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Für Alexander und Johanna
in Liebe

Inhalt

Vorwort

Prolog – Das Wunder von Maintal

Mein Start ins Leben

Widmayer und die Reise nach Aschgabad

Wie Gyula Lorant mich aus Offenbach wegekelte

Kölner Premierenjahr

Der Kampf um die Karriere

Die Nationalelf und ich

Titel, Titel, Titel

Abschied aus Köln

Leben wie Gott in Frankreich

Der Vorhang fällt

Abenteuer Osten

Alexander

Präsident beim OFC

Leben oder Tod

Epilog

Dank

Vorwort

Idol, Gegner, Kollege und Freund.

Bundesliga-Torschützenkönig.

Sechs Tore in einem Bundesliga-Spiel.

Drei Tore beim Debüt in der deutschen Fußballnationalmannschaft.

Und als dann noch mein Schwager Ludger von einem Kick mit Dieter Müller und anderen Sportstudenten auf dem kleinen Kunstrasen an der Deutschen Sporthochschule in Köln erzählt und dass der große Bundesliga-Held ein ganz toller Typ ohne Starallüren sei, da wurde aus dem bewunderten Torjäger mein Idol. Das erste Treffen war indirekter Natur. Dieter Müller auf seiner letzten Station als Stürmer bei den Offenbacher Kickers. Ich als junger Cheftrainer beim damaligen Zweitligisten FC St. Pauli in der Saison 87/88. Meine Abwehrspieler hatte ich vorbereitet mit den Worten:

„Passt gut auf den Dieter Müller auf. Der steht zwar nur rum, aber macht aus keiner Chance ein Tor.“ Das war nicht ganz richtig. Er machte zwei Tore und wir verloren 1:3.

Unseren Aufstieg in die Bundesliga konnte er aber damit nicht verhindern.

Bei Dynamo Dresden in der ersten gesamtdeutschen Bundesliga-Saison 91/92 lernen wir uns dann persönlich kennen. Dieter Müller wird als Manager in der Rückrunde mein Mitstreiter im Kampf um den Klassenerhalt. Gemeinsam erleben wir Stasi-Enthüllungen, finanzielle Eskapaden und desaströse Niederlagen. Am Ende stehen der Klassenerhalt, unser Abschied und die Erkenntnis: Mission accomplished.

Idol, Gegner und Kollegen verloren, aber einen Freund fürs Leben gewonnen.

Und das ist doch keine so schlechte Ausbeute.

Denn: Ein Freund, ein guter Freund, das ist das Beste, was es gibt auf der Welt. Über Dieter als Sportsmann ist viel geschrieben und fast alles gesagt. Aus unserer Zeit sind mir drei Sätze besonders in Erinnerung geblieben, die den Menschen Dieter Müller gut beschreiben. Bei einem unserer Treffen sinniert er über Gott und die Welt und kommt zu der philosophischen Selbsterkenntnis:

„Wenn man nach dem Gefühl geht, ist es immer gut.“ Im Restaurant betrachtet er gedankenverloren sein Glas besten Rotweins. Schwenkt es gekonnt, sieht die Tropfen, die wie Tränen an der Innenseite herunterlaufen, und spricht:

„Helmut, guter Wein ist wie das Leben. Traurigkeit gehört dazu.“ Und auf seiner eigenen Geburtstagsfeier erklärt er den Grund für seine häufigen Aufenthalte im Restaurant „Neuer Haferkasten“:

„Wir haben jeden Abend über das Leben und die Liebe diskutiert.

Und? Wir sind bisher zu keinem Ergebnis gekommen.“

Gefühl, Lebensklugheit und Humor sind Ingredienzien eines sehr wertvollen Menschen.

In diesem Sinne wünsche ich viel Spaß bei der Lektüre.

Helmut Schulte

Prolog
Das Wunder von Maintal

Plötzlich war Licht um mich. Weißes, grelles Licht. Wo war ich? Auf dem Weg ins Jenseits? In eine andere Welt? Menschen, die als klinisch tot galten, dann ins Leben zurückgefunden hatten, erzählen davon: Licht am Ende des Tunnels, Treffen mit Verstorbenen, übernatürliche Begegnungen … Und nun blickte ich in dieses grelle Licht.

Aber ich glitt in keinen Tunnel hinein und fuhr durch keine Öffnung ins Jenseits. Ich lag in einem gewöhnlichen Bett.

Langsam gewöhnten sich meine Augen an die Helligkeit, und ich nahm eine graue Zimmerdecke wahr. Das Bett war von Monitoren umstellt, Kabel und Schläuche hingen an mir herunter. Mein Kopf brummte, in meinem Brustkorb brannte es.

Ich wollte diese Kabel unbedingt loswerden und sie mir vom Leib reißen, aber als ich danach griff, in einer völlig unerwarteten Langsamkeit, trat eine Frau in weißem Kittel vor mich, legte meine Hand behutsam zurück auf die Bettdecke und lächelte mich an.

„Herr Müller, alles in Ordnung. Sie sind in der Kardiologischen Klinik Hanau. Sie waren fünf Tage im Koma. Alles wird gut.“

Meine Gedanken stockten, ich hatte Schwierigkeiten, mich zu konzentrieren. Dann erkannte ich die zwei Menschen, die mir in meinem Leben am nächsten stehen: Johanna, meine langjährige Lebensgefährtin, und Annemarie, meine Tante, die mir wie eine Schwester ist.

„Du hattest einen Herzstillstand“, sagte Johanna. Sie hielt meine Hand und kämpfte mit den Tränen. „Kannst du dir das vorstellen, 31 Minuten lang …“

Wie konnte das sein? Wie kann man überleben, ohne dass das Herz schlägt, 31 Minuten lang?

In den nächsten Tagen realisierte ich, dass es tatsächlich an ein Wunder grenzte. Zehn Minuten Herzstillstand bedeuten den Exitus, danach, so die Lehrmeinung, sind die Schäden im Gehirn wegen mangelnder Sauerstoffzufuhr irreparabel. Eigentlich hätte ich ein Pflegefall sein müssen oder gar nicht mehr aus dem Koma aufwachen dürfen. So wie Heinz Flohe, mein einstiger Mitspieler beim FC Köln, der drei Jahre im Koma lag, bevor er starb.

Ich überlebte und wurde gegen jede Wahrscheinlichkeit wieder gesund. Ich war dem Tod von der Schippe gesprungen.

Für meine Angehörigen waren es weitaus schlimmere Tage. Einem geliebten Menschen fünf Tage lang zuzuschauen, wie er ums Überleben kämpft, ist eine Qual.

Der Tod ist ein furchtbarer Begleiter. Ich weiß, wovon ich rede. Tod und Verlust spielten in meinem Leben eine viel zu große Rolle. Einige von mir sehr geliebte Menschen gingen viel zu früh, vor allem mein Sohn, der mit nur 16 Jahren einem Gehirntumor erlag.

Nach drei Monaten im Krankenhaus durfte ich nach Hause zurückkehren. 2012 sollte es noch nicht so weit sein, ich sollte einfach noch nicht sterben. Das Schicksal hatte etwas anderes mit mir vor, mein Leben sollte weitergehen.

Ich hatte großartige Momente, vor allem auf dem Fußballplatz. Ich war mit dem 1. FC Köln Deutscher Meister und Pokalsieger, zweimaliger Bundesliga-Torschützenkönig, Nationalspieler, und bis heute bin ich der einzige Spieler, in einem Bundesligaspiel dem sechs Tore gelangen.

Ich wusste, wie man eine gegnerische Abwehr auseinandernimmt – doch den Schicksalsschlägen des Lebens stand ich mehr als einmal ohnmächtig gegenüber.

Davon möchte ich in diesem Buch erzählen: von den Schicksalsschlägen in meinem Leben und davon, wie ich aus ihnen positive Energie gewann, wie ich es schaffte, den Mut nicht zu verlieren und dankbar für all das Schöne zu bleiben, das ich als Fußballer und als Mensch erleben durfte.

Mein Start ins Leben

Am 1. April 1954 erblickte ich um 2.40 Uhr in der Nacht im Offenbacher Stadtkrankenhaus das Licht der Welt. Aber es war ganz schön knapp. Bei der Geburt wickelte sich die Nabelschnur um meinen Hals, eine lebensbedrohliche Situation, zumal in den 1950er-Jahren, in denen Totgeburten keine Seltenheit waren. Die erste Herausforderung, noch bevor ich selbstständig atmen konnte. Glücklicherweise brachte ich meinen Kopf rechtzeitig nach draußen, die Schnur konnte entwirrt werden, bevor die Sauerstoffzufuhr abgeschnitten war. Der Zwischenfall hinterließ keine Spuren, aber er stellte die Weichen für mein weiteres Leben, in dem ich mich immer wieder herausfordernden Situationen würde stellen müssen.

Was meine Mutter in diesem Moment im Krankenhaus wohl fühlte und dachte? Sie war damals gerade mal 21 Jahre alt, ich war ihr erstes Kind. Ihr Geburtsname lautete Renate Weller. Sie hatte nach der Schule eine Weile bei der Stadt Offenbach als Telefonistin gearbeitet, bis sie meinen Vater, Heinz Kaster, kennenlernte, den sie mit 20 Jahren recht unspektakulär in sehr kleinem Kreis heiratete. Beide wohnten in einer winzigen Wohnung in Offenbach-Bürgel. Ich war nicht gerade ein Wunschkind; wenige Tage nach der Geburt gaben meine Eltern mich zu meinen Großeltern mütterlicherseits und schon im Sommer darauf verließen beide Offenbach und zogen nach Herne. Ich blieb in Offenbach. Mein Vater verschwand danach völlig aus meinem Leben. Ich sah ihn 42 Jahre lang nicht mehr.

Es gibt bessere Starts ins Leben.

Mein abwesender Vater

Ich habe mich immer gefragt, was mein Vater für ein Mensch war, wie er es mit sich vereinbarte, dass er zu seinem eigenen Kind den Kontakt abreißen ließ. Dabei lebte er viele Jahre räumlich nur wenige Kilometer von mir entfernt. Die Erklärungen, die er mir sehr viel später, als wir uns endlich kennenlernten, anbot, konnten mich nicht zufriedenstellen. Es gab in meiner Kindheit zwar den einen oder anderen Annäherungsversuch, doch meine Mutter wollte auch nicht, dass es zu einer intensiveren Beziehung kam. Sie hielt meinen Vater für einen Trinker, sah in ihm keinen guten Umgang für mich, wie sie mir später erzählte. Immerhin trug ich beinahe 19 Jahre lang seinen Namen. Bis 1973 hieß ich Dieter Kaster, dann erst nahm ich den Nachnamen meines neuen Stiefvaters Alfred Müller an.

Kurioserweise erfuhr ich erst vier Jahrzehnte später, dass mein leiblicher Vater ebenfalls Fußballspieler gewesen war. Zum Zeitpunkt meiner Geburt war er 25 Jahre alt und spielte für Eintracht Frankfurt als rechter Außenverteidiger. Man nannte ihn „Knorze“, was wohl seinem strammen Schuss geschuldet war. Er schaffte es sogar einmal zu einem Nationalmannschaftslehrgang unter Sepp Herberger. Der kicker schrieb damals, dass er sich „außerhalb des Spielfeldes nicht der strengen Mannschaftsräson unterwerfen“ wollte. Meinem Vater fehlte es offensichtlich an Disziplin, nicht nur in Bezug auf seine väterlichen Pflichten.

Nach dem Krieg hatte er zunächst zwei Jahre für die Offenbacher Kickers gespielt, war dann für eine Saison zum FC St. Pauli gewechselt, um sich 1949 der Frankfurter Eintracht als Vertragsspieler anzuschließen. Keine Frage also, woher ich mein fußballerisches Talent hatte. Dafür war mein Vater verantwortlich. Mehr konnte und wollte er mir nicht mit auf den Weg geben.

In seiner letzten Saison in Frankfurt spielte Heinz Kaster keine große Rolle mehr. In der Spielzeit 1953/54 kam er lediglich auf einen Einsatz. Auch bei der Endrunde um die Deutsche Fußballmeisterschaft, für die sich Frankfurt als Oberliga-Zweiter der Gruppe Süd qualifiziert hatte – die Oberliga war damals die höchste Liga –, spielte er nicht. Die Eintracht verlor dort unglücklich gegen Köln und Kaiserslautern. Ohne meinen Vater. Aufgrund der schlechten sportlichen Perspektive in Frankfurt entschloss er sich, zur neuen Saison zu Westfalia Herne, Aufsteiger in die Oberliga West, zu wechseln. Meine Mutter begleitete ihn und ließ mich, wie gesagt, bei meinen Großeltern Heinrich und Else zurück. Direkt nach meiner Geburt im April 1954. Dabei startete die neue Saison doch erst im September …

Im ersten Spiel am 22. September 1954 gab es gleich eine 1:7-Niederlage bei Preußen Münster. Mein Vater stand in der Startelf. Es sollte sein erstes und letztes Spiel für Herne sein. Bereits 1955 kam er wieder zurück ins Rhein-Main-Gebiet. Auch meine Mutter kehrte zurück, doch beide waren kein Paar mehr. Sie hatten sich nach nur einem Jahr getrennt, die Ehe hatte nur zwei Jahre gehalten.

Seltsamerweise fragte ich nie bei meiner Mutter nach, jedenfalls nicht beharrlich genug, wie das alles war in den ersten Jahren nach meiner Geburt, warum mein Vater mich nie besuchen kam, wer er eigentlich war, weshalb sie beide mich nicht nach Herne mitnahmen, warum sie sich so schnell trennten. Allzu leicht gab ich mich mit ihren Ausflüchten und Ausweichmanövern zufrieden. Sie wollte diese Episode ihres Lebens wohl unter allen Umständen vergessen, verdrängen. Fragen dazu wehrte sie rigoros ab. Vermutlich scheute auch ich mich davor, die wahren Beweggründe zu hören, weil ich fürchtete, dadurch erneut verletzt zu werden.

Bei Oma und Opa in Offenbach

Fakt war, dass ich wenige Tage nach meiner Geburt ohne meine Eltern in die Wohnung meiner Großeltern kam und dort die ersten zehn Jahre meines Lebens verbrachte. Wir wohnten in einem Wohnblock im Stadtzentrum von Offenbach, direkt an den Bahngleisen, genau gegenüber der Station Offenbach-Ost. Annastraße 18, so lautete die Adresse. Die Bieberer Straße, die schnurgerade hoch zum Stadion führte, lag um die Ecke. Von unserer Wohnung aus konnten wir hinter den Gleisen das riesige grüne Areal des Alten Friedhofs erahnen. Der Block, 1950 gebaut, war einer dieser typischen kleinbürgerlichen Mietshäuser, die nach dem Krieg überall hochgezogen wurden, um den vielen Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu geben. Zusammen mit drei weiteren Blocks bildeten die Häuser eine Kolonie, eine kleine Welt für sich. Auf den Rasenflächen zwischen den Gebäuden trockneten die Bewohner im Sommer ihre Wäsche.

In unserem Block gab es vier Hauseingänge. Wir wohnten ganz vorne, direkt gegenüber den Bahnschienen. Die Wohnung befand sich im zweiten Stock links. Insgesamt hatte die Wohnung 50 Quadratmeter. Das reichte für eine ganze Familie. Wenn man eintrat, befand sich links ein kleines Duschbad mit Toilette. Geradeaus ging es in den wichtigsten Raum der Wohnung, die Küche. Dort spielte sich das Familienleben ab. In der Küche gab es eine kleine Nische, in der eine kleine Couch stand. Diese Nische war durch einen Vorhang vom Rest der Küche abgetrennt. Das hatte einen Grund, denn die Couch wurde abends ausgeklappt. Dort verbrachte die kleine Schwester meiner Mutter, meine Tante Annemarie, die nur sieben Jahre älter war als ich, ihre Nächte. Tante Annemarie wurde für mich zur wichtigsten Bezugsperson, wir entwickelten ein sehr enges Verhältnis, das sich bis heute wie ein Bruder-Schwester-Verhältnis anfühlt. Von Eifersucht war bei ihr keine Spur, sie liebte mich abgöttisch. Und das tat mir gut. Sie brachte mich zum Kindergarten, sie schaute nach mir, wenn es mal wieder zu spät wurde, weil ich mit den anderen Kindern bolzte, oder ging dazwischen, wenn es zu Streitigkeiten kam. Als Baby schlief ich mit Opa und Oma im kleinen Schlafzimmer, das, wie das Wohnzimmer, vom Flur abging. Ich hatte kein eigenes Bett, dafür gab es keinen Platz, ich lag also die ersten Jahre sozusagen in der „Besucherritze“. Später kam es auch vor, dass ich auf der Couch im Wohnzimmer schlief. Tagsüber hielt ich mich meist in der Küche auf. Es gab dort einen Ofen, den Herd, Tisch, Bank und Stühle sowie eine kleine Speisekammer. Ich liebte diesen Ort. Er roch immer lecker nach Essen und war auch im Winter den ganzen Tag über warm. Das kleine Wohnzimmer hingegen wurde in den kalten Monaten höchstens am Abend oder am Wochenende geheizt.

Meine Großeltern, die nie Aufhebens davon machten, dass sie mich großzogen, akzeptierten, dass ihre Tochter mich bei ihnen zurückgelassen hatte. Sie versuchten, das Beste aus unseren bescheidenen Verhältnissen zu machen. Nach heutigen Maßstäben waren es unzumutbare Zustände. Meine Großeltern hatten keinerlei Privatsphäre. Dabei waren sie nicht alt, bei meiner Geburt gerade mal 50 Jahre. Heute hat man mit 50 noch eine sehr aktive Paarbeziehung, damals war das kein Thema. Es gab andere Sorgen. Man musste für die Familie sorgen. Das Überleben sichern. Meine Großeltern widmeten sich dieser Aufgabe mit Hingabe, der Alltag nahm sie voll und ganz in Anspruch.

Oma Else sorgte für mich wie eine Mutter. Sie war klein, ein wenig korpulent, aber mit einer unglaublichen Energie. Sie war die gute Seele in der Wohnung, kümmerte sich um alle und alles. Zu Hause trug sie meist eine Küchenschürze, mal blau, mal grün. Oma war Hausfrau mit Leib und Seele. Sie machte sauber, kochte, wusch und kaufte ein.

Opa Heinrich hatte nach dem Krieg eine Anstellung als Sachbearbeiter beim Ausgleichsamt im Offenbacher Rathaus gefunden. Mit seinen kurz geschnittenen Haaren, die auch über den Ohren rasiert waren, seinem dünnen Schnauzer und dem grauen, abgetragenen Anzug sah er recht bieder und streng aus. Aber ich hatte zu ihm eine sehr enge Beziehung. Als ich später Fußballprofi wurde, sammelte Opa gewissenhaft alle Berichte und Fotos, die ihm in die Hände fielen, und bastelte Alben daraus. Er war unglaublich stolz auf mich.

So traurig es rückblickend für mich war, dass meine Eltern nach Herne gingen und mich zurückließen – für meine Großeltern war es ein Glücksfall. Ich war der Sonnenschein, der die dunklen Wolken aus ihrem Leben vertrieb. Meine Großeltern hatten schlimme Nachkriegsjahre hinter sich und das hatte vor allem mit der düsteren Vergangenheit meines Opas zu tun. Mit mir als ihrem neuen Lebensinhalt trat die Vergangenheit ein Stück weit zurück. Sie stürzten sich regelrecht auf mich.

Für mich ist es nach wie vor unvorstellbar, dass mein Opa anderen Menschen Schlimmes angetan hat. Aufgrund seiner Stellung und Arbeit während des Krieges ist das aber mehr als wahrscheinlich. Ich kriege das immer noch nicht zusammen. Wie kann ein liebevoller, bescheidener und freundlicher Mensch wie mein Großvater zu Gräueltaten fähig sein wie so viele andere während des Hitlerregimes auch? Eine Frage, die später eine ganze Generation beschäftigen sollte. Mein Opa war Nazi, das war leider so. Wenn ich als Kind seine eintätowierte Blutgruppenbezeichnung auf dem Oberarm sah, war das für mich nur eine Verzierung. Erst später lernte ich, dass Mitglieder der SS diese Tätowierung trugen.

Wie in vielen anderen Familien legte sich auch bei uns eine Glocke der Sprachlosigkeit über die Kriegszeit. Ich erfuhr nie von meinen Großeltern, was Opa tatsächlich im Krieg gemacht hatte. Vor dem Krieg war er bei der Offenbacher Kriminalpolizei gewesen. Schon sein Vater, also mein Urgroßvater, war Polizist gewesen. Sein Revier war die Mathildenstraße, Ecke Bieberer Straße, dort, wo es noch heute eine Polizeidienststelle gibt. Nach Hitlers Machtübernahme trat Opa Heinrich in die NSDAP ein und mit Ausbruch des Krieges wurde er immer häufiger nach Berlin zum Reichssicherheitshauptamt abkommandiert, dessen Leiter der brutale Reinhard Heydrich war, unter anderem einer der Hauptverantwortlichen des Holocaust. Das Amt war mit 3000 Beschäftigten die zentrale Behörde, die den größten Teil der deutschen Repressionsorgane unter Hitler leitete. Mein Opa war also regelmäßig an der Quelle des Bösen. Später reiste er auch öfter nach Prag, wo sein Chef Heydrich als stellvertretender Reichsprotektor Böhmen und Mähren Hof hielt. Vor allem in Gesprächen mit meiner Tante Annemarie wurde mir als Erwachsener nach und nach klar, wie sehr mein Großvater in das Hitlerregime verstrickt gewesen war. Nach dem Krieg, als die US-Amerikaner durch Hessen marschierten, floh Opa zusammen mit Oma, meiner damals zwölfjährigen Mutter und einem Halbbruder, den meine Oma aus einer ersten Ehe mitgebracht hatte, in Richtung Süden. In der Nähe von Rosenheim wurden sie jedoch gestellt. Opa kam in ein Entnazifizierungslager im Rhein-Main-Gebiet. Später wurde er von den Behörden als Mitläufer eingestuft und durfte zu seiner Familie zurückkehren.

Doch mit welcher Perspektive? Die Familie litt existenzielle Nöte und das war eine große Umstellung, denn ihr war es zuvor immer sehr gut gegangen. Meine Oma, so erfuhr ich später, kam als Fabrikantentochter aus gutem Hause und nicht zuletzt dank der Stellung meines Opas bei der Polizei lebte die Familie all die Jahre frei von materiellen Sorgen. Das war nun vorbei. Die Familie kam zunächst in einem Zimmer bei Verwandten am Offenbacher Waldpark, in der Nähe des Stadions, unter, bis man eine kleine Wohnung in der Nähe des Wilhelmplatzes im Stadtzentrum fand. 1947 kam meine Tante Annemarie zur Welt und vergrößerte die Familie. Das machte die Sorgen nicht kleiner. Mein Opa fing an, auf dem Bau zu arbeiten. Er war so eine Art Gelegenheitsarbeiter oder Tagelöhner. Die Rückkehr in den Polizeidienst war ihm versperrt. Nun verließ er früh das Haus, wartete auf Auftraggeber, die seine Dienste tageweise bezahlten, und kam am Abend müde nach Hause. Meine Mutter litt in dieser Zeit als Teenager wohl besonders. Sie kam mit den ärmlichen Verhältnissen gar nicht zurecht und sehnte sich nach den guten alten Zeiten zurück.

Ich stelle mir vor, wie meine Familie nach dem Krieg zusehen musste, wie sie mit den neuen Verhältnissen klarkam. Die belastende Vergangenheit meines Großvaters, das fehlende Geld, die beengten Wohnverhältnisse, das Schweigen, all das, so denke ich, sorgte dafür, dass auf dem Haushalt eine gewisse Schwere lag.

Mit meiner Ankunft sollte sich das ändern. Ich war für sie wie ein neues Lebenselixier.

Meine Mutter taucht wieder auf

1955, etwa ein Jahr nach meiner Geburt, kam meine Mutter zurück nach Offenbach.

Dort sah es damals wie überall in Deutschland aus. Alles war im Wiederaufbau begriffen. Offenbach war im Zweiten Weltkrieg durch alliierte Luftangriffe zu 36 Prozent zerstört worden. Besonders in der Alt- und Weststadt war kein Stein auf dem anderen geblieben. Die öffentlichen Gebäude waren allesamt hinüber und mussten wiederaufgebaut werden. Genauso wie Wohnungshäuser, Straßen, Kanalisation, Versorgungsleitungen oder Krankenhäuser. Die Stadt erhielt ein völlig neues Bild. Aus den Trümmern der idyllischen Altstadtgassen wuchs keine sehr schöne, aber immerhin eine moderne Stadt. Die in Offenbach ansässige Lederindustrie zog viele Menschen an. 1954, wenige Monate nach meiner Geburt, hatte Offenbach erstmals 100 000 Einwohner. Auch auf dem Bieberer Berg, dort, wo 1921 ein Stadion gebaut worden war, legte man Hand an. Die alte Holztribüne hatte lediglich Platz für 1200 Zuschauer. So wurde 1952 auf der Gegenseite eine neue überdachte Stehtribüne gebaut, 1956 erhielt das Stadion seine erste Flutlichtanlage und 1960 entstand die Haupttribüne neu. Auf den Straßen Offenbachs startete in den 50er-Jahren wie überall in Deutschland der Siegeszug des Autos. 1957 bekam Offenbach seine erste Straßenampel, und zwar an der Kreuzung Kaiserstraße/Bernhardstraße am Büsingpark, keine zwei Kilometer von unserer damaligen Wohnung entfernt. Wir besaßen allerdings kein Auto. Das konnten sich meine Großeltern nicht leisten.

1955 war meine Mutter also plötzlich wieder in Offenbach. Ihre Ehe mit Heinz Kaster war in die Brüche gegangen und sie zog bei uns ein. Wohin? Gute Frage, wenn in einer 50-Quadratmeter-Wohnung bereits vier Personen leben. Aber es gab ja noch das Wohnzimmer. Das machte sie zu ihrem Reich. Mutter fing wieder an, als Telefonistin zu arbeiten, diesmal beim Fernmeldeamt in Frankfurt. Parallel dazu kümmerte sie sich um die Scheidung. Der Anwalt, den sie mit dieser Angelegenheit beauftragte, war ein wohlhabender unverheirateter Mann. Die beiden wurden ein Paar. Meine Mutter war eine attraktive Frau. Sie hatte hübsche schwarze Haare, eine schlanke Figur und legte sehr viel Wert auf ihre Kleidung. Die Männer drehten sich auf der Straße nach ihr um. Der Anwalt kam in dieser Zeit öfters zu uns nach Hause, was ich als Kleinkind noch nicht so mitbekam. Auch weil meine Mutter sich regelmäßig ins Wohnzimmer zurückzog. Sie schloss die Tür ab und keiner durfte hinein. Meine Großeltern akzeptierten das.

Für mich hatte sie nach ihrer Rückkehr nur wenig Zeit. Sie war mit ihrer Arbeit beschäftigt, dazu mit der Scheidung und nicht zuletzt mit ihrer neuen Beziehung. Für mich lief eigentlich alles so weiter wie bisher. Annemarie und Oma Else blieben meine zentralen Bezugspersonen. Vor allem von meiner Oma bekam ich die Sicherheit und Geborgenheit, die ich brauchte. Statt mit meiner Mutter schmuste und kuschelte ich mit ihr. Babys und Kinder benötigen vertraute und verlässliche Personen, die Bindungserfahrungen der ersten Jahre können durch nichts ersetzt werden. Deshalb bin ich sehr glücklich, dass ich meine Großeltern und Annemarie hatte. Aber die Rolle von Mutter und Vater konnten sie natürlich nicht zu 100 Prozent übernehmen.

Obwohl mein Vater nach seinem Intermezzo in Herne wieder in Offenbach lebte, tauchte er in meinem Leben nicht mehr auf. Laut Wikipedia spielte er noch für den KSV Urberach, einen kleinen Verein in der Nähe, und trainierte später Germania Bieber, einen Klub, der nicht weit vom Stadion der Kickers entfernt seine Heimstatt hatte. Tatsächlich gab es keinerlei Kontakt. Meiner Mutter war das nur recht. Sie wollte die Episode mit dem „Fußballer“ so schnell wie möglich vergessen und nicht mehr über ihn reden. Und wenn sie es doch tat, dann fiel ihr nur Schlechtes ein.

Sie hatte jetzt ihren Anwalt, mit dem sie sich in die nächste Ehe stürzte. Auch an diesem neuen Leben meiner Mutter durfte ich nicht teilnehmen. Der neue Mann wusste von mir, hatte mich ja des Öfteren bei uns in der Annastraße gesehen, wenn er meine Mutter besuchte. Aber vor seiner Familie wurde meine Existenz totgeschwiegen. Er lebte in Bad Nauheim zusammen mit seinen Eltern in einem herrschaftlichen Haus. Die Familie war angesehen und gut betucht. Nach der Heirat sollte meine Mutter dort einziehen. Ich habe das Haus nie gesehen. Auch bei der Hochzeit war ich nicht dabei. Meine Mutter entschied, dass ihr Kind aus erster Ehe hier nichts zu suchen hatte. Ich sah sie nur gelegentlich, wenn sie aus Bad Nauheim zu Besuch in Offenbach war.

Annemarie dagegen wurde des Öfteren nach Bad Nauheim eingeladen, wobei sie sich dort alles andere als wohl fühlte. Anders als bei uns in Offenbach ging es in Bad Nauheim sehr steif und förmlich zu. Jedes Mal, bevor sie dorthin fuhr, wurde sie ausführlich „gebrieft“. Sie durfte auf keinen Fall erzählen, dass es in Offenbach noch den kleinen Dieter gab, der auf seine Mutter wartete.

Fußball, Elvis, Eiscafé

Mittlerweile schrieben wir das Jahr 1957, ich kam in den Kindergarten.

Einmal in der Woche, immer am Samstag, war Badezeit für Annemarie und mich. Das Wasser wurde in Kochtöpfen erhitzt und in die Emaillebadewanne geschüttet. Und auch Oma und Opa sprangen manchmal hinein. Das Wasser wurde natürlich nicht gewechselt, es musste ja an Öl fürs Heizen gespart werden. Auch das, was Oma Else auf den Tisch brachte, war einfach und kostensparend. Es gab viel Gemüse – Kartoffeln, Kohlrabi oder Karotten –, auch mal Gulasch oder Eisbein mit Sauerkraut. Opa kam mittags immer von der Arbeit zum Essen nach Hause, um Geld zu sparen. Kurz vor dem Hauseingang pfiff er sehr laut zum Küchenfenster hoch, sodass Oma wusste, dass nun das Essen aufgetischt werden musste. Mein Lieblingsessen war Hackbraten. Ab und an gingen wir in eine Gaststätte in der Nähe. Da gab es für alle immer ein halbes Hähnchen. Dazu putzte sich mein Großvater stets fein raus, zog seinen zweiten Anzug an, den er nur für besondere Anlässe aus dem Schrank holte. Es war für mich das Schönste, wenn Oma, Opa, Annemarie und ich zusammen etwas unternahmen oder zu Hause vor dem Fernseher saßen. Anfang der 60er-Jahre konnten wir uns tatsächlich ein Loewe-Opta-Gerät leisten. Szenen von der WM 1962 aus Chile waren die ersten Fußballbilder im TV, an die ich mich noch erinnern kann.

Trotz der Abwesenheit meiner Eltern und der beengten und einfachen Verhältnisse war es eine glückliche Zeit für mich.

Ich war ein zurückhaltendes und braves Kind, meine Großeltern hatten es nicht schwer mit mir. Tante Annemarie war da schon anders. Opa Heinrich schimpfte oft mit ihr. Sie büxte als kleines Mädchen oft aus. Unsere Haustür hatte quadratische Glasscheiben und eine von den unteren konnte man aufklappen – durch die verschwand sie regelmäßig. Ich bewunderte sie dafür, denn ich traute mich so was nicht. Ich hatte sehr großen Respekt vor meinen Großeltern und machte nur selten Dummheiten. Ich spürte als Kind, dass ich auf beide angewiesen war, mehr als auf jeden anderen in der Welt. Ich wollte es mir mit ihnen nicht verscherzen.

Ich besaß kein eigenes Zimmer, meine Spielsachen waren überschaubar. Andere Kinder kamen nie zu mir, das war nicht vorgesehen. Vieles spielte sich deshalb draußen ab. Auf der anderen Straßenseite von unserem Haus gab es einen kleinen Park, eigentlich ein sandiger Platz zwischen Bäumen, um den einige Parkbänke standen. Wir nutzten ihn zum Fußballspielen. Noch heute gibt es diesen Bolzplatz, jetzt eingezäunt und mit richtigen Toren, aber Kinder kicken dort nur noch selten. Die Zeiten haben sich geändert. Für mich gab es damals, vor 60 Jahren, nur eines: raus und Fußballspielen. Ich hatte mich mit einem drei Jahre älteren Jungen angefreundet. Er hieß Rainer und wohnte in der 12, drei Eingänge weiter. Trotz des Altersunterschiedes verbrachten wir viele, viele Nachmittage vor dem Haus, streunten umher, spielten Nachlaufen, kickten auf dem Rasen oder schossen den Ball abwechselnd stundenlang gegen eine Mauer vor unserem Haus. Bis heute sind wir Freunde und treffen uns ab und zu, um über die alten Tage zu reden.

Ich war vier Jahre alt, als ich das Fußballspielen für mich entdeckte. Ab da war ich fast jeden Tag draußen. Aber zum Spielen brauchten wir einen Ball und das war ein Problem. Erst mit neun Jahren bekam ich von meinem Großvater einen Lederball geschenkt. Bis dahin waren wir auf Helmut angewiesen. Er war der einzige, der einen richtigen Ball hatte. Wenn Helmut nicht da war, wurde es schwierig. Oft klingelten wir bei ihm an der Haustür, einen Block weiter, um zu fragen, wann er endlich rauskomme. Manchmal gab er uns den Ball mit und wir brachten ihn später zurück. Mit Helmuts Lederball machte das Kicken gleich viel mehr Spaß. Es gab zwar den einen oder anderen Gummi- oder Plastikball in der Siedlung, aber das war natürlich nicht das Gleiche. Ich erinnere mich an endlose Augenblicke, die ich unten wartete, bis endlich andere Kinder kamen. Ich lief herum, allein oder mit Rainer, auf der Suche nach Spielkameraden. Wenn niemand da war, mussten wir uns was ausdenken, zum Beispiel Mauerschießen. Manchmal war ich ganz allein und dann wurde es richtig langweilig. Eine Langeweile, die die Kinder von heute gar nicht mehr kennen. Damals gehörte das dazu, wir hatten endlos Zeit. Es gab keine Nachhilfe, keine Events, ich wurde weder zum Klavier- oder Englischunterricht chauffiert noch zu meinen Freunden. Man musste sich mit sich selbst beschäftigen und sich die Zeit vertreiben. Und dann gab es noch den Faktor Wetter. Wie ich damals den Regen hasste! Wenn es schüttete, wollte Oma Else nämlich nicht, dass ich rausging. Ich saß dann stundenlang am Fenster und schaute hinaus, ob der Regen vielleicht etwas nachlassen würde. Ich war tatsächlich fußballverrückt. Ich erinnere mich gut daran, wie Opa Heinrich schimpfte, wenn ich mit meinen guten Schuhen, die ich für die Schule brauchte, Fußball spielte. Dann pfiff er mich hoch, die Schuhe zu wechseln, was ich immer ziemlich peinlich fand, denn die anderen mussten das Spiel unterbrechen und auf mich warten.

Unsere Tore waren zwei gegenüberliegende Bänke. Keine Chance für die Anwohner, sich dort auszuruhen, ein Buch oder die Zeitung zu lesen. Das war unser Revier. Ich liebte diese Welt. So lieb und brav ich zu Hause war, so wild und draufgängerisch war ich beim Fußball. Mal spielte ich mit Älteren, mal mit Jüngeren. Das Wichtigste war für mich jedes Mal, Tore zu schießen. Dieser Moment, wenn ich für meine Mannschaft etwas leistete und dafür Anerkennung bekam, brannte sich mir ein. Ich glaube, ich bin in jenen Tagen in der Annastraße richtig süchtig danach geworden. Es ging ab da immer nur darum, Tore zu erzielen. Mit sechs war ich so flink und dribbelstark, dass mich die anderen Jungs irgendwann „Didi“ tauften. Der brasilianische Star war zwei Jahre zuvor zum besten Fußballer des Weltmeisterschaftsturniers in Schweden gewählt worden, wo er unter anderem mit Pelé und Vavá den WM-Titel gewonnen hatte. 1959 wechselte er zu Europapokalsieger Real Madrid. Seine Technik war legendär. Didi perfektionierte den Schuss mit dem Außenrist, mit dem er ein ums andere Mal die Torhüter düpierte. Mir gefiel mein neuer Name, er spornte mich an und natürlich probierte ich wie die anderen auch, mit dem Außenrist zu schießen. Das war schwerer als gedacht.

In einen Verein einzutreten, stand damals nicht zur Debatte. Ich erinnere mich schwach, dass Opa Heinrich Anfang der 60er-Jahre bisweilen mit mir hoch ins Stadion am Bieberer Berg zu den Kickers ging. Aber die Erinnerungen daran sind verblasst. Es sollte noch einige Jahre dauern, bis das Trainings- und Stadiongelände auf dem Bieberer Berg zu einem wichtigen Teil meines Lebens wurde.

In der Schule brillierte ich nicht gerade. Ich besuchte die Mathildenschule etwa 15 Gehminuten von uns entfernt. Aber der Unterricht interessierte mich nicht sehr. Statt Hausaufgaben zu machen oder für Mathe und Deutsch zu lernen, spielte ich lieber draußen mit den anderen Kindern. Ich mochte die Schule wirklich nicht und kann mich auch nicht besonders gut an diese Zeit erinnern. Ich weiß nur, dass später, als ich elf oder zwölf Jahre alt war, ein Lehrer namens Koch meine bescheidenen Leistungen mit den Worten kommentierte: „Na, Kaster, wieder mal zu viele Kopfbälle gemacht …?“

Anders als die Schule wurde das Kino zu meiner zweiten großen Leidenschaft. Tante Paula, eigentlich meine Großtante – sie war die Schwester meiner Oma – nahm mich regelmäßig mit. Der Saal bei uns in der Nähe hieß „Atlantik“ und gehörte einem gewissen Kurt Schreiner. Er sollte als einer meiner späteren Jugendtrainer bei Kickers Offenbach sehr wichtig für mich werden. Schreiner war nach dem Krieg einer der herausragenden Spieler des OFC gewesen. Er war Teil jener Mannschaft, die 1950 im Endspiel um die Deutsche Meisterschaft dem VfB Stuttgart vor 100 000 Zuschauern in Berlin unterlag. Zwischen 1946 und 1948 spielte er sogar mit meinem Vater in Offenbach zusammen. Das wusste ich damals natürlich nicht, als ich ins Atlantik ging, um Filme wie Fuzzy, der Revolverheld oder Die Brücke am Kwai zu sehen.

Zu dieser Zeit, Ende der 50er-Jahre, war auch Elvis Presley sehr präsent. Das große Musikidol wohnte zwischen Oktober 1958 und Anfang 1960 in Bad Nauheim, um in Friedberg seinen Wehrdienst abzuleisten. Ich war zwar gerade mal fünf, sechs Jahre alt, aber ich bekam bereits mit, was für eine große Fangemeinde Elvis hatte. Die älteren Jungs aus unserer Straße fuhren zwei Stunden mit dem Fahrrad nach Bad Nauheim, wo er täglich Hof hielt und eine abendliche Autogrammstunde gab. Einmal zeigte uns ein Nachbarsjunge mit stolzer Brust sein Autogramm vom „King of Rock ’n’ Roll“. Das war Gesprächsthema für Tage! Als das Lied Muss i denn zum Städtele hinaus ein Hit wurde und aller Welt auf den Lippen lag, musste ich immer an diesen Jungen denken, der von Elvis persönlich ein Autogramm erhalten hatte. Ich beneidete ihn sehr und nahm mir vor, auch einmal nach Bad Nauheim zu fahren, falls der King noch einmal wiederkommen würde. Das tat er natürlich nicht.

Ein weiteres frühes Highlight, an das ich mich sehr gern zurückerinnere, waren unsere Ausflüge ins Café Wipra. Das war ein Eiscafé in der Frankfurter Innenstadt, das sich „Café der Tierfreunde“ nannte. Wenn man hineinging, wusste man, warum. Man war von Affen, Papageien, exotischen Fischen und Schlangen umgeben. Heute angesichts der hygienischen Auflagen und des Tierschutzes unvorstellbar, doch damals interessierte das niemanden und die Familien strömten scharenweise dorthin. Ich liebte es, zusammen mit Oma Else und Annemarie mit der Straßenbahnlinie 16 nach Frankfurt zu fahren, um dort ein Eis oder ein Stück Kuchen zu essen.

Neuer Wohlstand, neues Familienleben und der erste Verein

Mein Leben Anfang der 60er-Jahre spielte sich zwischen Schule, Bolzplatz und Wohnung ab. Bis zu dem Zeitpunkt, als meine Mutter auf ihre große Liebe traf …

Bei einem ihrer Besuche bei uns in Offenbach lernte sie einen gewissen Alfred Müller kennen, einen erfolgreichen, stadtbekannten Bauunternehmer, ein stattlicher und eleganter Typ, immer im schnieken Anzug, meist kariert, und mit Einstecktuch. Er hatte aus den Nachkriegsverhältnissen seinen Profit geschlagen, überall musste ja gebaut werden, und in Offenbach besaß er beste Verbindungen, um an Aufträge zu kommen. Er fuhr einen glänzenden Mercedes 300 SE in Beige, was sich damals nur die wirklich Reichen leisten konnten, und wohnte in einer großen Villa in Königstein-Falkenstein, einem vornehmen Ort im Taunus. Sein Bauhof lag uns direkt gegenüber. Irgendwie müssen meine Mutter und er sich auf der Straße vor unserem Haus begegnet sein. Sie begannen jedenfalls eine Affäre, denn beide waren zu jenem Zeitpunkt noch verheiratet. Der Reichtum Müllers, der immerhin 24 Jahre älter war, hatte eine große Überzeugungskraft für meine Mutter, die Zeit ihres Lebens von materiellen Dingen angezogen war.