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Über dieses Buch:

London, 1882. Die sonst so beherrschte Constance Trenchard ist fassungslos: Der Mann, der plötzlich unangemeldet vor ihr steht, scheint ihr ehemaliger Verlobter zu sein – doch das ist unmöglich! Vor vielen Jahren verließ Sir James Davenall sie ohne Erklärung kurz vor der Hochzeit und beging Selbstmord. Für seine adlige Familie droht nun ein weiterer Skandal: Sir James ist als ältester Sohn der Erbe von Land und Titel – jeder der Verwandten hätte durch seine Rückkehr von den Toten etwas zu verlieren. So beginnt ein intrigantes Spiel, das nach und nach die innersten Geheimnisse einer ebenso vornehmen wie verfeindeten Familie offenlegt … und bei dem auch vor Mord nicht zurückgeschreckt wird. Aber immer bleibt die Frage: Ist Sir James wirklich der, der er vorgibt zu sein?

Die düstere Antwort auf DOWNTON ABBEY: »Robert Goddard ist einer der besten Erzähler unserer Zeit!« Sunday Telegraph

»Robert Goddards Romane machen süchtig.« Main-Post

Über den Autor:

Robert William Goddard, geboren 1954 in Fareham, ist ein vielfach preisgekrönter britischer Schriftsteller. Nach einem Geschichtsstudium in Cambridge begann Goddard zunächst als Journalist zu arbeiten, bevor er sich ausschließlich dem Schreiben von Spannungsromanen widmete. Robert Goddard wurde 2019 für sein Lebenswerk mit dem renommierten Preis der Crime Writer's Association geehrt. Er lebt mit seiner Frau in Cornwall.

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks auch die folgenden Kriminalromane: »Im Netz der Lügen«, »Der Preis des Verrats«, »Eine tödliche Sünde«, »Ein dunkler Schatten«, »Denn ewig währt die Schuld«, »Das Geheimnis von Trennor Manor«, »Und Friede den Toten«, »Das Geheimnis der Lady Paxton«, »Das Haus der dunklen Träume«

Robert Goddard veröffentlichte bei dotbooks weiterhin die historischen Kriminalromane: »Die Sünden unserer Väter«, »Die Schatten der Toten«, »Jäger und Gejagte«, »Die Klage der Toten«, »Der Kartograf von London«

Robert Goddard veröffentlichte außerdem bei dotbooks seine drei Kriminalromane mit dem Ermittler Harry Barnett: »Dunkles Blut«, »Dunkles Sonne«, »Dunkle Erinnerung«

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eBook-Neuausgabe Januar 2020

Dieses Buch erschien bereits 1991 unter dem Titel »Leben heißt Jagen« bei Schweizer Verlagshaus AG, Zürich

Copyright © der englischen Originalausgabe 1989 Robert Goddard

Die englische Originalausgabe erschien 1989 unter dem Titel »Painting The Darkness« bei Bantam Press, London.

Copyright © der deutschen Ausgabe 1991 Schweizer Verlagshaus AG, Zürich

Copyright © der Neuausgabe 2019 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Leka Sergeeva, Nella

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (CG)

ISBN 978-3-96655-018-5

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Robert Goddard

Die Schatten der Toten

Roman

Aus dem Englischen von Werner Waldhoff

dotbooks.

Dank

Ich bedanke mich beim Ticehurst House Hospital, East Sussex, für den mir gewährten Zugang zum Archiv und zum Grundstück. Ebenso danke ich meinem Freund Jeffrey Davis für die psychiatriegeschichtlichen Informationen, die ich seiner Dissertation zu diesem Thema entnehmen durfte.

Meiner Mutter gewidmet

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DIE PERSONEN

WILLIAM TRENCHARD

ein ehrbarer Londoner Familienvater, als leitender Angestellter im florierenden Familienunternehmen tätig

CONSTANCE TRENCHARD, geb. Sumner

Williams Ehefrau

PATIENCE TRENCHARD

Constances und Williams kleine Tochter

CANON HUBERT SUMNER

ein anglikanischer Geistlicher gesetzten Alters, Constances Vater

EMILY SUMNER

Constances unverheiratete Schwester, lebt mit ihrem Vater in Salisbury

CATHERINE DAVENALL, geb. Webster

Witwe von Sir Gervase Davenall, 7. Baronet, lebt auf dem Landgut Cleave Court in Südengland

Sir HUGO DAVENALL

Catherines Sohn und seit Gervases Ableben 8. Baronet und Erbe großer Besitztümer, lebt in Bladeney House, dem Stadthaus der Familie in London

RICHARD DAVENALL

Cousin des verstorbenen Sir Gervase, führt als Anwalt auch die Rechtsgeschäfte der Familie

JAMES NORTON

eine rätselhafte Gestalt, die aus dem Nichts auftaucht und mit ihren Forderungen die Kreise der Trenchards und der Davenalls gleichermaßen stört

Dr. DUNCAN FIVEASH

langjähriger Hausarzt der Davenalls

Prinz NAPOLEON JOSEPH CHARLES PAUL BONAPARTE, genannt Plon-Plon, ein Lebemann und langjähriger Freund von Sir Gervase, offizieller bonapartistischer Anwärter auf Frankreichs Kaiserthron

VIVIEN STRANG

Catherine Davenalls Gouvernante, als diese noch Catherine Webster hieß, von deren Vater fristlos entlassen; seither unbekannten Aufenthaltes

ALFRED QUINN

Sir Gervases Butler und von Catherine nach dessen Ableben fristlos entlassen; seither unbekannten Aufenthaltes

Familie LENNOX

die früheren Verwalter des Davenallschen Familienguts Carntrassna in der irischen Grafschaft Mayo; 1859 nach Nordamerika ausgewandert

Familie KENNEDY

die heutigen Gutsverwalter von Carntrassna

ERSTES KAPITEL

I

Es war nun zehn Jahre her, seit William Trenchard die junge Constance Sumner kennengelernt und ihr geholfen hatte, die Tragödie, die sich um den Selbstmord ihres Verlobten rankte, allmählich zu vergessen. Zu der Zeit war sie so tief in ihre Trauer versunken, daß es schon einem Martyrium gleichkam; anfangs war sie fest davon überzeugt gewesen, daß ihr kein Mann jemals wieder das bedeuten könnte, was der nun für immer entschwundene James Davenall für sie gewesen war. Doch in diesem Punkt – wie in so vielen anderen auch – täuschte sie sich.

Vor sieben Jahren waren die damals frisch verheirateten Trenchards nach The Limes gezogen, ein St.-John's-Wood-Stadthaus, das ihnen Williams Vater, Mitbegründer der Trenchard & Leavis-Einzelhandelskette, geschenkt hatte. Zu der Zeit mußten sie angenommen haben, daß die Ungewißheiten der Jugend auf ewig dahin waren. Doch darin – wie in vielen anderen Dingen auch – täuschten sie sich.

Vier Jahre nach der Geburt seiner Tochter Patience schien sich zu bestätigen, daß es sich bei Williams zunehmendem Interesse für die Firma Trenchard & Leavis nicht nur um ein Strohfeuer handelte. Sein Vater begann allmählich zu glauben, daß William – auch wenn er nie die Energie und den Scharfsinn seines Bruders Ernest aufbrächte – zumindest ein respektables Leben führen würde. Doch darin – wie in vielen anderen Dingen auch – täuschte er sich.

Es war gerade ein Jahr her, seit Constance einen Spaziergang zum Regent's Park gemacht hatte, wo sie Patience und deren Kindermädchen, die wie üblich den See mit den Booten besucht hatten, überraschen wollte. Unter den Zuschauern, die sich vom Lord's-Kricketplatz drängten, glaubte sie einen düsteren Mann in mittleren Jahren zu erkennen, dessen Anzug für den warmen Tag viel zu schwer war. Später, als sie am Hanover Gate den Park betrat, fiel ihr ein, wer es gewesen war: Richard Davenall, ein älteres Mitglied der Familie, in die sie beinahe eingeheiratet hätte. Lächelnd überlegte sie, wie merkwürdig es doch war, daß sie nun nie mehr etwas von der Familie Davenall hören würde, der sie einst so nahe gestanden hatte. Doch auch in diesem Punkt – wie in so vielen anderen – täuschte sie sich.

Es war erst zwei Tage her, seit sich William Trenchard, der den Park am Ende eines von leichtem Dunst durchzogenen Altweibersommertags in entgegengesetzter Richtung durchquerte, umdrehte, als vom baumbestandenen Ufer Lachen an sein Ohr drang. Er sah eine wunderschöne junge Frau, die sich auf dem noch sonnenbeschienenen Gras ausruhte und mit ihrem Verehrer scherzte, der zu ihren Füßen kauerte und seine Melone zur Unterstreichung seiner Worte schwenkte. Trenchard hatte die Geste komisch gefunden und gelächelt, war dann jedoch sofort wieder ernst geworden. Er fühlte sich von all der verwegenen Schönheit und den Emotionen, die er flüchtig auf dem Gesicht des Mädchens gesehen hatte, durch Alter und Kleidung und Status ausgeschlossen. Sonst jedoch war er mit seinem Leben nicht unzufrieden; er sehnte keinerlei Störungen des gewohnten Grundmusters seiner Existenz herbei. Er war vierunddreißig Jahre alt; er strahlte eine Zufriedenheit, ja fast Selbstzufriedenheit aus, aber er hatte sie sich auch verdient. Auf dem Heimweg hatte er mit einem Hauch von Resignation sinniert, daß die Freuden seiner eigenen Welt zumindest die Wärme absoluter Sicherheit besaßen. Doch darin – wie in vielen anderen Dingen auch – täuschte er sich.

Es war erst eine Stunde her, seit William Trenchard seine Tochter Patience zu seiner Frau in den Wintergarten befördert hatte, nachdem er lange genug die Schaukel angestoßen hatte. Danach steckte er sich ein gemütliches Sonntagnachmittagspfeifchen an, setzte sich auf die Bank und bewunderte, wie er es oft tat, das komplizierte Flechtwerk der Glyzinie, die den Südgiebel des Hauses bedeckte. Es war der erste Tag im Oktober des Jahres 1882; ansonsten konnte man in der milden Herbstluft keine Neuanfänge entdecken, weder hier noch anderswo in der ganzen ereignislosen Trägheit dieses sicheren, unwandelbaren Empire. Nicht, daß sich William Trenchard häufig philosophischen oder auch nur patriotischen Gedankengängen hingegeben hätte, die über das Niveau eines anständigen Empfindens hinausgegangen wären. Aus einiger Entfernung betrachtet – zum Beispiel durch das offene Seitentor –, hätte man ihn durchaus für die Verkörperung dessen halten können, was in der begrenzten Vorstellung vom durchschnittlichen viktorianischen Gentleman der Oberklasse das Beste und das Schlechteste war. Doch in diesem Punkt – wie in vielen anderen auch – wäre er falsch beurteilt worden. Denn lediglich eine Stunde später hatte sich William Trenchards Leben und das aller anderen Bewohner von The Limes, St. John's Wood, vollkommen verändert– auf immer und ewig. Eine Stunde genügte, um zehn Jahre beiseite zu fegen.

II

Burrows muß das Seitentor offengelassen haben. Ich erinnere mich, daß ich es von meinem Platz auf der Bank aus bemerkte und dachte, wie nachlässig er doch allmählich wurde. Nicht, daß es mich angesichts seines Alters überrascht oder sogar geärgert hätte. Dafür sorgte schon die besänftigende Wirkung des guten Pfeifentabaks und der Abendsonne, doch meine Aufmerksamkeit wurde dadurch auf die Zufahrt zum Haus gerichtet, die im Bogen von der Straße herführte. Jede Bewegung auf der Straße – wo sich im allgemeinen nichts tat – mußte mir ins Auge stechen. Und genau auf diese Weise – nur ein leichtes Flackern am Rande meines Blickfelds – sah ich ihn zuerst.

Sechs Wochen später – unter Umständen, die er niemals hätte voraussehen können – begann William Trenchard einen Bericht über das Geschehen niederzuschreiben, das an jenem scheinbar so unschuldigen Sonntagnachmittag in St. John's Wood seinen Anfang genommen hatte. Der Anlaß für einen derartigen Bericht war ebenso zwingend, wie seine Wirkung enthüllend ist, denn damit ist jeglicher Spekulation der Boden entzogen, warum Trenchard auf die Ereignisse, die ihn überrollten, so und nicht anders reagierte. Jede seiner Handlungen, jede seiner Aussagen steht hier, um beurteilt zu werden – in seinen eigenen Worten.

Ein großer, schlanker Mann, elegant gekleidet mit Zylinder, Gehrock und rehbraunen Hosen, in der Hand einen Spazierstock mit Silberknauf, verharrte kurz, als er am Eingang des Hauses vorbeikam. Er blieb stehen wie jemand, dem gerade eine eher unwichtige Verpflichtung eingefallen ist. Die Sonne spiegelte sich in dem Silber an seinem Stock, als er ihn von dir rechten in die linke Hand warf, mit seiner freien Hand den Gehrock zurückschob und in seine Westentasche griff. Er holte einen Zettel hervor, musterte ihn, steckte ihn wieder zurück und drehte sich langsam in meine Richtung.

Ich habe, mich bemüht, meinen unmittelbaren Eindruck von ihm wieder einzufangen und all das auszulöschen, was anschließend geschah, damit ich ihn deutlich so sehen kann, wie er zu dem Zeitpunkt war: ein Mann ungefähr in meinem Alter, dunkel und gutaussehend, bärtig, perfekt gekleidet, mit glitzernder Krawattennadel und Uhrkette, den Daumen einer behandschuhten Hand in die Westentasche gehakt, während die andere das Malakkastöckchen herumwirbelte. Ich war sicher, daß ich ihn nicht kannte, auch nicht als irgendeinen Einwohner dieses Viertels: Er sah aus, als würde er eher nach St. James's als nach St. John's Wood passen. Die Neigung seines Hutes hatte etwas Weltmännisches an sich, und das verstohlene Lächeln, das um seinen Mund spielte, wirkte vage irritierend und beunruhigend.

Langsam kam er die Zufahrt hoch, fast zu langsam, als daß es eine Stilfrage hätte sein können. Es sah eher so aus, als würde er absichtlich den Zeitpunkt seiner Ankunft hinauszögern. Meine Aufmerksamkeit, die sich anfangs nur flüchtig auf ihn gerichtet hatte, war nun voll auf ihn konzentriert. Als er am Seitentor vorbeikam, bemerkte er, daß ich ihn beobachtete, und richtete seinen Blick auf mich. Urplötzlich lief es mir kalt über den Rücken.

Er trat durch den Torbogen aus Backsteinen, wobei er sich leicht bückte, um nicht mit seinem Zylinder anzustoßen. Dann blieb er ungefähr zehn Meter von mir entfernt stehen; er kam weder näher, noch zog er sich zurück, weder sprach er, noch machte er eine Bewegung. Es schien, als wollte er mich herausfordern, das Schweigen zu brechen.

Ich ging auf ihn zu. »Guten Tag«, sagte ich. »Kann ich Ihnen helfen?«

»Ich bitte um Entschuldigung, daß ich hier einfach so eindringe«, erwiderte er, als ich dicht vor ihm stand. »Habe ich das Vergnügen mit Mr. William Trenchard?« Die Stimme klang volltönend, kultiviert und korrekt. Vielleicht eine Spur zu korrekt, hätte man sagen können, etwas zu manieriert, um wirklich angenehm zu wirken.

»Ich bin William Trenchard, jawohl. Wie Sie sehen«, ich deutete auf meine nachlässige Kleidung, »erwarten wir keinen Besuch.«

»Verzeihen Sie. Die Umstände meines Besuches sind etwas ... ungewöhnlich. Sie müssen auch als Entschuldigung für diesen ... unangemeldeten Besuch dienen.« Er streckte die Hand aus. »Ich nenne mich Norton. James Norton.«

Sein Händedruck war fest und unerschütterlich. »Sind wir uns schon mal begegnet, Mr. Norton?«

»Nein.«

»Handelt es sich um eine geschäftliche Angelegenheit? In diesem Fall sind Trenchard und Leavis ...«

»Es geht um eine absolut persönliche ... und äußerst delikate Angelegenheit. Ich weiß kaum, wo ich anfangen soll.«

Ich wurde allmählich ärgerlich. Diese offen zur Schau getragene Unsicherheit stand in krassem Gegensatz zu dem, was ich bis jetzt von ihm gesehen hatte. Es roch nach Taktik. »Ich glaube, Mr. Norton, es ist vielleicht am besten, wenn Sie mir einfach sagen, worum es geht.«

Er legte eine Pause ein, so genau berechnet, daß ich zu glauben begann, ich könnte ihn schnell loswerden, nur um dann mit der gleichen Höflichkeit wie zuvor fortzufahren. »Selbstverständlich. Sie haben vollkommen recht. Ich sagte, wir seien uns noch nie begegnet, und das entspricht auch der Wahrheit. Es ist Ihre Frau, mit der ich bekannt bin.«

Welcher Mann – selbst ein so glücklich verheirateter Mann wie ich – hätte sich das anhören können, ohne daß ein unwürdiges Mißtrauen in ihm aufgestiegen wäre? »Wie meinen Sie das, Sir? Ich kenne alle Freunde und Bekannten meiner Frau. Sie zählen nicht dazu.«

Er lächelte. »Vielleicht hätte ich mich klarer ausdrücken sollen. Ihre Frau und ich kannten einander vor vielen Jahren, noch bevor Sie sie heirateten. Uni genau zu sein, wir waren sogar einmal verlobt.«

In dem Moment spürte ich, daß er log. Ich fühlte mich sogar erleichtert, daß es sich um eine so offensichtliche Lüge handelte. »Sie irren sich, Mr. Norton. Vielleicht haben Sie sich in der Hausnummer getäuscht.«

Unbeeindruckt fuhr er fort: »Der Mädchenname Ihrer Frau lautet Sumner. Wir waren vor elf Jahren verlobt und wollten heiraten. Ich bin heute zu Ihnen gekommen ...«

»Es handelt sich entweder um ein groteskes Mißverständnis oder um Vorspiegelung falscher Tatsachen.« Er merkte, daß ich zornig war, doch sein Gesichtsausdruck änderte sich nicht. Vielleicht spürte er, daß mein Zorn sich ebenso gegen mich wie gegen ihn richtete. Jenseits jeglicher Logik hatte ich begonnen, das in Frage zu stellen, was Constance mir von ihrem Leben vor unserer gemeinsamen Zeit erzählt hatte. Diese Zweifel wollte ich – ebenso wie diesen Mr. Norton – mit meinen Worten verscheuchen. »Meine Frau war vor elf Jahren mit einem anderen Mann verlobt, das stimmt. Doch dieser Mann ist tot.«

»Nein.« Er schüttelte langsam den Kopf, als würde er es wirklich bedauern, mir meine Illusionen rauben zu müssen. »Ich fürchte, das stimmt nicht, Mr. Trenchard. Ich bin dieser Mann. Mein richtiger Name ist nicht James Norton, sondern James Davenall. Und ich bin, wie Sie sich selbst überzeugen können, alles andere als tot.«

Ich wollte ihn gerade auffordern, sofort zu gehen, als ich Constance vom Haus aus auf uns zukommen sah. Sie muß uns vom Wintergarten aus gesehen und sich gefragt haben, wer wohl der Besucher sei. Zum Glück hatte sie Patience nicht bei sich. Norton kann sie nicht gesehen haben, da er ihr den Rücken zuwandte, doch vielleicht hatte es ihm mein Gesichtsausdruck verraten. Jedenfalls fuhr er fort, als würde er seine Rolle jetzt vor einem größeren Publikum spielen.

»Ich bin weder gekommen, um Sie gegen mich aufzubringen, noch möchte ich Constance schockieren. Ich bin nur hier, um Constance zu bitten, mir behilflich zu sein, meine Identität nachzuweisen. Verstehen Sie, es gibt einige Personen, die bestreiten, daß ich James Davenall bin.«

Die letzten Worte muß Constance gehört haben. Sie blieb abrupt stehen und starrte mich verwirrt und besorgt an. Einen Augenblick zuvor noch war sie die sanfte, schöne Frau gewesen, die ich geheiratet hatte. Nun, bei der Erwähnung dieses Namens, huschte dieser Anflug von Trauer über ihr Gesicht, den ich seit den ersten Tagen unserer Bekanntschaft nicht mehr gesehen hatte.

»Was soll das heißen?« fragte sie.

Ich hätte antworten, hätte sie vorbereiten sollen, damit sie sich gegen ihn wappnen konnte. Doch ich zögerte, und in dem Augenblick drehte sich Norton um und schaute sie direkt an. Ich konnte sein Gesicht nicht sehen, doch Constances Gesicht war für mich deutlich erkennbar, und in ihm las ich, ebenso wie er es getan haben mußte, die Unsicherheit, die deutlicher als irgendwelche Worte zum Ausdruck brachte: Es könnte wahr sein.

»Du siehst kein Gespenst vor dir, Connie«, sagte er. »Ich bin's wirklich. Es tut mir leid, daß ich dich getäuscht habe.«

Sie trat näher heran, unterzog ihn einer genauen Prüfung; langsam schwand aus ihrem Gesicht der ursprüngliche Zweifel. »Sie müssen sich nicht entschuldigen«, sagte sie unbewegt. »Sie haben mich nicht getäuscht. Hier handelt es sich um einen Irrtum. Sie sind nicht James Davenall.«

Mit sanfter, nervtötender Überzeugung erwiderte er: »Du weißt, daß ich es bin.«

»James Davenall hat sich vor elf Jahren das Leben genommen.«

»Vor einem Moment noch hättest du das glauben können. Jetzt weißt du, daß es nicht stimmt.«

Ich beschloß, daß es an der Zeit war, einzugreifen. Ich trat vor und nahm Constances Arm. So standen wir ihm gemeinsam gegenüber, wir auf dem Rasen, er auf dem Kiesweg, während die Schatten um uns herum länger wurden. »Was wollen Sie von uns, Mr. Norton?«

»Ich hatte gehofft, daß Connie – daß Ihre Frau bereit wäre, zuzugeben, daß Sie mich kennt. Meine Familie hat mich abgewiesen und ...«

»Sie waren bei ihr?« fragte Constance.

»Ja. Ich war bei ihr – und sie hat sich gegen mich gewandt.« Er blickte zu Boden, als würde ihn der Gedanke schmerzen. Dann richtete er den Blick wieder auf uns oder vielmehr auf Constance, denn ich hatte lediglich die Funktion eines Zuschauers. »Willst du dich ihrem Täuschungsmanöver anschließen – oder dir meine Erklärung anhören? Ich habe dir sehr viel zu erzählen.«

»Mr. Norton«, entgegnete sie, »ich weiß nicht, welchen Zweck Sie durch diese makabre Vorspiegelung verfolgen, aber ich will jedenfalls nichts mehr davon hören.«

»Wenn es nur so einfach wäre«, sagte er. »Ich versuchte mir selbst vorzumachen, daß James Davenall nicht mehr existiert – und hatte keinen Erfolg damit. Jetzt machen andere den gleichen Fehler.«

»Entschuldigen Sie mich, Mr. Norton. Es gibt nichts mehr zu sagen.« Sie drehte sich um und ging zum Haus zurück. Während er ihr nachschaute, suchte ich in seinem Gesicht nach Anzeichen seiner betrügerischen oder teuflischen Absichten, konnte aber nur eine sehnsüchtige Trauer entdecken. Absurderweise kam ich mir deshalb bei meinen nächsten Worten fast hartherzig vor.

»Würden Sie jetzt gehen? Oder muß ich die Polizei holen?«

Er schien meine Frage zu ignorieren. »Ich bin in dem Hotel an der Paddington Station abgestiegen. Wenn Connie erst einmal Gelegenheit gehabt hat, darüber nachzudenken ...«

»Wir werden nicht über Sie nachdenken, Mr. Norton. Wir werden uns Mühe geben, so zu tun, als wären Sie nie hiergewesen. Ich möchte Ihnen raten, das gleiche zu tun. Das ist unser letztes Wort in dieser Angelegenheit.«

»Das glaube ich nicht.«

Bevor ich darauf noch etwas sagen konnte, drehte er sich um und marschierte flott durch das Seitentor und weiter die Zufahrt hinab. Kaum war er außer Sicht, eilte ich ins Haus.

Ich fand Constance im Salon. Sie stand vor dem holzgerahmten Spiegel auf dem Kaminsims, um den herum eine Anzahl Familienfotos gruppiert war: ihre Eltern, meine Eltern, ihr verstorbener Bruder, Patience mit einem Spielzeug im Alter von drei Monaten. Und unsere Hochzeit: der 1. Mai 1875. Eine Ansammlung von Trenchards und Sumners in ihren besten Posen in dem mit Palmen geschmückten Ballsaal eines Wiltshire-Hotels.

Ich legte meinen Arm um ihre Schultern. »Er ist jetzt weg. Tut mir leid, falls er dich aufgeregt hat.«

Sie schauderte. »Das ist es nicht.«

»Es ist doch vollkommen unmöglich, nicht wahr, daß er derjenige sein könnte, für den er sich ausgegeben hat? Ich weiß, daß Davenall ertrunken sein soll, aber ...«

Im Spiegel begegnete ich ihrem Blick. »Du hast es also auch gesehen, nicht wahr?«

»Ich hab' gar nichts gesehen. Das liegt bei dir. Du kanntest ihn.«

Sie wandte sich um und schaute mich an. »James ist tot. Wir alle wissen das. Das war ... eine gewisse Ähnlichkeit. Aber das reicht nicht. Und doch ...«

»Du kannst nicht absolut sicher sein, ja?«

»Vielleicht hätte ich ihn anhören sollen.«

»Dann wäre die Lüge sehr bald offenkundig geworden. So, wie die Dinge nun stehen, könnte er behaupten, wir hätten ihm keine faire Chance gegeben, seinen Fall darzulegen.«

Sie lehnte sich an mich und schaukelte leicht hin und her, während sie nachdachte. Die Uhr auf dem Kaminsims neben uns tickte mit übertriebener Feierlichkeit. Von oben aus dem Kinderzimmer drang das Geräusch von Patiences Füßen und das Spritzen von Wasser: Es war Badezeit für unsere Tochter.

»Er ist nichts weiter als ein Hochstapler, Connie. Es geht immerhin um den Titel eines Baronets – und um ein Erbe. Verschwundene Erben sind ein gefundenes Fressen für solche Kerle. Erinnerst du dich an den Tichborne-Unfug?«

Sie blickte auf, als hätte sie keines meiner Worte gehört. »Ich muß sicher sein können. Es ... wäre möglich. Wir müssen mit seiner Familie sprechen.«

»Also gut«, sagte ich. »Ich werde sie besuchen – wenn möglich noch heute abend. Damit sollte die Sache dann erledigt sein.

III

An diesem Abend stieg William Trenchard kurz nach sechs Uhr abends in der Wellington Road in eine Droschke und ließ sich zum Bladeney House, Chester Square, fahren, der Londoner Residenz von Sir Hugo Davenall. Er lehnte sich in den Sitz zurück und rauchte eine Pfeife, um seine Nerven zu beruhigen, während der Wagen flott durch die sonntäglich leeren Straßen fuhr.

Er wußte selbst nicht genau, weshalb er so nervös war. Gesellschaftlich gesehen lagen eindeutig Welten zwischen ihm und den Davenalls. Wäre Constance ihre Tochter gewesen, dann wäre eine Ehe mit dem Sohn eines Ladenbesitzers, der William nun einmal trotz all der geschäftlichen Erfolge des alten Lionel Trenchard war, keinesfalls in Frage gekommen. Genaugenommen hatte er nie ein Mitglied der Familie kennengelernt. Sein Wissen über sie basierte allein auf dem, was Constance ihm erzählt hatte. Vielleicht war das der Grund für seine augenblickliche Unsicherheit. Ein unangemeldeter Besuch an einem Sonntagabend konnte angesichts der zwingenden Gründe sicherlich verziehen werden, doch daß sich die Vergangenheit seiner Frau, die ihm stets – wenn auch aus tragischem Anlaß – so klar erschienen war, plötzlich als so undurchsichtig erwies, war etwas ganz anderes. Als der Wagen in die Baker Street bog und angesichts einer Parade der Heilsarmee in der Marylebone Road das Tempo verringerte, begann Trenchard in Gedanken das Wenige durchzugehen, was er tatsächlich wußte.

James Davenall und Constances verstorbener Bruder Roland Sumner hatten zur gleichen Zeit Oxford besucht. James machte Constance anschließend den Hof, und im Herbst 1870 wurde ihre Verlobung offiziell bekanntgegeben. Canon Sumner betrachtete diese Verbindung mit einer Adelsfamilie zu Recht als gesellschaftlichen Triumph und bereitete die Hochzeit seiner Tochter in der Kathedrale von Salisbury vor. Knapp eine Woche vor der Zeremonie, die im Juni 1871 stattfinden sollte, verschwand Davenall urplötzlich von der Bildfläche. Der einzige Hinweis bezüglich seiner Absichten, den er auf dem Familienlandsitz in der Nähe von Bath zurückließ, bestand aus einer Nachricht, die kaum einen Zweifel daran ließ, daß er beabsichtigte, sich das Leben zu nehmen. Seine Spur ließ sich bis London verfolgen. Ein Droschkenkutscher erinnerte sich, daß er ihn in der Nähe des Flußufers in Wapping abgesetzt hatte. Dort, so nahm man an, war er ins Wasser gegangen, und die Themse hatte seine Leiche ins Meer gespült. Nie wurde ein Grund für diese Tat gefunden; ihre vollkommene Unerklärlichkeit machte die Tragödie noch schlimmer.

Als Trenchard Constance kennenlernte, war sie immer noch wie betäubt vom Kummer, den Davenalls Verschwinden bei ihr ausgelöst hatte. Als wäre das noch nicht genug, starb ihr Bruder Roland fünf Monate danach an den Folgen eines Reitunfalls. Trenchard hoffte, sie nie wieder in dem damaligen Zustand zu sehen: eine durchsichtige, erstarrte Schönheit, ganz der Trauer hingegeben. Von diesem Tag an war der Weg, den sie gemeinsam gegangen waren, schwierig gewesen, aber letzten Endes war ihm reicher Lohn zuteil geworden; er hatte nicht die Absicht, umzukehren und den Weg zurückzugehen. Der Gedanke ließ seine Nerven vibrieren, während die Droschke die Park Lane hinabfuhr. Wenn es nach ihm ginge, würde nichts aus dieser Zeit – und schon gar nicht James Davenall – in ihrem Leben wieder auftauchen.

Was, so fragte er sich, würde Sir Hugo Davenall von Norton halten? Er hatte den Titel eines Baronets im Frühjahr 1881 geerbt – Trenchard erinnerte sich an einen diesbezüglichen Zeitungsartikel – und würde sich wohl kaum über die Bedrohung seiner Position freuen. Doch war es überhaupt eine echte Bedrohung? Nein, sagte sich Trenchard. Es war nichts weiter als der kaltblütige Versuch einer Täuschung, der von Anfang an kein Erfolg beschieden sein konnte. Somit war sein überstürzter Besuch am Chester Square eine ziemlich panische Reaktion, aber das konnte er nicht ändern.

Der Wagen blieb mit einem Ruck stehen. Sie standen vor einem Zaun, hinter dem sich die von Balkonen dominierte Fassade eines großen Regency-Hauses erhob. Trenchard stieg aus, bezahlte den Kutscher und sah sich um. Die Dämmerung senkte sich über den Platz, Tauben gurrten zwischen den Ziergiebeln und Säulen. Die Droschke fuhr los, und Trenchard blieb mit einem etwas albernen Gefühl vor der Tür dieses Herrschaftshauses zurück.

IV

In Baldeney House führte mich ein Diener mit strengem Gesicht in eine gekachelte Eingangshalle. Ich erinnere mich an das Licht, das eine geschwungene Treppe hinabflutete und die Silhouette einer Gestalt formte, die im Abendanzug langsam die Treppe herabgestiegen kam. Es war ein großer, schlaksiger junger Mann mit dunklen, wirren Haaren und blutunterlaufenen Augen. Er rauchte eine Zigarre, die er auch nicht aus seinem breiten Mund mit den vollen Lippen nahm, als er zu dem Dienstboten sagte: »Besuch, Greenwood?«

»Ein Mr. Trenchard, Sir. Ich habe noch nicht erkundet ...«

»Sir Hugo?« unterbrach ich ihn.

»Genau der.« Er blieb auf der letzten Stufe stehen, nahm die Zigarre aus dem Mund und deutete eine ironische Verbeugung an.

»Guten Abend, Sir. Ich bin mit der ehemaligen Verlobten Ihres verstorbenen Bruders, Miss Constance Sumner, verheiratet. Wir hatten Besuch von einem Mr. Norton ...«

»Norton?« Sein Kopf ruckte bei dem Wort hoch. Zigarrenasche fiel auf den Teppich. »Sie haben den Kerl also auch gesehen?«

»Ja, Er behauptet ...«

»Ich weiß verdammt gut, was er behauptet.« Seine Unterlippe zitterte deutlich sichtbar. »Der Mann ist ein Scharlatan.«

»Das ist mir klar.«

»Hmm?« Er blickte mich an. »Ja, natürlich. Dachte ich mir.« Er überlegte kurz, paffte an der Zigarre und sagte dann: »Kommen Sie rein, Trenchard. Ich kann nicht viel Zeit erübrigen, aber wird schon reichen, na?« Er schlug mir auf die Schulter und schob mich auf eine Tür zu, den Diener mit einer Handbewegung entlassend. »Wir sind im Musikzimmer, Greenwood.«

Wir kamen durch ein üppig möbliertes Vorzimmer mit Blick auf den Chester Square und wandten uns dann einer offenen Flügeltür zu. Dahinter sah ich zum Garten führende Glastüren. Irgend jemand spielte eine respektlose Ballade auf einem gut gestimmten Klavier.

»Ich wär' auch ohne den Quatsch ausgekommen«, quetschte Sir Hugo neben seiner Zigarre heraus. »Man hat damit nichts weiter als Ärger am Hals.«

Wir betraten das Musikzimmer. Ein junger Mann mit sandfarbenen Haaren wandte sich vom Klavier ab und lächelte uns zu. Auch er war im Abendanzug, im Gegensatz zu der zweiten Person im Raum, einem Mann in mittleren Jahren, der in einem Sessel neben der Verandatür saß und nun eine Zeitung beiseite legte und uns liebenswürdig lächelnd begrüßte.

»Dieser schreckliche Pianist ist ein Freund von mir, Trenchard«, sagte Sir Hugo. »Freddy Cleveland. Falls Sie sich überhaupt für Pferderennen interessieren, haben Sie wahrscheinlich schon mit einem seiner Klepper Geld verloren.«

Trotz seines jungenhaften Aussehens war Cleveland bei weitem nicht mehr so jung, wie ich auf den ersten Blick angenommen hatte. Beim Lächeln legten sich Faltenkränze um seine Augen. Ich hielt ihn für den affektierten, dümmlichen Typ, mit dem sich ein junger Baronet wohl anfreunden mochte; sofort fühlte ich mich inmitten ihrer bemüht geistreichen West-End-Witzeleien fehl am Platze.

»Mr. Trenchard sieht nicht so aus, als würde er die Rennbahn besuchen, Hugo«, sagte Cleveland und schüttelte mir die Hand.

»Das tue ich tatsächlich nicht.«

»Er ist wegen dieses verfluchten Viechs da«, warf Sir Hugo ein, »das sich in unseren Stall verirrt hat.« Er wandte sich dem dritten Mann zu. »Mein Cousin, Richard Davenall, zugleich auch mein juristischer Berater.«

Richard Davenall hatte einen Bart und graue Haare. Die Probleme, mit denen er in seinem Beruf konfrontiert wurde, hatten Falten in sein Gesicht gekerbt, seine Schultern hingen niedergeschlagen hinab, und seine meerblauen Augen zeigten einen nachsichtigen Ausdruck. Er schüttelte meine Hand bei weitem nicht mit der Energie, die die beiden anderen aufgewendet hatten, jedoch mit wesentlich mehr Überzeugung.

»Trenchard?« fragte er mit einem merkwürdigen Unterton. »Haben Sie nicht Constance Sumner geheiratet?«

»Jawohl, Sir, ich hatte die Ehre.«

»Ich habe mich gefreut, als ich hörte, daß sie geheiratet hatte ... nach allem, was geschehen war. Ist es richtig, daß Sie von Norton gehört haben?«

»Ja. Deshalb bin ich hier.«

»Wie reagierte Ihre Frau auf Norton?«

»Seine Behauptung entsetzte sie. Als er erklärte, er habe bereits seine Familie besucht, das heißt, die Familie des echten James ...«

»Da hielten Sie es für besser, eine kleine Geländeerkundung vorzunehmen«, sagte Sir Hugo. »Kann ich Ihnen nicht verdenken. Einen Drink?«

»Nein, besten Dank.«

»Freddy, sei ein guter Junge und hol mir einen Scotch mit Soda. Sind Sie sicher, daß Sie keinen wollen, Trenchard?«

»Ganz sicher. Danke.«

Während Cleveland zu dem Servierwagen mit den Getränken ging, ließ sich Sir Hugo in einen Sessel fallen und bedeutete mir mit einer Geste, dasselbe zu tun. Richard Davenall nahm wieder seinen Platz an der Verandatür ein. Cleveland kehrte mit einem großen Glas für Sir Hugo und einem weiteren Glas für sich selbst zurück und ging dann wieder zu dem Klavierhocker, von wo aus er uns mit einem kindlichen Grinsen betrachtete.

»Freddy findet die Situation erheiternd«, sagte Sir Hugo. »Schätze, an seiner Stelle würde es mir ähnlich gehen.«

»Die Sache hat durchaus ihre komische Seite«, sagte Cleveland. »Der Mann ist ein verdammt guter Schauspieler. Er besitzt Jimmys Geschmack, was die Kleidung anbelangt, und die gleiche sanfte Stimme.«

Sir Hugo nahm einen kräftigen Schluck. »Er ist ein Schauspieler, der seinen Text gelernt hat. Das ist alles.«

»Aber wirklich sicher kannst du dir nicht sein, oder?« fuhr Cleveland fort. »Das ist das Schöne daran. Weißt du, letzten Winter lief ich zufällig dem alten Cazabon im Zug nach Brighton in die Arme – zumindest glaubte ich das. Er sah aus wie Cazabon, redete wie Cazabon, stritt aber ab, Cazabon zu sein. Er behauptete, er sei ein Zahnarzt aus Haywards Heath. Als wollte er das beweisen, stieg er auch dort aus. Die beiden waren wie Perlen auf einer Schnur. Da sieht man's doch. Natürlich schuldete Cazabon mir Geld, also war er's vielleicht doch.« Er lachte heiser. Keiner schloß sich seinem Lachen an.

Ich beschloß, zum Kern der Sache vorzustoßen. »Sir Hugo, ich bin Ihrem Bruder niemals begegnet, doch meine Frau versichert mir, daß es völlig unmöglich ist, daß Norton mit Ihrem Bruder identisch ist. Vertreten Sie und Ihre Familie den gleichen Standpunkt?«

Sir Hugo starrte Cleveland immer noch mit beherrschtem Zorn an. »Selbstverständlich.«

Richard Davenall rettete mich. »Vielleicht darf ich Ihnen die Situation kurz erläutern, Trenchard. Dieser Norton tauchte vor fünf Tagen in Cleave Court in Somerset auf, wo Hugos Mutter lebt, und behauptete, ihr toter Sohn James zu sein. Lady Davenall durchschaute die Lüge sofort und schickte ihn weg. Am Freitag besuchte er mich in meinem Büro in Holborn. Gestern ...«

»Erschien er hier«, sagte Sir Hugo grimmig. »Ich hab' den Kerl rausschmeißen lassen.«

»Und keiner von uns«, fuhr sein Cousin fort, »nahm seine Behauptung auch nur einen Augenblick lang ernst. Ich denke, nach seinem Besuch bei Ihnen hat er die ganze Reihe jener, die er zu betrügen hoffte, abgeklappert.«

»Ich dachte, sein altes Kindermädchen habe ihn in die Arme geschlossen«, warf Cleveland ein, »und ihn Jamie genannt?«

Ein Schnauben von Sir Hugo. »Die Frau ist senil.«

»Es stimmt«, sagte Richard Davenall, »daß Nanny Pursglove in Norton ihren früheren Zögling erkannt hat. Sie lebt in einem Häuschen auf dem Grundstück, müssen Sie wissen, Trenchard, und Norton hat sie aufgesucht. Aber es stimmt auch, daß sie bereits über achtzig ist, sehr schlecht sieht und den starken Wunsch hat, James möge noch am Leben sein. Gegen die Aussage von James' eigener Mutter, seinem Bruder, ganz zu schweigen von seiner früheren Verlobten, zählt das praktisch nicht.«

»In diesem Fall, meine Herren«, sagte ich, »können wir Mr. Norton getrost vergessen, nicht wahr? Meine einzige Sorge ist, daß er meine Frau weiter beunruhigt.«

»Solange er keinen einzigen Fürsprecher aus James' engstem Kreis findet«, sagte Richard Davenall, »kann er nicht mehr als ein kleines Ärgernis sein. Doch aufgrund der vielen Informationen, die, er so sorgfältig gesammelt hat, kann sich der Ärger beträchtlich auswachsen.«

»Ich werde ihn nicht mit Geld abfinden«, sagte Sir Hugo mit überraschender Heftigkeit. »Von mir kriegt er keinen Penny.«

»Dann wendet er sich vielleicht an die Boulevardpresse und pflastert die Titelseiten mit seinen Ansprüchen. Wäre es nicht vorzuziehen ...«

»Nein!« Sir Hugo knallte sein Glas auf ein Tischchen, um seine Meinung deutlich zu machen. »Wenn man ihm nur schweigende Verachtung entgegenbringt, wird er in das Loch zurückkriechen, aus dem er gekommen ist.«

»Wie du meinst.«

»Jawohl, Richard, es wird genau so gemacht, wie ich es meine. Ich bin jetzt das Oberhaupt dieser Familie, wie du sehr wohl weißt.« In dem anschließenden Schweigen schien Sir Hugo zu erkennen, daß er möglicherweise etwas zu weit gegangen war. In versöhnlicherem Tonfall fuhr er fort: »Hast du herausgefunden, wer dieser Norton in Wirklichkeit ist?«

»Wir stehen erst am Anfang, Hugo. Falls es einen echten James Norton gibt, werden wir seine Spur verfolgen. Aber ich kann mir vorstellen, daß er seine Spuren sehr gut verwischt hat.«

»Da wir gerade von Spuren reden«, sagte Cleveland, »sollten wir uns nicht auch auf die Beine machen, Hugo? Gussie wird enttäuscht sein, wenn wir um neun nicht da sind.«

Ich nutzte die Gelegenheit und verabschiedete mich. Oberflächlich hatten sie mich beruhigt, doch ich wagte nicht länger zu bleiben, um nicht die Zerbrechlichkeit ihrer Überzeugung erkennen zu müssen. Die Davenalls, von denen ich so lange Zeit in Ehrfurcht erstarrt war, schienen in der Beziehung kein bißchen besser oder schlechter zu sein als jede andere Familie auch.

Als ich aufbrechen wollte, erbot sich Richard Davenall, mich zu begleiten. Wir ließen Sir Hugo zurück, der wehmütig in sein Whiskyglas starrte, während Cleveland in einem Spiegel über dem Klavier den Sitz seiner Schleife kontrollierte. Greenwood wartete in der Eingangshalle mit unseren Hüten und Handschuhen auf uns.

»Wo wohnen Sie, Trenchard?« fragte Davenall, als wir die Eingangsstufen hinabstiegen.

»St. John's Wood.«

»Ich muß nach Highgate. Fahren wir ein Stück zusammen? Wir können vorn an der Ecke eine Droschke nehmen.«

Ich war sofort einverstanden. Offensichtlich suchte er nach einer Gelegenheit, um mir ungestört von der kampflustigen Empörung seines Cousins seine Gedanken mitzuteilen. Langsam gingen wir in Richtung Grosvenor Place. Das Geräusch unserer Schritte hallte von den hohen Hausfronten zurück: die Dunkelheit hatte sich mit kühler Gleichgültigkeit herabgesenkt.

»Ich muß mich für Sir Hugo entschuldigen«, sagte Davenall. »Manchmal kommt er einem noch jünger vor, als er ist.«

»Ich glaube, er hat den Titel erst vor kurzem geerbt.«

»Stimmt. Vor knapp achtzehn Monaten. Ja, der Junge muß mit einer ganzen Menge fertig werden. Sir Gervases Krankheit hat sich sehr lange hingezogen – und dann mußte James auch noch offiziell für tot erklärt werden.«

»Wurde das erst kürzlich getan?«

»Es hätte bereits nach einer Frist von sieben Jahren getan werden können, vor allem angesichts der klaren Hinweise auf einen Selbstmord, doch Sir Gervase wollte nichts davon wissen.«

»Glaubte er nicht an den Tod seines Sohnes?«

»Er zweifelte daran, was tatsächlich recht merkwürdig war. Er war ein Mann, der sich keinerlei sentimentalen Gefühlen hingab. Auf alle Fälle wurden die notwendigen juristischen Maßnahmen erst in die Wege geleitet, als Sir Gervase tot war. Der Titel fiel Hugo deshalb mit einiger Verspätung zu. Wenn man bedenkt, daß zu all dem auch noch die ganze Besitzung verwaltet werden muß – ich fürchte, Sir Gervase hat den Dingen so ziemlich ihren Lauf gelassen – , kann Hugo schon einige entschuldigende Gründe für sein nervöses Verhalten vorbringen. Nichtsdestoweniger ...«

»Es ist nicht der Rede wert, Mr. Davenall. Ich bin froh, daß ich mir wegen dieser Sache keine Gedanken mehr machen muß.«

Natürlich machte ich mir trotzdem Gedanken – was, wie ich glaube, Richard Davenall auch spürte. Nachdem wir eine Droschke angehalten hatten und gemeinsam Richtung Norden fuhren, erzählte er mir freiwillig noch mehr von den Sorgen und Problemen seiner Familie. Für einen Anwalt war er seltsam offen und direkt, als hätte er in mir die Zuhörerschaft gefunden, die er brauchte, um seine eigenen Zweifel zum Ausdruck zu bringen.

»Es ist ein schwieriges Jahr für unsere Familie gewesen, Trenchard. Hugos Großmutter wurde im Februar von Einbrechern in ihrem eigenen Haus ermordet. Sie war uralt gewesen und hatte abseits in Irland gelebt, doch diese sinnlose Gewalttat warf einen Schatten auf unsere Familie. Durch sie erbte Hugo einen Landsitz in der Grafschaft Mayo. Sie war eine begehrte Erbin, als mein Onkel Lemuel sie vor siebzig Jahren heiratete, aber sie gewöhnte sich nie an das Leben in England und ging nach Irland zurück, als ihr Sohn halbwegs erwachsen war. Sir Gervase – nun ja, eigentlich wir alle – vernachlässigte sie, fürchte ich. Ich nehme an, ein großes Haus mit wenig Personal und mit mehr Anzeichen von Reichtum, als man sonst in dieser gottverlassenen Wildnis entdecken kann, muß die falsche Art von Aufmerksamkeit erregt haben.«

Ich glaubte zu erkennen, worauf er abzielte. »Sie meinen doch nicht diese schrecklichen Fenier, diese Geheimbündler?«