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Evangelische Perspektiven

Eine Schriftenreihe des Kirchenkreises Bochum

In der Schriftenreihe sind bisher erschienen:

Heft 1:

Günter Brakelmann, Hitler und Luther 1933

1. Auflage Oktober 2008

ISBN-13: 9783837071245

Heft 2:

Günter Brakelmann, Helmuth James von Moltke –

Briefe und Tagebücher aus den Gefängnissen in Berlin und Ravensbrück 1944

1. Auflage November 2009 ISBN 978-3-8391-3233-3

Heft 3:

Günter Brakelmann, Der Kirchenkampf in Harpen 1933 – 1945

mit Originalaufnahmen von 1942 auf CD

1. Auflage Januar 2011

ISBN 9783842328549

Heft 4:

Nachdenken über das Böse

Stiepeler Lektionen I

Das vorliegende Heft 4 ist zu beziehen bei:

Evangelischer Kirchenkreis Bochum

Westring 26, D - 44787 Bochum

Telefon 0234/962 904 - 00

Web: www.evkirchebochum.de

e-Mail: info@evkirchebochum.de

Evangelische Kirchengemeinde Stiepel

Gemeindebüro

Brockhauser Straße 72 a, 44797 Bochum-Stiepel

Telefon 0234 / 791337

e-Mail: bo-kg-stiepel@kk-ekvw.de

Inhalt

Günter Brakelmann/Manfred Keller

Vorwort

Jürgen Ebach

Nicht nur „der liebe Gott“

Das Problem des Bösen im Alten Testament

Klaus Wengst

„Dem Bösen nicht widerstehen“? (Matthäus 5,39)

Neutestamentliche Anmerkungen zu „dem Bösen“ und „den Bösen“

Christian Link

„Den Bösen sind sie los, die Bösen sind geblieben“ (Goethe)

Interpretationen des Bösen in der zeitgenössischen Theologie

Rudolf Tschirbs

Der Blick auf Medusa

Die Darstellung des Bösen im Film

Günter Brakelmann/Jürgen Stasing

Martin Luther – Der Mensch zwischen Gott und Teufel

Reformationsgottesdienst 2011 in der Dorfkirche Stiepel

Autoren

Vorwort

Im Jahr 2008 feierte die Evangelische Kirchengemeinde Stiepel das 1.000-jährige Jubiläum ihrer Dorfkirche. Aus diesem Anlass fand ein umfangreiches Veranstaltungsprogramm statt, zu dem auch eine theologische Vortragsreihe unter der Frage „Warum evangelisch?“ zählte. Seither lädt die Gemeinde jeden Herbst zu einem Vortrags- und Gesprächszyklus ein, der sich mit Grundfragen des christlichen Glaubens, Problemen von Kirche und Gesellschaft oder aktuellen wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen auseinandersetzt. Den Impuls gab Günter Brakelmann, der die bisherigen Reihen auch konzipierte und moderierte. Die Veranstaltungen haben inzwischen einen festen Platz im Leben der Gemeinde. Immer wieder wurde darum gebeten, die Vortragsmanuskripte zu veröffentlichen, um das Gehörte noch einmal nachlesen und allein oder mit anderen weiter bedenken zu können.

Diesem Wunsch soll mit den „Stiepeler Lektionen“ Rechnung getragen werden. Bei der hier vorgelegten ersten Folge handelt es sich um Beiträge der Veranstaltungsreihe zum Thema: „Das Böse“ und „die Bösen“, die im Herbst 2011 im Gemeindehaus an der Stiepeler Dorfkirche durchgeführt wurde, unterstützt vom Evangelischen Forum Westfalen und der Evangelischen Stadtakademie Bochum. Im Einladungstext hieß es:

„Die Menschheitsgeschichte wird durchzogen von den Realitäten des Hasses, des Totschlags, des Mordens, der Fehden und der Kriege, der Unterdrückung und der Ausbeutung. ‚Das Böse‘ und die ‚Bösen‘ sind Wirklichkeiten, die man nicht herabstufen kann zu gelegentlichen bedauerlichen Störungen des historischen Prozesses. Bislang haben alle Appelle an die Moral und Vernunft oder Entwürfe für eine gewaltfreie Welt wenig eingebracht. Der innerstaatliche und zwischenstaatliche Frieden sind immer der bedrohte Frieden geblieben.

In Tausenden von Jahren hat man in Religionen und Philosophien nach den Urgründen ‚des Bösen‘ gefragt. Die hebräische Bibel und das Neue Testament haben sich fundamental mit den Phänomenen der immer wieder auf der realgeschichtlichen Ebene aufbrechenden Dämonien auseinandergesetzt. Die neuzeitliche Theologie und Philosophie haben einen anthropologischen und ethischen Dauerdiskurs entwickelt, um den Mächten der Zerstörung Widerstand zu leisten. Politische Philosophien fragten nach Ordnungsstrukturen als Bollwerke gegen Unmenschlichkeit und Ungerechtigkeit.

Aber auch Dichtung und Malerei haben ihre Beiträge zur Erkenntnisfindung und Beherrschung des ‚Bösen‘ geleistet. Und der moderne Film hat mit seinen Mitteln versucht, sich mit dem wohl schwersten Thema der Allgegenwärtigkeit des ‚Bösen‘ auseinanderzusetzen.

Die Beiträge wollen helfen, unsere Reflexionsfähigkeit über das ‚Gemächte der Welt‘ (Luther) zu vertiefen und uns wachsamer und aktiver zu machen in dem nie endenden Kampf um eine menschlichere Welt.“

Von vier der sechs Vorträge wurden uns die Manuskripte zur Verfügung gestellt. Ergänzt wird diese Veröffentlichung durch eine Dokumentation des Reformationsgottesdienstes 2011. Mit einer Predigt zum Thema „Der Mensch zwischen Gott und Teufel“ und zu Luthers Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ war der Gottesdienst integraler Bestandteil der Veranstaltungsreihe.

Zu danken ist allen Autoren, die bei der Veranstaltungsreihe mitwirkten. Ein besonderer Dank gilt Superintendent Peter Scheffler, der unserer Bitte entsprach, die vorliegenden „Stiepeler Lektionen“ als Heft 4 in die Schriftenreihe „Evangelische Perspektiven“ des Kirchenkreises Bochum aufzunehmen. Die mit dem 3. Heft „Der Kirchenkampf in Harpen 1933 – 1945“ begonnene Zusammenarbeit in der Dokumentation gemeindlicher Bildungsveranstaltungen wird damit fortgesetzt. Wir hoffen, dass auch auf diesem Wege die theologische und geschichtliche Erwachsenenbildung weitergeht und dass dieses Heft viele interessierte Leserinnen und Leser findet.

Bochum, im Herbst 2012            Günter Brakelmann / Manfred Keller

Jürgen Ebach

Nicht nur „der liebe Gott“

Das Problem des Bösen im Alten Testament1

Der Mensch ist von Natur aus gut und wenn Menschen Böses tun und Verbrechen verüben, dann ist das die Folge falscher Erziehung und vor allem einer ungerechten Gesellschaft. Wenn endlich allen Menschen die gleichen Chancen auf eine Verwirklichung ihrer wahren Bedürfnisse zuteil werden, dann werde es keine Verbrechen mehr geben. So oder so ähnlich konnte man es vor allem in den 1960er Jahren hören. Das Böse war in dieser Sicht weniger ein anthropologisches und ein theologisches Problem als ein soziologisches und pädagogisches. Und wenn es dann trotz der gerechten Gesellschaft und der all ihren Gliedern zuteil werdenden gleichen und gerechten Chancen dennoch einige böse Taten geben sollte, gehörten diese, so wollte man es sehen, in den Bereich der Psychiatrie und die scheinbar Bösen seien als Kranke zu behandeln. Diese in der Linie Rousseaus und mancher Utopien um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert stehende Sicht prägte weithin das sozialliberale Klima der 1960er und 70er Jahre in der Bundesrepublik. Übrigens zeigte die seit 1971 als Gegenstück zum ARD-„Tatort“ gedrehte DDR-Serie „Polizeiruf 110“ ein ähnliches Bild. Mord kam dort so gut wie nicht vor – immerhin lebte man ja schon im Sozialismus – und die dennoch auftretende und häufig von einem linientreuen „Genosse(n) Oberleutnant“ aufzuklärende Kriminalität erwies sich meist als Auswirkung vom Kapitalismus verführter falscher gesellschaftspolitischer Haltung von Außenseitern.

Die Vorstellung, die Überwindung der falschen Gesellschaft lasse die Kriminalität und das Böse verschwinden, ist heute gründlich vergangen – und wie so oft schlug das Pendel extrem auf die Gegenseite aus. Im Gegenzug zur Soziologisierung und Pädagogisierung des Problems kam es zu einer Dämonisierung und Mythologisierung des Bösen. Sie kulminierte an jenem 11. September 2001, als in New York in einem terroristischen Angriff die Twin-Towers einstürzten und nahezu 3.000 Menschen zu Tode kamen. Erinnern Sie sich noch an die Schlagzeilen der BILD-Zeitung? Am Tag danach stand da in riesigen Lettern „GROSSER GOTT“, wenige Tage später wünschte BILD in ähnlich groß gedruckter Schlagzeile einem zeitweise in Hamburg verorteten Attentäter: „DU SOLLST EWIG IN DER HÖLLE BRATEN“. Hat diese Zeitung jemals zuvor in solcher Weise Gott angerufen und Höllenstrafen gefordert? Wenig später sprach George W. Bush von der „Achse des Bösen“ und rechnete gleich mehrere Staaten dazu – bezeichnender Weise nicht den, aus dem die meisten führenden Terroristen der al-Qaida wie Osama bin Laden selbst stammen. Dazu gäbe es viel zu sagen und auch zur Frage, warum die Rollen des Staatsmanns, des Schurken und des Hanswursts bei Politikern gelegentlich wechseln können wie bei Schauspielern. Aber die politische Moral und ihr Medienecho ist heute nicht mein Thema. Mit diesem Thema bekommen wir freilich zu tun, wenn bei der Erfahrung des Bösen und dem Versuch ihrer Bewältigung Gott ins Spiel kommt.

Wann immer Böses und Schlimmes geschieht – sei es ein unbegreifliches Unheil im eigenen Lebenszusammenhang, sei es ein schwer fassbares Unglück, sei es ein schreckliches Verbrechen oder ein Terror größten Ausmaßes – taucht die Frage auf: „Wie konnte Gott das zulassen?“ So war es auch nach jenem „11. September“. Kurz danach stand die damalige Hannoversche Landesbischöfin Margot Käßmann in einer im Fernsehen in Ausschnitten übertragenen Veranstaltung in der Marktkirche in Hannover Rede und Antwort. Welche Antwort gab die Bischöfin auf die Frage, wie Gott jenes schreckliche Geschehen habe zulassen können?

Bevor ich weiter erzähle, ist mir eine Zwischenbemerkung wichtig: Ich kenne Margot Käßmann schon lange und recht gut und ich schätze sie sehr. Nichts von dem, was ich jetzt berichte und kritisiere, soll als eine Abwertung dieser Theologin verstanden werden, es geht vielmehr um eine Kirche und Theologie insgesamt betreffende Problemanzeige. Was also antwortete die Bischöfin auf die Frage, wie Gott das habe zulassen können? Sie antwortete: „Das hat doch nicht Gott getan, das haben Menschen getan.“

Warum kommt mir die Antwort so schal vor? Stimmt sie denn nicht? Wäre denn nicht die Erklärung, Gott sei für die Vernichtung der Twin-Towers und die vielen Toten verantwortlich zu machen, geradezu obszön gewesen? Was wäre das für eine Erklärung, welche die schuldigen Menschen so entschuldigte?! Deshalb noch einmal: Warum kommt mir die Antwort so schal vor?

Ich stelle mir einen Menschen vor, der zur Pfarrerin kommt und sagt: „Mir ist im Leben viel Gutes widerfahren, ich habe immer wieder Menschen getroffen, die mich akzeptiert und mir geholfen haben. Dafür möchte ich Gott danken.“ Nur die eine Frage: Würde der Pfarrer, würde die Bischöfin dann auch sagen: „Das hat doch nicht Gott getan, das haben Menschen getan“? Was ist das für eine Theologie, die Gott für alles zuständig sein lässt, solange es sich um das Gute und Schöne handelt, aber Gott tunlichst heraushalten will aus allem, was böse ist? Meine erste Auskunft zu dieser im engsten Sinne theologischen Frage lautet: Eben das tut die Bibel nicht. Sie hält Gott nicht heraus aus allem, was böse ist, ja sie kann nicht nur davon reden, dass Gott das Böse zulässt, sondern auch davon, dass Gott Böses tut.

Ich will nun von der hebräischen Bibel, vom Alten Testament sprechen. Aber damit nicht der falsche Eindruck entsteht, das Neue Testament spreche in dieser Frage grundsätzlich anders als das Alte, zunächst ein kurzer Blick auf einen Text des Neuen Testaments, der Christinnen und Christen vertraut ist wie kein anderer. Ich meine das im Matthäusevangelium stehende „Vaterunser“ und in diesem Gebet die Bitte: „Führe uns nicht in Versuchung!“ Im zweiten Teil der Doppelbitte heißt es: „Sondern erlöse uns von dem Bösen!“ Nur wenigen Beterinnen und Betern des Vaterunsers dürfte die ungeheure Dramatik bewusst sein, dass Gott selbst im Gebet aufgefordert wird, Menschen nicht in Versuchung zu führen. Manche, welche die Abgründigkeit dieser Bitte wahrnehmen, wollen oder können sie so nicht sprechen und nehmen zu einer kleinen Änderung Zuflucht, indem sie für sich beten: „Und führe uns in der Versuchung“. Aber es geht in dieser Bitte nicht darum, Gott möge die Betenden davor behüten in Versuchung zu geraten, der Versuchung zu erliegen – vollends nicht in der Verkürzung der „Versuchung“ auf Sexualität oder ihrer Verharmlosung in der geradezu verteufelt guten Werbung für die „zarteste Versuchung, seit es Schokolade gibt“.

Nein, es geht im Vaterunser um Versuchungen, die von Gott selbst ausgehen. Hier klingen – und darum gehört dieser Blick auch zu meinem Thema – Versuchungsgeschichten aus dem Alten Testament an, nämlich das, was Gott mit Abraham tat (und der mit Isaak tun sollte, Gen 22), mit David (2. Sam 24 – dazu gleich mehr) oder mit Hiob (Hiob 1f.). Aber auch im Neuen Testament gibt es solche Versuchungen und nur zwei Kapitel vor dem „Vaterunser“ ist von der Versuchung Jesu die Rede. Als Versucher tritt hier der Teufel auf, doch es heißt im einleitenden Vers, Gottes Geist habe Jesus in die Wüste geführt, „auf dass er vom Teufel versucht werde“. Was geschieht, geht letztlich von Gott aus. Ebenso ist es im alttestamentlichen Hiobbuch. Der Satan ist nicht der böse Gegenspieler Gottes, sondern der, der als eine Figur in Gottes Hofstaat die Aufgabe hat, den Dingen auf den Grund zu gehen, falschen Schein aufzudecken und Menschen und ihr Verhalten auf die Probe zu stellen. Doch auch im Hiobbuch – man lese Hiob 2,3 – ist es Gott, der den „Menschenversuch“ bewirkt hat.

Bleiben wir einen Moment bei der Figur des Teufels und seiner Funktion in der Frömmigkeitsgeschichte. Die Aufteilung des Weltgeschehens und des Menschengeschicks in den Bereich des lieben Gottes und des bösen Teufels ist ein Versuch, das Böse, das geschieht, nicht zu verdrängen und doch am gütigen, am „lieben Gott“ festzuhalten. Mit dem Bestreben, Gott von der Möglichkeit Böses zu tun zu entlasten, beginnt bereits in der Bibel selbst die Karriere des Satans. Ich komme darauf zurück. Halten wir zunächst fest: In jedem Vaterunser kommt zur Sprache: Gott kann uns in Versuchung führen und wird im Gegensatz zu solchen Versuchungen um die Erlösung von dem Bösen gebeten.

Es soll jetzt bei diesem knappen Blick auf das Neue Testament bleiben; viel mehr dazu wird Klaus Wengst in seinem auf das Neue Testament bezogenen Beitrag ausführen. Aber auch bei diesem knappen Blick muss ein Gegentext genannt sein. Der Jakobusbrief nämlich stellt an einer Stelle (1,13) die Bitte an Gott: „Führe uns nicht in Versuchung“ und mit ihr eine ganze Reihe biblischer Versuchungsgeschichten ins Abseits, ja setzt sie ins Unrecht. „Niemand“, heißt es dort, „sage, wenn er versucht wird: ‚Ich werde von Gott versucht.’ Denn Gott kann nicht versucht werden vom Bösen, er selbst aber versucht niemand.“ Gott kann Menschen versuchen oder Gott kann das nicht? In der Bibel steht beides. Und was von beidem stimmt? Im Vaterunser wird Gott selbst ins Gebet genommen und gerade so als Herr der ganzen Wirklichkeit bekannt. Die Aufteilung der Welt in den Bereich des lieben Gottes und des bösen Teufels wird gerade nicht zur Lösung böser Erfahrungen. Der Jakobusbrief weist dagegen die wohlfeile Entschuldigung ab, schließlich sei es doch Gott, der die Versuchungen zu verantworten habe, denen man erlegen sei. Wer sich auf diese Weise selbst unmündig macht, stellt die Freiheit des Menschen, wer Gott auf den „lieben Gott“ reduziert, stellt die Freiheit Gottes in Abrede. So sind beide Weisen von der Versuchung zu reden je für sich triftig. Darum sollten wir weder das Vaterunser abschwächen noch den Jakobusbrief ins Abseits stellen. Aber wie geht beides zusammen? Wie kann man an Gott als dem Herrn der ganzen Wirklichkeit festhalten, ohne damit die Verantwortung von Menschen für ihr Tun zu entwichtigen oder gar zu beseitigen? Dem ist nun im Blick auf Texte und Motive der hebräischen Bibel nachzugehen. Es wird Antworten geben, aber nicht die Antwort.

Kann Gott Böses tun? Eine Antwort des Alten Testaments lautet schlicht: „Ja“. „Warum handelst du böse an diesem Volk?“ Diese anklagende Frage richtet Mose (Ex 5,22) an Gott selbst. Gott hatte ihn beauftragt, das Volk Israel aus dem ägyptischen Sklavenhaus zu befreien. Auf Geheiß Gottes fordert Mose von Pharao die Freilassung, doch der reagiert mit der Verschärfung der Sklavenarbeit. Das von Gott in Gang gesetzte Befreiungswerk war ins Gegenteil umgeschlagen und darum richtet Mose die Klage und Anklage an Gott: „Warum handelst du böse an diesem Volk?“ Antwortet Gott nun auch: ‚Das Böse habe doch nicht ich getan, das hat doch Pharao getan’? Das biblische Urteil über Gottes und Pharaos Verantwortung für das Böse bleibt in der Schwebe. Mehrfach heißt es sowohl: Gott hat Pharaos Herz verstockt, wie auch, Pharao selbst hat sein Herz verstockt. Ein Widerspruch? Ja, aber einer, der keine mangelnde Problemreflexion, sondern eine dialektische Spannung zeigt, einer, der – theologisch gesprochen – an Gottes Providenz festhält und dennoch die ethische Verantwortung der Menschen nicht suspendiert. Darum gibt es mehr als eine Antwort.

Eine vergleichbare Dialektik begegnet im Nebeneinander zweier Schilderungen desselben Ereignisses. In 2. Sam 24 und dann in der literarisch späteren Fassung in 1. Chr 21 wird erzählt, wie David eine Volkszählung durchführte. Darin zeigt sich ein sträfliches Vertrauen auf die eigene ökonomische und militärische Stärke und ein mangelndes Vertrauen auf Gott. Deshalb wird David für diese Aktion hart bestraft. Eine Pest trifft das ganze Volk, sie kommt erst am Ort des späteren Tempels zum Stehen. Es soll jetzt nur um die jeweiligen Einleitungssätze der Erzählung in ihren beiden Fassungen gehen. In 2. Sam 24,1 heißt es:

Und das Wutschnauben Adonajs (Gottes) entbrannte abermals gegen Israel und er reizte David bei ihnen mit den Worten: „Geh, zähle Israel und Juda!“

Diese Sätze enthalten im Lichte der Fortsetzung ein gewaltiges Problem. Wie kann Gott David und das ganze Volk für etwas bestrafen, das er selbst bewirkt hat? Gottes Zorn bewirkt das Tun eines Menschen, welches Gott ihm dann als böse anrechnet und für das er ihn und das ganze Volk zur Rechenschaft zieht. Auch wenn man das „Reizen“ Gottes als eine Versuchung versteht, der David gerade nicht hätte erliegen sollen, bleibt das Problem. Gott selbst ist die Letztursache des Bösen. Da steckt nicht erst unser Problem mit der Darstellung in 2. Sam 24. Der Einleitungssatz derselben Geschichte in der Fassung von 1. Chr 21,1 lautet:

Und es stand Satan auf gegen Israel und er reizte den David Israel zu zählen.

Wieder ist es eine außermenschliche Figur, welche David reizt, nämlich dazu verleitet etwas zu tun, wofür er dann von Gott bestraft wird. Aber die „Reizfigur“ ist nicht dieselbe. Gott oder Satan? Kann es einen größeren Gegensatz geben? Aber was ist denn nun wahr? In der Bibel steht das Eine und das Andere. Was bewegt die Chronisten, die Geschichte in diesem Punkt anders zu erzählen? Die Ersetzung Gottes durch Satan resultiert aus dem Versuch Gott zu entlasten. Für das Böse oder die Verführung zum Bösen soll nicht Gott verantwortlich gemacht werden, sondern eine andere Figur, ein Gegenspieler Gottes. Wir stoßen hier auf den Beginn der Karriere des Teufels. Der Teufel soll Gott entlasten, er muss ihn umso mehr entlasten, je größer der Entlastungsdruck wird. Je „lieber“ Gott sein soll, desto mächtiger muss der Teufel werden. Und am sichersten bleibt Gott „der liebe Gott“, wenn er gar nichts tut. Wenn Kinder ermahnt werden: „Wirst du wohl lieb sein!“, heißt das in den allermeisten Fällen, sie sollten etwas unterlassen. Ich füge eine kleine Geschichte ein, die ich nicht zum ersten Mal erzähle. Ich nenne sie „Fälschung bis zur Kenntlichkeit“: