Petra Schier

Tod im Beginenhaus

Historischer Roman

Leseprobe

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg, Oktober 2009
Copyright © 2007 by Rowohlt Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg

 

Sündige Jungfern, tote Freier und eine scharfsinnige Apothekerin

1396: Köln steht Kopf – ein ehrenwerter Kölner Bürger nach dem anderen wird tot im Dirnenhaus aufgefunden. Der mit dem Fall betraute Ratsherr erinnert sich daran, dass Adelina schon einmal einen Mordfall aufgeklärt hat und bitte sie um Hilfe. Die junge Frau hat gerade die Apotheke ihres Vaters übernommen und eigentlich anderes zu tun, als auf Mörderjagd zu gehen. Sie lässt sich jedoch erweichen – und wird plötzlich selbst zur Hauptverdächtigen …

Prolog

Das Haus Zur schönen Frau lag in einer der übelsten Gassen Kölns, der Schwalbengasse beim Berlich. Das hielt den Ratsherrn Thönnes van Kneyart jedoch auch heute, am heiligen Sonntag, nicht davon ab, an die Tür des Dirnenhauses zu klopfen.

Ein paar Schweißperlen rannen ihm über den Nacken in den Kragen. Der Spätsommer gab sich jetzt, Mitte September, noch einmal größte Mühe. Die Sonne stach von einem beinahe unwirklich blauen Himmel herab, und die Luft flirrte vor Hitze. Über allem lag der Gestank der Abortgruben. Es war erst kurz nach Mittag, und die Menschen hatten sich in ihre kühlen Häuser zurückgezogen.

Mutter Berta, die Hauswirtin des Dirnenhauses, war in Wirklichkeit niemandes Mutter, sondern stand den Hübschlerinnen vor. Sie öffnete den Freiern die Tür, hieß sie mit einem überaus wohlwollenden Lächeln willkommen und sorgte dafür, dass jeder das bekam, wonach ihn gelüstete. Nachdem einige Münzen den Besitzer gewechselt hatten, führte sie den Ratsherrn persönlich die Treppen zu den Gemächern hinauf. Elsbeth erwarte ihn bereits sehnsüchtig, behauptete sie, nicht wissend, dass dies sogar der Wahrheit entsprach. Van Kneyart wusste es im Gegensatz zu ihr jedoch genau, und auch er war, wie so oft in letzter Zeit, voll ungeduldiger Vorfreude.

Zur gleichen Zeit, als der Ratsherr die Kammer der Hübschlerin Elsbeth betrat, schlenderte ein hochgewachsener Dominikanermönch an dem Hurenhaus vorbei. Beim Anblick der allzu üppigen steinernen Frauenfigur vor dem Eingang verzog er missbilligend das Gesicht und blieb stehen. Dies war also der Sündenpfuhl, von dem ihm seine Kölner Mitbrüder erzählt hatten. Die Schlangengrube. Beim Gedanken an die unaussprechlichen Dinge, die hinter den weißgekalkten Mauern des zweigeschossigen Hauses vor sich gingen, durchfuhr ihn ein Schauer. Unzucht war ihm verhasst. Er hatte es sich zur Aufgabe gemacht, Kuppelhäuser auszuräuchern und die Bewohnerinnen mit allen Mitteln wieder der Heiligen Mutter Kirche und dem Herrn zuzuführen.

Als der Kutscher eines vorbeirumpelnden Ochsenfuhrwerks ihm eine obszöne Bemerkung über lüsterne Ordensbrüder zuwarf, verdüsterte sich die Miene des Mönchs. Er schob seine Hände in die Ärmel seiner makellos weißen Kutte und verschränkte sie vor dem Bauch.

Die Hitze schien ihm nichts auszumachen. Vielmehr umgab ihn eine kaum greifbare Kühle, die aus seinem Inneren zu kommen schien. Die wenigen Menschen, die ihm begegneten, wichen ihm unbewusst aus.

Mit geschmeidigen Schritten ging er den schmalen Pfad zur Rückseite des Hauses und spähte in den von einem niedrigen, mit Efeu überwucherten Zaun umgebenen Garten. Dort lagen Wäschestücke zum Bleichen im Gras. Ein junges Mädchen in Holzpantinen und einem fadenscheinigen Kittelchen hackte Holz. Ehe sie ihn bemerken konnte, hatte er bereits den Rückzug angetreten. Er überquerte die Gasse und wandte sich Richtung Zeughaus. Für heute hatte er genug gesehen. Als ein gutes Stück hinter ihm lag, hörte er aus dem Hurenhaus plötzlich hysterisches Schreien. Er blieb stehen und drehte sich um. Auch zwei Fuhrknechte, die einige Häuser weiter eine große Karre mit Bierfässern entluden, wurden aufmerksam, und etliche Gassenjungen kamen herbeigerannt und gafften. Aus dem Geschrei waren deutlich die Worte «Zu Hilfe!» herauszuhören. Der Dominikaner verzog den Mund zu einem wölfischen, fast triumphierenden Grinsen. Die Frucht der Sünde schien einmal mehr herabgefallen zu sein. Mitleid mit der Kreischenden empfand er keines.

In diesem Moment flog die Tür des Hurenhauses auf und ein hünenhafter Bursche, wohl ein Knecht, rannte an ihm vorbei, als habe er den Teufel gesehen.

«Zum Büttel, Mattes! Lauf zum Büttel!», schrie die Hauswirtin dem Burschen nach. Dann fiel die Tür wieder ins Schloss.

Der Dominikaner wollte sich keinesfalls der Sünde der Neugier schuldig machen, dennoch blieb er noch einen Augenblick stehen. Lange genug, um mitzubekommen, wie sich eine alte, ziemlich große und spindeldürre Frau in aller Heimlichkeit aus einer kleinen Pforte an der Seite des Hurenhauses stahl. Ihr Gesicht und Haar waren von einem grauen Tuch fast vollständig verhüllt. Am Arm trug sie einen großen runden Korb, dessen Inhalt sorgsam mit einem Tuch bedeckt war. Die Frau blieb an der Hausecke stehen und blickte sich in alle Richtungen um. Dann lief sie zielstrebig los. Als sie an ihm vorbeikam, konnte er einen kurzen Blick auf ihr Gesicht erhaschen. Seine Augen weiteten sich, und er starrte ihr mit offenem Mund nach, wie sie die Schwalbengasse hinaufeilte und dann in einer winzigen Seitenstraße verschwand.

1

Adelina war gerade dabei, das Nachtgeschirr ihres Vaters in die Abortgrube auszuleeren. Auch nach beinahe einem Jahr hatte sie sich noch nicht daran gewöhnt, diese unangenehme Arbeit ihren Mägden zu überlassen. Sie presste die Lippen zusammen, denn der Gestank bereitete ihr Übelkeit. Schon seit Tagen kämpfte sie dagegen an, und jetzt hätte sie sich beinahe übergeben. Das heiße Wetter begünstigte das Entstehen der fauligen Gase noch und übertünchte den lieblichen Duft der Kletterrosen, die sich über den neuen kleinen Hühnerstall rankten. Daneben hatte sie ein Gemüse- und Kräuterbeet angelegt, in dem neben Pastinaken, Möhren und ausladenden Kohlköpfen üppige Petersilien-, Minze- und Melissenstauden gediehen. Auf ihre Bohnen war sie besonders stolz, denn die hohen Stangen waren unter dem Grün des Laubes und der großen Schoten kaum noch zu erkennen.

Doch heute hatte sie keinen Blick für ihren gepflegten Garten.

Zähneknirschend ließ sie den schweren Deckel zurück an seinen Platz knallen und wandte sich rasch ab. In der Hintertür stand ihre junge Magd Franziska und winkte.

«Herrin, in der Apotheke ist der Ratsherr Georg Reese und wünscht Euch zu sprechen.»

«Reese? Du liebe Zeit.» Adelina atmete tief durch und drückte dem Mädchen das Nachtgeschirr in die Hände. «Stell das in die Kammer meines Vaters und dann lauf los und versuche, die Goldgräber dazu zu bringen, noch heute unseren Abort auszufahren. Nimm die zwei silbernen Groschen aus der Dose im Küchenregal, das sollte sie überzeugen.»

Franziska nickte zustimmend. Adelina ging mit grimmiger Miene an ihr vorbei ins Haus.

Bevor sie den Apothekenraum betrat, wusch sie sich rasch in der Küche die Hände, fuhr sich über ihr Kleid und prüfte, ob ihre weiße Leinenhaube noch ordentlich auf ihren schwarzen, sorgfältig geflochtenen Haaren saß.

«Herr Reese, wie nett, Euch wiederzusehen!», begrüßte sie den hageren Mann, der in seiner dunkelgrauen Kaufmannskluft wie ein gestrenger Schulmeister wirkte.

«Adelina … Meisterin Burka», verbesserte er sich und lächelte wohlwollend. «Gut seht Ihr aus. Die Ehe hat Euch noch hübscher gemacht.»

Adelina legte den Kopf auf die Seite. «Nun kenne ich Euch schon eine ganze Weile, Herr Reese, aber ich wusste nicht, dass Ihr auch ein Schmeichler seid. Und nennt mich nur weiterhin Adelina.»

«Wie Ihr meint, aber dann wenigstens Frau Adelina, so gehört es sich.» Reese sah sich in der ordentlichen Apotheke um. Die Wände waren von hohen Regalen gesäumt, in denen neben allerlei Arzneien und getrockneten Kräutern auch Phiolen mit seltenen Essenzen und Tiegel mit geheimnisvollen Pulvern und Pasten aufgereiht waren. In der hinteren Ecke, neben der Tür zu den Wohnräumen, stand eine geschnitzte Holzkiste mit gewölbtem Deckel und Eisenbeschlägen und daneben ein Korb mit frischem Grünzeug. Dieses verströmte einen süßen Duft, der sich auf faszinierende Weise mit den scharfen Gerüchen der getrockneten Kräuter vermischte. Über allem schien eine leicht metallische Note zu schweben.

In der Mitte des Raumes stand die große Verkaufstheke mit der Waage und unterschiedlich großen Gewichten.

«Euer Geschäft ist eine Wohltat für das Auge, meine Liebe. Kein Vergleich zu den Räumlichkeiten Eurer Berufsgenossen.»

Adelina gab keine Antwort, sondern sah ihn nur abwartend an.

Der Ratsherr faltete die Hände vor dem Bauch und sah sich noch einmal um, dann schien er sich dazu durchgerungen zu haben, zu sprechen.

«Wie Ihr sicher schon vermutet habt, bin ich aus einem bestimmten Grund hier. Wir haben uns seit der Sache … der Sache im vergangenen Winter nicht mehr gesehen. Und es hätte sich auch wohl nicht ergeben, wenn nicht …» Er machte eine Pause.

«Was führt Euch zu mir, Herr Reese?»

«Ich brauche Eure Hilfe. Es geht um eine etwas … delikate Angelegenheit. Ich meine … ich weiß, Euer Gemahl ist derzeit nicht in der Stadt …»

«Er macht einen Besuch bei seiner kranken Mutter in Kortrijk, wird aber in wenigen Tagen zurück sein», ergänzte Adelina freundlich.

Reese nickte ihr zu. «Ja, nun, ich weiß. Und ich glaube nicht, dass es richtig ist, Euch gerade jetzt zu behelligen, wo Ihr mit der Apotheke und dem Haushalt und allem alleine seid.»

«Herr Reese», unterbrach Adelina ihn ungeduldig. «Ich habe auch früher schon einen Haushalt alleine geführt und ebenso die Apotheke, wenn es meinem Vater nicht gutging. Würdet Ihr also bitte endlich sagen, worum es geht?»

«Natürlich.» Der Ratsherr schien sich immer unwohler zu fühlen. «Aber ich weiß wirklich nicht, ob Magister Burka damit einverstanden wäre. Ich …» Als er ihren strengen Blick sah, zuckte er mit den Schultern. «Es hat vor zwei Tagen einen Mord gegeben.»

«Ich habe davon gehört», sage Adelina. «Die Leute sagen, dass ein Ratsherr getötet wurde.»

«Ja. Thönnes van Kneyart, der Goldschmied. Er wurde vergiftet.»

«Und warum kommt Ihr damit zu mir?» Adelina hob spöttisch die Brauen. «Oder glaubt Ihr wieder einmal, ich habe ihm das Gift verabreicht?»

«O nein, Gott bewahre!» Reese hob abwehrend die Hände. «Ganz gewiss nicht. Dennoch habe ich gehofft, dass Ihr mir bei der Aufklärung der Sache behilflich sein könnt. Allerdings …», wieder hielt er inne und wischte sich umständlich den Schweiß von der Stirn. «Warm habt Ihr es hier drin.» Auf ihr Stirnrunzeln hin nickte er. «Also, die Sache ist die, dass Ihr Stillschweigen über die Angelegenheit bewahren müsst. Van Kneyart hat sich nämlich an einem denkbar ungünstigen, will sagen unziemlichen Ort umbringen lassen.»

«Tatsächlich?» Um Adelinas Mundwinkel zuckte es. «Ist bei Mord nicht ein Ort so unziemlich wie der andere?»

«In diesem Falle nicht. Er befand sich nämlich zum Zeitpunkt seines Ablebens in der Schwalbengasse, genauer gesagt im Haus Zur schönen Frau

«In dem Hurenhaus?», fragte Adelina gelassen. Ihr war klar, dass Männer unterschiedlichster Schichten das Dirnenhaus aufsuchten, interessierte sich aber nicht für die heimlichen Vergnügungen der Reichen und Mächtigen.

«Wie es aussieht, starb er mitten während des …»

«Ich verstehe.» Nun lächelte Adelina. So fahrig und unbeholfen hatte sie den Ratsherrn noch nie erlebt, war er doch sonst ein Respekt einflößender Mann, der unnahbar wirkte und meist eine gewittrige Miene zur Schau trug. «Und woran ist er nun gestorben?»

«Eisenhut. Wir haben die Dirne, die bei ihm war, festgesetzt und befragt. So, wie sie es beschrieben hat, kann es sich kaum um etwas anderes gehandelt haben.»

Adelina schnalzte.

«Ein sehr unangenehmes Gift. Brennen und Kribbeln im Mund, das sich schnell über Arme und Beine ausbreitet. Schweißausbrüche, Übelkeit, Erbrechen, Krämpfe, zum Schluss Atemstillstand», zählte sie auf. Reese zuckte zusammen, nickte aber.

«Ein gefährliches, aber leicht zugängliches Gift.»

«In Italien ist es sehr beliebt, sagt mein Gemahl.» Adelina stützte sich auf der Theke ab. «Aber auch hierzulande findet man es nicht selten. Nun weiß ich aber noch immer nicht, wie ich Euch helfen kann.»

«Ich muss wissen, wo hier in der Gegend Eisenhut zu finden ist und wie es in den Magen des Opfers gelangt ist.»

«Wo man Eisenhut findet, kann ich nicht sagen, dazu müsste ich meine Sammelfrauen befragen. Verabreicht wird es normalerweise über das Essen oder als Essenz in Wein oder Bier.»

«Wir haben das Essen, das van Kneyart in dem Hurenhaus angeboten wurde, beschlagnahmt, ebenso den Wein. Beides haben wir einem Straßenköter gegeben, aber er lebt noch. Das kann es also nicht gewesen sein. Außerdem beteuert die Dirne, dass sie ebenfalls davon gegessen habe.»

«Und sonst hat er nichts zu sich genommen?»

«Soweit wir wissen, nicht», bestätigte Reese.

«Eisenhut ist ein schnell wirkendes Gift», erklärte Adelina mit Bestimmtheit. «Die ersten Symptome treten schon nach wenigen Minuten auf. Er muss noch etwas anderes gegessen haben.»

«Gibt es wirklich keine andere Möglichkeit? Würdet Ihr Euch dieser Frage annehmen? Ich wäre Euch sehr dankbar.»

Adelina verschränkte die Arme vor dem Leib. «Ich kann mich umhören, aber versprecht Euch nicht zu viel davon. Ich glaube nicht, dass es noch andere Wege gibt, jemanden damit zu vergiften. Versucht lieber herauszufinden, was der Mann sonst noch gegessen oder getrunken haben könnte.»

Reese nickte erneut und trat zur Tür. «Was Eure Sammelweiber angeht …»

«Ich befrage sie», versprach Adelina. «Wie kann ich Euch erreichen?»

«Ich komme in ein oder zwei Tagen wieder her, wenn es Euch recht ist. Gehabt Euch wohl und grüßt Euren Vater von mir. Und Euren Herrn Gemahl, falls er bis dahin schon wieder im Lande ist.»

«Natürlich.» Adelina sah ihm durch das Fenster nach, wie er zielstrebig über den Alter Markt schritt und kurz darauf in der Menge der Käufer, die sich zwischen den Marktbuden drängten, verschwand.

«Wenn er wieder im Lande ist», murmelte sie vor sich hin und seufzte. Die beinahe sechs Wochen, die Neklas nun schon fort war, kamen ihr wie Monate vor. Allmählich machte sie sich Sorgen, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte. Schließlich hörte man immer wieder von Wegelagerern und Räuberbanden, die selbst große Handelskarawanen überfielen. Einer solchen hatte er sich Anfang August angeschlossen, nachdem ein Bote ihm die Nachricht überbracht hatte, dass seine Mutter schwer erkrankt sei, vermutlich sogar auf dem Totenbett liege und ihren jüngsten Sohn noch einmal sehen wolle. Adelina rieb sich über die Stirn. Sie selbst hatte Neklas ermutigt, so rasch wie möglich zu reisen, wusste sie doch nur zu genau, wie es war, die Mutter zu verlieren. Doch nun 

Entschlossen griff sie in eines der Regale und nahm ein Kästchen heraus, das mehrere kleine, furchtbar teure Glasfläschchen mit Duftessenzen enthielt, die alle säuberlich in Wachstuchbeutelchen genäht waren. Eine Lieferung für Ida vom Stein, eine reiche Patrizierin, die in der Nähe des Neumarkts wohnte.

Es war erst kurz nach Mittag, also Zeit genug, die Ware dort abzuliefern und dann einen Umweg über den Heumarkt zu machen und nach Hilka oder Eva Ausschau zu halten. Die beiden Frauen versorgten sie regelmäßig mit frischen Kräutern und Wurzeln aus den Feldern vor und den Wäldern hinter den Stadttoren.

Doch wen sollte sie mitnehmen? Allein konnte sie nicht ausgehen. Nicht nur, weil es sich für eine verheiratete Frau nicht schickte, sondern vor allem, weil die Straßen nach den Unruhen der vergangenen Monate ziemlich unsicher geworden waren. Nachdem sich die Gaffeln, wie sich die Kölner Zünfte nannten, über die im Rat vorherrschenden Patrizier erhoben und diese gewaltsam gestürzt hatten, trieben sich noch immer etliche Soldaten und Kriegsknechte herum, die nach dem Rückzug vieler Adels- und Patrizierfamilien nach Bonn arbeitslos geworden waren und ihre Langeweile in Bier ersäuften, Wirtshausprügeleien anzettelten und ehrbaren Frauen auflauerten.

Sie entschied sich für Magda, eine ruhige ältliche Magd, deren zahllose Lachfältchen um Mund und Augen von ihrer angeborenen Heiterkeit zeugten.

Trotz der Hitze hüllte sich Magda, bevor sie das Haus verließ, ein adrettes weißes Tuch fest um den Kopf. Sie nahm Adelina das Kästchen mit den teuren Duftölen ab und lief immer einen Schritt hinter ihr. Adelina blieb stehen.

«Magda, wie oft soll ich dir noch sagen, dass du neben mir gehen sollst? Ich kann mich doch unmöglich mit dir unterhalten, wenn du ständig hinter mir her läufst.»

«Aber es schickt sich nicht, dass die Magd neben der Herrin geht», protestierte Magda.

«Dennoch erlaube ich es dir. Der Weg zum Neumarkt ist weit, und eine Unterhaltung käme mir sehr gelegen.»

Zögernd schloss Magda daraufhin zu ihr auf, und Adelina begann über allgemeine Dinge des Haushalts zu plaudern. Sie gab es ungern zu, aber auf diese Weise konnte sie sich für eine Weile von den Gedanken ablenken, die sie belasteten. Sie vermisste Neklas und sorgte sich um seine wohlbehaltene Rückkehr. Aber das war nicht ihr einziges Problem. Sie war nun schon beinahe ein dreiviertel Jahr verheiratet und noch immer nicht schwanger. Niemals hätte sie gedacht, dass sie sich das jemals wieder wünschen würde. Nicht, nachdem sie vor Jahren heimlich ein Kind abgetrieben hatte, weil ihr Bräutigam sie hatte sitzenlassen. Niemand wusste davon. Nicht einmal ihr Vater. Nur Neklas hatte sie es erzählt. Und nun wollte sie so gerne sein Kind unter dem Herzen tragen. Kurz vor seiner Abreise hatte sie gedacht, es sei so weit, und hatte sich darauf gefreut, ihm bei seiner Rückkehr die frohe Botschaft verkünden zu können, doch dann hatte sich herausgestellt, dass ihre morgendliche Übelkeit von einer Magenverstimmung herrührte, von der nach und nach der gesamte Haushalt befallen worden war.

Nun sorgte sie sich, dass die frühere Abtreibung vielleicht der Grund sein könnte, warum sie bisher noch nicht empfangen hatte, vielleicht niemals empfangen würde. Zwar hatte Ludmilla, die Weise Frau, bei der sie seinerzeit gewesen war, behauptet, sie sei wieder vollständig genesen. Aber konnte nicht auch eine Weise Frau einmal irren? Und was wäre dann? Wäre Neklas von ihr enttäuscht? Manchmal, in den einsamen Nächten, wenn sie nach der leeren und kalten Betthälfte tastete, malte sie sich aus, dass er vielleicht nicht mehr zu ihr zurückkehren würde, weil er lieber eine jüngere Frau wollte, die ihm noch viele Kinder gebären konnte. Sie zählte jetzt einundzwanzig Jahre, zweiundzwanzig im Winter. Sicher, das war noch nicht alt, aber eben auch nicht mehr ganz jung. Die meisten Frauen bekamen ihre Kinder mit sechzehn, siebzehn. Manche sogar noch früher, obwohl eine zu frühe Mutterschaft auch schädlich sein konnte.

Adelina merkte, wie ihre Gedanken trotz des fröhlichen Schwatzes mit Magda abzuschweifen begannen. Doch da hatten sie auch schon den Neumarkt erreicht. Sie pochte an die Tür des Anwesens derer vom Stein und gab die bestellte Ware ab. Während sie auf die Bezahlung wartete, beobachtete sie die rege Betriebsamkeit auf dem Marktplatz. Der Neumarkt war ein großes Rechteck, an der Seite, die zu St. Aposteln führte, stand eine große Viehtränke. Der Platz wimmelte von Rindern, Schweinen, Ziegen, Schafen und Hühnern. Etwas abseits waren an einem langen Holzgestell mehrere gedrungene, kräftige Pferde angebunden. Der Neumarkt diente hauptsächlich als Viehmarkt, und dementsprechend roch es auch. Mehrere Knechte waren von früh bis spät damit beschäftigt, Dung und Kothaufen zu beseitigen, damit die Käufer sauberen Fußes die Waren begutachten konnten. Das Muhen und Blöken der Kühe und Schafe mischte sich mit dem aufreizenden Meckern der Ziegen. Doch beinahe noch mehr Krach machten die Armbrustschützen im hinteren Teil des Marktplatzes. Die verschiedenen Schützenbruderschaften trugen hier regelmäßig ihre Schieß- und Kampfübungen aus und brüllten sich dabei Befehle und Anfeuerungsrufe zu. Im Frühling und Sommer wurden auf dem Neumarkt immer wieder Wettkämpfe, Turniere und Schützenfeste ausgetragen. So konnten sich die Anwohner an der Kunstfertigkeit der Schützen erfreuen und wurden ein wenig für den alltäglichen Lärm entschädigt.

Ein rostbraun gekleideter Diener kam an die Tür und überreichte Adelina einige Münzen, die sie rasch in ihrer Gürteltasche verschwinden ließ.

«Dame Ida wünscht zu wissen, wann Euer Herr Gemahl wieder in der Stadt ist», lispelte der Diener. Ihm fehlten die beiden oberen Vorderzähne. «Sie leidet arg unter ihrer Gicht und wünscht eine Behandlung ihres schlimmen Fußes.»

Adelina setzte ein freundliches Lächeln auf. Ida vom Stein war eine betagte Dame und immer sehr freigebig, wenn es um Arzthonorare ging. Und damit unterschied sie sich von den meisten reichen Patienten, die sich gerne Zeit mit der Bezahlung ließen oder diese auch schon mal vergaßen.

«Tut mir leid, dass es Dame Ida so schlechtgeht. Leider ist mein Gemahl noch nicht zurück. Ich erwarte ihn jedoch jeden Tag und gebe ihm gleich Bescheid, dass er herkommen soll.»

«Vielen Dank.» Der Diener verbeugte sich knapp und schloss nach einem kurzen Gruß die Tür.

«Und nun», Adelina wandte sich lächelnd ihrer Magd zu, «gehen wir zum Heumarkt. Dort kannst du mir helfen, die beiden Kräuterfrauen zu suchen, die mich immer beliefern.»

«Haben sie Euch nicht erst am vergangenen Freitag Kräuter und Wurzeln gebracht?», wunderte sich Magda und wischte sich verstohlen ein paar Schweißtropfen von der Stirn.

«Das ist richtig, aber ich muss etwas mit ihnen besprechen.» Adelina beschloss, nicht weiter über Reeses Anliegen zu reden, denn sie fand, dass ihr Part in dieser Angelegenheit durch das Gespräch mit den beiden Sammelfrauen hinreichend erfüllt wäre. Danach sollte sich der Ratsherr selbst um die Aufklärung des Mordes kümmern oder die Schöffen damit beauftragen. Nach der Einsetzung der neuen Stadtverfassung vor wenigen Tagen hatte es schließlich geheißen, dass das Kölner Hochgericht nun endlich wieder seine Arbeit aufnehmen würde, nachdem es fast ein ganzes Jahr nicht getagt hatte.

Adelina wollte auf keinen Fall weiter in die Sache hineingezogen werden, sie kannte den getöteten Mann nur oberflächlich – er war Kunde in ihrer Apotheke gewesen – und hatte außerdem weder Zeit noch Lust, noch einmal in eine solche Ermittlung zu schlittern. Die Ereignisse, das inzwischen geräumte Beginenhospital betreffend, und die menschlichen Abgründe, die sich dabei aufgetan hatten, jagten ihr noch heute manchmal einen Schauer über den Rücken.

Zum Heumarkt war es nicht mehr allzu weit, und auch dort herrschte ein buntes Treiben, wie auf allen Marktflecken am hohen Mittag. Nur roch es weitaus angenehmer, denn wie der Name schon sagte, wurde hier hauptsächlich Heu angeboten, daneben aber auch Getreide.

Der würzige Duft des getrockneten Grases kitzelte angenehm in der Nase. Adelina sog die Gerüche tief ein und sah sich um. Auch andere Dinge des täglichen Lebens gab es hier zu kaufen. Vor allem Zwiebeln, Kohlen und Salz. Die Händler dieser Waren hatten ihre angestammten Plätze an der Nordseite des Marktes. Im Ostteil fand man einige Stände mit Gewürzen, Käse und Gemüse. An der Westseite stand eine Fleischbank, desgleichen in der Mitte des Platzes, direkt neben dem Kax, wie hier in Köln die Pranger genannt wurden. Heute hatte sich eine Gruppe keifender Weiber um den Schandpfahl geschart. Sie bewarfen einen kahlköpfigen Mann in Metzgerkleidung mit faulenden Gemüseabfällen. Was er wohl angestellt haben mochte, dass die Marktbüttel ihn den öffentlichen Schmähungen seiner Mitbürger ausgesetzt hatten?

Doch Adelina verfolgte den Gedanken nicht weiter, denn Magda zupfte sie am Ärmel und deutete auf die Fleischbank am Marktplatzrand. Dort stand vor dem Ladeneingang eines Gewandschneiders die Kräuterfrau Eva mit einem Korb voller Pilze, wahrscheinlich den ersten in diesem Jahr. Sie war eine kleine stämmige Frau mit abgearbeiteten Händen und ausgemergelten Gesichtszügen. Ihr grauschwarzes Kleid wirkte schon etwas fadenscheinig, und sie trug eine gleichfarbige Haube, die an den Rändern leicht ausgefranst war.

Adelina nickte ihrer Magd zu und bedeutete ihr, mitzukommen.

Die Sammelfrau lächelte erfreut, als sie die Apothekerin erkannte.

«Frau Adelina, was führt Euch zu mir? Braucht Ihr noch einmal Kräuter? Ich kann erst morgen wieder losziehen. Oder möchtet Ihr Pilze?»

«O nein, Eva», wehrte Adelina ab. «Bei uns werden kaum Pilze gegessen. Du weißt doch, Vitus ist da sehr mäkelig, und mein Vater verträgt sie nicht. Und was meinen Mann angeht, so hat auch er andere Vorlieben.»

«Dann ist er endlich wieder zurück? Wie schön für Euch!», freute sich Eva.

Adelinas Miene verdüsterte sich kurz. «Leider noch nicht, Eva, aber ich erwarte ihn täglich. Heute möchte ich nichts von dir kaufen. Ich habe nur eine Frage, die du vielleicht auch an deine Schwester Hilka weitergeben kannst.»

«Aber natürlich.» Eva nickte eifrig. «Sagt mir, wie ich Euch helfen kann.»

«Ein befreundeter Ratsherr, ein sehr wichtiger Mann, hat mich gebeten herauszufinden, wo es hier in der Gegend Eisenhut zu finden gibt.»

«Eisenhut?» Eva kratzte sich am Kinn. «Den findet man um diese Jahreszeit manchmal auf den Wiesen und Weiden vor den Stadttoren. Aber richtig häufig kommt er im Bergland vor. Soweit ich weiß, gibt es Vorkommen in der Eifel oder im Westerwald. Und im Siebengebirge soll er auch zu finden sein.»

«So weit von hier?»

Eva nickte und zuckte gleichzeitig mit den Schultern. «Na ja, kann sein, wie gesagt, dass er hin und wieder auch hier in der Nähe wächst. Aber was wollt Ihr denn mit der Giftpflanze? Oder geht es etwa um den ermordeten Ratsherrn?»

Adelina hob bei Evas neugierigem Gesichtsausdruck amüsiert die Brauen. «Hast du also auch schon davon gehört? Es geht in der Tat um diese Angelegenheit. Aber ich bitte dich, darüber Stillschweigen zu bewahren. Ich habe meinem Bekannten lediglich versprochen, mich bezüglich des Eisenhuts zu erkundigen.»

«Natürlich, ich sage nichts», beteuerte Eva und senkte dann ihre Stimme. «Dann ist es also wahr, dass man den Goldschmied vergiftet hat? Man munkelt, er sei in diesem Dirnenhaus am Berlich gewesen.»

«Darüber weiß ich nichts», wehrte Adelina rasch ab und warf Magda einen raschen Blick zu. Doch die tat so, als ob sie dem Treiben am Kax zusehen würde. Adelina ahnte jedoch, dass ihr bestimmt kein Wort der Unterhaltung entgangen war. Dazu waren die Neuigkeiten zu interessant. Sie wandte sich wieder an Eva. «Also wäre es möglich, dass sich jemand das Kraut vor den Stadttoren geholt hat?»

Eva runzelte die Stirn und schnalzte. «Glaub ich nicht. Oder es müsste schon ein Kräuterkundiger sein. Eisenhut findet man nicht so leicht. Dazu ist er hier wirklich zu selten. Man muss schon genau wissen, wo man suchen muss. Ich selbst wüsste es nicht.»

«Und wer könnte deiner Meinung nach Eisenhut finden?», hakte Adelina nach.

Eva hob wieder die Schultern. «Da fragt Ihr mich was. Ich kenne niemand … halt, doch. Einer würde ich es zutrauen. Sie heißt Ludmilla. Vielleicht habt Ihr schon von ihr gehört. Sie lebt in den Wäldern, die an der Straße Richtung Aachen liegen. Sie nennt sich Weise Frau, verrichtet manchmal Hebammendienste in der Stadt. Aber man sagt auch, dass sie unheilige Künste anwendet und eine Engelmacherin ist. Ihr wisst schon, sie hilft Frauen, ihre Kinder vor der Zeit loszuwerden.» Bei dieser Bemerkung zuckte es um Adelinas Mundwinkel, doch sie riss sich zusammen.

Eva hatte den Schatten, der über Adelinas Gesicht gehuscht war, nicht bemerkt und fuhr fort: «Von ihr hat man schon so manches gehört. Wenn eine weiß, wo es Eisenhut zu finden gibt, dann bestimmt die.»

«So, so, Ludmilla also?» Adelina nickte Eva verbindlich zu. «Das werde ich mir merken. Vielleicht hilft es dem Rat ja weiter. Ich danke dir, Eva.» Sie kramte aus ihrer Gürtelbörse einen kleinen Kupferpfennig heraus und drückte ihn der Sammelfrau in die Hand. «Nun müssen wir aber weiter. Ich kann die Apotheke nicht den ganzen Tag geschlossen halten.»

Auf dem Heimweg schwieg Adelina nachdenklich. Ludmilla war auch ihrer Ansicht nach eine Person, der zuzutrauen war, die Fundstellen von Eisenhut in dieser Gegend genau zu kennen. Ob sie das Gift vielleicht im Auftrag des Mörders gesammelt hatte? Adelina kam das eher unwahrscheinlich vor, denn Ludmilla hielt sich, wenn möglich, von den Stadtbewohnern fern und bemühte sich, jedem Ärger aus dem Weg zu gehen. Normalerweise kam sie nur in die Stadt, wenn sie aufgrund einer schwierigen Geburt geholt wurde. Wie damals, als Adelinas Bruder Vitus zur Welt gekommen war. Damals war etwas schiefgegangen, und ihre Mutter war bei der Geburt gestorben. Und es war nur Ludmillas Heilkünsten zu verdanken, dass das Kind überlebt hatte. Allerdings hatte Vitus dabei Schaden genommen, war ganz blau angelaufen, und schon bald war klar gewesen, dass er ein Simpel war. Ein inzwischen fünfzehnjähriger Junge mit etwas schiefen Gesichtszügen und dem Verstand eines Dreijährigen.

Adelina seufzte innerlich. Vitus war zwar schwierig, doch bei weitem nicht das größte Problem in ihrer Familie.

 

Für Mama. Danke, dass du an mich geglaubt hast.

 

Denn es ist hier kein Unterschied:

Sie sind allesamt Sünder

und ermangeln des Ruhmes,

den sie bei Gott haben sollten.

Römer 3,23

Prolog

Die Stadt lag in kaltem Zwielicht. Vom Rheinhafen her zog Nebel auf und durchweichte das Herbstlaub, das sich in den Hauseingängen türmte und die Rinnsteine verstopfte. Die leichte Brise, die der Fluss mit sich zu führen pflegte, reichte heute nicht aus, um den Gestank von Exkrementen und Küchenabfällen zu vertreiben.

Ein Mann drängte sich an den Hausfrauen vorbei, die die Stände des Fischmarkts umlagerten und zwischen eingelegten Heringen und frischen Forellen die neuesten Nachrichten austauschten.

Die Kapuze seines braunen Mantels gegen die Kälte hochgeschlagen, strebte er dem anderen Ende des Platzes zu. An seinem Gürtel hing ein verschnürtes Päckchen, das ein hölzernes Kästchen mit Messingscharnieren und einer silbernen Schließe enthielt. Bei jedem Schritt stieß es klackernd gegen seinen Dolch.

Angewidert verzog er beim Anblick der Bettler vor der Kirche Groß St. Martin das Gesicht. Ein Ärgernis, wenn auch ein vom Stadtrat genehmigtes.

Er musste seinen Schritt verlangsamen, um nicht über die am Boden liegenden Krücken einer verkrüppelten Alten zu stolpern.

Abwehrend schlug er nach aufdringlichen Händen, die an seinem Mantel zupften, besann sich dann aber seiner Christenpflicht und warf ein paar schlecht geprägte Münzen aus seiner Manteltasche in die Menge.

Das Gerangel und die Dankesrufe, die er damit auslöste, beachtete er schon nicht mehr. Er bog hinter der Kirche ab und eilte durch eine Seitengasse, in der Hühner im Dreck scharrten und ein paar Kinder in sackartigen Kitteln einander mit eisigem Matsch bewarfen.

Die Kinder starrten ihn an; einer der Jungen warf einen halb verfaulten Kohlstrunk aus dem Rinnstein hinter ihm her, der ihn nur knapp verfehlte. Zu anderer Zeit hätte er ihm dafür eine Tracht Prügel verpasst, doch nun war Wichtigeres zu tun.

Auf dem Alter Markt priesen Marktschreier frische Eier, gerupfte Enten oder teure Gewürze an. Vor der Kotzbank, auf der die Schlachter ihre Abfälle sammelten, drängten sich Mägde und Tagelöhnerfrauen, die Knochen und Innereien zum halben Preis ergattern wollten. Der Henker reparierte unter der Aufsicht der Marktbüttel eine der Eisenfesseln am Kax, dem städtischen Pranger.

Der Mann blieb stehen, um ihm zuzusehen und sich zu sammeln. Die wogenden Menschenmassen mussten einen Bogen um ihn machen, weil er den Durchgang zwischen zwei Marktbuden und dem Schragentisch eines Hökers versperrte.

Als die ersten Unmutsäußerungen und Flüche der Leute zu vernehmen waren, setzte er sich wieder in Bewegung.

Am Westende des Marktes blieb er wieder stehen. Seine Hand tastete nach dem Päckchen am Gürtel und umfasste es. Gleich würde er es loswerden, es endlich loswerden. Er schüttelte es leicht und bildete sich ein, ein leises Rappeln zu hören, obwohl der Inhalt fest in Wachstuch eingeschlagen war.

Ihn würde das Unheil nicht treffen. Wohl aber andere, viele andere womöglich. Aber das war nicht wichtig.

Wichtig war, was es ihm einbringen würde. Ihm und der Stadt.

Bald war das Nötige getan, wenn er das Päckchen überbracht hatte.

Er blickte an den Fassaden der Häuser empor, die den Marktplatz säumten: Wohnhäuser, Schenken, Apotheken. Weiter hinten, in der Judengasse, das Rathaus.

Entschlossen schlug er seine Kapuze zurück, ging mit festen, ausholenden Schritten auf eines der Häuser zu und trat ein.