Waltraud Wagner

Erkenntnisse
über ein modernes Rudeltier

Books on Demand

Inhaltsverzeichnis

Über dieses Buch

E in Hund als Erzähler. Das mag Ihnen außergewöhnlich vorkommen. Doch dieses kreative Sachbuch soll Ihnen ermöglichen, in die Wahrnehmungswelt eines Hundes einzutauchen.

Tatsächlich glauben viele Hundehalter, sich emotional in ihr Tier hineinversetzen zu können. Um aber das Verhalten des geliebten Vierbeiners wirklich zu verstehen, ist neben Einfühlungsvermögen umfangreiches Wissen gefragt.

Hunde sind sehr intelligent, auch wenn sie nicht reden können.

Sie unterhalten sich über Mimik, Gestik, Körperhaltung und Lautäußerungen.

So drücken sie ihre Absichten und Empfindungen aus. Bestimmte Forderungen, Reaktionen und Gegenstände lernen sie mit Worten zu verknüpfen.

Über das Ausmaß ihrer Wahrnehmung und ihres Verstehens wissen wir längst nicht alles. Sie verblüffen uns immer wieder aufs Neue, indem sie hervorragend einschätzen, gekonnt nachahmen und sogar tricksen.

Gefühle der Zuneigung, der Freude, des Leides verbinden uns mit ihnen. Sie wissen mehr über unsere Stimmungen und Absichten, als uns bewusst ist.

Der Hund hat sich in der Vergangenheit sehr gründlich an den Sozialpartner Mensch angepasst und gelernt, ihn immer besser zu verstehen. Damit auch der Mensch lernt, den Hund besser zu verstehen, finden Sie in diesem Buch Antworten auf folgende Fragen:

Viel Spaß beim Lesen.

Waltraud Wagner

Hundepsychologin (Dipl. ATN/CH)
CANIS-Absolventin

Montag

An einem wolkenverhangenen Montagmorgen im Januar geht Frauchen Waltraud mit mir zu Fuß aus dem Haus. Meistens fahren wir mit dem Auto in den Wald, wo ich frei laufen darf. Jedoch wenn es geschneit hat und die Straßen glatt sind, so wie heute, ist Laufen angesagt. Eisige Kälte, die vom gefrorenen Boden aufsteigt, lässt mich zittern. Da bin ich heilfroh, dass wir einen Zahn zulegen, denn durch das stramme Gehen fühlen sich meine Gliedmaßen gleich viel wärmer an.

Unser Ziel ist der Blumenladen. Der Blumenmann schaut mich mit finsterer Miene an, und während er von oben herab mit seinem Finger auf mich zeigt, fragt er mit bedrohlichem Unterton: »Was ist denn das für ein seltsamer Hund, und warum schaut er so schrecklich böse?«

Bevor mein Frauchen antworten kann, bin ich schon auf hundertachtzig. Was heißt schrecklich böse? Ich sehe zugegebenermaßen nicht gerade wie ein Filmstar aus, aber deshalb bin ich doch kein Monster! Der Blumenmann runzelt die Stirn: »Er sieht aus wie ein zu klein geratener Boxer.«

Frauchen ergreift nun endlich das Wort: »Nein, Duke ist ein Bostonterrier, benannt nach der Stadt Boston in Amerika.«

Der Blumenmann lacht: »Tatsächlich?! Und das bei dem Gesicht? Ich muss ihn aber nicht streicheln, oder?«

Sehr witzig! Ich belle gereizt in mich hinein. Als ob ich etwas für mein Aussehen könnte. Ich bin sechsunddreißig Zentimeter hoch, an den Schultern gemessen; mit erhobenem Kopf inklusive Stehohren immerhin sechsundvierzig Zentimeter. Mein Fell ist kurz und – abgesehen von den weißen Pfoten und der hellen Brust – ganz schwarz. Meine etwas ernste Miene kommt wohl durch meine straffen Gesichtszüge zustande, was bei Adeligen durchaus nicht ungewöhnlich ist. Adelig? Ja, mein vollständiger Name lautet Duke Doolittle of Sunnyland.

Äußerlich mag ich eher klein sein, innerlich bin ich ein ganz Großer. Na ja, woher soll der Blumenmann auch wissen, dass er es mit einem Herzog vom Sonnenland zu tun hat. Früher, ja früher, da hätte ich es ihm gezeigt. Und es juckt mich wirklich in der Kehle, ihn einmal gründlich anzuknurren. Aber mir ist klar, dass ich mich jetzt zurücknehmen muss.

Endlich hat mein Frauchen das langweilige Gespräch beendet, und wir gehen hinaus, wo ich tief durchatmen und nach all den betörenden Blumendüften meine Nase entspannen kann. Auf dem Gehweg entlang zu schnüffeln ist eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Der winzig kleine Hügel an meiner Schnauzenspitze, der mir Gerüche in chemische Bestandteile zerlegt, macht meine Stupsnase zu einem genialen Riechorgan. So weiß ich mit Gewissheit, dass hier vor Kurzem ein Rüde entlanggegangen ist. Doch nicht nur er hat sein Revier markiert, oh nein. Während ich das Bein hebe, um meinerseits auch einen kleinen Strahl abzusetzen, wundere ich mich über die Menschenmänner, die vor allem zu fortgeschrittener Stunde und im angetrunkenen Zustand glauben, es uns gleichtun zu müssen.

Ich entdecke ein zusammengeknülltes, achtlos weggeworfenes Papier und erkunde, dass darin einmal ein Hamburger gesteckt hat. Das dürfte so einige Tage her sein. Ein paar Schritte weiter rieche ich ein Stückchen Keks, das wohl einem unachtsamen Kind heruntergefallen ist und schon etwas länger hier liegt.

Ein leichter Luftzug trägt von der anderen Straßenseite schon wieder allerhand Blumiges herüber. Doch diese Blumen sind grob, schwer und unnatürlich. Sie gehören ganz unverkennbar zu dem aufdringlichen Parfümgeruch von Frau Matty, die mit ihren zwei kleinen Jack-Russell-Terriern gerade aus dem Haus gekommen ist. Frau Matty ist groß und kräftig, was ihr zusammen mit ihrem stets entschlossenen Gesichtsausdruck eine recht resolute Ausstrahlung verleiht. Ihre beiden Hunde, Mina und Martin, nehmen sich neben ihrem Frauchen fast winzig aus. Dabei sind es bildschöne Vertreter ihrer Rasse. Mina ist ganz weiß. Nur das eine Ohr und ein handtellergroßer tropfenförmiger Fleck auf ihrem Rücken sind schwarz. Auch Martin ist schneeweiß, abgesehen von einigen grauen runden Fleckchen an beiden Ohren.

Wenn die drei spazieren gehen, verziehen viele Passanten vor Unbehagen das Gesicht. Manche wechseln sogar verunsichert die Straßenseite, denn die beiden Terrier ziehen meist wie verrückt an der Leine. Sie bellen und knurren Menschen und auch andere Hunde an.

Plötzlich höre ich ein Reifenquietschen. Das ist ja ohrenbetäubend! Wo kommt das nur her? Mein Blick wandert entsetzt hinüber zur anderen Straßenseite. Oh, nein! Mina und Martin sind soeben vor ein Auto gesprungen! Beide werden mit Rollup-Leinen ausgeführt. Diese sehen wie kleine Plastikkästchen aus. Die darin aufgewickelte Leine bietet dem Hund bis zu acht Metern Bewegungsspielraum. Frau Matty hält in jeder Hand eine solche Leine, und ganz offensichtlich hat sie versäumt, die Sicherheitsknöpfe, die ein Abspulen verhindern, festzustellen. Somit konnten ihre beiden überdrehten Hunde auf die Fahrbahn springen.

Zum Glück ist nichts passiert. Der Wagen ist gerade noch rechtzeitig zum Stehen gekommen. Aber es war wirklich haarscharf. Jetzt steigt der Fahrer aus. Er sieht sich suchend um, geht dann auf Frau Matty zu und brüllt völlig außer sich: »Sind Sie verrückt?!«

Frau Matty hat alle Mühe, ihre Vierbeiner zurückzuhalten. Während die beiden Jack-Russell-Terrier nach wie vor bellend an der Leine ziehen, erwidert sie unwirsch: »Die beiden haben doch nur Angst. Machen Sie kein solches Theater.« Der Autofahrer läuft rot an und senkt den Kopf wie ein wütender Stier: »Na, das ist ja wirklich die Höhe! Sie müssten dankbar sein, dass ich so geistesgegenwärtig war und noch bremsen konnte! Das ist doch ein Unding! Hunde, die nicht gehorchen, einfach frei laufen zu lassen!«

»Sie laufen nicht frei«, kontert Frau Matty schnippisch. »Wie Sie sehen, sind beide ordnungsgemäß angeleint.«

»Sie haben die Viecher nicht im Griff«, knurrt der Mann. »Sie können sie ja nicht einmal jetzt zum Schweigen bringen.«

Frau Matty funkelt den Mann provozierend an: »Warum sollen Mina und Martin nicht bellen dürfen? Schließlich ist das bei Hunden ein ganz normales, natürliches Verhalten!«

Der Autofahrer macht eine wegwerfende Geste. »Was solls! Mit Ihnen kann man ja ohnehin kein vernünftiges Wort wechseln. Es ist eben immer wieder dasselbe. Es muss erst etwas passieren, ehe solche Leute wie Sie zur Einsicht kommen!« Damit steigt er wieder in seinen Wagen und fährt davon.

Wir sind nicht die einzigen Passanten, die stehen geblieben sind und die ganze Situation mitbekommen haben. Frau Matty sieht kurz zu uns herüber, dreht sich dann mit einem selbstgerechten Schnauben auf dem Absatz um und geht – so schnell es mit ihren beiden völlig unerzogenen Terriern im Schlepptau eben möglich ist – die Straße entlang.

Frauchen seufzt erleichtert auf, und auch wir gehen endlich weiter. Doch ich höre noch, wie einer der Passanten hinter uns sagt: »Furchtbar ist das mit diesen vielen Hunden heutzutage! Hinterlassen überall stinkende Haufen und hören nicht!«

Oh! Ich könnte laut aufjaulen wie ein Kojote. Frau Matty scheint zu vergessen, dass so ein Hundeverhalten, wie es Mina und Martin an den Tag legen, das Ansehen von allen Hunden und natürlich auch von deren Besitzern in ein ganz schlechtes Licht setzt. Und das ärgert mich; denn für mich war es auch nicht gerade ein Zuckerschlecken zu lernen, wie man sich als Hund in der Menschenwelt gesittet benimmt!

Zum Glück gibt es auch Passanten, die lobende Worte finden: »Ist das ein gut erzogener und braver Hund«, sagen die Leute manchmal zu meinem Frauchen. Das geht uns beiden runter wie Öl und macht mich mächtig stolz.

Der Rest des Vormittags verläuft recht unattraktiv für mich, denn es gibt nichts Neues zu erleben. Frauchen Waltraud erledigt Büroarbeit, und ich liege schön gemütlich in meinem Körbchen in der Nähe der brodelnden Heizung. Neben mir liegt Cindy – ach ja, von ihr habe ich noch gar nichts erzählt.

Cindy ist sozusagen meine Gesellschafterin. Sie kommt von der Insel Kreta und lebt jetzt schon seit vielen Jahren mit mir und Frauchen zusammen. Knapp menschenkniehoch, ist sie mit einem flauschigen, cremefarbenen Fell gesegnet, das halblang ihren schlanken Körper umgibt. Die Ohren sind schwarz; ein heller Streifen, der die Mitte ihrer Stirn ziert, führt hinab zu ihrer vornehm anmutenden und schmal zulaufenden Schnauze. Am Rutenansatz hat sie einen schwarzen, wenige Zentimeter breiten Fellring. Ihre Rute trägt sie wie einen wunderschönen, sanft hin und her schwingenden Schweif mit sich. Frauchen sagt manchmal Flöckchen zu ihr. Diesen Kosenamen finde ich lächerlich. Für solche Gefühlsduseleien habe ich nichts übrig. Dass ich mich gelegentlich an Cindys weicher Seite ausruhe und ihr kuscheliges Hinterteil als Kopfkissen benutze, ist ja etwas völlig anderes.

Natürlich mache ich das nur bei ihr; sie darf das bei mir nicht. Bis heute hat sie es auch noch nie gewagt. Cindy traut sich nicht viel zu. Sie ist schüchtern wie ein Veilchen. Mein Frauchen würde das jetzt natürlich nicht gerne hören, aber es ist nun einmal eine unbestreitbare Tatsache, dass ich, wenn es etwas zu erleben gibt, mit meiner Stupsnase immer der Erste bin.

Frauchen Waltraud sagt, Cindy sei leichtführig. Was auch immer sie damit meint, auf jeden Fall gebe ich Cindy gegenüber den Ton an. Dass die sich das gefallen lässt, finde ich gar nicht so übel, bedeutet es doch immer wieder aufs Neue eine erfreuliche Selbstbestätigung für mich.

Früher habe ich oftmals versucht, mich gegenüber Frauchen durchzusetzen. Leider ist es meistens bei einem Versuch geblieben. Sie ist eine zierliche Person, mit schönen, tiefblauen Augen und kurzem, Sonne gebleichtem Haar. Auf den ersten Blick wirkt sie sehr sanft und freundlich. Man könnte denken, sie sei wie meine Gesellschafterin Cindy. Aber das wäre ein gewaltiger Irrtum! Sie kann nämlich auch sehr energisch und beharrlich sein. Obwohl ich mir immer wieder etwas Neues einfallen lasse, um sie herauszufordern, habe ich doch bisher immer den Kürzeren gezogen. Ich muss wohl – wenn auch mit einem Zähneknirschen – zugeben, dass sie die Chefin ist.

Montagnachmittag

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