erfüllung. So richtig freuen konnten sich die Kinobesucher dennoch nicht an den vereinzelten Farbfilmen, die es hin und wieder schon zu sehen gab. Mit dem Beginn des 2. Weltkrieges war Deutschland zum Schauplatz und gleichzeitig zur Keimzelle unmenschlicher Geschichten geworden, die auch in Filmen nicht angsteinflößender hätten dargestellt werden können. Umso mehr strömten die Menschen, die jahrelang nur den Irrsinn des Krieges vor Augen hatten, in die Stätten der Unterhaltung, die gerade in diesen Zeiten fast ausschließlich auf Filme setzten, die die Menschen von den dunklen Geschehnissen ablenken und erheitern sollten. Dennoch waren viele der großen Paläste aufgrund militärischer Angriffe zerstört oder zumindest stark beschädigt worden.

Als der Krieg endlich zu Ende ging, waren viele Kinos von den Besatzungsmächten beschlagnahmt. Britische und amerikanische Soldaten bekamen hier die Gelegenheit, Filme oder auch Varietévorstellungen aus ihrer Heimat zu erleben. Erst einige Zeit später öffneten sich die Kinopforten nach und nach wieder für die Deutschen, die in den Aufbaujahren dafür sorgten, dass die Lichtspieltheater eine neue Blütezeit erlebten. Jeder gierte nach Entspannung und der deutsche Film sorgte in den Jahren der Nachkriegskultur mit allerlei harmlosen Komödien dafür, dass die Menschen wieder lachen konnten. Mit der natürlichen Sucht nach Zerstreuung begann ein einzigartiger Bauboom von Kinos.

Neu war auch, dass mit dem Einzug der Besatzungsmächte plötzlich auch Filme zu sehen waren, die nicht in Deutschland produziert wurden. Hatte man bis dato mit den ewigen Marotten von Theo Lingen, Heinz Rühmann oder auch Hans Moser zu tun, so waren es nun auch Humphrey Bogart, John Wayne oder James Stewart, die neuen Wind auf die Leinwand zauberten. Dass diese Menschen nicht mit ihrer eigenen Stimme, sondern womöglich, wollte man sich an das beliebte Indianerjargon anlehnen, mit gespaltener Zunge sprachen, war den Zuschauern anfangs gar nicht so bewusst. Später wurde es dann selbstverständlich, dass ausländische Filme eben mit deutschen Texten vertont, also synchronisiert zu sehen waren. Mit dieser zusätzlichen Auswahl von Produktionen aus allen Teilen der Welt eröffnete sich wiederum eine ganz neue Kinofaszination, deren Vielfalt mit zum immer größer werdenden Erfolg des Kinos beitrug.

Bis Mitte der fünfziger Jahre waren Kinobesitzer wahre Goldgräber. Zusätzlich zum Optimismus der Wirtschaftswunderzeit sorgte auch die Welle der aufkommenden Heimatfilme dafür, dass die Menschen beseelt von Glück und Frohsinn in die Kinos zogen, um dem „Förster vom Silberwald“ gedanklich die Hand zu reichen oder vom bevorstehenden Urlaub per Motorroller in die Heide oder mit dem Käfer nach Italien zu träumen. Doch diese herrlich unbeschwerte Zeit sollte nicht allzu lange dauern, denn schon wenige Jahre, nachdem Sonja Ziemann glücklich in den Armen von Rudolf Prack liegend „Grün ist die Heide“ trällerte, zogen dunkle Wolken nicht nur über die Gegend um Lüneburg auf. Mit der Zeit des Wirtschaftswunders wuchs auch der Anspruch der Gesellschaft. Und während sich anfangs nur die Reichsten die neuen Fernsehgeräte leisten konnten, kamen auch bald die nicht ganz so gut betuchten Menschen in den Genuss, eine solche Flimmerkiste nicht nur mit platt gedrückten Nasen durch die Schaufensterscheibe eines Warenhauses zu sehen. Warum noch in die Kinos gehen, wenn man die Filme bequem zu Hause in der gemütlichen Stube erleben konnte?

Mit der Verbreitung der Fernsehkultur und der etwa zur gleichen Zeit einhergehenden Mobilisierung der Menschheit setzte zum Ende der fünfziger Jahre hin das große Kinosterben ein, das bis in die sechziger und teilweise sogar bis in die siebziger Jahre anhalten sollte. Viele ehemalige Lichtspielhäuser waren durch Umnutzungsmaßnahmen auf einmal zu Supermärkten geworden. Eine eher traurige Zeit des Kinos begann, in der die übrig gebliebenen Theater oftmals hinter unscheinbaren Fassaden verschwanden und den fallenden Stellenwert dieser Einrichtungen markierten.

In den Siebzigern machten sich vor allem Regisseure wie Wim Wenders, Werner Herzog und Rainer Werner Fassbinder unter dem Begriff „Autorenkino“ einen Namen. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sämtliche künstlerische Aspekte wie Drehbuch, Schnitt oder Regie meist in der Hand des verantwortlichen Regisseurs lagen. Damit einher hielten auch viele sozialkritische Problemfilme Einzug in die deutschen Kinos, die zwar in ihrer intellektuellen Zielsetzung Zuspruch bei den Kritikern, jedoch weniger beim breiten Publikum fanden.

Zur gleichen Zeit rollte aber auch mit Oswalt Kolle, dem Oberaufklärer der Nation, eine regelrechte Sexwelle durch die deutschen Filmtheater, die derart ausuferte, dass selbst der überzeugteste Nymphomane irgendwann wohl gähnend das Kino verlassen haben mochte. Kopulation in allen Variationen und eine Freizügigkeit, die der Fantasie des Menschen keinerlei Spielraum mehr ließ, führte–meistens noch in Verbindung mit einer Filmhandlung auf niedrigstem Niveau–irgendwann zum Exitus der Hoppelfilme in Serie. Die Reizschwelle war längst überzogen, der Durchhänger setzte ein.

Nachdem auch die Colts spätestens Anfang dieses Jahrzehnts verstummt und der klassische Western längst begraben war, hielten vor allem Klamauk- und Actionfilme verstärkt Einzug in die Kinolandschaft. Doch auch sie schafften es nicht, den sinkenden Zuschauerzahlen Einhalt zu gebieten. Eine neue, ganz andere technische Revolution machte dem Kino Konkurrenz. Waren es Ende der Fünfziger und Anfang der sechziger Jahre noch die aufkommenden Fernsehgeräte, die dem bequemen Konsumenten zunehmend davon abhielten, Filme auf der Leinwand zu betrachten, sorgte jetzt das angebrochene Videozeitalter für ein ganz neues Konsumverhalten. Die ersten Videotheken breiteten sich aus und von nun an konnte sich jeder stolze Besitzer eines Videorecorders seinen Lieblingsfilm nach Wunsch und zu jeder Tageszeit nach Hause holen. Zum ersten Mal überhaupt war man nicht mehr auf Anfangszeiten des Fernsehprogramms angewiesen. Für viele kam diese neue Freiheit einer Revolution gleich, die sich bis heute in Form von DVD, Blue-Ray und anderen Speichermedien stetig weiterentwickelte. Die freie Wahl eines Lieblingsfilmes erlebte der zu jenen Zeiten treue Konsument eines öffentlich-rechtlichen Senders zuletzt höchstens noch beim „ZDF-Wunschfilm“. Damals konnte man sich durch Telefonanruf beim Sender mit der Wahl von drei verschiedenen Endziffern für einen von mehreren angebotenen Spielfilmen entscheiden.

Trotz heimischer Rekorder und der Eroberung des Fernsehschirmes durch eine Vielzahl privater Sender gelang es dem Kino dann im letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrtausends aber erstaunlicherweise doch noch, sich zu behaupten. Nicht nur, dass sich die Zuschauerzahlen Anfang der neunziger Jahre europaweit stabilisierten, durch den Bau von riesigen Multiplex-Kinocentern nach amerikanischem Vorbild kam es sogar zu einem gewaltigen Aufschwung der Besucherzahlen. Sogenannte „Blockbuster“, also Kinofilme mit einem extremen Publikumszulauf, gab es zwar vereinzelt schon in den siebziger Jahren, in den Neunzigern jedoch boomten derartige Kassenstürmer geradezu. Großartige Schauspieler und unglaubliche aufwendige Filme sorgten für eine bis dahin für unmöglich gehaltene Renaissance des Kinos. Oftmals wurde die Zugkraft derartiger Blockbuster ausgenutzt, indem kurze Zeit später Fortsetzungen gedreht wurden.

Auch das Filmgenre erfuhr immer wieder Veränderungen. Aus den guten alten handgefertigten Zeichentrickfilmen entwickelten sich plötzlich Animationsfilme, die mehr und mehr im Computer entstanden. Waren es am Anfang noch Figuren und Fantasiewesen, so ist es heutzutage bereits möglich, scheinbar reale Filme ohne Schauspieler zu drehen. Im digitalen Zeitalter scheint es kaum noch Grenzen zu geben, alles ist offensichtlich nur eine Frage der Kapazität eines Rechners. Beruhigend bleibt dennoch festzustellen, das auch zukünftig eines zum Erzählen guter Geschichten immer benötigt wird: Kreativität. Denn ohne diese bliebe auch der ausgeklügeltste Computereffekt blutleer und somit absturzgefährdet.

Auch auf gute Schauspieler werden wir sicherlich zumindest in nächster Zeit nicht verzichten müssen. Kein computeranimiertes Wesen kann einem Menschen mit seiner ihm eigenen Ausstrahlung und seinem Charisma das Wasser reichen. Oder würden Sie sich von einer Zehnmillionen-Mega-Pixel-Variante von Angelina Jolie wirklich angetörnt fühlen? Dieses Phänomen bleibt allerhöchstens noch der Playstation-Generation beim Zocken der neuesten Tomb-Raider-Version vorbehalten. Zugegeben, die können mit der Dame allein durch kleinste Fingerbewegungen fast alles machen, doch auf der großen Leinwand gefällt uns dieser Schmollmund einfach viel besser.

Das Kino der Zukunft wird noch viele Entwicklungen durchmachen. Längst haben sich auch schon etliche Filmtheater vom guten alten Zelluloid verabschiedet. Der Umstieg auf die digitale Filmprojektion wird besonders kleineren Filmtheatern zu schaffen machen. Prognostiziert ist bereits, das eine Vielzahl kleinerer Kinos auf dem Lande aufgrund der immensen Kosten, die die Umstellung verursachen würde, schließen werden. Noch ist nicht abschließend geklärt, welche finanzielle Unterstützung durch die Filmverleiher geleistet wird, die letztendlich diesen Schritt zu verantworten haben. Bleibt zu hoffen, dass der Idealismus, der gerade von den Besitzern kleinerer Kinos an den Tag gelegt wurde und dadurch lange Zeit zum Überleben beigetragen hat, belohnt wird und so viele dieser Häuser wie möglich auch diese Herausforderung überleben werden.

Doch genug der allgemeinen Betrachtungsweise des Kinos und seiner Entwicklungsgeschichte. Die kommenden Artikel berichten vom Kleinstadtkino, seiner Entstehung und dem Umgang mit allen bereits kurz angerissenen Herausforderungen. Die Geschichten, die sich hier abspielten, könnten sich in jeder anderen deutschen Kleinstadt so oder ähnlich abgespielt haben. Die auf den folgenden Seiten beschriebenen Ereignisse handeln von den Kinos in Helmstedt, der Stadt, in der ich groß geworden bin, die mir erste Erfahrungen mit diesem Medium nahe brachte und die aufgrund ihrer jahrzehntelangen Lage unmittelbar an der innerdeutschen Grenze mit noch spezielleren Problemen zu kämpfen hatten. Im Jahre 2009, der Fertigstellung dieses Buches, kann Helmstedt exakt auf 100 Jahre Kinogeschichte zurückblicken. Diesem besonderen Anlass ist das vorliegende Buch gewidmet.

1. Kapitel

Als die Bilder auch in Helmstedt laufen lernten

Der große Eisenbahnraub

(USA 1903, Regie: Edwin S. Porter)

Der zwölfminütige Film gilt als der erste Western der Filmgeschichte. Er erzählt in insgesamt 14 Szenen, wie maskierte Banditen erst ein Telegrafenbüro und schließlich einen Zug überfallen. Nachdem der Schaffner erschossen wurde, beginnt eine verzweifelte Suche nach dem Tresorschlüssel. Nach erfolglosem Abbruch dieser Aktion wird der Tresor schließlich in die Luft gesprengt. Die Banditen koppeln die Personenwagen ab und fliehen mit der Lok, werden jedoch nach einer Verfolgungsjagd durch den Sheriff und seinen Gefolgsleuten gestellt und nacheinander erschossen. Die Szene, in der ein Cowboy, dargestellt von Justus, D. Barnes, seine Waffe direkt auf die Kamera hält und abfeuert, wurde sehr berühmt. Fernsehzuschauern im deutschsprachigen Raum war sie vor allem durch den Vor- und Abspann der TV-Serie „Western von gestern“ bekannt, die Kurzfilme aus den 30er und 40er Jahren zusammenstellte und von 1978 bis 1986 beispielsweise im ZDF ausgestrahlt wurde.

Der Ursprung der Helmstedter Kinogeschichte kann bis in den Anfang des letzten Jahrhunderts zurückverfolgt werden. Er ist eng verbunden mit den sogenannten Martinimärkten, die Jahr für Jahr im November Tausende von Menschen nach Helmstedt zogen. Wie der ehemalige Stadtarchivar Hans-Erhard Müller in seiner Helmstedt-Chronik zu berichten wusste, erhielten die Knechte und Mägde zu Martini ihren Jahreslohn, nachdem die Ernte eingefahren war. Diesen nutzten sie u.a., um sich auf diesen Märkten beispielsweise mit Lebensmitteln oder auch Dinge des täglichen Bedarfs wie Töpferwaren und Geschirr einzudecken. Bude an Bude stand in der gesamten Innenstadt verteilt auf allen größeren Plätzen und es herrschte ein Treiben, wie man es sich heute kaum noch vorstellen kann. Während auf dem Wallplatz, dem Heinrichs- und dem Lindenplatz sowie in der Neumärker Straße meistens Verkaufsbuden standen, an denen man Dinge erwarb, die man zu Weihnachten verschenken konnte, waren der Holzberg und der Markt meistens Schaustellern vorbehalten, die jede Art von Unterhaltung boten.

Zwar kann nicht eindeutig nachgewiesen werden, ob die ersten laufenden Bilder in Helmstedt nun auf dem Holzberg oder aber auf dem Markt zu bewundern waren, Fakt ist jedoch, dass das „Helmstedter Kreisblatt“ vom 14.11.1903 von diversen Jahrmarktattraktionen berichtet. Genannt wird hier zum Beispiel eine zweiköpfige Dame, die leibhaftig auf dem Heinrichsplatz zu sehen war und die gleichzeitig Vorträge mit beiden Köpfen halten konnte. Ob sie darüber hinaus auch pflegte, mit beiden Köpfen zu gleicher Zeit einzuschlafen oder ob ein Kopf schlief, während der andere sich mit anderen Dingen beschäftigte, ist leider nicht überliefert. Interessant wäre es aus heutiger Sicht schon gewesen. Auf dem „Durchbruchsplatz“, wie der Wallplatz früher genannt wurde, fand sich Lohmanns Hunde- und Affentheater ein, das in dieser Kombination sicherlich auch für reichlich Abwechslung sorgte.

Die Sensation war jedoch „Abitius´ verbesserter Kinematograph“, der zu stündlichen Vorstellungen einlud. In einem einfachen Zelt, später wohl auch in einer provisorischen Bretterbude, wurden die Helmstedter Bürger Zeugen unglaublicher Attraktionen. Auf einem weißen Tuch erzeugte der Vorführer mittels seines durch Handkurbel angetriebenen Vorführgerätes eine Abfolge von Bildern auf einem weißen Laken, die die Illusion von Bewegungsabläufen erzeugten. Dazu servierte er knirschende und quietschende Klänge, die man zu jener Zeit als Musik bezeichnete und aus einem Grammophon ertönten. Auch wenn wir diese Art der Darbietung aus heutiger Sicht als dilettantisch bezeichnen würden, damals war es die Geburtsstunde des Films, wie er sich nach und nach in aller Welt verbreitete. Nunmehr war er auch in Helmstedt angekommen. Selbst die jeweils nur wenige Minuten langen Filme, die damals in unserer Stadt gezeigt worden, sind noch bekannt. Es handelte sich um eine den Titeln nach zu urteilen, recht skurrile Zusammenstellung von Werken, was allerdings unter den bereits genannten Gesichtspunkten völlig nebensächlich war. Die Sensation war nicht, was zu sehen war, sondern dass dies überhaupt möglich sein konnte. Und so trugen die Filme so anmutig klingende Titel wie „Ermordung der serbischen Königsfamilie“, „Die Fee der schwarzen Felsen“, „Die Mitternachtssonne bei Sacro in Norwegen“ oder auch „Eine Lappländerfamilie“. Auch ein Jahr später wurde im „Helmstedter Kreisblatt“ von einer ähnlichen Attraktion berichtet. Diesmal war es „Fey´s Phono-Kinematograph“, der auf dem Durchbruchsplatz (dem heutigen Wallplatz) ebenfalls während des Martinimarktes mit „lebenden, sprechenden, singenden und musizierenden Photographien“ auf sich aufmerksam machte. In der Anzeige wies man außerdem auf ein täglich neues Programm hin.

Nachdem sich die Helmstedter jahrelang in zugigen und kalten Marktständen an der Magie ergötzen konnten, die von den laufenden Bildern ausgingen, begann im Jahre 1904 eine neue Entwicklung. Die Präsentation früher Kurzfilme etablierte sich auch hier mehr und mehr in Festsälen kleinerer und größerer Hotels. Den Anfang machte hier das sogenannte „Kaiser-Theater“ bzw. die „Kaiser-Lichtspiele“, die sich laut Anzeige im „Helmstedter Kreisblatt“ im Gebäude Kybitzstraße 10 und hier sehr wahrscheinlich in einem umgebauten Gaststättensaal befanden. Eine auffällig große Anzeige der Direktion H. Sauthoff machte alle Interessierten darauf aufmerksam, dass das Kinematographen-Theater am Sonnabend, dem 21. Dezember 1904 abends um acht Uhr eröffnen sollte. In einer darauffolgenden Bekanntmachung wurde darauf hingewiesen, dass aufgrund einer unvorhergesehenen verspäteten Lieferung von Maschinen und Apparaten die offizielle große Eröffnungsvorstellung erst am 1. Weihnachtstage nachmittags um drei Uhr stattfinden könne. Zum Festprogramm der Weihnachtsfeiertage wurden folgende Filme deklariert: „In der Tiefe des Schachtes“, „Für die Ehre des Bratenschießens“ sowie „Der Balkankrieg“. Trotz des überaus anmutig klingenden Namens dieses Theater war dem Haus offenbar kein Erfolg von langer Dauer vergönnt. Zumindest gibt es keine Hinweise darüber, dass die „Kaiser-Lichtspiele“ auch im darauffolgenden Jahr noch existierten.

Schon kurze Zeit später wagte man in dem später als „Helmstedter Hof“ bekannt gewordenen Gasthaus am Lindenplatz mit einer Veranstaltungsstätte namens „Scala“ einen weiteren Versuch. Wie der ehemalige Stadtarchivar Robert Schaper in seinen „Helmstedter Ansichten und Geschichten“ berichtet, soll hier im Jahre 1906 das erste Helmstedter Kino eröffnet worden sein. Dies stimmt jedoch nur zum Teil. Richtig ist nach heutigen Erkenntnissen, dass es in dem heute nicht mehr existierenden Gebäude mit einem herausragenden und mit mehreren Türmchen versehenen Giebel einen Festsaal gab, der für verschiedene Anlässe und hauptsächlich als Tanzsaal genutzt wurde, unter anderem aber eben auch zum Vorführen von Filmen. Von einem Kino mit Dauerbetrieb konnte man hier allerdings noch nicht sprechen. Aus einer Bauakte geht hervor, dass der Saal im Jahre 1915 nachweislich noch für Lichtspielvorführungen genutzt wurde. Das stilvolle Haus befand sich etwa gegenüber dem heutigen Biowarengeschäft am Lindenplatz und wurde im Jahre 1965 im Zuge der Verbreiterung der Durchfahrt zum Holzberg abgerissen und durch einen Neubau ersetzt.

Interessant ist in diesem Zusammenhang eine Bauzeichnung vom 20. März 1922, in der der Bau eines Lichtspieltheaters mit 324 Saalplätzen und 80 Balkonplätzen vorgestellt wird. Ob diese Planung, die alternativ auch eine Theaterbühne vorsah, tatsächlich umgesetzt wurde, ist leider nicht bekannt. In einem Zeitungsartikel des „Helmstedter Kreisblattes“ vom 05.08.1965 wird von den Abrissarbeiten den Buchmannschen Eckhauses sowie der zurückgenommenen Südfront des ehemaligen Helmstedter Hofes berichtet. Deutlich zu erkennen ist auf dem in diesem Zusammenhang veröffentlichten Foto der frühere Saalanbau, der durch die abgerissene Fassade sichtbar wurde. Auch hier wird allerdings ein ehemaliges Kino erwähnt, das später von den Helmstedter Segelfliegern als Werkstatt genutzt worden sein soll. Recht unrühmlich ging die Geschichte dieses Festsaales in der letzten Phase bis zum Abriss zu Ende. Der Trockenboden diente schließlich als Lagerfläche für Hotelwäsche.

In einer Traditionsgaststätte auf dem Holzberg befand sich eine weitere Keimzelle Helmstedter Filmvorführkunst. Der Gastwirt Wilhelm Schrader, der in einem Zeitungsartikel aus dem Jahre 1958 sogar als „Kinopionier unserer Stadt“ bezeichnet wurde, installierte im Jahre 1908 im Festsaal der Gaststätte „Stadt Hamburg“, die sich direkt rechts neben dem heutigen Kino „Camera“ auf dem Holzberg befand, eine echte Alternative zu den damaligen Vorführungen auf den Jahrmärkten. Unter dem auch nicht gerade tief gestapelten Titel „Kino-Welttheater“ veranstaltete er Abende mit „lebenden Photographien“. Seine Frau begleitete die Filmvorführungen auf dem Klavier. Wie lange das Haus unter diesem Namen firmierte, kann heute nicht mehr nachvollzogen werden. Indiz dafür, dass hier jedoch nicht regelmäßig Filme vorgeführt worden, ist ein Bescheid der Polizeibehörde Helmstedt vom 25. März 1912 an den Gastwirt Wilhelm Schrader. Darin wird ihm erläutert, dass das vom Herzoglichen Staatsministerium verhängte Verbot für die Verabreichung geistiger Getränke nur für diejenigen Räume gilt, die ausschließlich oder überwiegend für kinematographische Vorführungen genutzt werden. Für seinen, nur gelegentlich als Kinematografentheater hergerichteten Raum gelte jenes Verbot nicht. Viele Jahre und einige Umbauten später ging an gleicher Stelle das „Gloria-Kino“ hervor, von dem später noch ausführlich berichtet wird.

Etwa in die gleiche Zeitspanne wie die Filmvorführungen auf dem Holzberg fielen auch die Präsentationen im Hotel Petzold an der Schöninger Straße. In diesem Haus werden unter gleichem Namen auch heute noch Übernachtungsgäste aufgenommen. Anfang des 20. Jahrhunderts war das Hotel ein florierendes Unternehmen, das sich insbesondere auch durch große gesellschaftliche Veranstaltungen einen Namen gemacht hatte. Beispielsweise fanden hier die jährlichen Feiern zu Ehren des Geburtstages Kaiser Wilhelm des II. statt. Aber auch Hochzeiten und Tanzveranstaltungen der feinen Helmstedter Gesellschaft standen regelmäßig auf dem Programm. Immer wieder finden sich im Helmstedter Kreisblatt große Anzeigen, die auf offensichtlich bedeutende Konzerte mit Kapellen und Opernsängern hinweisen. In der Ausgabe vom 20. November 1909 wird an gleicher Stelle das „Theater lebender Photographien“ beworben, das am Sonntag, dem 21. November mit zwei großen Vorstellungen aufwarten sollte. Das „neue, hochinteressante Programm“ fand laut Ankündigung nachmittags um fünf Uhr und abends um halb acht statt. Die Preise erstreckten sich von 75 Pfennige auf dem 1. Platz, 50 Pfennige auf dem 2. und 30 Pfennige auf dem 3. Platz. Nachmittagsvorstellungen konnten sogar zu noch kleineren Preisen ergattert werden. Dass die Vorstellungen sich schon damals großer Beliebtheit erfreuten, ergibt sich aus einem anderen Zeitungsartikel aus jenen Wochen.

Über ein weiteres Kino, in dem zumindest zeitweilig Filme gelaufen sein sollen, weiß die Eigentümerin des Hauses Neumärker Straße/Ecke Collegienstraße, Frau Uta Schönian-Oehrig zu berichten. Augenzeugen für den Bau dieses Hauses wird man heute vergeblich suchen, denn es wurde bereits 1894 gebaut. Wer dies tatsächlich mit eigenen Augen miterlebt hat, wird sich heute kaum noch nennenswerter Lebendigkeit erfreuen können. Fakt ist jedoch, dass sich hier das Hotel „Germania“ befand. Unterhalb dieses Hauses gab es zur Collegienstraße hin auch noch eine Gaststätte, in dessen Räumen sich heute ein Reisebüro befindet. Hier wurden hauptsächlich Besitzer von Pferdefuhrwerken bewirtet, die meistens im darüberliegenden Hotel nächtigten. Bauzeichnungen zufolge wurde hier im Jahre 1912 der Betrieb eines Kinos im Saale des Germania-Hotels für einen A. Eggers aus Helmstedt, der mit dem „Tonbild“-Theater auf der Kornstraße in die Analen der Helmstedter Kinogeschichte eingehen sollte.

Wie auf der Bauzeichnung zu erkennen ist, befanden sich links und rechts neben dem Haupteingang von der Neumärker Straße aus zwei Läden, zwischen denen man durch den noch heute bestehenden Gang auf eine Treppe zukam, von der aus man linker Hand den bis dahin ebenfalls als Festsaal genutzten Raum betreten konnte. Auf einem alten Foto, das leider nicht datiert ist, aber auf das Ende des 19. Jahrhunderts schließen lässt, ist noch der prachtvolle Gesellschaftssaal des Hotels zu erkennen, das damals noch allgemein als „Reichshof“ bekannt war. Lange, mit weißen Tischdecken festlich gedeckte Tafeln und die prachtvolle, später teilweise entfernte Stuckdecke