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Matthias Ennenbach

PRAXISBUCH

BUDDHISTISCHE
PSYCHOTHERAPIE

Konkrete Behandlungsmethoden
und Anleitung zur Selbsthilfe

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3. Auflage 2019

Buddhistische Psychotherapie BPT® ist eine eingetragene Marke

eISBN 978-3-86410-168-7

Inhalt

Einleitung & Einstimmung

Teil I · Das Setting: Form und Inhalt der BPT

Kapitel 1 · Die Grundlagen

Kapitel 2 · Die ersten konkreten Schritte

Kapitel 3 · Die übergeordneten Ziele

Kapitel 4 · Der Behandlungsrahmen

Teil II · Die Behandlungsmethoden der BPT bei inneren unheilsamen Zuständen

Kapitel 5 · Die unbenannte Krankheit

Kapitel 6 · Unsere Ängste

Kapitel 7 · Unser Ärger

Kapitel 8 · Unsere Trauer und unsere Depressionen

Kapitel 9 · Unser Burnout

Kapitel 10 · Unsere Selbstwertprobleme

Kapitel 11 · Unsere Schmerzen

Kapitel 12 · Unsere Süchte

Kapitel 13 · Unsere Schlafstörungen

Kapitel 14 · Unsere psychosomatischen Beschwerden

Kapitel 15 · Unsere Essstörungen

Kapitel 16 · Unsere spirituellen Krisen, unser spiritueller Burnout

Kapitel 17 · Unsere Persönlichkeitsstörungen

Teil III · Die Behandlungsmethoden der BPT bei äußeren unheilsamen Zuständen

Kapitel 18 · Unsere Konflikte

Kapitel 19 · Unsere Probleme mit Partnerschaft und Sexualität

Kapitel 20 · Unsere Co-Abhängigkeiten

Kapitel 21 · Unser Mobbing

Kapitel 22 · Unsere Traumatisierungen

Kapitel 23 · Unsere Isolation und Einsamkeit

Kapitel 24 · Unser Verlust, Sterben und Tod

Kapitel 25 · Unsere Arbeitslosigkeit und materielle Not

Kapitel 26 · Unser Leben in einem reichen Land

Teil IV · Zusammenfügen und Intersein

Kapitel 27 · Innere und äußere Konflikte lösen und in die Befreiung treten

Anhang

Übungen bei unheilsamen inneren und äußeren Zuständen

Literatur

Über den Autor

Einleitung & Einstimmung

Lange Einleitungen sind für die allermeisten von uns furchtbar. Wir wollen am liebsten den direkten Zugang, den schnellen Erfolg, möglichst sofort und einfach. Es gibt so vieles, was wir noch lesen und erfahren wollen. Die Informationsflut, der wir uns täglich stellen müssen, scheint manchmal übermächtig zu sein wie ein Tsunami, der auf uns zukommt. Viele von uns erleben einen sich stetig steigernden Druck und Zwang nach Effektivität und Geschwindigkeit. Auch wenn die Welle vielleicht jetzt in diesem Augenblick nicht so bedrohlich ist, fehlt es uns doch oft an Gelassenheit und Geduld. Beides wünschen wir uns so sehr, doch wie können wir uns diese Einstellung im Alltag erhalten?

Diese Empfindungen und Fragen kennen wir wohl alle. Sie zeigen uns, wie sehr wir unter Strom stehen. Der Stress von außen besteht spürbar, und leider setzen wir uns selbst auch noch zusätzlich unter Druck. Als Resultat davon nehmen wir dann die unterschiedlichsten Symptome und Beschwerden wahr.

Das vorliegende Buch lädt dazu ein, diese Abläufe etwas genauer zu betrachten. Wie wirken äußere Einflüsse auf uns, und wie können wir uns davon unabhängig oder zumindest unabhängiger machen? Warum reagieren wir in dieser Weise, und welche inneren Abläufe führen dann zu Problemen? Vielleicht haben wir schon verschiedene Selbsthilfe- und Heilmethoden ausprobiert, wie zum Beispiel Psychotherapie, Yoga, Meditation oder ein anderes Verfahren. Womöglich haben wir auch mit eigenen Plänen, Vorhaben und Änderungsversuchen experimentiert. Hierfür gibt es leider vielfältige Hindernisse, die wahrscheinlich auf den ersten Blick gar nicht so offensichtlich sein mögen, doch über kurz oder lang zu einer Blockade oder Stagnation führen können.

Dieses Praxisbuch liefert uns detaillierte und klar nachvollziehbare Einblicke in die relevanten Zusammenhänge. So können wir leicht erkennen, was uns blockiert und wie wir selbst eine Lösung dafür finden können. Für diese Herangehensweise nutzen wir die Erfahrungen aus der Buddhistischen Psychotherapie BPT, welche die Erkenntnisse aus den buddhistischen Lehren, Übungen und Praxisanweisungen, den Neurowissenschaften, der Psychotherapie, der Psychologie und anderen Wissenschaften nutzbar macht. Dabei gehen wir der Frage nach, wie wir heilsame Gedanken und Vorhaben möglichst leicht und erfolgreich in die Tat umsetzen und noch nicht genutzte Ressourcen aktivieren können. Die BPT sucht nämlich nicht nur Probleme zu bewältigen, sondern insbesondere auch das menschliche Potential zu fördern.

Das vorliegende Buch, dessen Fokus auf der Praxis liegt, bietet einen Überblick darüber, welche Wissensinhalte für unsere Fähigkeiten zur Problemlösung und für unsere Weiterentwicklung bedeutsam sein können. Es rundet damit die wichtigsten Wissensbereiche ab, die auch Themen des Buches Buddhistische Psychotherapie waren. Dann folgt der eigentliche Schwerpunkt dieses Buches, nämlich die Schilderung von sehr häufig auftretenden Problemen und die Beschreibung zur Umsetzung konkreter praktischer Hilfsmaßnahmen. Darin spiegeln sich die konkreten Erfahrungswerte wider, die sich aus langen Jahren der Praxis mit der Buddhistischen Psychotherapie BPT ergeben haben. Wir werden anschaulich und nachvollziehbar erfahren, wie Menschen ihre Ängste und Depressionen, ihre Trauer und ihr Gefühl eines Burnouts lindern und auflösen konnten. Neben der Verarbeitung dieser und anderer unheilsamer innerer Zustände befassen wir uns auch mit unterschiedlichen äußeren Konflikten und Problemen, wie zum Beispiel mit den Themen Partnerschaft, Mobbing, Arbeitslosigkeit, Isolation und Verlust. Dabei besteht die Möglichkeit, detaillierte Einblicke in den therapeutischen Prozess innerhalb der BPT zu erhalten und die konkreten Schritte nachzuvollziehen, die uns in die Befreiung führen. Zu diesem Zweck werden wir in diesem Praxisbuch die notwendigen Maßnahmen, Übungen und Praxisanleitungen zur Milderung und Auflösung von unheilsamen inneren und äußeren Problemen finden.

Wahrscheinlich haben wir uns schon oft gefragt, wie wir von der Theorie in die Praxis gelangen können. Das scheint für viele von uns eine sehr wesentliche Frage zu sein, da wir in der Regel über ein recht gutes Wissen darüber verfügen, was wir eigentlich tun und was wir lassen sollten; doch es gibt dann immer wieder die vielen „guten“ Gründe, die uns daran hindern.

Tun oder Nicht-Tun

Dieses Praxisbuch versucht ein scheinbares Paradox zu lösen: nämlich eine Anleitung für etwas zu sein, das Buddhisten mit „Verlöschen“ oder „Verwehen“ meinen, wenn sie den Begriff Nirvana verwenden. Sie wollen sich gewissermaßen auflösen, was heißt: befreien.

Auf diesem Weg bereitet uns natürlich unser Ego meist größere Probleme. Könnte das etwa bedeuten, dass wir uns in der Buddhistischen Psychotherapie BPT im Hinblick auf das Ego eher auf einen Abbauals auf einen Aufbauprozess einstellen müssen? Für Buddhisten wie für westliche Psychotherapeuten nimmt das Ego eine Schlüsselstellung ein, doch während viele Psychologen das Ego zu stärken versuchen, scheinen Buddhisten den Abbau des Ego zu praktizieren. Da hier noch viele Missverständnisse existieren, werden wir uns in diesem Buch auch mit einigen solcher scheinbaren Widersprüche beschäftigen.

Ein weiterer, oft erlebter Widerspruch besteht zum Beispiel in dem Appell, uns zu bemühen und uns auf den Weg zu machen, uns zu ändern, wobei wir gleichzeitig realisieren, dass wir das Ziel bereits in uns tragen, dass es keinen Weg gibt, dass wir nicht mehr, sondern weniger oder gar nichts tun sollten, doch unbedingt das Richtige.

Dieses Phänomen scheinbarer Widersprüche kennen wir auch aus anderen Wissenschaften. Physiker nennen es Komplementarität. Es bezeichnet die Einheit aus zwei völlig entgegengesetzten und zum Teil sogar unvereinbaren Polen. Die Erkenntnis, dass zum Beispiel ein Atomteilchen sowohl die Eigenschaften und das Verhalten von Masse und zugleich von Energie besitzt, hat die Wissenschaftler lange verstört. Es ist entweder Energie oder Materie, aber beides gleichzeitig schien völlig absurd zu sein. Kann ein Gegenstand gleichzeitig heiß und kalt sein? Eigentlich nicht. Und doch ist es für uns sehr lohnenswert, diese Gegebenheiten genauer zu ergründen, wenn wir uns zum Beispiel auf einen Weg machen sollen, dessen Ziel bereits in uns vorhanden ist. Wir realisieren die Parallelität der Notwendigkeiten, uns einerseits auf unserem Weg zu bemühen und uns andererseits ganz im Hier und Jetzt zu verankern und alles zu stoppen: Nicht-Tun und Bemühen. Es gibt keinen Weg, doch wir müssen ihn gehen. Wir werden in diesem Buch noch genauer erfahren, wie wir diese Weisheit zu unserer Grundhaltung machen können, und gleichzeitig lernen, die vielen konkreten Handlungsanweisungen und Verantwortlichkeiten umzusetzen.

Die BPT ist Lehre und Praxis

In der BPT existiert die klare Vorstellung, dass wir alle betroffen sind. Wenn wir akut leiden, besteht zwar ein noch dringenderer Handlungsbedarf, doch auch wenn es uns momentan recht gut geht oder gut zu gehen scheint, haben wir ebenfalls einen Weg vor uns, den wir für unsere persönliche Weiterentwicklung dringend nutzen sollten.

Zweifellos ist der persönliche und insbesondere auch der spirituelle Weg eines Menschen immer individuell und einzigartig. Daher könnte es auch eine ziemlich irrsinnige Idee sein, ein Buch über solche Prozesse schreiben zu wollen, die sich eigentlich jeder exakten Beschreibung entziehen. Da wir jedoch sowohl einzigartig sind, wie unsere DNS oder unsere Fingerabdrücke, aber gleichzeitig als Menschen auch sehr ähnlich funktionieren, viele gemeinsame Merkmale und Bedürfnisse aufweisen, ist es durchaus möglich, Prinzipien zu beschreiben, die für uns alle gültig und wirksam sind. Das wird sogar noch deutlicher, wenn wir durch die über 2000 Jahre alten buddhistischen Texte erkennen, dass die damaligen Menschen auch über viele Generationen hinweg und in einem völlig anderen Kulturkreis mit sehr ähnlichen Problemen zu kämpfen hatten wie wir modernen Zivilisationsmenschen. Schon damals, über 2000 Jahre vor Sigmund Freud, war Buddhisten bekannt, dass wir Menschen sehr unbewusst reagieren, dass wir uns oft an Widerständen aufreiben und in Begehrlichkeiten verstricken. Genau wie damals wollen sich auch heute Menschen von inneren und äußeren Zwängen befreien und suchen dafür entsprechende Hilfen. Dieses Wissen hat unserer Kultur lange als eine wichtige Quelle der Erkenntnis gedient. Heute scheint es sehr lohnenswert, diese Quelle noch gezielter zu nutzen und natürlich auch zu würdigen.

Der buddhistische Weg bedeutet eine Verknüpfung von Lehre und Praxis. Neben der Vermittlung der buddhistischen Lehre, der Wissensinhalte der Buddhistischen Psychotherapie BPT und der Heranführung an die Übungen werden vor allem auch die konkreten Vorgehensweisen bei den verschiedensten inneren und äußeren Problemen transparent gemacht und hoffentlich auch solche Fragen beantwortet wie: Worin besteht der Beistand der BPT? Was ist konkret zu tun, wenn wir uns zum Beispiel von unseren Ängsten, unserer Wut, unserer Trauer, von Sorgen, Burnout, Trennungsschmerz, Kummer, Problemen mit Mobbing, Süchten oder psychosomatischen Beschwerden befreien wollen? Können wir uns vorstellen, dass es möglich sein soll, tatsächlich grundlegende Konflikte aufzulösen? Ist es denkbar, unsere Ängste, den Ärger und die Trauer wirklich zu überwinden? Zur Beantwortung dieser Fragen werden uns die buddhistischen Lehren sowie die Praxisübungen des Buddhismus und der Buddhistischen Psychotherapie BPT wichtige Hinweise liefern können.

Viele Psychotherapeuten, auch viele andere Behandler und sonstige Interessierte erkennen in der Zusammenführung von Buddhismus und Psychotherapie eine sehr heilsame und wirkungsvolle ganzheitliche Behandlungsform. Bereits seit vielen Jahren arbeiten zahllose Behandler mit einem buddhistischen oder anderen spirituellen Hintergrund. Ihre dadurch gewonnenen Erfahrungswerte sind für Hilfe suchende Menschen sehr kostbar.

In dem Buch Buddhistische Psychotherapie wurden die Konzepte einer solchen Synthese aus Buddhismus und Psychotherapie strukturiert dargestellt und die wesentlichen theoretischen und zum Teil auch schon die praktischen Methoden der Buddhistischen Psychotherapie BPT in 22 Grundlagen zusammengefasst vorgestellt. Dieser letzte Aspekt der praktischen Methoden wird hier nun vertieft und konzentriert dargestellt. Aufgrund der interessanten Diskussionen, die das erste Buch Buddhistische Psychotherapie auslöste, und der häufigen Fragen nach den konkreten Möglichkeiten der Umsetzung sowie auch der Fragen, wie dieser Ansatz möglichst gut vermittelbar sei, ist dieses Praxisbuch entstanden.

Wir werden die verschiedenen Methoden der Vermittlung, insbesondere aber die Praxis- und Übungsmethoden unter die Lupe nehmen und mit vielen Beispielen angereichert darstellen. Auf diese Weise werden wir uns einigen wichtigen Fragen annähern: Wie können wir Menschen, die noch wenig Zugang zur Psychotherapie und auch kaum Kenntnisse über den Buddhismus haben, diese Behandlungsform näherbringen? Welche konkreten Übungen haben sich als besonders hilfreich erwiesen? Wir werden uns auch detaillierter anschauen, wie wir Menschen mit spezifischen Problemen ganz konkrete Hilfsmaßnahmen aus der BPT anbieten können.

Man kann vom Buddhismus vieles lernen,
auch ohne Buddhist zu sein.

– DALAI LAMA XIV. –

Alle sind willkommen

Die Menschen, die in die Buddhistische Psychotherapie BPT kommen, sind ebenso vielfältig wie ihre Sorgen und Nöte. Vielleicht sollten wir uns darauf besinnen, dass Buddha seine Lehren zwar auch Adligen, Beamten und gut gebildeten Soldaten näherbringen konnte, doch ebenso den einfachen Arbeitern, Hirten und Tagelöhnern. Von den buddhistischen Lehren und Praxisübungen fühlen sich die unterschiedlichsten Menschen angesprochen, hier scheint etwas Universelles und für alle Zutreffendes angeregt und aktiviert zu werden. Im Laufe der Jahre kamen Menschen aus den unterschiedlichsten Regionen der Welt in die BPT: deutschstämmige Menschen aus verschiedenen Bundesländern, Menschen, deren Wurzeln in anderen europäischen Ländern liegen, und auch Menschen aus Nordafrika und mehreren russischen Regionen. Dementsprechend kommen hier Menschen zusammen, die einen sehr unterschiedlichen kulturellen und religiösen Hintergrund mitbringen.

Die Interessierten erkennen recht schnell, dass die Buddhistische Psychotherapie BPT keine Religion zu vermitteln sucht oder gar missionarischen Eifer entwickelt. Ein Aspekt, der von den Menschen, wenn sie die BPT kennenlernen, als sehr angenehm empfunden wird, ist der verbindende Gedanke, das Erkennen und insbesondere das Erfahren der Verbundenheit miteinander. Die Erfahrung, dass trotz der großen Unterschiede, die an der Oberfläche durchaus existieren, gewissermaßen darunter- oder darüberliegend sehr viele Gemeinsamkeiten zwischen uns Menschen bestehen, zeigt erfahrungsgemäß schon eine heilsame Wirkung. Wir erkennen schnell, dass wir alle immer wieder leiden, dass wir alle oft ärgerlich, ängstlich oder traurig werden und dass wir ebenso alle danach streben, nicht mehr zu leiden und ein glückliches Leben zu führen.

Über viele Jahre hinweg hat sich die Erfahrung bestätigt, dass nicht die jeweilige Problematik – also die Themen und das Ausmaß der psychischen, sozialen und psychosomatischen Beschwerden – entscheidend ist. Es ist auch nicht von wesentlicher Bedeutung, mit welchem persönlichen Hintergrund, wie zum Beispiel Bildung, Sozialstatus, Beruf, Religionszugehörigkeit, Familienstand, Alter oder Geschlecht, Menschen in die buddhistische Psychotherapie kommen. Es ist immer wieder spannend zu erleben, wie schnell interessierte Menschen einen guten Zugang dazu finden. Daher können wir jeden Interessierten in der BPT willkommen heißen. Das entscheidende Kriterium ist die individuelle Motivation. Die BPT ist eigentlich fast jedem zu empfehlen, nur der Nutzen daraus misst sich an dem, was jeder selbst einzusetzen bereit ist. Anders als bei vielen Therapieformen beinhaltet das Konzept nicht nur ein Einzelgespräch pro Woche. Unser Behandlungs-Setting sieht neben diesem Einzelgespräch pro Woche auch ein bis zwei Gruppensitzungen vor, zum Beispiel Gesprächs- und Meditationsgruppen. Des Weiteren werden neben der täglichen Meditation noch zusätzlich individuelle Übungen zusammengestellt, die der Hilfesuchende regelmäßig, oft mehrmals täglich, ausführen sollte. Je nach Hintergrund werden Texte besprochen oder als Literaturtipp zum Selbststudium gegeben.

Auch bei der BPT gibt es Enttäuschungen

Es lassen sich hier zwei große Gruppen von Enttäuschungen benennen: Bei der ersten Gruppe handelt es sich hoffentlich um zahlreiche Ent-Täuschungen. Wenn wir uns mit der buddhistischen Lehre und den Inhalten der BPT beschäftigen, sie im Dialog mit den Therapeuten ergründen, dann werden wir eine Vielzahl von Täuschungen und Selbsttäuschungen feststellen müssen. Ein großer Schwerpunkt bei der Herangehensweise beinhaltet die Befreiung von Täuschungen. Wir werden darauf noch näher eingehen.

Die zweite Gruppe der Enttäuschungen betrifft die Abgleichung zwischen den Erwartungen und der pragmatischen Realität. Nicht wenige Hilfesuchende kommen zur BPT mit sehr hohen Erwartungen und entweder der mehr oder weniger bewussten Vorstellung von einer schnellen buddhistischen Blitzheilung oder der Vorstellung, dass die buddhistischen Übungen etwas Magisch-Wirksames mit ihnen machen.

Ich habe euch den Weg gezeigt, der zur Befreiung führt,
doch ihr müsst erkennen,
dass die Befreiung selbst nur von euch abhängt.

– BUDDHA

Im sich anschließenden Teil I des Buches werden die Rahmenbedingungen der BPT und die Übungsaspekte beschrieben, zu denen die Hilfesuchenden eingeladen werden. Da diese relativ umfangreich ausfallen, wird jedem neuen Teilnehmer schnell klar, dass es keine Abkürzungen gibt. Es gilt also, ein geduldiges Training umzusetzen.

Wer sich mit Kindern beschäftigt, die zum Beispiel anfangen, lesen zu lernen, der merkt, wie mühsam es sein kann, sich neue Inhalte anzueignen. Wahrscheinlich werden wir in solchen Situationen feststellen können, dass wir uns an diesen Aneignungsprozess nur noch wenig erinnern. Wenn wir eine Fähigkeit erlernt haben, erscheint sie uns spielerisch einfach, doch der Weg dorthin kann durchaus etwas Geduld und insbesondere regelmäßige Übung verlangen.

Die Loslösung vom Leid erfordert bewusste Anstrengung.

– DALAI LAMA XIV. –

Welche Ziele verfolgen wir?

Was tun Buddhisten eigentlich konkret, wenn sich unheilsame Emotionen regen? Werden Buddhisten überhaupt noch wütend, traurig, ängstlich, oder verfallen sie eventuell gar nicht mehr in Depressionen, in Sehnsüchte oder den Zwang zu Grübeleien? Schaffen sie es wirklich, sich zu befreien? Gelingen alle ihre Beziehungen? Wie viel ist Mythos und Legende und wie viel ist tatsächlich Realität?

An dieser Stelle soll unterstrichen werden, dass wir uns in diesem Buch mit unserem Leben als Laien, also außerhalb von Klöstern, als Nicht-Mönche und Nicht-Nonnen, beschäftigen. Was tun buddhistische Laien konkret, wenn sie Wut, Trauer oder Angst verspüren? Wie sieht ein wütender, trauriger oder ängstlicher Buddhist aus? Wir werden uns einige hilfreiche Strategien „abschauen“, analysieren und konkrete Übungsanleitungen kennenlernen.

In dem Buch Buddhistische Psychotherapie wurden umfassend alle wesentlichen Aspekte der BPT beschrieben, deren Form und Inhalt sowie alle dazu nötigen buddhistischen Lehren. Das Nachfolgebuch Befreit – Verbunden thematisierte die Möglichkeit, als Liebespaar nach den buddhistischen Lehren zu leben und sich mit gegenseitiger Unterstützung zu befreien. Das vorliegende Buch konzentriert sich auf unsere verschiedenen inneren und äußeren Probleme und bietet konkrete Selbsthilfe, Handlungs- und Behandlungsmöglichkeiten.

Die Unterscheidung zwischen inneren Problemen, wie zum Beispiel Ängste und Depressionen, und äußeren Problemen, wie zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder Mobbing, dient lediglich der besseren Überschaubarkeit. Natürlich können wir eine Vielzahl unserer Probleme, wenn wir sie detaillierter betrachten, nicht mehr eindeutig nur äußeren oder nur inneren Ursachen zuordnen. Oftmals erleben wir Verstrickungen und ein teilweise undefinierbares Gemisch aus Gefühlen, körperlichen Reaktionen und Symptomen, sozialen Konflikten und Problemen mit unserem Umfeld. Dabei ist häufig schwer festzustellen, ob zuerst die körperlichen, die psychischen oder die sozialen Probleme entstanden sind. Leide ich zum Beispiel, weil ich in einer schwierigen Situation bin, oder trägt mein spezielles Verhalten dazu bei, dass die Situation so ist, wie sie ist? Erzeugt mein gestresster Körper die belastenden Emotionen oder ist es umgekehrt? Wir werden uns mit diesen Abläufen noch genauer beschäftigen und sie gewissermaßen in Zeitlupe und unter dem Mikroskop betrachten. Diese Analysen dienen allerdings nicht einer detektivischen Ursachenforschung oder gar Schuldzuweisung, sondern einer Erhellung der sich anschließenden heilsamen nächsten Schritte und Übungen.

Jedes der in diesem Praxisbuch bearbeiteten Themen stellt sicherlich ein eigenes kleines Universum an Details und persönlichen Besonderheiten dar, auf die wir hier nur mit eher allgemeingültigen Maßnahmen eingehen können. Die individuellen Aspekte können im Rahmen dieses Buches daher nur beispielhaft beschrieben werden. Sie finden ihren Platz im Behandlungsalltag der Therapeuten und Therapien.

Mit jedem der Themen Angst, Wut, Trauer, Depressionen, Burnout, Mobbing, Schmerzen, Süchte, um nur einige zu nennen, lassen sich viele Bücher füllen. Dementsprechend musste hier eine Auswahl getroffen werden, die einen Eindruck von der Herangehensweise und Umsetzung der Methoden der BPT vermittelt, doch keineswegs als erschöpfend und vollständig beschrieben werden kann.

Zusätzlich muss betont werden, dass die Milderung und Auflösung von Problemen zwar sehr wichtig ist, doch nur eine Facette der BPT darstellt. Die Möglichkeiten dieser Therapieform sind erheblich vielschichtiger. Der buddhistische Einfluss zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir eben nicht nur Negatives mindern und auflösen, sondern aktiv auch das Heilsame fördern und stabilisieren möchten.

Eine konkrete Auswirkung dieses Konzeptes bedeutet, dass diese Behandlungsform nicht nur geeignet ist, wenn es uns schlecht geht, sondern sie kann auch oder vielleicht sogar gerade in einer momentan guten Phase sehr sinnvoll genutzt werden. Wir betreiben sozusagen Vorsorge und bemühen uns um Weiterentwicklung – hin zur Befreiung. Und diesen Weg können wir natürlich dann etwas leichter beschreiten, wenn unser Leidensgepäck nicht so schwer wiegt.

Wenn wir eine gute Prise Salz in ein kleines Glas mit Wasser geben, dann wird das ganze Wasser sofort seinen Geschmack ändern. Wenn wir die gleiche Menge Salz in einen Fluss geben, dann wird sich dadurch recht wenig ändern.

Diesem Bild folgend, versuchen wir aus unseren noch kleinen und oft eingeschlossenen, sehr unfreien und abhängigen Persönlichkeitsanteilen einen unabhängigeren und befreiteren Fluss zu machen. Diese Zusammenhänge sollten bedacht werden, wenn wir uns mit den konkreten Themen dieses Praxisbuches befassen. Das Ziel einer umfassenden Befreiung wird angestrebt und dazu durch die effektive Kombination aus buddhistischen und psychotherapeutischen Methoden angeregt.

Die kurz aufgelisteten verschiedenen Facetten der inneren und äußeren unheilsamen Zustände erscheinen auf den ersten Blick sehr unterschiedlich und scheinbar völlig unabhängig voneinander. Oder gibt es einen Zusammenhang zwischen Ärger, Süchten, Trennungen, unserem Umgang mit Zeitdruck, Mobbing oder Schmerzen?

Unsere geistige Verfassung

Tatsächlich gibt es zwischen allen Themen dieses Buches eine Verbindung und einen gemeinsamen Nenner: unsere geistige Verfassung. Diese entscheidet hauptsächlich darüber, wie wir unsere Erlebnisse und Erfahrungen bewerten und interpretieren. Welche Bedeutung hat es, wenn es regnet? Ist dann alles grau und traurig, oder freuen wir uns, dass die Natur getränkt wird? Wenn ein Hund bellt, ist das ärgerlich, bedrohlich, putzig, natürlich oder einfach nur belanglos? Welche Bedeutung geben wir unseren störenden Körpersignalen, wie zum Beispiel Schmerzempfindungen? Wollen wir sie nur beseitigen, oder nutzen wir sie als wichtige Hinweise und Signale? Wieso bewerten wir die Welt genauso, wie wir es üblicherweise zu tun pflegen?

Wahrscheinlich gibt es mittlerweile bei uns schon feste Muster, nach denen wir uns, unsere Mitmenschen und unsere Umwelt gewissermaßen einrastern und nach festen Kategorien in Schubladen stecken. Jede Erfahrung wird sogleich festgelegt und häufig auf unheilsame Weise fixiert. Wir müssen diesen Prozess sehr achtsam einbremsen, da er sehr schnell und oft automatisiert nach alten Erfahrungsmustern und Bewertungsmaßstäben in uns abläuft. Ob wir wollen oder nicht, wir bewerten alles um uns herum in Sekundenbruchteilen und reagieren dann emotional darauf. Hier liegt eine große Quelle für unseren selbst gemachten Stress und Druck und auch für das Leiden anderer. Gleichzeitig sind hier auch oft nicht genutzte, heilsame Ressourcen vorhanden, denn die Macht unserer geistigen Qualitäten wird noch kaum ausreichend gewürdigt, sondern zum Beispiel im Rahmen der Placebo-Thematik abgewertet.

Der Umgang mit unseren emotionalen und verstandesorientierten Reaktionen und deren Einordnung ist für uns von besonderer Bedeutung. Während wir im Westen von einer relativ klaren, zumindest sprachlichen Trennung zwischen Verstand und Gefühl ausgehen, meinen die buddhistischen Texte, wenn sie von Geisteszuständen sprechen, eine Einheit aus Emotion und Verstand.

Unsere emotionalen Grunderfahrungen liefern uns leider oftmals keine eindeutigen, sondern sogar regelrecht unklare und falsche Bewertungsmaßstäbe: Beispielsweise hauen wir uns mit einem Hammer auf den Daumen und empfinden dabei natürlich heftige Schmerzen. Wir lernen also, dass Emotionen, wie zum Beispiel Schmerzen, reaktiv auftreten. Wir sind sozusagen das Opfer und erleiden verschiedene unangenehme Emotionen. Jemand schreit uns an und wir reagieren beispielsweise wütend, ängstlich oder traurig darauf. Der andere ist schuld daran, dass wir uns schlecht fühlen. So vieles ist in unserer Welt unsicher, doch unsere Emotionen äußern sich oft in Form von schnellen und deutlich spürbaren Reaktionen; das schafft ein trügerisches Gefühl der Sicherheit und wird häufig entscheidend für unser Unglück und Leiden.

Dieser Sachverhalt wird in vielen westlich orientierten Therapiemethoden anders gehandhabt als in der Buddhistischen Psychotherapie BPT. Während wahrscheinlich viele westlich ausgebildete Therapeuten und Therapeutinnen ihren Klienten vermitteln werden: Vertraue deinen Gefühlen, werden buddhistische Psychotherapeuten einen deutlich anderen Standpunkt vertreten. Unsere Emotionen sind, ebenso wie unsere Verstandestätigkeiten, häufig trügerisch und daher müssen wir uns diese oft unreflektiert ablaufenden Prozesse sehr genau anschauen.

Wir erleben zum Beispiel intensive Gefühle, wie Angst, weil ein großer Hund auf uns zugelaufen kommt, oder Wut, die in uns hochkocht, weil wir uns ungerecht behandelt fühlen, oder wir werden ungeduldig, weil jemand viel zu langsam mit dem Auto vor uns fährt. In solchen Situationen und bei vielen anderen Alltagserfahrungen sind wir uns zumeist sicher, dass unsere Gefühle von außen verursacht wurden. Wäre die Welt nur ein bisschen gerechter oder wären die Menschen nur aufmerksamer, solidarischer, cleverer, eben „bessere“ Menschen, dann hätten wir auch nicht den Ärger mit unseren unangenehmen Gefühlen. Mit dieser Thematik werden wir uns im Rahmen der Buddhistischen Psychotherapie BPT sehr detailliert und kritisch auseinandersetzen. Die von uns scheinbar konstatierte Einheit aus Emotionen und Verstandestätigkeiten ist nämlich keineswegs eine feste Einheit, sondern eine Art momentane Zusammenballung. Dieses Konstrukt wirkt zeitweise recht stabil, da sich unser Verstand sofort damit befasst, sich meistens damit identifiziert und dann gern recht lange damit beschäftigt. Ohne Geistestraining laufen diese spannenden inneren Prozesse schnell und unbewusst ab. Hier werden gewissermaßen die Ketten unserer Unfreiheit geschmiedet, und diese Mechanismen müssen von uns achtsam ergründet und transformiert werden.

Das Ziel über den anderen Zielen

Kann und darf ein anderer Mensch daran mitwirken und darüber entscheiden, ob unser Blutdruck drastisch ansteigt, unsere Magensäure schmerzhaft spürbar wird, unsere Muskeln sich verkrampfen, Adrenalin unseren Verstand einnebelt und aus uns wahlweise ein wütender Kampfhund, ein Trauerkloß oder ein Angsthase wird? Oder erlernen wir, wie wir uns die verschiedenen Situationen mit etwas mehr Distanz anschauen und selbstbewusst entscheiden, wie wir reagieren?

Die für uns bedeutsame Frage ist die nach unseren Einflussmöglichkeiten und den Überlegungen, wie wir uns inmitten emotionaler Verstrickungen und Abhängigkeiten befreien können. Das übergeordnete Ziel unserer gesamten Bemühungen besteht in unserer Befreiung. Wir befreien uns natürlich nicht von unseren Emotionen, sondern von unseren emotionalen Abhängigkeiten. Wir befreien uns also innerhalb oder inmitten unserer Emotionen, doch wir schneiden sie nicht ab.

Um diesen Weg gehen zu können, benötigen wir einige grundlegende Erklärungen. Wir werden daher erfahren, wie unsere Gefühle überhaupt entstehen und wie wir sie steuern, mäßigen, verändern und umwandeln können.

Unsere Selbstverantwortlichkeit

Ein zentraler Aspekt der buddhistischen Lehre und Praxis ist die Konzentration auf unsere Selbstverantwortlichkeit. Dies ist ein ganz entscheidender Punkt, denn schließlich wollen wir doch etwas Heilsames bewirken. Das bedeutet, dass wir unsere Selbstverantwortung und auch unsere Selbstwirksamkeit erkennen, verinnerlichen und verwirklichen.

Sicherlich benötigen wir viele schmerzliche Kreisläufe, bis wir erahnen und dann hoffentlich gewahr werden, dass wir für uns und unsere Emotionen selbst verantwortlich sind. Vorher heißt es noch: Ich fühle mich so schlecht – wegen meinem Freund, meiner Frau, meinem Chef, meinem Nachbarn, dem Wetter, der Gesellschaft oder einem anderen der vielen von außen kommenden Faktoren. Es ist ein manchmal bitteres, dann aber auch befreiendes Erkennen, das den Blick nach innen lenkt, unsere Sicht klärt und uns unsere Selbstverantwortung verdeutlicht.

Diese Thematik ist auch von Bedeutung, wenn wir Entscheidungen treffen müssen. Wir müssen, wir sollen und wir können uns sehr häufig entscheiden. Das wirft grundlegende Probleme auf. Welche Entscheidung ist bloß die richtige? Leider reagieren wir hier in der Regel zu schnell oder hadern und grübeln wenig effektiv, oftmals mit einem Gefühl der Hilflosigkeit oder Verwirrung. Nicht selten spüren wir eine emotionale Reaktion und geben ihr einfach nach. Jemand sagt etwas, das uns vielleicht verärgert; wir erleben mit dem Ärger auch körperliche Anspannungen und reagieren sofort. Entweder wir „explodieren“, zum Beispiel mit Gegenwehr, Schimpfen, Abwertungen oder Kampf, oder wir „implodieren“, ziehen uns beleidigt zurück, grübeln, haben Selbstzweifel und klagen uns selbst an. Die dann geführten inneren Monologe sind meist wenig hilfreich. Wir werden hier noch genauer betrachten, wie schnell wir uns zum Beispiel in einer Opfer- oder Kämpferrolle wiederfinden und uns dann selbst gefangen nehmen. Sicherlich gibt es auch viele Situationen, in denen wir eine schnelle und gute Lösung herbeiführen, doch es gibt auch ebenso viele Situationen, die uns vor eine schwere Wahl stellen – Situationen, in denen uns nicht sofort klar ist, was „das Richtige“ für uns und andere ist. Auch diese Entscheidungsprozesse werden wir uns in diesem Buch noch genauer anschauen.

Haben wir eigene Regeln?

Es gibt so viele äußere Verhaltensregeln, Gesetze und Verbote in unserer Gesellschaft, aber welchen inneren eigenen Regeln folgen wir eigentlich? Haben wir uns schon einmal damit auseinandergesetzt, was unsere eigenen Regeln sind? Oder leben wir vielleicht sehr stark nach den Regeln anderer Menschen? Im beruflichen Umfeld müssen wir uns meistens stärker den Regeln anderer anpassen als zum Beispiel im privaten Bereich. Oder richten wir uns auch hier nach den Regeln anderer? Verzichten wir oft „um des lieben Friedens willen“ auf unsere eigenen Belange zugunsten der Harmonie? Kurzfristig sorgen wir sicherlich für Ruhe und Zufriedenheit, zumindest bei unseren Mitmenschen, doch wie sieht es damit mittel- oder langfristig für uns selbst aus?

Hier müssen wir als achtsame Wesen einen Mittleren Weg finden. Natürlich ist es unser Ziel, unser Ego zu überwinden und uns selbst nicht mehr ganz so wichtig zu nehmen. Allerdings werden wir noch genauer darauf eingehen, wie wichtig es ist, erst einmal ein gutes Gefühl und Gespür für uns selbst zu entwickeln, bevor wir uns daran machen können, unser Ego zurückzunehmen beziehungsweise dessen wahren Charakter einer Hilfskonstruktion zu erkennen. Bis es aber so weit ist, kann es erst einmal recht wichtig sein, dass wir herausfinden, wo wir stehen, wie der Status quo aussieht, worin unsere eigenen Bedürfnisse bestehen und wie unsere eigenen Regeln aussehen können. Vielleicht können wir einmal einige konkrete Alltagsregeln für uns selbst formulieren. Es hat sich oft als sehr lohnenswert erwiesen, diese in Form einer Liste aufzuschreiben.

Doch vielleicht gibt es auch noch grundsätzlichere Regeln, die wir für uns formulieren können. Wollen oder können wir stehlen oder etwas nehmen, das uns nicht gegeben wurde? Nein? Was passiert, wenn uns die Verkäuferin zu viel Wechselgeld herausgibt? Stimmen die Angaben für das Finanzamt wirklich immer genau? Was wäre, wenn unsere Familie hungern müsste?

Wollen oder können wir lügen? Nein? Reden wir nie abfällig über andere? Keine kleinen oder mittelgroßen Notlügen? Wir müssen immer achtsam abwägen, welchen Motiven wir folgen. Vielleicht ist eine kleine Notlüge manchmal besser als die „reine Wahrheit“, um einen Menschen nicht zu verletzen, und wahrscheinlich kann sie ebenso angebracht sein, damit wir selbst nicht verletzt werden. Die Vermeidung von Lügen kann durchaus selbstsüchtig sein. Wir sprechen dann vielleicht eine brutale und verletzende Wahrheit aus. Nur deshalb, damit wir ein gutes Gefühl behalten, nehmen wir in Kauf, dass dafür womöglich jemand anders leidet. Sicherlich gibt es hier viele schwierige Gratwanderungen.

Wollen wir uns regelmäßig betäuben? Nein? Wie sieht denn unser Konsum von Nikotin, Alkohol, Beruhigungsmitteln, Haschisch, Kokain oder anderen Drogen aus? Gibt es eine andere Form von Konsum oder unheilsamen Gewohnheiten, die unseren Geist eintrüben?

Wollen oder können wir uns in Beziehungen so verhalten, dass niemand verletzt wird? Das Buch Befreit – Verbunden widmet sich ausführlich dieser Fragestellung.

Eine der grundsätzlichsten Fragen lautet: Wollen oder können wir töten? Nein? Aber leben wir vegetarisch? Wie reagieren wir, wenn wir oder unsere Familie massiv bedroht würden? Welchen Kriterien unterliegen Ausnahmen, die wir womöglich machen würden?

Die buddhistischen Lehren stellen uns direkt vor die Wahl: Folgen wir dem ewigen Rad des Leidens, den sich stetig wiederholenden Ärgernissen, Ängsten und der Trauer? Wollen wir wie ein Roboter nur vorgefertigte Reaktionen und alte Muster abspulen? Sollen andere Menschen darüber entscheiden, wie wir uns fühlen und wie wir reagieren? Oder wollen wir das alles nicht? Können wir selbst entscheiden, wie wir uns fühlen und wie wir uns verhalten? Können wir unsere Selbststeuerung verbessern? Mit genau diesen Themen, Herausforderungen und Aufgaben werden wir uns in diesem Praxisbuch befassen.

Wir sind alle betroffen

Diese Beschreibungen verdeutlichen, dass wir alle von diesen sich ständig wiederholenden Problemen betroffen sind und deshalb unausweichlich auch immer wieder leiden. In diesem Punkt unterscheiden sich buddhistische Sichtweisen recht deutlich von westlichen „Krankheitsphilosophien“ und sogenannten epidemiologischen Statistiken, die zu verdeutlichen suchen, dass lediglich ein gewisser Prozentsatz der Bevölkerung krank ist oder das Risiko aufweist, krank zu werden. Während also westliche Wissenschaftler die Menschheit in Kranke und Gesunde einteilen, verstehen Buddhisten die Menschheit als ein Ganzes: Es besteht für uns Menschen keine Chance, Leiden zu umgehen. Wir werden schmerzhaft geboren, werden unausweichlich krank, wir werden älter und gebrechlicher und wissen, dass wir sterben werden. Das Gleiche passiert mit denen, die wir lieben. Dazu kommen unzählige weitere Leidensfaktoren: Trennungen, Verluste, Unfälle, Kriege und eine unüberschaubare Vielzahl alltäglicher Probleme. Daher ist die Schlussfolgerung naheliegend, dass wir als Menschen unausweichlich immer wieder mit Problemen und sich daraus ergebendem Leiden konfrontiert werden. Dann können wir entweder stereotypen Leidensreaktionen und damit unseren alten Mustern folgen, oder wir entwickeln uns weiter, um aus den immer wieder gleichen Kreisläufen auszusteigen.

Wir werden bei den einzelnen Themen dieses Buches auch recht gut erkennen können, dass es keine klaren Zuweisungen von guten und schlechten Zuständen geben kann. Vorschnell meinen wir, dass es nur das scheinbar böse Problem gibt, das einfach nur beseitigt werden soll. Manchmal erkennen wir bei näherer Betrachtung aber auch „das Gute im Bösen“. Vielleicht können sich nach und nach schlechte Lebensphasen oder negative Situationen zu wichtigen Erfahrungen weiterentwickeln, wenn wir dies zulassen. Für unsere Weiterentwicklung können uns schmerzliche Leidenserfahrungen manchmal tatsächlich helfen, da diese in ihrer Intensität einfach nicht mehr von uns ignoriert werden können. In ihnen steckt eine unumgängliche Aufforderung, die wir bei geringfügigeren Leidenserfahrungen nur allzu oft zu übergehen versuchen. Es ist auch zu beachten, dass aus guten Erfahrungen, die wir unachtsam und vielleicht übermäßig handhaben, unheilsame Entwicklungen entstehen können.

Die psychosomatische Körpersprache

Eine Vielzahl von unangenehmen körperlichen Symptomen kennen und deuten wir als „Sprache“ unseres Körpers (Soma). In diesem Zusammenhang können wir recht interessante Erfahrungen machen und Einblicke in das Miteinander von Psyche und Körper gewinnen. Beispielsweise stellen wir fest, dass unser Verstand uns auf der psychischen Seite manchmal sehr unter Druck setzt. Er funktioniert wie ein strenger Oberlehrer oder Chef, der uns anweist: „Erst muss dieses oder jenes noch erledigt werden, erst danach ist eine Pause zulässig. Los, ein bisschen geht noch. Erst die Arbeit, dann das Vergnügen!“

Unser Körper scheint da wesentlich „vernünftiger“ zu sein als unser Verstand. Er meldet uns ganz unabhängig von den Pflichten und Notwendigkeiten, dass eine Grenze erreicht oder sogar schon überschritten worden ist. Dafür stehen ihm sehr viele Warnzeichen zur Verfügung: die unterschiedlichsten Schmerzsignale oder auch starkes Schwitzen, Schlafstörungen, Herzklopfen, Magen-Darm-Probleme, Übelkeit, Schwindel, um nur einige zu nennen. Es sind Signale, die wir achtsam zur Kenntnis nehmen sollten.

Leider achten wir zu wenig und zu wenig feinfühlig auf diese Signale, denn in der Regel nehmen wir sie nur wahr, wenn der innere Pegel schon fast die 100-Prozent-Marke erreicht hat. Doch spüren wir auch, wenn der innere Pegel erst bei 50 oder nur bei 25 Prozent angekommen ist? Wenn wir mehr Achtsamkeit darauf verwenden würden, hätten wir wesentlich mehr Einflussmöglichkeiten, da unsere Handlungs- und Reaktionsmöglichkeiten bei einem 50-Prozent-Pegel natürlich deutlich vielfältiger sind als bei einem 100-Prozent-Pegel.

Mehr als nur eine Reparaturanleitung

Die Inhalte dieses Buches konzentrieren sich zwar auf konkrete Maßnahmen beim Auftreten von spezifischen Problemen, doch trotzdem handelt es sich nicht um ein psychotherapeutisches Nachschlagewerk in Form einer simplen Reparaturanleitung. Anders als bei einer normalen Reparaturanleitung ist es hier unumgänglich, den Bauplan, die verschiedenen Funktionsweisen und die all diesen Abläufen zugrunde liegende Weisheit zu erforschen. Die Prinzipien des Erkennens und Verstehens sind ebenso wichtig wie die folgenden Schritte der Verinnerlichung und dann insbesondere auch der praktischen Umsetzung und Verwirklichung. Unter Einbeziehung dieser Notwendigkeiten werden wir in diesem Praxisbuch konkrete Maßnahmen zur Bewältigung der verschiedensten Problemsituationen formuliert und anschaulich beschrieben finden.

Wenn Ängste auftreten, wenn uns Depressionen quälen, wenn die Wurt hochkocht oder wir unseren unheilsamen Gewohnheiten ausgeliefert zu sein scheinen, benötigen wir alternative Strategien, um aus alten Leidensmustern aussteigen zu können. Ebenso werden unsere zwischenmenschlichen Konflikte und Abhängigkeiten unter die Lupe genommen und konkrete alternative Verhaltens- und Reaktionsmöglichkeiten beschrieben.

Neben den vielen großen Problemen gibt es natürlich noch unendlich viele weitere schmerzliche Problemkonstellationen. Erfreulicherweise können wir manches zusammenfassen und Übungen kennenlernen, die bei etlichen, auch sehr unterschiedlichen Problemen hilfreich für uns sein können. Allerdings werden wir hier keine „Zauberformeln“ finden, die uns magische Abkürzungen anbieten. Das Ziel ist eine Steigerung unserer eigenen Einflussmöglichkeiten und eine achtsame Selbststeuerung in Richtung Befreiung.

Für die praktische Arbeit besteht eine Vielzahl von guten Erfahrungswerten aus den buddhistischen Traditionen und der Behandlungspraxis der BPT, auf die wir zurückgreifen können. Wir müssen in der Behandlung und für unsere Heilung nicht jedes Mal „das Rad neu erfinden“. Die BPT kann neben den Erfahrungen aus einer langen Tradition der Psychotherapie noch zusätzlich aus der wesentlich älteren und umfassenderen Quelle des Buddhismus und dessen Behandlungs- und Praxismethoden schöpfen.

Offenkundig sind dieser eher literarischen Herangehensweise auch Grenzen gesetzt. Jede menschliche Problematik ist so einzigartig wie das jeweilige Individuum selbst. Dieser Tatsache muss im Rahmen einer Beratung oder Therapie natürlich Rechnung getragen werden. Andererseits bestehen nicht nur zwischen der buddhistischen und der psychotherapeutischen Tradition, sondern auch zwischen den einzelnen Individuen viele Gemeinsamkeiten und sich häufig wiederholende Grundmuster. So hat es oft eine entlastende Wirkung zu merken, dass wir mit unseren kleinen und großen Problemen nicht allein sind. Solange wir diese Muster im Hinblick auf unser Verhalten nicht verstehen, aufdecken und transformieren, werden wir nie eine freie Wahl haben, sondern immer nur einem Muster folgen.

Rat – Schläge oder echte Hilfe?

Es dürfte sicherlich eine ganze Reihe von Psychotherapeuten geben, die sich sehr unwohl fühlen, wenn ihre Klienten, Patienten oder Hilfesuchenden sie mit der Frage konfrontieren: „Was soll ich denn jetzt tun? Sie kennen nun mein Problem, Sie sind der Fachmann/die Fachfrau, also sagen Sie mir bitte, was ich jetzt konkret tun soll.“ Häufig wird diese Frage einfach nur zurückgegeben: „Was würden Sie denn jetzt gerne tun?“

Diese Spiegelung kann oft durchaus sinnvoll sein, damit beim Gegenüber eine hilfreiche Selbstwahrnehmung, eine Introspektion und auch innere Suchstrategien angeregt werden.

Nicht selten werden solche Fragen wie „Was soll ich tun?“ vom Therapeuten jedoch als Ausdruck von Passivität oder als passive Hilfeappelle fehlinterpretiert. Viele Behandler hören hier oftmals die Botschaft heraus: „Ich selbst will oder kann keine Entscheidung treffen, mir fällt nichts ein, bitte lieber Therapeut/liebe Therapeutin, machen Sie das für mich.“

Hier liegt eine Quelle für zahlreiche Missverständnisse. So gehen viele Therapeuten davon aus, dass Hilfe suchende Menschen sehr viel Geduld mitbringen und sich im Grunde nur einen Zuhörer wünschen. Etliche Behandler nehmen an, dass Menschen, die sich an sie wenden, durch einen heilsamen Rahmen im therapeutischen Kontakt sozusagen automatisch gesunden. Offenbar scheint es hier jedoch sehr unterschiedliche Bedürfnisse zu geben: Während viele Menschen tatsächlich von einer wohlwollenden Atmosphäre mit wertschätzender Kommunikation profitieren, erwarten nicht wenige Hilfesuchende nach ihrer Problemdarstellung eine möglichst rasch nachvollziehbare konkrete „Reparaturanleitung“. Vielleicht werden wir uns als Behandler mithilfe dieses Buches ein wenig klarer darüber, wie und in welcher Form wir konkrete Hilfsangebote, Übungsanleitungen und eventuell auch Lösungshilfen direkt anbieten oder auch vorgeben können.

Dieses Buch ist auch als ein Sebsthilfebuch zu lesen. Sicherlich gibt es viele Situationen, die wir eigenständig oder mit ein wenig Unterstützung selbst bewältigen können und für die wir auch individuelle Lösungen finden müssen. Als Behandler, Interessierte oder Hilfesuchende können wir dieses Buch aber auch dafür nutzen, um verschiedene Überlegungen nachzuvollziehen und in Form von Übungen umzusetzen. Es kann sehr fruchtbar sein, wenn wir bereits gut erprobte Maßnahmen zur eigenständigen Prüfung erhalten. Diese können wir nach erfolgreicher eigener Erfahrung dann für uns selbst nutzbar machen. Es wäre unsinnig, nicht von den Erfahrungen unserer Vorgänger zu profitieren. Diese hilfreiche Weitergabe soll durch die folgenden Ausführungen unterstützt werden.

Wir werden hier zwar sehr viele, aber natürlich längst nicht alle möglichen Probleme erörtern können. Die Auswahl ist jedoch so getroffen, dass wir von einzelnen Beschreibungen durchaus auch Schlussfolgerungen für andere Problembereiche ableiten können. Die Vorgehensweise bleibt durchgängig praxisorientiert. Bei Buddha findet sich die Beschreibung, dass ein Soldatenarzt bei einem Krieger, der von einem Giftpfeil getroffen wurde, auch nicht zuerst danach forschen wird, woher der Pfeil kam, wer ihn abschoss, wo der Schütze geboren wurde, was der Schütze am Morgen gefrühstückt hatte etc. Der Arzt kümmert sich um die Wunde und versucht, eine Verschlimmerung zu verhindern und die Heilung zu fördern. Er weiß, wie Wunden im Allgemeinen entstehen und behandelt werden. Erst im weiteren Verlauf werden dann spezielle und individuelle Aspekte der Verwundung mit einbezogen. Erst wenn der betroffene Mensch wieder stabil ist, kann der Arzt mit ihm weiter daran arbeiten, sich besser zu schützen und Vorsorge zu betreiben.

Unsere Vorgehensweise

Dieses Praxisbuch ist in vier Bereiche gegliedert. Zuerst beschäftigen wir uns mit den allgemeinen, grundsätzlichen und elementaren Notwenigkeiten, die wir für unseren Weg benötigen. In diesen Eingangskapiteln sind viele Erklärungen und auch schon etliche der grundlegenden praktischen Übungen enthalten, die wir generell, also unabhängig von bestimmten spezifischen Problemen, nutzen können. Darüber hinaus werden wir uns in diesem Teil IBuddhistische PsychotherapieTeil I