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Copyright 2008 Monika Felsing (Hg.) und andere Autorinnen und Autoren

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Gestaltung: www.wolfgang-rulfs.de

Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN 978-3-8482-6946-4

Inhaltsverzeichnis

Vorwort

Jungbrunnen sind nichts dagegen: „Astoria“ ist ein Zauberwort. Wer den Namen des einst weltberühmten Bremer Varietétheaters kennt, hat den Schlüssel zu wunderbaren Erinnerungen in der Hand. Mit jedem Satz werden Zeitzeugen der fünfziger und sechziger Jahre jünger, wenn sie von den Musikern, Conférenciers und Artisten erzählen, die auf der Bühne der Familie Fritz in der Bremer Altstadt aufgetreten sind. Die Shows und die Feste liegen Jahrzehnte zurück, aber sie haben Spuren hinterlassen: Lachfalten und Lebensfreude.

Erstaunlicherweise hat bisher niemand die Geschichte dieses großen Bremer Varietés, das vor 100 Jahren gegründet und vor 40 Jahren geschlossen wurde, schriftlich aufgearbeitet. Dieses Buch ist eine Premiere, der gemeinsame Versuch von Journalisten und Zeitzeugen, Erinnerungen zu retten. Wir nennen über 600 der vielen tausend Künstler, Angestellten und Gäste beim Namen. Vollständig kann eine solche Dokumentation selbstverständlich nicht sein, selbst wenn wir unseren Schwerpunkt auf die Jahre 1950 bis 1968 legen, die Zeitspanne vom Neuanfang bis zum Ende des „Astoria“. Die Kapitel des Buches sind nicht streng chronologisch und können deshalb nach Lust und Laune gelesen werden. Das thematisch geordnete Namensregister soll das Suchen nach einzelnen Personen erleichtern.

Die Quellenlage ist dürftig. Im Staatsarchiv und im gemeinsamen Archiv des „Weser-Kurier“ und der „Bremer Nachrichten“ sind natürlich Zeitungsberichte über das „Astoria“ zu finden, weitere wichtige schriftliche Quellen aber sind öffentlich nicht zugänglich. Vieles dürfte sich in Privathand befinden oder bereits vernichtet worden sein. Das gilt vor allem für die früheren Jahre, denn beim Brand 1944 sind viele Dokumente und Fotos zerstört worden.

Bis Ende der fünfziger Jahre war es vor allem Lilo Weinsheimer, die für den „Weser-Kurier“ über das „Astoria“ berichtete, dann löste Hermann Gutmann sie ab. Gisela Arndt schrieb häufig für die „Bremer Nachrichten“ über das Varieté. Die Fotografen Dierssen und Landsberg arbeiteten als Gesellschaftsfotografen im „Astoria“. Georg Schmidt, August Sycholt, Klaus Sander, Werner Krysl und das Ehepaar Gudrun und Otto Lohrisch-Achilles machten Fotos für die Zeitung. Der Trompeter Eckfrid von Knobelsdorff von der City Club Combo sieht den Fotografen mit der Baskenmütze und seine Frau noch vor sich: „Sie hat ihm das Blitzlicht gehalten, und Lohrisch-Achilles hat ins volle Leben gehalten. Mitten rein!“ Die beiden hätten aber immer auch den persönlichen Kontakt zu den Leuten gesucht, die sie fotografieren wollten, erinnert sich der Musiker. „Ein reizendes Ehepaar.“ Gudrun Lohrisch-Achilles (91) lebt 2008 im Johanniterhaus in Bremen. Zahlreiche Negative aus den Beständen des Ehepaares sind im Staatsarchiv zu finden, doch nur wenige aus dem „Astoria“.

Unbekannte Tanzerin im ''Astoria''.

Im Laufe unserer Recherchen für das Buch haben wir Programmhefte, aber auch monatliche Vorberichte, Porträts und Kritiken aus den Zeitungen und Internetveröffentlichungen ausgewertet. Außerdem stützen wir uns auf unsere Zeitzeugeninterviews, auf den Dokumentarfilm von Rolf Wolle (1994) und die Radiodokumentation von Sven Scholz (1967). Privatleute und Profis haben uns Fotos überlassen, ohne die dieses Buch nicht denkbar gewesen wäre. Michael Fritz, der Sohn von Wolfgang Fritz und Enkel von „Astoria“-Gründer Emil Fritz, hat im Familien- und Freundeskreis Material gesammelt und es uns zur Verfügung gestellt. Wolfgang Fritz, einst Deutschlands jüngster Varietédirektor, konnte uns mühelos erklären, wer auf den alten Fotos zu sehen ist, und hat viele Hintergrundgeschichten aus den fünfziger und sechziger Jahren beigesteuert.

Die Arbeit mit Zeitzeugen, im Fachjargon „Oral History“ genannt, ist eine der reizvollsten Aufgaben von Historikern und Journalisten. Wer wird sich mit Dokumenten zufrieden geben, wenn man etwas aus erster Hand erfahren kann? Aber diese Art der Geschichtsrecherche hat auch ihre Tücken. Nicht jeder hält sich an die Wahrheit, und selbst verlässliche, seriöse Zeitzeugen können irren. „Wie das Gedächtnis Lebensgeschichten schreibt“, hat der amerikanische Psychologe John Kotre in dem Sachbuch „Weiße Handschuhe“ (Hanser Verlag 1996) sehr anschaulich und spannend geschildert. Die Engländer haben ein Sprichwort für das unbewusste Verändern der Fakten: „Je älter ein Mann wird, desto schneller ist er in seiner Jugend gelaufen.“

Auch die Kultur- und Sozialwissenschaftler Harald Welzer, Sabine Moller und Karoline Tschuggnall haben sich mit konstruierter Erinnerung befasst. In ihrer Dokumentation „Opa war kein Nazi“ (Fischer 2002) geht es um Nationalsozialismus und Holocaust im Familiengedächtnis. Und immer wieder zeigt sich, dass nicht nur die subjektive Wahrnehmung im Moment des Geschehens ausschlaggebend ist. Auch das veränderte Selbstbild und das Zwischenmenschliche beeinflussen die Sicht auf die Dinge der Vergangenheit. Nennen wir es gefühlte Wahrheit. Weil Emil Fritz eine starke Persönlichkeit war, hat er seiner Umgebung das Gefühl vermittelt, immer für alle da zu sein und alles entschieden zu haben. Wen wundert es da, dass er etwas unterzeichnet oder mit jemandem gesprochen haben soll, als er schon längst nicht mehr lebte?

Wenn die Mitglieder der City Club Combo von Udo Jürgens erzählen, der mit ihnen nach seinem Auftritt im Saal des „Astoria“ im „Arizona“ gejazzt hat, dann geht es ihnen in erster Linie um eine Abgrenzung zwischen Schlager und Jazz. Und die größte Schnulze, die ihnen einfällt, ein Lied, das alle noch im Ohr haben, ist „Cindy, o Cindy“. Also schreibt Frank Wegner im Film unbewusst Musikgeschichte um. Udo Jürgens soll Wolfgang Sauers Hit gesungen haben.

Die Gregors entdecken Bremen auf ihre Art.

Erfahrene Geschichtenerzähler wissen natürlich, was eine Pointe ist. Das zeigt sich unter anderem bei Siegfried. Der ehemalige Schiffssteward hatte seinen ersten Bühnenauftritt an

Land im „Astoria“. Das mag toll sein, aber witzig ist es nicht. Und so ist in der Erinnerung eines Zuschauers aus dem Geparden „Chico“ ein namenloser Seehund geworden. Eine kleine Spitze, gut für einen Lacher: Der Magier und Tigerdompteur habe klein angefangen.

Im „Astoria“ hat es so viele sagenhafte Nummern gegeben, dass sich manche Erinnerungen wie von selbst vermischen. Ein hübsches Beispiel: Der Trompeter Eckfrid von Knobelsdorff erzählt seiner Frau Traudl von den Cottas. „Das war eine Schau, soweit ich mich entsinnen kann, wo so eine Drehscheibe war, und die Hundeviecher sprangen drum herum. Die Frau war an die Scheibe gekettet und dann wurde mit Messern geworfen.“ Er legt eine kurze Erzählpause ein, weil sie die Stirn runzelt, und sagt im Brustton der Überzeugung: „Das war eine Weltsensation!“ Sie: „Ach ja?!“ Die Zweifel sind berechtigt, aber die Sensation hat es gegeben. Allein, es war nicht eine, es waren zwei. Einmal die drei Cottas mit ihren Doggen, von denen noch die Rede sein wird, und dann die Wurfnummer von Elizabeth & Collins aus England (1956). Collins stand auf dem lose hängenden, schwankenden Schlappseil und zielte mit Messern auf Elizabeth, die an eine rotierende Scheibe gefesselt war. Das ist verbürgt. Und es zeigt einmal mehr: Nur weil etwas unwahrscheinlich klingt, muss es noch lange nicht erfunden sein. Das Unglaubliche war im „Astoria“ Programm, wie zwei weitere Nummern belegen. Drei aus Amerika - Paul Kafka & Co - haben das Publikum, und vor allem die Zahnärzte in seinen Reihen, schon 1954 in Atem gehalten. Zwei der Artisten hielten das Schlappseil, auf dem der dritte balancierte, mit den Zähnen. Noch ein bisschen mehr Nervenkitzel gefällig? Die lebende Zielscheibe Bialla fing Gewehrkugeln mit dem Mund.

Einigen wir uns darauf, dass es nicht allein um richtig oder falsch gehen muss, wenn Gefühle im Spiel sind. Weil aber Journalisten und Historiker der Wahrheit verpflichtet sind, haben wir die Informationen, so weit es irgend möglich war, überprüft. Irrtümer behalten wir uns vor. Tatsache ist: Die Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, haben ihr „Astoria“ geliebt.

Udo Jürgens zu Beginn seiner großen Karriere.

Nummerngirl Ingeborg Kiehn (zweite von links) als Mannequin in Abendgarderobe.

Dieses Buch ist eine Hommage ans „Astoria“ und zugleich Teil eines Benefizprojektes. Alle, die daran mitgewirkt haben, verzichten auf ihr Honorar. Der Gewinn wird zwei jungen Bremer Institutionen zufließen, die schon vielen Menschen Freude bereitet haben, internationales Ansehen genießen und Spenden brauchen können: das Straßenzirkusfestival „La Strada“ und das integrative Theaterprojekt „Blaumeier“.

Die ersten 500 Euro aus dem Gewinn stiften wir als Erinnerung an einen Mann, der auf die „Astoria“-Bühne gepasst hätte: Holger Ernst Riekers. Der Komödiant, Publikumsdompteur, Einradfahrer und Jongleur, der in seinem „Varieté Wüst“ im Schnoor und auf vielen Plätzen die Zuschauer in seinen Bann zog, ist 2002 im Alter von 40 Jahren gestorben. Die 500 Euro - gerne auch mehr, falls sich weitere Spender finden - sollen als Ernst-Preis an die komischsten Nummern bei „La Strada 2008“ verteilt werden. Das Publikum möge entscheiden.

Die weiteren Einnahmen gehen nach Abzug uns entstehender Kosten an „Blaumeier“. Die Theatertruppe von Behinderten und Nichtbehinderten hat viele Talente in ihren Reihen, wie die Zuschauer von „Carmen“, „Suite Elisabeth“ oder „Verrückt nach Paris“ bezeugen können. Ein einmalig schönes Projekt, das auf Sponsoren angewiesen ist.

Aber jetzt Vorhang auf fürs „Astoria“.

Holger Ernst Riekers (1962-2002), als „Ernst“ in Bremen unvergessen.

Emil Fritz
Vom Tellerwäscher zum Varietédirektor

„Wo gibt es eine bessere Vorlage für ein Schau- oder Hörspiel, für den Roman unserer Zeit?“ An seinem 75. Geburtstag im Jahr 1952 wird sich nicht nur Emil Fritz diese Frage gestellt haben. Der damals älteste deutsche Varietédirektor hatte ein erfülltes Leben hinter sich und konnte auf vieles stolz sein. Bescheidenheit war seine Sache ohnehin nicht. Er war ein Mann der Superlative und verstand etwas von Werbung.

Wichtig war ihm am Lebensabend aber vor allem eines: Er hatte sich Respekt verschafft. Sein Name galt etwas in Unterhaltungskreisen. Und endlich auch in der Stadt, die ihm zur zweiten

Heimat geworden war. Der Bremer Bürgermeister Wilhelm Kaisen, der nie im „Astoria“ gewesen war, dankte dem Jubilar in einem Brief ausdrücklich dafür, dass er Arbeitsplätze geschaffen, Künstlern aus aller Welt Engagements gegeben und den Fremdenverkehr angekurbelt hatte.

Sein Varieté war sein Leben. Aber Emil Fritz hatte auch Familie. Zweimal ist er Witwer geworden. Er heiratete dreimal und hatte fünf Kinder, denen er ein liebevoller Vater war: Anita und Gisela, den als Kind tödlich verunglückten Hansel, Wolfgang und Horst. Nach seinem Tod übernahmen 1954 der 21-jährige Wolfgang, der gerade die Hotelfachschule in Lausanne absolviert hatte, und dessen Stiefmutter Elisabeth vorübergehend gemeinsam die Geschäfte. Sein Lebenswerk, das „Astoria“, überdauerte ihn nicht lange. Am Neujahrsmorgen 1968 wurden die Türen des Varietés für immer geschlossen. Die Biografie von Emil Fritz ist auch Jahrzehnte später nicht geschrieben, der Film über sein Leben noch immer nicht gedreht. An Stoff hat es wahrhaftig nicht gemangelt: Es ist die Geschichte einer Bilderbuchkarriere, so etwas wie der badische Traum. Der Sohn eines Zylinderhutfabrikanten aus Bühl, der unbedingt das Land der Indianer und Cowboys kennenlernen wollte, ist weit herumgekommen in der Welt. Mit dreizehneinhalb Jahren 1890 ohne seine Eltern nach Amerika emigriert, arbeitete er, wie er später erzählt, unter anderem im Straßenbau, als Milchfahrer, als Konditorlehrling, dann als Tellerwäscher und Seemann auf einem Dampfer.

Emil Fritz, der Gründer des Varietétheaters „Astoria“.

Der junge Deutsche sieht viel von der Welt und vergnügt sich in ihren Hafenstädten, bis er im Jahr 1900 in Bremen für immer an Land geht. Varietés kennt man in der Hansestadt nur vom Freimarkt, dem traditionsreichen Volksfest im Oktober. Emil Fritz stellt sich vor, wie es wäre, wenn sich der Vorhang täglich öffnete, Artisten aus vielen Ländern das ganze Jahr über nach Bremen kämen, um die Bremer und ihre Gäste zu unterhalten.

Nachdem er schon zwei Cafés betrieben hat, pachtet der 31-Jährige am 5. April 1908 ein Haus mit Varietékonzession in der Katharinenstraße und nennt es „Astoria“, nach dem amerikanischen Hotelier Astor aus Waldorf in Baden. Es soll „Europas schönste Vergnügungsstätte“ werden, schöner als das Hansa-Theater oder das Haus Vaterland in Hamburg, das Liebigtheater in Breslau, der Georgspalast in Hannover, der Wintergarten und der Kristallpalast in Berlin, das Schuhmannvarieté in Frankfurt, das Eden Arcadia in Leipzig.

Als Geschäftsmann balanciert Emil Fritz auf dem schmalen Grat zwischen bürgerlicher Existenz und Bohème. Er macht die Nacht zum Tage, zahlt pünktlich seine Steuern, und zwar nicht zu knapp. „Weder Lebemann noch Mucker, sondern Lebenskünstler“ will er sein. Gern umgibt er sich mit Prominenz, aber er versteht genug von guter Dienstleistung, um auch die kleinbürgerlichste Kundschaft zu hofieren.

„Einem hochverehrten Publikum mache ich hierdurch die ergebenste Mitteilung, dass mein in der Katharinenstraße 33 neu gegründetes Weinrestaurant und Café ersten Ranges am 6. August abends acht Uhr eröffnet wird“, inseriert er. „Indem ich jederzeit bereit sein werde, den Wünschen meiner Gäste das größte Entgegenkommen zu zeigen und mit größter Sorgfalt darauf bedacht sein werde, aus Küche und Keller das Vorzüglichste zu liefern, bitte ich um wohlwollenden Zuspruch und empfehle mich hochachtungsvoll: Emil Fritz, Astoria.“

Behaglich und vornehm wirkt das geschmackvoll aufgeteilte Restaurant auf die Gäste. Die Wände seien dezent bemalt, für ausreichende Ventilation gesorgt, und ein kühler Grottenbau, der Wintergarten, schließe sich an, meldet die Zeitung. Eine sehr tüchtige Kapelle konzertiere täglich ab fünf Uhr, die Auswahl an Speisen und Getränken sei reichhaltig, die Bedienung prompt. „Ein gemütlich anheimelnder Musentempel, fern von allem Tingeltangel“ schwebt Emil Fritz vor, „ein Haus gelockerter Atmosphäre“, aber familiär genug, um vereinbar zu sein mit bürgerlicher Moral. „Zu uns muss die Mutter mit der sechzehnjährigen Tochter kommen können.“ Für alle sei das Haus gedacht, nicht nur für „die oberen Zehntausend“, die Bremen gar nicht hat. Melancholikern verschreibt der Chef des Hauses „einen Abend Astoria - sicher ein gutes Rezept“.

Bremer Nachtleben in den Zwanzigern.

Ein König hält Hof: Emil Fritz, eingerahmt von seiner Ehefrau Waltraud (rechts) und seiner Schwester Lina. Im Hintergrund Schwiegermutter Gertrud Bornemann.

Die Bremer gewöhnen sich nur langsam an den immer heller leuchtenden Stern an ihrem Nachthimmel. Im „Astoria“ werde die Jugend verdorben, flüstert man sich zu und geht hin, um nachzusehen. Erst kommen die Herren allein, manche durch den Hintereingang, und irgendwann in Damenbegleitung. Erwartungsvoll schreiten sie über den Teppich, eine Neuheit in der damaligen Bremer Gastronomie, und kehren wieder, um sich die Auftritte der Artisten und Diseusen, der Conférenciers und Tanzerinnen anzusehen.

Kaufleute führen ihre ausländischen Geschäftspartner ins „Astoria“ aus.

Jeden Monat wechselt das Programm. Und Emil Fritz expandiert. 1914 eröffnet er das „Atlantic“, ein Café mit Tanzpalast in der Knochenhauerstraße, und er kauft Packhäuser, um das „Astoria“ zu erweitern. Der Humorist Otto Reutter hat Emil Fritz 1929 einen unbezahlbaren Vers gewidmet, der später bei jeder passenden Gelegenheit zitiert wird: „Direktor werden kann man nie, dazu wird man geboren. Sie sind es. Sie sind ein Genie der deutschen Direktoren.“

Als von Insolvenz gemunkelt wird, geht Emil Fritz in die Offensive. Wer derlei geschäftsschädigenden Unsinn behaupte, fragt er sich nicht etwa im Stillen, denn das wäre nicht seine Art gewesen. Er schaltet am 5. Juni 1929, ein Jahr nach dem großen Umbau, eine Annonce in den Bremer Nachrichten und poltert los: „Aufruf: Bitte, nennen Sie mir die Torfköpfe, welche die falschen Gerüchte verbreitet haben, wonach die E. F.-Betriebe Astoria und Atlantic sich in Zahlungsschwierigkeiten befänden. Gerichtliche Bußen und Sühnegelder der Urheber sollen der Bremer Nothilfe zufließen.“

Blick in den großen Saal des alten „Astoria“.

Die allgemeine Wirtschaftsmisere schadet dem Geschäft nicht. Im Gegenteil. „Mein Vater hat nie so viel Geld verdient wie in der Zeit, wie es den Menschen schlecht ging“, sagt Fritz-Tochter Gisela Sie 1994 im Interview mit den Dokumentationsfilmern. „Weil sie sich amüsieren wollten!“

Der goldene Saal mit glänzender Tanzfläche und modernen Lampen.

Lang ist die Liste der Berühmtheiten, die sich auf der Bühne oder im Zuschauerraum feiern lassen: der Schauspieler Heinrich George, dem Emil Fritz ähnlich sieht, und der ihn als Bruder im Geiste bezeichnet, Claire Waldoff, Paul Lincke, die Boxer Max Schmeling und Hein ten Hoff, die Fliegerin Elly Beinhorn, Prinzen und Prinzessinnen von Preußen, ein holländischer Prinzgemahl, Hoheiten aus Java und aus Siam, der New Yorker Bürgermeister Jimmy Walker, Senta Söneland, Otto Gebühr und Asta Nielsen, die Atlantikflieger Köhl, Hünefeld und Fitzmaurice, Zarah Leander, Marika Rökk, Hildegard Knef, Trude Herr, Vico Torriani, Heinz Erhardt, Brigitte Mira, Lale Andersen, Marita Gründgens, der Akrobat Enrico Rastelli, Lotte Werkmeister, Hans Albers und viele, deren Ruhm Jahrzehnte später verblasst ist. Wahrsager Erik Hanussen aus Berlin prophezeit Emil Fritz zum 25-jährigen Bestehen des Hauses im April 1933 risikolos und werbewirksam: „Das Astoria wird in den nächsten 100 Jahren nicht vergessen werden.“

Emil Fritz ist zeitlebens bekannt dafür, keine Halbheiten zu machen. Er gilt als knallharter Verhandlungspartner, und er steht zu seinem Wort. Als Geschäftsmann geht er kalkulierte Risiken ein, als Chef wird er verehrt, von einigen auch gefürchtet, aber Duckmäuser verachtet er aus tiefstem Herzen. „Emil Fritz war ein prachtvoller Direktor“, sagt die Diseuse Olga Irén Fröhlich 1967 im Radiointerview. „Er hat geachtet, wenn jemand etwas konnte. Und er hat gesorgt, dass Ruhe im Haus war, dass die Beleuchtung stimmte.“ Als sie einmal einen anderen Pianisten fordert, stellt er ihr einen auf seine Kosten. „Und in Geldsachen war er sehr genau“, versichert die Sängerin. „Sein gutes Recht!“

Emil Fritz lässt sich in Geschäftsdinge von niemandem hineinreden, auch und erst recht nicht von seinem Sohn und Nachfolger Wolfgang. Er neigt dazu, andere zu brüskieren und ihnen im nächsten Augenblick die Hand zu reichen. Einmal ruft er eine etwas schwierige Künstlerin an, die auf ein Engagement hofft, erzählt ihr einen Witz und legt auf. Ein paar Tage später nimmt er sie unter Vertrag. Will er sich amüsieren, dann bestellt er sich untalentierte Künstler zu einer Privatvorstellung in die Bar. Sein Humor ist gewöhnungsbedürftig, aber sein Charme bringt ihm viele Sympathien ein. Er habe einfach Format gehabt, bescheinigt ihm Olga Irén Fröhlich, „und eine Nase für das, was gut und richtig war und wie er die Leute zu nehmen hat“.

Unter Hitler und vor allem auch während des Krieges ist es schwer, anspruchsvolle Programme zusammenzustellen. Jüdische, homosexuelle und antifaschistische Artisten, Kabarettisten und Musiker haben Auftrittsverbot, werden ins Exil gedrängt oder in Konzentrationslager gesperrt, die meisten anderen nach und nach zum Arbeitsdienst, zur Truppenbetreuung oder zur Wehrmacht eingezogen. Politisches Kabarett und internationale Gastspiele gehören der Vergangenheit an. Auch das Servicepersonal wird knapp.

Die Stars Willy Birgel und Carl Raddatz (links) am Tisch von Emil Fritz und seinen Töchtern Gisela und Anita.

Das neue „Astoria“ 1950 an der Katharinenstraße.

Beim 137. Bombenangriff auf Bremen brennen am 6. Oktober 1944 das „Astoria“ und das „Atlantic“ nieder. Fritz steht vor dem Nichts. Und er beginnt von vorne. Im Januar 1950 beauftragt er seinen Freund, den Architekten Ostwald, einen Entwurf zu machen. Bauleiter ist Architekt Leopold Ellerbeck. Am 4. April 1950 wird die Grundsteinlegung gefeiert, im Juli das Richtfest. Zimmerpolier Fritz Liebig aus Aumund sagt den Richtspruch auf: „Wenn nun das Haus hier in Betrieb, Bremens Bevölkerung Erfolge sieht. An Anschlagsäulen pranget die Reklame! Bei Emil Fritz genügt der Name!“ Wenige Monate später steht das neue Gebäude. Das Interieur hat der Innenarchitekt, Kunsthandwerker und Maler Heinz Borchers gestaltet, ein Schüler von Lyonel Feininger aus Weimarer Bauhauszeiten.

Ganz Bremen staunt über die Wiederauferstehung des „international berühmten Varieté-Theaters“, der „Hochburg bremischen Frohsinns“. Der „Klosterkeller“ ist noch im Sommer eröffnet worden. Hundert Gäste finden in dem Lokal unter der Vortragsbühne „angenehm behaglich Platz“, wie die Zeitung schreibt. In den großen Saal passen 750 Menschen, außerdem ist noch eine „Hoboken-Bar“ im New Yorker Stil geplant, eine „türkische Mokkadiele“, die „Arizona Bar“ mit gläserner, raffiniert beleuchteter Tanzfläche und die Hafenkneipe „Zum goldenen Anker“. Auch eine rustikale „Halali-Bar“ mit vielen Geweihen und anderen Trophäen darf nicht fehlen - der Chef ist ein leidenschaftlicher Jäger.

Künstler der Eröffnungsgala am 6. Oktober 1950 in ihrer Garderobe. Ganz rechts: das Annadel-Rio-Trio.

Auf den Tag genau sechs Jahre nach dem Brand, am 6. Oktober 1950, stellt der 73-Jährige sein neues „Astoria“ vor. „Ich möchte am liebsten einen Salto mortale schlagen“, soll er auf dem Richtfest ausgerufen haben. Im Radiointerview mit Horst Vetter am Vortag der Wiedereröffnung äußert er sich etwas staatsmännischer: „Ich bin überaus glücklich und froh, dass es mir vergönnt ist, nach schweren, schweren Kämpfen das Astoria in noch schönerer Blüte, als es früher schon war, wieder erstehen zu sehen. Ja, es hat viel, viel Kopfzerbrechen gegeben. Es ist ja jedem Menschen bekannt, wie knapp das Geld ist.“ Weil das Grundstück schuldenfrei gewesen sei, habe er Kredite aufnehmen und es mit Unterstützung guter Freunde schaffen können, nicht das alte Astoria, aber doch die Erinnerung daran wiederzubeleben. Mehr noch: „Was hier geschaffen ist, übertrifft das alte Astoria bei weitem“, freut sich der Direktor auf der ersten großen Feier des Premierentages im Kreise von Presse und Rundfunk, Behördenvertretern und Polizeibeamten, Gewerkschaftern und Gastronomen. Es sei einer der schönsten Tage seines Lebens. Er habe ein Programm zusammengestellt, das dem Humor gewidmet sei, schließlich hätten die Bremer immer gern gelacht. „Bevor ich kam, wurde nichts geboten! Da hieß es: Steife Bremer! Sie waren nie steife Bremer! Sie lachen genauso gern wie alle Deutschen!“ Sein Conférencier von Seydlitz darf es am Premierenabend beweisen.

Dreimal täglich schläft der Chef, um dreimal so lange zu leben, wie er scherzt, und kommt dabei auf elf Stunden. All seine Kraft setzt er für den Betrieb ein. „Ich habe mein ganzes Leben lang stets unter freudigen Menschen gelebt. Ich will auch schwerere Zeiten in diesem Augenblick ausschließen, denn die schöne Zeit, die ich erlebt habe, ist so überwiegend, dass die traurige Zeit nicht ausschlaggebend ist“, sagt er im Radio. „Wenn der Arzt nicht mehr helfen kann, dann kann die Freude noch helfen, ein Herz zu stärken.“

Der Boxer Hein ten Hoff (rechts) mit Emil Fritz und Geschäftsführer Borchert.

Im „El Tukan“ wurden lebende Tukane gehalten.

Die Welt zu Gast in Bremen

Aus allen Erdteilen kommen Künstler in den fünfziger und sechziger Jahren ins „Astoria“, das „Haus der Nationen“. Der tanzende Zahnarzt Ricardo Vazquez aus Madrid und seine Frau haben ein Engagement in Bremen, die freundliche Tau Moe Family aus Hawaii, Amerikaner mit Lasso, der Gummimensch Hoang-Mai aus Südvietnam, der ägyptische Zauberer „Gally Gally Man“, die Pavlovs mit ihrer strippenden Pudelpuppe und auch die staatenlosen, jonglierenden Schwestern Lu und Li Perezoff („Vater Russe, Mutter Italienerin“). Ferenc Pataki aus Ungarn multipliziert 25 344 mit 5637 schneller als die ersten Computer, die der Volksmund „Elektronengehirne“ nennt. Zirkus-Oscar-Preisträger Hermané zeigt seine Leiterbalance. Pho Yang Tiong verwandelt einen Blitz in eine Taube. Der Harfenist Florencio Coronado aus Peru spielt, was später Weltmusik heißen wird, und Beryl Barony aus den „holländischen Kolonien“ singt „mit bezaubernder Anmut original indonesische Lieder“. Tanzerinnen aus anderen Kulturen, wie die anatolische Prinzessin Semiramis und die Inderin Shanti, werden in Bremen von sich reden machen.

Für die Jahre 1956 bis 1961 hat die Direktion nachträglich Statistik geführt. 1324 Artisten sind in den fünf Jahren im „Astoria“ aufgetreten. 395 von ihnen Akrobaten, die Perche-Akte und Luftnummern, Boden- und Trampolinkunststücke vorführten. 282 Tanzerinnen und Tanzer hatte die Direktion zeitweise unter Vertrag, 72 Musicalnummern, 70 Jongleure, 62 Zauberer, 59 Radakte, 56 Sängerinnen und Sänger, 55 Humoristen, 43 Universalakte und 168 sonstige, als da wären Gummimenschen, Bauchredner, Kunstschützen, Messerwerfer, SeilTanzer, Tierdresseure, Parodisten, Puppenspieler und Diseusen. Die am häufigsten vertretenen Nationalitäten: Deutsche (466), Franzosen (200), Engländer (157), Dänen (83), Italiener (70), Spanier (50), Ungarn (41), Nordamerikaner (35) und Österreicher (31). Eine russische und eine japanische Nummer gab es in den fünf Jahren, zwei türkische, zwei indische, drei schwedische und drei mexikanische.

Die Tau Moe Family und andere Artisten mit Bühnenarbeiter Jürgen Mayburg.

Bühnenmeister Walter Gabriel und ein Nummerngirl.