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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

Allan Ballmann, ›Tod im Nichts‹

2. überarbeitete Auflage

© 2017 Ganymed Edition (www.ganymed-edition.de)

© 2016 Allan Ballmann

Der Songtext ›Mind of the Wonderful‹ (S. 229) wurde von Raz

Nitzan und Adrian Broekhuyse geschrieben. Der Abdruck

erfolgt mit freundlicher Genehmigung der Autoren.

Titelfoto: © Marco Bischoff, Bochum

Gestaltung und Verlag: Ganymed Edition, Hemmingen

ISBN 978-3-946223-67-2

(auch als eBook: ISBN 978-3-946233-67-3)

Inhaltsverzeichnis

Für meine Frau Andrea, meine Liebe,

mein Fels in der Brandung

und mein Trost in dunklen Stunden.

Danke für deine Liebe.

Hol‘ die Vergangenheit nur zurück,

wenn du auf ihr aufbauen willst.

(Doménico Cieri Estrada, mexikanischer Schriftsteller)

Ein Wort zur Geschichte

Meine Geschichte ist frei erfunden. Sie hat ihren Ursprung nicht in einem der Vorgänge, die ich als Polizeibeamter bearbeitet habe.

Lediglich der Beginn von ›Tod im Nichts‹ hat sich in Teilen so zugetragen. Tatsächlich gab es die Bewusstlosigkeit und die Erinnerungslücke, die heute noch besteht, wenn auch nur für einige Tage – und nicht für mehrere Wochen, wie in meinem Krimi. Ich kann mir nicht vorstellen, welche Qualen meine Frau in diesen Tagen durchlebt hat, und bin froh, sie an meiner Seite zu wissen.

Selbstverständlich sind alle Hauptfiguren frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Allan Ballmann

1. Kapitel

Das Erwachen

›Wer lange in die Dunkelheit schaut,

ist irgendwann von ihr umgeben.‹

(Torsten Marold, dt. Spieleautor)

Stille. Ruhe. Tiefschwarz. Ein Meer aus Nichts, kein Wort, kein Mensch, einfach Nichts.

Und doch, langsam, aus unendlicher Tiefe ein leises, klackendes, immer wiederkehrendes Geräusch. Gleichbleibend. Störend. Nervend.

Tack. Tack. Tack.

Die Stille zieht sich zurück und das Geräusch drängt sich vorsichtig weiter in mein Bewusstsein. Ich spüre keine Wärme, keine Nähe, keine Liebe, nur Gedanken im unbegrenzten Raum voller Leere. Kalt, grausam, erbarmungslos und tiefschwarz. Aber das Geräusch ist da, immer wieder, um Beachtung kämpfend. Wieder und wieder schiebt es sich in mein Bewusstsein, erreicht mich nur stockend ohne erkennbaren Rhythmus. Es zieht und zerrt an der Leere, versucht, an der Unendlichkeit zu kratzen, gleichsam wie Sisyphos im unermüdlichen Bestreben den Felsen auf den Berg zu rollen. Das Geräusch wird zum Mittelpunkt meines Bewusstseins, wird zur Welt, gepaart mit meinem Wissen um die Dunkelheit und die unerschöpfliche Weite. Das die Grenzenlosigkeit endlich macht und die Grenzen definiert. Wo immer ich auch bin, ich kann denken. Die Unendlichkeit verblasst und ich konzentriere mich auf die Zeitabstände zwischen den Geräuschen.

Tack. Tack. Tack.

Komm zu mir, mein liebliches Geräusch, du Begründer meiner Existenz.

Ich. Bin. Hier ... Der Gedanke einer Örtlichkeit taucht aus dem Nebel auf, gesellt sich zur Frage der Sinnhaftigkeit meiner Existenz und versucht mir einen Weg zu zeigen. Ein Ziel. Eine Richtung. Es erscheint unmöglich, zu weit, unendlich weit weg. Wer ist ich und wo bin ich? Ich denke, also bin ich. Nur ein Gedanke, und das Nichts existiert nicht mehr. Nur ein Gedanke, und die Unendlichkeit ist endlich. Mehr brauche ich nicht, um Gewissheit zu erlangen, nur einen Gedanken und ein Geräusch. Solange das Geräusch existiert, existiere auch ich; solange ich existiere, existiert das Geräusch. Gleichsam in einer parasitären Beziehung sind wir voneinander abhängig, dessen bin ich mir sicher. Allerdings bin ich nicht sicher, ob beide Seiten von dieser Abhängigkeit wissen – oder ist es dem Geräusch völlig egal? Kann ein Geräusch beschließen, nicht mehr existieren zu wollen und mich damit auslöschen? Kann ich ein Geräusch zum Bleiben zwingen?

Der Wunsch nach Wissen treibt meine Gedanken vorwärts, immer weiter. Ich muss mir Klarheit über meine Situation verschaffen. Wer bin ich und wo ist hier? Habe ich einen Namen? Ich kann mich nicht erinnern. Da ist nur das Vakuum, dem ich anscheinend entsprungen bin, das mich aus einer Laune heraus geboren hat. Meine Erinnerungen beziehen sich auf einen kurzen Moment, das Erkennen des Geräusches, die unterbrochene Stille, die endlose Schwärze. Doch wie kam ich hierher?

Die kalte Hand der Finsternis greift nach mir, meine Gedanken drehen sich im Kreis, ohne Ordnung. So unglaublich dunkel und traurig. So viele trübselige Gedanken, die prasselnd auf meine Existenz einschlagen, an mir zerren und mir die Unglaublichkeit meiner Situation bewusst machen. Verzweifelt versuche ich, die Dunkelheit zu vertreiben.

Ich will schreien und weiß nicht wie. Ich will rennen und weiß nicht wie. Ich will Licht und Wärme und weiß nicht woher. Hoffnungslosigkeit streift mein geisterhaftes Dasein. Ich bin so müde und ergebe mich der Nacht, entscheide mich für die Stille, die Ruhe, will die Gedanken unterdrücken und einfach schweigen. Die Stille kämpft sich mutig vor, bereit, mich zu verschlingen, verdrängt das Geräusch, das immer leiser wird, sich zurückzieht und schließlich schweigt ... kein Gedanke mehr und ich gleite fort. Nur Unendlichkeit und Schweigen. Allumfassend, allmächtig.

Tack. Tack. Tack.

Da ist es wieder, das Geräusch, das der Stille den Kampf ansagt. Ich kann mich erinnern, habe das Geräusch nicht vergessen und der Glaube an meine Existenz wächst wie ein kleines einsames Pflänzchen auf einem trostlosen Acker. Wie ferner Donner hallt das Geräusch durch die Lautlosigkeit, stärker, kräftiger als zuvor. Ein Fanal der Hoffnung im Kampf gegen die Stille. Immer schneller zieht sie sich zurück, kommt nicht mehr vor und unterwirft sich dem Geräusch, das immer heftiger, lauter und lauter zu werden scheint. Meine Gedanken tauchen weiter aus der Schwärze hervor und fachen eine Kerze an, die stetig heller zu werden scheint. Die Flamme zieht mich an wie ein Insekt, das zum Licht fliegen muss und sich nicht wehren kann. Auch wenn ich verglühen sollte, will ich mehr. Doch ich verharre in einer nicht fassbaren Existenz, bleibe Gefangener der Unendlichkeit, die immer wieder von meinem Licht und meinen Gedanken durchbrochen wird. Und dem Geräusch, das mich ruft und fasziniert. Es erinnert mich daran, dass ich nicht im Nichts bin, nicht in der schwarzen Leere.

Vielleicht lohnt sich der Kampf gegen die Sinnlosigkeit. Vielleicht sollte ich ihn aufnehmen und einfach sehen, was passiert. Das Licht flackert ein wenig, scheint verschwommen und wie von Nebel umgeben, undeutlich, aber irgendwie pulsierend. Es kommt näher, langsam, wird heller. Und doch erhellt das Licht nur einen kleinen Raum in der Unendlichkeit. Dahinter, scharf abgegrenzt, lauert noch immer die alles verschlingende Nacht, die Geräuschlosigkeit, mit gierigem Hunger. Bereit zuschlagen, wenn sich die Gelegenheit bietet, wenn mich die Gedanken verlassen und Hoffnungslosigkeit mein Denken überlagert. Dieser dunkle Ort macht mir Angst und meine Hoffnung stützt sich auf meine Gedanken, die ich leben muss und nicht vergessen darf.

Habe ich das Licht mit meinen Gedanken, meiner Existenz erschaffen? Die Lächerlichkeit dieses Gedankens überfällt mich schlagartig. Zu absurd.

Tack. Tack. Tack.

Die Stille ist fort und ein zweites, anderes, helleres Geräusch erscheint. Ebenso gleichbleibend und störend. Nervend. Im Gleichklang. Das stärkt meine Hoffnung, mein Dasein zu begreifen und zu verstehen. Und wenn ich keine Hoffnung mehr habe? Die Gedanken entgleiten mir, während die Geräusche langsam verstummen. Ich sehe, ich höre – und habe doch keinen Einfluss auf das Licht und auf das Geräusch. Beide entfernen sich unaufhaltsam von mir und ich kann nichts tun, will sie anflehen zu bleiben, um mir den Weg zu weisen, Hoffnung zu spenden. Ich will leben, denken und existieren und doch entfernt sich das Licht, mein geliebter Hoffnungsspender.

Ich ... bin ... müde, so unendlich müde. Ich treibe wieder im Nichts. In der Dunkelheit. In der Stille.

***

Stille. Ruhe. Tiefschwarz. Ein Meer aus Nichts, kein Wort, kein Mensch, einfach Nichts.

Tack. Tack. Tack.

Das Licht ist wieder da. Pulsierend. Schneller. Hartnäckiger. Und da ist noch etwas anderes, etwas Neues, Kratziges, was mir bisher nicht aufgefallen ist. Ich versuche, diesen Gedanken zu vertiefen, das Kratzige zu verstehen.

Denke, einfach denken, immer weiter. Dann verschwindet die Sinnlosigkeit, das Nichts – und ich existiere. Und ich kann eine neue Erfahrung erleben, etwas Kratziges, eine Erweiterung meiner Existenz. Ich fühle Stoff. Kühl. Rau. An meinem Bein, ich habe ein Bein. Mich befällt die Angst, dass ich mich täusche und die Unendlichkeit mir einen Streich spielt. Wie kann ich hier einen Körper haben, den ich gar nicht brauche?

Aber ich fühle den Stoff, also muss ich Beine haben, ein Leben. Dieser unangenehme, harte, kratzende Stoff, der meine Hoffnung weiter schürt, meine Existenz anfacht. Wie gerne würde ich jubeln, lachen und schreien vor Freude, bis Tränen den Blick verschwimmen lassen. Ich erinnere mich an das Gefühl der Freude und Leichtigkeit, aber ich kann mich nicht erinnern, woher diese Erinnerung stammt. Ich denke und habe Gefühle, also bin ich nicht in der Stille, nicht in der Belanglosigkeit. Nicht in der Singularität. Das Licht ist verschwunden – und den Bruchteil einer Sekunde erschrecke ich. Ich kann ohne das Licht denken, was mich verwirrt.

Wie in einem Nebel sehe ich Grün, nicht eine tiefschwarze Nacht. Es hat keine Konturen, kein Wesen, kein Körper, keine Seele, ist einfach grün, verschwommen, wie ein flimmernder Film am Wüstenhorizont. Das Grün ist warm, leuchtend, anziehend, eben anders.

Ein leises unverständliches Flüstern erreicht mein Bewusstsein, wie ein Rauschen des Windes im Getreidefeld. Ich will mehr. Ich sehe verschwommen einen Kreis, silbern, mit weißem Kern und schwarzen Strichen – und das leise entfernte Flüstern bleibt.

So müde, ich sehne mich nach der kleinen Kerze, dem vertrauten Freund, der mir Trost spendet. Das Grün flackert und wird undeutlich, verschwimmt weiter, vermischt sich mit der Schwärze und der Dunkelheit. Die kleine Kerze wird schwächer und kämpft an gegen die Allmacht der Unendlichkeit, ein verlorener Kampf, ein sinnloser Kampf. Sie erlischt, ich gebe mich wieder der Schwärze hin und tauche ein in die unendliche Weite der Stille.

***

Das Klingeln des Handys zerreißt die Stille der Nacht.

Wieder einmal hat er vergessen, das Handy leiser zu stellen. Alte Leute und neue Technik gehen selten Hand in Hand. Umständlich drehte sich Udo Laumann im Bett um und blinzelte verschlafen. Das Leuchten des Displays erhellt das Schlafzimmer und wirf einen langen Schatten an die Decke. Laumann hörte das leise rhythmische Atmen seiner Frau im Bett.

Bevor der nächste Klingelton ertönt, greift er sich das Handy. Es ist kurz nach drei in der Nacht und eine Rufnummer wird nicht angezeigt. Es kann nur jemand aus dem Präsidium sein, niemand sonst ruft in einer solchen Stunde unter einer anonymen Nummer an. Als Erster Kriminalhauptkommissar und Leiter des Kommissariats für Tötungsdelikte muss er keine Bereitschaftsdienste mehr übernehmen, aber er ist immer erreichbar, wenn Probleme auftreten.

Lange Jahre ist er schon Leiter dieser Dienststelle und bisher hat man ihn nur einmal nachts angerufen. Das war vor vier Jahren, als ein Dienststellenleiter eines anderen Kommissariats tot aufgefunden wurde. Später stellte es sich als natürlicher Tod heraus.

»Ja?«, haucht er leise in das Gerät, um seine Frau nicht zu stören.

»Rainer hier. Du musst sofort kommen. Sofort.«

Rainer Brandtner, sein Stellvertreter, der langsam zum neuen Leiter aufgebaut werden soll. In wenigen Jahren, wenn Laumann in die wohlverdiente Pension entlassen wird, soll er die Dienststelle übernehmen. Brandtner darf eigene Entscheidungen treffen, aber trotz seines großen Egos sucht er immer wieder bei Laumann Rückendeckung. Verantwortung übernehmen und für die Konsequenzen einzustehen, will gelernt sein und führt immer wieder, gerade in den Anfängen der Ausübung einer Führungsposition, zu Unsicherheiten.

»Was ist los?«

»Nicht am Telefon. Das wirst du einfach nicht glauben.«

Laumann nimmt das Handy vom Ohr und betrachtet ungläubig den leuchtenden Bildschirm.

»Sag mir einfach, was los ist.«

»Wir haben eine verdammte Hinrichtung. Ein Mann und eine Frau. Du musst nach Wattenscheid kommen. Kennst du das riesige Ackergrundstück am Zeppelindamm, der breiten Landstraße kurz hinter der blauen Brücke?«

»Ja.«

»Da gibt es einen Feldweg zum Wald am Südpark, ungefähr 200 Meter von den Wohnhäusern entfernt. Du wirst unsere Lichter sehen. Beeil dich und ...«. Eine kleine Pause entsteht.

»Was?«

»Scheiß auf die Dusche.«

Brandtner legt auf und ein verwirrter Laumann bleibt im Bett zurück. Der kleine Bildschirm verdunkelt sich und Laumann sinkt mit seinem Kopf zurück in das Kopfkissen. Eine Hinrichtung? In Wattenscheid? In dieser kleinen Stadt? Dies ist mehr als außergewöhnlich. Natürlich gibt es Morde in Bochum, doch in der Regel sind es Kurzschlusshandlungen, selten geplant.

Meistens sitzen die Täter noch auf der Leiche, wie es im Kommissariat ironisch genannt wird. Wenig Ermittlungsaufwand und schnell zu klären, da der Täter bereits während der Tatortaufnahme bekannt ist. Eine Hinrichtung ist ein anderes Kaliber. Gezielt, geplant und meist das Resultat einer umfangreichen Geschichte, die die Mordkommission mühselig zusammensetzen muss. Er stöhnt leicht und setzt sich auf.

Laumann fühlt sich einfach zu alt für nächtliche Ruhestörungen. Wie schnell sind die Jahre vergangen, er kann sich noch daran erinnern, wie er nächtelang problemlos durchgearbeitet hat. Ohne Stöhnen, schmerzenden Rücken oder trägen Augen.

Doch diese Zeiten scheinen lange vorbei und die Pension rückt immer näher. Was er früher für undenkbar hielt, ist eingetreten. Er freut sich auf die Pension, die Ruhe und die langen Tage mit seiner Frau, die häufig ihre Zeit alleine verbringen muss, da er wieder auf der Jagd nach Spuren und Beweisen ist. Bald, sehr bald werden sie ihren Lebensabend in einem kleinen Haus am Meer verbringen, auf der Terrasse essen und dem Meeresrauschen zuhören.

Seine Frau dreht sich im Bett zu ihm um.

»Ist was passiert?«, hört er sie leise fragen.

»Brandtner hat angerufen. Ich muss los.«

Umständlich erhebt er sich aus dem Bett und greift im Dunkeln seine Sachen, die er schon für den Morgen herausgelegt hat.

»Es ist noch früh. Schlaf noch ein wenig. Ich rufe dich nachher an. Okay?«

»Bekomme ich denn noch einen Kuss?«

Laumann lächelt und beugt sich zu seiner Frau. Er küsst sie auf die Stirn und hört ihr gleichmäßiges Atmen. Sie ist wieder eingeschlafen. Die Zeiten seiner Bereitschaftsdienste hat sie nicht vergessen, die häufigen nächtlichen Störungen und unregelmäßigen Arbeitszeiten. Es macht ihr nichts aus und hält sie auch nicht vom Schlafen ab. Nach über 30 Jahren Ehe liebt er sie noch wie am ersten Tag. Nicht einen Tag mit ihr will er missen.

Leise stiehlt er sich aus dem Schlafzimmer und zieht die Tür zu. In der Diele macht er Licht und überlegt, ob er nicht doch unter die Dusche springen soll. Er verwirft diesen Gedanken, als ihm die Unruhe von Brandtner in Erinnerung kommt und das Wort ›Hinrichtung‹ in seinem Kopf hallt.

Er nimmt den Autoschlüssel vom Dielenschränkchen und verlässt leise die Wohnung. Das Garagentor öffnet sich quietschend und sein alter Opel springt ohne Murren an. Die Straßen sind leer, niemand fährt um diese unchristliche Zeit durch die Straßen von Bochum. Regentropfen fallen auf die Windschutzscheibe und die Wischer bewegen sich monoton über die Scheibe. Eine halbe Stunde später erreicht er den Zeppelindamm und sieht schon aus weiter Ferne den beleuchteten Acker. Langsam steuert er seinen Wagen auf eine kleine Nebenstraße, die parallel verläuft. Die nasse Fahrbahn reflektiert das Licht seiner Scheinwerfer. Die Dunkelheit wird vom flackernden Blaulicht der Streifenwagen und der Krankenwagen durchbrochen.

Als er den Wagen abstellt, erscheint ein junger Polizeibeamter an seinem Auto und klopft gegen die Scheibe auf der Fahrerseite. Laumann öffnet die Tür und schaut den Beamten fragend an. Das Gesicht des jungen Polizisten leuchtet rhythmisch im Schein der Blaulichter auf.

»Entschuldigung. Sie können im Moment hier nicht parken. Fahren Sie ...«

»Mein Name ist Laumann. Hauptkommissar Laumann. Mein Vertreter der Mordkommission hat mich soeben angerufen, dass ich zum Tatort kommen soll«, unterbricht ihn Laumann und hält ihm seinen Dienstausweis entgegen.

»Oh«, entfährt es dem jungen Beamten. »Ich ... äh. Verzeihung, ich habe Sie nicht erkannt.«

Laumann glaubt, trotz der Dunkelheit die Blässe im Gesicht des jungen Beamten zu erkennen. Freundlich lächelt er ihn an.

»Kein Problem. Sie können nicht jeden kennen. Es war richtig, mich anzusprechen. Sie machen Ihre Sache gut.«

Die Brust des Beamten schwillt kurz an.

»Wo finde ich den Einsatzleiter?«

»Vermutlich noch am Tatort. Sehen Sie dort hinten die Schirme? Wahrscheinlich werden Sie ihn dort finden. Sie versuchen noch, den Tatort vor dem Regen zu schützen.«

»Ja, danke.«

Laumann geht die kleine Straße entlang, bis er einen Feldweg erreicht, der zum Tatort führt. Er erkennt die Hektik, die verzweifelten Versuche, eine Überdachung aufzubauen, was vereinzelte Windböen verhindern. Immer wieder flammt Blitzlicht auf.

Brandtner steht alleine, abseits in Richtung des kleinen Waldstücks und telefoniert. Als er Laumann auf dem Feldweg sieht, beendet er das Gespräch und winkt ihn zu sich.

»Was haben wir?«, fragt er Brandtner, als sie sich die Hand geben.

»Miese Scheiße, wenn ich das mal so sagen darf. Der verdammte Regen versaut alle Spuren, die Leichen sind auch schon nass, verdammt. Wir haben bestimmt schon wichtige Spuren verloren.«

Brandtner deutet mit der Hand den Feldweg ein Stück hinauf. In der Dunkelheit kann Laumann die Leichen nicht sehen, erkennt aber die schwarzen Umrisse, als ein Blitzlicht aufflammt.

»Ein Mann und eine Frau. Sie liegen nahe bei einander.«

»Spaziergänger?«, fragt Laumann.

»Wahrscheinlich nicht, nicht um die Uhrzeit. Sie wurden hingerichtet, mehrere Körper- und Kopftreffer.«

»Wann ist das passiert?«

»Ungefähr vor zwei Stunden. Anwohner haben Schüsse gehört und die Polizei gerufen.«

Brandtner nickt in Richtung der Wohnhäuser, die in einiger Entfernung zu sehen sind. Fenster sind beleuchtet und Umrisse von Menschen sind zu erkennen, die gebannt das Treiben der Polizei beobachten, obwohl sie aus dieser Entfernung nichts sehen können.

»Was wissen wir?«

»Noch nicht viel. Wir wissen nicht, wer die beiden sind.«

»Okay. Dann lass uns anfangen.«

***

Stille. Ruhe. Tiefschwarz. Ein Meer aus Nichts, kein Wort, kein Mensch, einfach Nichts

Tack. Tack. Tack.

Das Geräusch. Störend. Nervend. Erbarmungslos. Aber er ... erinnert sich an das Geräusch. Es war schon mal da ... vor Sekunden, Minuten, Stunden, Äonen? Er existiert: Egal, wer er ist – egal, wo er ist – egal, seit wann er ist. Vielleicht war er schon immer da, ist nie woanders gewesen und erst jetzt, gleich dem alles schaffenden Urknall, begann seine Existenz mit den Geräuschen und Gedanken. Er hat Zeit, auf das Geräusch zu hören. Zu denken. Das ist wichtig. Der Stoff ist auch noch da und das Licht, aber das Flüstern ist fort. Die Unendlichkeit scheint weiter weg zu sein und immer unbedeutender zu werden. Obwohl sie noch immer lauert und auf ihn wartet, bereit, seine kleinste Schwäche erbarmungslos zu nutzen. Die eisigen Hände nach ihm streckend, immer bereit.

Er versucht, die Augen zu öffnen, langsam, nicht zu hastig, er hat Zeit ... viel Zeit. Grelles Licht stürzt auf ihn ein. Es schmerzt in seinen Augen. Die grüne Realität erscheint. Schwarz zu Grün. Verschwommen, ohne Konturen. Sein Körper wird erweitert um Augen. So widersinnig ein Körper in der Dunkelheit und Leere auch erscheint.

Verschwommen sieht er den runden Kreis mit den Strichen ... und ein Gesicht schiebt sich vor den runden Kreis. Flimmernd, verwaschen, doch immer schärfer werdend. Ein schmales Gesicht, dunkle Haare, ein Mann. Ist es ein alter oder ein junger Mann? Er weiß es nicht. Der Mund des Mannes öffnet sich und der Mann spricht. Er hört seine Worte, versteht sie aber nicht. Wirre Gedanken jagen durch seinen Kopf.

›Sag mir, wo ich bin und was ich bin!‹

Er braucht eine Antwort. Er will nur eine Bestätigung, nur Hoffnung, einen Fingerzeig, dass er auf dem richtigen Weg ist. Dass alles einen Sinn hat und es sich lohnt zu denken, die kleine Kerze zu schützen und sich von der Dunkelheit abzugrenzen.

›Was bin ich?‹

Er. Ist. Ein. Mensch. Spürt den Stoff an seinen Beinen. Hört das Geräusch. Noch immer oder vielleicht schon wieder. Vermutlich hat er seine Augen geschlossen und sich der Dunkelheit hingegeben, aber plötzlich ist das Gesicht des Mannes wieder da. Spricht. Hinter seinem Kopf das konturlose, verschwommene Grün. Der Kreis ist weg. Stetige Veränderung. Das ist gut, denn die Realität ist Veränderung und bestätigt seine Gedanken. Irgendwie beruhigt ihn die Aussicht auf eine Realität. Er wartet.

»... sind?«

Ein Wort. Ein einziges Wort. Eine Frage. Was würde er alles geben für eine Antwort. Aber will er wirklich eine Antwort? Was ist, wenn sie ihm nicht gefällt? Er hört das bekannte Geräusch und bemerkt, dass auch das zweite Geräusch da ist. Warum ist ihm das nicht vorher aufgefallen? Auch das zweite Geräusch war immer da. Beide. Keines ist alleine. Vermutlich gehören sie zusammen, sind voneinander abhängig, und von ihm und er von ihnen. Er hört den Geräuschen zu und erkennt, dass sie sich verschieben, geringfügig, nicht im gleichen Takt klingen. Sie können nicht zusammen gehören. Wenn die Geräusche unabhängig voneinander sind, kann er vielleicht auch unabhängig von den Geräuschen existieren.

Plötzlich bemerkt er einen merkwürdigen Geruch, nicht erdig, nicht blumig. Wieder kann er ein Körperteil abstreichen, er hat eine Nase. Mit der Gewalt einer Riesenwelle schießt ihm der Gedanke durch den Kopf, dass er eine grüne Wand gesehen hat. Eine Wand ... sicher, in der Unendlichkeit und der Sinnlosigkeit. Der Gedanke ist falsch, irgendwo ist er. Der Gedanke einer grünen Wand beschäftigt ihn immer mehr und wird immer konkreter, bis die Erkenntnis ihn mit einem Schlag trifft. Sie lässt keinen Zweifel aufkommen. Er ist in ... einem Raum. Der Gedanke wird zur Gewissheit. Er ist in einem Raum und er lebt. Kein Nichts, keine Leere, kein Tod. Ihm ist nicht bewusst, dass er an den Tod gedacht hat – und Unbehagen macht sich breit. Er kann nicht tot sein, er denkt.

›Ich denke, also bin ich.‹ Diesen Satz kennt er, kann ihn aber niemandem zuschreiben. Erst jetzt versteht er die fundamentale Bedeutung dieses Satzes, wird die Bedeutung mit einem Mal klar, logisch, sinnvoll und unglaublich wichtig in seiner Realität. Diesen Satz hat jemand ausgesprochen. Der Name ›Descartes‹ fällt ihm ein. Er sagte diesen Satz, er ist aber nicht hier. Descartes ist tot. Er lebt. Und der Satz enthält nicht das Wort ›... sind‹.

Er spürt eine warme Hand auf seiner Stirn. Sein Körper scheint vollständig. Er hat Beine, Augen, Ohren, Nase und einen Kopf. Er ist ein lebender Mensch.

»Herr ...?«

Das Gesicht spricht den Satz nicht zu Ende, was er bedauert. So erhält er keine Antworten. So kann er nicht klären, wer und wo er ist. Er dreht sich im Kreis. Der Unendlichkeit und dem Nichts will er sich nicht wieder hingeben. Zu wichtig sind die Fragen und die Antworten. Mühsam sammelt er die Brotkrumen der Erkenntnis, setzt sie in einem überdimensionalen Puzzle zusammen und versuche, sich seiner Realität und seiner Existenz bewusst zu werden.

Er ... ist ... müde. Dieses Mal wird er kämpfen, wird die Unendlichkeit und die Leere in einem großen Kampf besiegen. Dieser Sieg ist so unglaublich wichtig, er beweist seine Existenz und sein Leben. Er möchte nicht zurück, will Antworten, reden. Eine Träne rutscht langsam an seinem Gesicht herab. So unglaublich langsam, dass er jede Pore seiner Haut zu spüren glaubt, immer weiter. Ein salziger Geschmack macht sich in seinem Mund breit. Es schmeckt einfach herrlich. Niemals in seinem Leben zuvor hat er so etwas Herrliches gekostet. Er lebt in einem Raum, weint und ist glücklich darüber.

»... Sie ...?«

Wieder ein Wort, eine Frage, keine Bedeutung. Er ist so müde und bemerkt die anschleichende Stille. Immer weiter kriecht sie, hinterlistig und schleichend, versucht, nach ihm zu greifen und streckt sich vor mit eiskalten Klauen. Nur noch einen kurzen Moment. Da sind so viele Fragen, so wenige Antworten.

›Konzentrier dich, es ist wichtig, warum auch immer‹, denkt er sich. Die Stille zieht sich wieder zurück und er atmet auf. Seine kleine Kerze ist wieder da und die Dunkelheit hat der grünen Wand Platz gemacht. Eine innerliche Ruhe überkommt ihn und er erkennt die Bedeutung des Kreises. Eine Uhr, er hat eine große Uhr gesehen, mit silbernem Rahmen und weißem Ziffernblatt, die an einer grünen Wand hängt. Schwarze Striche und Zeiger.

»Herr Schramm? Sind Sie wach? Können Sie mich hören?«

Er kann. Diese unerbittliche Wahrheit möchte er ihm ins Gesicht schreien. In die Welt schreien. Er ist am Leben. Er atmet. Und ist ... wo? Ein Augenblick des Zögerns und des Zweifeins erfasst ihn. Soweit ist er gekommen, so nahe an der Erkenntnis seiner Existenz, nur noch wenige Schritte. Er will eine Antwort formulieren, eine Frage, viele Fragen. Heraus kommt jedoch nur ein jämmerliches Krächzen, keine Worte. Keine von den unendlich vielen Fragen. Scham überkommt ihn, da er nicht einmal in der Lage ist, wenigstens ein Wort, eine Antwort oder eine Frage zu formulieren. Dabei sind die Worte so klar in seinem Kopf, so verständlich und eindeutig. Aber er kann es einfach nicht und die Anstrengung lässt seinen Körper erzittern.

»Es ist okay. Alles in Ordnung. Sie sollten ein wenig schlafen.«

Eine Welle der Wut schlägt über ihn herein. Kein bisschen ist in Ordnung. Er treibt immer wieder ins Nichts, findet keine Antworten. Er will nicht zurück, zurück in die Stille und die Unendlichkeit. Nicht das Geringste ist in Ordnung, er hat Angst. Vielleicht ist für das Gesicht alles Ordnung. Ihm selbst bleiben die Ungewissheit, der schwarze Raum und die Zweifel. Er hört ein Klopfen in seinem Kopf und sieht gleichzeitig die Dunkelheit. Die Stille. Das Nichts. Geschwister, die Hand in Hand auf ihn zukommen, ihn verhöhnen und lachen. Sie machen ihm deutlich, wer das Sagen hat. Er anscheinend nicht, doch er wehrt sich, kämpft, aber nur einen kurzen Kampf. Die grüne Wand ist verschwunden.

Er spürt eine warme Hand auf seinem Arm. Er fühlt und lebt, so viel ist sicher. Er bemerkt die beiden Geräusche und spürt einen Schmerz in seinem linken Arm, ganz leicht, fast unmerklich. Schmerz zu fühlen, ist eine neue Erfahrung für ihn, eine freudige, die seine Hoffnung vorantreibt. Ganz in der Nähe dieses Schmerzes liegt die warme Hand. Das bekannte, ihm liebgewonnene Gesicht. Das Gesicht, nicht so alt, unrasiert, schmal, dunkle Haare, das wieder ein wenig verschwimmt, führt ihm seine Existenz vor Augen. Das Gefühl einer warmen Hand auf seinem Arm, seinem Körper, einem lebenden Körper. Es passt nicht zusammen, das Gesicht und der Arm. Angestrengt denkt er nach, was nicht passt. Die Antwort ist so nah, so greifbar nah und entgleitet doch im morastigen Sumpf des Nichtbegreifens. Niemals hergebend, alles verschlingend, was ihm zu nahe tritt. Er wird es schaffen, wird sich anstrengen.

Er hat den Kopf gedreht und schaut nach rechts in das Gesicht. Wie kommt die warme Hand auf die andere Seite seines Körpers? Das passt nicht, das ist die Antwort, die ihm nicht bewusst wurde und die er dem Sumpf des Nichtbegreifens entrissen hat. Der Kopf auf der einen und der Arm auf der anderen Seite. Es muss ... muss ein zweiter Mensch bei ihm sein. Vielleicht sollte er den Kopf drehen. Er will den Kopf drehen, kann es nicht, viel zu schwer, viel zu mühselig. Vielleicht lieber reden. Mit dem Gesicht. Eine Frage – eine Antwort. Deal?

»Herr Schramm? Wissen Sie, wo Sie sind?«

Er stellt die Fragen, die er eigentlich stellen will, die er ihm beantworten soll. Und doch stellt er sie ihm lächelnd und macht ihn wütend. Die Frage nach dem ›Wo‹ stellt er sich seit ... Anbeginn der Zeit. Niemand beantwortet diese Frage, nicht einmal Gott. Seine Hoffnung, von dem Gesicht eine Antwort zu erhalten, vergeht wie ein Schneeball in der Wüstensonne. Das Gesicht starrt ihn an, wartet anscheinend auf eine Antwort, die er nicht zu geben imstande ist. Das Warten wird unerträglich. Gibt es eine neue Frage, die er nicht beantworten kann?

»Wissen Sie, wo Sie sind?«

Gleiche Frage, gleiche Antwort. Langsam wächst der Gedanke, dass er keine Antworten erhält. Da der erste Sprechversuch bereits scheiterte, entschließt er sich zu schweigen. Es ist deutlich einfacher, Informationen zu sammeln. Das macht ihn nicht wütend und war bisher doch recht erfolgreich. Seine Augen wandern umher und er erkennt die Uhr an der Wand. Das war eines der Geräusche, das Ticken der Wanduhr. Dieses Geräusch hat er gehört und es riss ihn aus der Unendlichkeit und dem Nichts. Eine einfache, tickende Uhr als Retter, als Begründer seiner Existenz. Sie hängt an der Wand, ihm gegenüber und ein kleines Stück unterhalb der Decke. Auch das zweite Geräusch kann er hören. Es kommt von seiner rechten Seite. Das Gesicht verdeckt teilweise einen Vorhang, aus dem ein Bett an einer Ecke hervorschaut. Als er das Bett erkennt, wird ihm klar, dass er in einem Krankenhaus liegt. Obwohl er nicht weiß, welche Fakten zu diesem Wissen führen, obwohl er nicht weiß, warum er in einem Krankenhaus liegen soll, ist er sich absolut sicher, dass dem so ist.

›Du liegst selbst in einem Bett‹, schießt es ihm durch den Kopf. Das zweite Geräusch ist ein medizinisches Gerät. Ein EKG piept und versucht den Gleichklang mit dem Ticken der Uhr. Das Geräusch kommt von nebenan. Von rechts. Hinter dem Vorhang. Der Geruch von Reinigungsmitteln dringt in seine Nase, der ihm zuvor nicht bewusst aufgefallen war. Er hat nicht die geringste Vorstellung, warum er hier liegt. Irgendetwas muss passiert sein, vielleicht sogar etwas Schreckliches, aber er hat nicht die geringste Ahnung. So sehr er sich anzustrengen versucht, er weiß einfach keine Antwort.

Schmerzen kann er nicht feststellen, bis auf die Infusion im linken Arm, die aber nicht sonderlich bemerkenswert ist. Vorsichtig versucht er, die Zehen zu bewegen, was ihm auch gelingt. Was also ist passiert? Seine Gedanken rasen und in den hintersten Winkeln seines Gehirns sucht er nach Antworten, die er sich aber schuldig bleibt. Bis vor kurzer Zeit glaubte er, dass er sich im Nichts befinde, in der Dunkelheit – und stellt nun fest, dass sich diese Leere in seinem Kopf befindet. Ein großer schwarzer Fleck, kein Farbtupfer, kein Licht, einfach nur Nichts.

Es erscheint ihm sonderbar, dass er keine Erinnerung hat, dass eine Leere von ihm Besitz ergriffen hat und Antworten unerreichbar scheinen. Niemals hielt er etwas Derartiges für möglich, dachte immer, dass solche Geschichten nur in schlechten Filmen möglich sind. Im realen Leben erschien ihm dies ausgeschlossen. Und doch liegt er in diesem Krankenhausbett, hat keine Erklärung dafür und muss sich der gegenwärtigen Situation beugen. Obwohl er die Frage nach seinem Aufenthaltsort geklärt hat, beschleicht ihn ein ungutes Gefühl. Wie ein kleiner Tischtennisball kriecht dieses Gefühl von der Magengegend in die Speiseröhre hinauf, schnürt ihm den Hals zu. Hörbar zieht er die Luft ein, wie ein Ertrinkender, der gerade noch die rettende Luft erreicht.

›Wer bin ich?‹, denkt er sich und erschrickt ob seiner Ahnungslosigkeit. Nicht einmal sein Name fällt ihm ein, aber er erinnert sich an den Namen ›Schramm‹, den das Gesicht benutzt hat. Scheinbar hat er ihn gemeint, doch bei diesem Namen öffnet sich der Schleier des Vergessene nicht, nicht einmal wenige Millimeter.

Er versucht, sich an sein Leben zu erinnern, irgendeine Kleinigkeit – und kann doch keine Bilder in seinem Kopf erzeugen. Alles scheint gelöscht, ausradiert, für immer verschollen. Zumindest bleiben ihm die Gedanken, die Gefühle und er kann Worte gedanklich formulieren, also scheint noch ein Teil von ihm vorhanden zu sein. Inzwischen weiß er, wo er ist. Er erinnert sich an die Stille, an das Nichts, die Uhr und das Grün. Doch was war davor?

Tief in Gedanken versunken, bemerkt er die feste Berührung am Arm zuerst nicht. Als er vorsichtig gerüttelt wird, erschrickt er wieder. Die Verwirrung ist so unermesslich groß, die Situation so gespenstisch und doch lächerlich, dass er sich nicht vorstellen kann, was denn nun weiter auf ihn einprasseln wird. Vermutlich war er wieder für eine ungewisse Zeit in der Unendlichkeit gefangen, scheint die Kontrolle verloren zu haben.

Doch jetzt liegt er wieder im Bett, im Hier und Jetzt.

Zwei Menschen sind bei ihm und nur das ihm schon bekannte Gesicht versucht, mit ihm zu sprechen. Er kann nicht antworten, so sehr er auch will. Die Gedanken kreisen immer wieder um sein Leben und um seine Vergangenheit, die er nicht zu besitzen scheint. Das ist unmöglich. Er denkt, atmet, formuliert Worte und kann sogar sehen. Und die Geräusche. Immerhin.

Die Situation erinnert ihn an die Reset-Taste am Computer. Einmal drücken und alles ist auf Anfang gesetzt. Das Vergangene ist vorbei und vergessen, nicht mehr rückholbar. Vielleicht wurde es nur kurzfristig abgelegt und wartet auf eine Wiederherstellung, einen Neustart – und vielleicht lacht er irgendwann über die kurze Episode in der Dunkelheit.

Links neben ihm, wo er die Hand spürt, vernimmt er ein leises Schluchzen und Schniefen. Die Hand drückt fester zu, gleich einer Aufforderung sich endlich in Richtung der drückenden Hand umzudrehen. Er will sich drehen und kann nicht, wartet lieber auf eine neue Frage. Und wartet. Treibt wie ein Schiff auf dem Ozean und wartet ständig auf die Rufe des Matrosen im Ausguck, dass endlich Land zu sehen ist. Ein seufzendes Geräusch entflieht seiner Kehle und das Gesicht nimmt dies zum Anlass, erneut mit ihm zu sprechen.

»Ihre Frau ist da.«

Die Aussage verwirrt ihn weiter. Er ist sich seiner Vergangenheit nicht bewusst, kennt sein eigenes Leben nicht und ist plötzlich verheiratet. Unglaubliche Panik überkommt ihn, Angst, pure Angst und die Frage, was in aller Welt passiert sein muss, wenn er keine Erinnerung mehr an sein Leben hat. Sein Name klingt fremd. Der Name seiner Frau fällt ihm nicht ein und er wagt nicht, in das Gesicht dieser Frau zu schauen. Wie soll er einer Fremden in die Augen sehen, die ihm eigentlich vertraut sein sollte? Einer Fremden, die sich irgendwann entschlossen hat, ihr Leben mit ihm zu teilen, ihre Gedanken, ihre Gefühle. Gemeinsame Pläne und Hoffnungen. Bis dass der Tod uns scheidet.

»Was machst du denn für einen Unsinn? Was ist ...«

Ihre Worte gehen in einem heftigen Weinkrampf unter. Die Hand drückt wieder zu und er will versuchen, den Kopf zu drehen. Sie tut ihm leid, aber er beschließt, erst einmal nichts zu sagen und zu warten. Er sollte sie wenigstens ansehen, wenn sie schon um ihn weint. Irgendwie dreht er tatsächlich den Kopf und schaut in blutunterlaufene Augen. Augen, gezeichnet von Schmerz, Tränen, Angst und Schlafmangel. Sie ist hübsch, verdammt hübsch. Er hatte wohl einen guten Geschmack in seiner Vergangenheit und lächelt, anscheinend nur in Gedanken, denn sie reagiert nicht darauf.

Sie greift zu einem Becher mit einem Strohhalm, den sie ihm langsam zum Mund führt. Gierig trinkt er einen Schluck, der das Kratzen in der Kehle beseitigt. Er will mehr, immer mehr, doch sie zieht den Strohhalm weg. Das Wasser gibt ihm neue Kraft und neue Hoffnung.

Die Frau schaut ihn fragend an, Tränen fließen ihr über das Gesicht. Sie sieht verzweifelt aus.

»Wo bin ich?«, sind seine ersten Worte, die er über die Lippen bringt. Sie bringen Leben in den Raum, die Frau beginnt zu lächeln, ihre Augen werden größer.

Eine Bewegung rechts. Jemand geht eilig um das Bett herum und erscheint an der Seite der Frau. Das Gesicht. Der Mann. Er wirkt erstaunt und hektisch, aber froh und fühlt seine Stirn. Vermutlich glaubt er noch nicht, dass Worte aus seinem Mund gekommen sind. Er fühlt seinen Puls, zählt die Schläge, schaut auf ihn herab und ein Lächeln erscheint. Er scheint glücklich über seine Worte zu sein, hat wohl nicht damit gerechnet.

»Herr Schramm? Wie fühlen Sie sich?«

»Ich bin müde. Was ist passiert?«

Schweigend blickt der Mann die Frau, seine Frau, an, als müsse er eine Genehmigung einholen oder sich zunächst eine Antwort überlegen. Seine Lippen zucken ein wenig und in seinem Gesicht ist zu lesen, dass er wirklich überlegt, ob er sein Geheimnis mit ihm teilen kann.

»Ich bin Dr. Müller und habe Sie behandelt. Sie haben uns ernsthaft Sorgen gemacht. Und natürlich auch Ihrer Frau.«

Schweigend blickt er den Arzt an und er fragt sich, ob der wohl eine Antwort erwartet. Er weiß aber nicht, was er sagen soll und so schweigt er. Wieder einmal.

Das Ticken der Uhr durchbricht die Stille und wird nur vom gelegentlichen Schluchzen der Frau übertönt. Der Arzt ist also nicht bereit, seine Fragen zu beantworten. Dies kann nur bedeuten, dass das Geschehene ihm noch nicht zugemutet werden kann oder einfach zu schrecklich ist. Vielleicht auch beides gleichzeitig. Es muss einen Grund dafür geben, dass er hier liegt, die Frau weint und ein schwarzes Loch sämtliche Erinnerungen aus seinem Kopf gesogen hat. Fragend blickt er zu der Frau, die aber auch nicht antwortet. Seine dringlichsten Fragen bleiben unbeantwortet und langsam schweift sein Blick ab. Der Sekundenzeiger der Wanduhr bewegt sich unaufhörlich und macht ihn schläfrig.

Als er wieder zur Seite blickt, ist der Arzt verschwunden und die Frau sitzt auf einem Stuhl in der Ecke. Jemand hat ihr eine Decke auf den Schoss gelegt und sie ist eingeschlafen, erlebt einen unruhigen Schlaf und die Mundwinkel zucken manchmal unkontrolliert. Die Zeit ist viel weiter fortgeschritten, als er gedacht hat. Vermutlich ist er eingeschlafen. Er hat keine Ahnung, wie lange er geschlafen hat, versteht die Uhr nicht. Sie sagt ihm nichts. Aus welchen Gründen auch immer, kann er sie einfach nicht lesen. Er hat geschlafen und ist sich bewusst, dass er geschlafen habe.

Er ist froh, dass er diesen Unterschied erkennt und beschließt, die Umgebung zu erkunden und die Frau zu beobachten. Ihre blonden Haare sind ein wenig durcheinander, die Augenränder sind dunkel und ihre Finger zucken einige Male unkontrolliert. Trotzdem strahlt sie eine gewisse Anmut und Schönheit aus. Ihre Schuhe stehen neben dem Stuhl, ihre Beine sind in der Decke eingepackt. Auf der Decke ist ein Fleck zu sehen, den er als Kaffee zu identifizieren glaubt. Plötzlich hat er ein Verlangen auf Kaffee. Kurz überlegt er, ob er irgendwo an seinem Bett einen Alarmknopf findet, um eine Schwester oder einen Pfleger zu holen. Bei einem Alarm würden sie sofort angerannt kommen, aber damit auch die Frau im Stuhl wecken und ihr wieder einen irrsinnigen Schrecken verpassen. So verzichtet er lieber auf einen Kaffee und verschiebt den Wunsch, sich irgendwie bemerkbar zu machen.

Zuerst sollte er sich um andere Dinge kümmern. Er beobachtet weiter die Frau, die unbekannte, namenlose und schöne Frau. Seine Frau. Sein Körper verkrampft durch die Anstrengungen, sich an den Namen der Frau erinnern zu können. Vergeblich.

Sein Blick fällt auf den Zimmerdurchgang, es gibt hier keine Tür. Er schaut auf einen gefliesten Gang. Die Wände sind mit schwarzen Streifen und Flecken überzogen. Stumme Zeugen hektisch und rücksichtslos bugsierter Betten. Überall leuchten Neonröhren, künstliches Licht, er sieht kein Fenster, kein Tageslicht. Die Zeit scheint stehen geblieben zu sein, keine Bewegung, keine Stimmen, keine Schritte, nur die Uhr und das EKG ticken unaufhörlich.

Eine junge Frau steht plötzlich im Gang. Ihre roten langen Haare liegen wirr an ihrem Kopf, Blätter haben sich dort verfangen, verkrustetes Blut klebt in ihrem Gesicht und ein schwarzes Loch, das Blut in einem kleinen Rinnsal entlassen hat, klafft in ihrer Stirn. Die Jeans ist verdreckt und die rechte Seite der Jeans wirkt dunkler, scheint nass zu sein. Der grün gestreifte Pullover ist ebenfalls verdreckt und mit einem riesigen Blutfleck im Brustbereich besudelt. Er erkennt einige Blutspritzer auf der Jeans. Blut tropft auf den Boden. Die Frau sieht schlimm aus und steht einfach nur da, schaut ihn schweigend an.

Eine Gänsehaut überzieht seinen Körper. Ihr Schweigen macht ihm Angst und ... sie bewegt sich nicht. Sie steht einfach nur da und schaut ihn an. Kein Schrei, kein Hilferuf, nichts. Nicht eine einzige hektische Bewegung ist auf dem Flur zu vernehmen, keine Rettungssanitäter, kein Notarzt. Ein Blatt fällt kreiselnd vom Kopf zu Boden, landet auf einer kleinen Pfütze dunklen Blutes. Er versucht, sich zu bewegen, will aufwachen und um Hilfe rufen. Es kann doch nur ein schlechter Traum sein. Die Frau schweigt.

»Alles in Ordnung?«

Er hat den Arzt weder gesehen noch gehört – und sein ganzer Körper zuckt vor Schreck zusammen. Der Arzt muss es bemerkt haben, denn seine Hand liegt auf seinem Arm und er lächelt ihn an.

»Sie haben geschlafen. Ich wollte Sie nicht wecken und nur sehen, ob es Ihnen gut geht.«

Er lächelt wieder, fühlt erneut seinen Puls und schaut auf seine Uhr. Die Frau auf dem Stuhl ist wach geworden und blickt ihn überrascht an.

»Die Frau ...«, bringt er mühsam hervor.

»Welche Frau? Ihre Frau?«

»Nein. Die Frau auf dem Flur. Sie braucht Hilfe.«

Er will mit seinem Arm auf den Flur zeigen und bemerkt, dass er den Arm nicht bewegen kann.

»Es ist niemand auf dem Flur. Sie sind auf der Intensivstation, niemand steht hier einfach so auf dem Flur. Sonst hätte eine Schwester mich bestimmt gerufen.«

Die Frau auf dem Gang ist nicht mehr da. Die Blutstropfen sind weg.

Verwirrt schaut er den Arzt an.

»Ich habe Ihnen ein Medikament zur Beruhigung gespritzt. Das hat wahrscheinlich Ihre Träume ein wenig beflügelt.«

Aber so unglaublich realistisch, plastisch? Er hat nicht geschlafen, dessen ist er sich sicher. Die Frau war da, wie der Arzt, seine Frau und der Kaffeedurst. Ist er am Ende vielleicht verrückt? Ist er deswegen hier? Da er darauf keine Antwort weiß, aber einer solchen möglichen Diagnose keinen Vorschub leisten will, bleibt er lieber still. Seinen Entschluss zu schweigen verstärkt er durch ein Nicken, was dem Arzt wohl zu verstehen gibt, dass er mit seiner Vermutung Recht hat. Seine eigenen Nerven haben ihm einen Streich gespielt und er hat mit offenen Augen geträumt.

»Wie fühlen Sie sich?«

»Verwirrt dürfte die Sache wohl gut beschreiben. Ich kann mich einfach nicht erinnern. Was ist passiert und warum liege ich auf der Intensivstation?« Seine Worte kommen schleppend und er muss alle Kräfte aufbringen, deutlich zu sprechen.

»Das können wir später noch klären, zunächst sollten Sie einfach abwarten und sich ausruhen. Haben Sie Hunger?«

Er hat wirklich Hunger, traut sich aber nicht zu fragen, was es zu essen gibt. Natürlich fällt ihm nicht ein, wann er zum letzten Mal etwas gegessen hat. Mit ein wenig Glück gibt es Fleisch mit Gemüse oder Nudeln, etwas Handfestes. Aber es wird wohl nur das übliche Essen eines Krankenhauses sein, aber immerhin.

»Ja. Enormen Hunger.«

Der Arzt verschwindet, seine Frau schiebt ihren Stuhl an sein Bett und nimmt seine Hand. Langsam streichelt sie seine Hand und eine Träne läuft ihr über die Wange. Als sie ihm in die Augen blickt, versucht sie ein kleines Lächeln. Es ist jedoch nur ein Versuch, der mehr an eine Grimasse erinnert.

»Kannst du dich erinnern?«

»Woran?«

Die Frage meint er auch so. Bislang hat er nur die kurze Erinnerung vom Erwachen im Krankenhaus, alles andere ist in einem schwarzen Loch verschwunden. Soll er ihr die ganze Wahrheit sagen oder doch wie üblich schweigen?

»Ich habe nicht die geringste Ahnung. Ich kann mich nicht erinnern.«

In ihm brodelt die Angst, dass sie ihn bittet, ihren Namen zu nennen.

»An was kannst du dich denn erinnern?«

»Ich ... Nichts, an nichts.«

Eine zweite Träne rinnt über ihre Wangen. Ihm will der Name einfach nicht einfallen. Er kann es ihr nicht sagen, will ihr nicht noch mehr Schmerz zufügen. Und wer kann seiner Frau so etwas einfach ins Gesicht sagen? Er hofft auf sein Glück, dass sie ihn nicht danach fragt, wie ihr Name lautet.

»Welches Jahr haben wir?«

»Was?«

»Welches Jahr haben wir?«

Diese Frage erstaunt ihn. Sie ist einfach lächerlich. So lächerlich, dass er doch ein ungutes Gefühl verspürt, das sich in seinem Magen langsam aufwärts schleicht.

›Welches Jahr haben wir?‹, schreit ein kleines Männchen in seinem Kopf. ›Los. Sag es.‹

Eine Antwort fällt ihm nicht ein. Unruhe macht sich breit. Er hört ein Lachen in seinem Kopf, die Frau schaut ihn weiter fragend an. Sie kann das Lachen nicht hören, also bildet er es sich wohl nur ein, wie die Frau auf dem Flur.

»2011.«

Ihm fällt die Zahl einfach so ein. Er erkennt keinen Grund für diese Antwort. Aber er ist überzeugt, dass 2011 einfach richtig ist.

Das Schweigen ist einfach fürchterlich. Anscheinend liegt er mit seiner Überzeugung völlig daneben und das Schweigen führt ihm vor Augen, das einiges nicht in Ordnung ist.

»Wann haben wir geheiratet?«

Ihm fällt das Datum nicht ein. Kann nicht sagen, ob sie schon lange verheiratet sind oder erst seit kurzem. Noch in seiner Überlegung stellt sie ihm eine weitere Frage.

»Wann bist du geboren?«

Die Gedanken rasen wild in seinem Kopf umher, verursachen leichte Kopfschmerzen. Er atmet, spricht und lebt, also muss er zwangsläufig wohl auch geboren worden sein. Aber ein Datum kommt ihm nicht in den Sinn. Er hat das Gefühl, die Antwort auf diese Frage zu wissen, aber sie fällt ihm nicht ein. Das eigene Geburtsdatum nicht zu kennen, hält er einfach für unmöglich. Es ist zum Verrücktwerden. Die Antwort kommt einfach nicht aus der Versenkung hervor.

Der Arzt erscheint mit einem orangefarbenen Tablett und einer Schüssel. Der Löffel zeigt ihm, dass es heute Suppe gibt. Nichts Dolles, aber immerhin. Angesichts einer fehlenden Erinnerung ist das Erkennen einer Suppe vielleicht sogar schon ein Fortschritt. Die wenigen Sekunden bringen ihn seinem Geburtsdatum nicht näher. In seinem Gesicht muss der Arzt seine Gedanken gelesen haben.

»Machen Sie sich keine Gedanken. Das ist völlig normal, die Erinnerungen kommen wieder. Wir haben Ihnen reichlich beruhigende Medikamente verpasst, da kann es schon mal zu solchen Lücken kommen. Aber ich kann Sie beruhigen: Die Erinnerung kommt wieder.«

»Weißt du, wo dein Auto steht?«, fragt nun wieder seine Frau.

»Ich weiß nicht einmal meinen Geburtstag. Woher soll ich wissen, wo das Auto steht?«

Vermutlich hat er zu vorwurfsvoll geantwortet. Neuerliche Tränen beweisen ihm, dass er sich im Ton vergriffen hat. Die Frau an seiner Seite hat Ängste durchgestanden, sich Sorgen gemacht. Sie leidet. Als ihn das schlechte Gewissen überkommt, weiß er, dass er sich entschuldigen muss.

»Es tut mir leid. Ich wollte dir keine Vorwürfe machen. Ich bin nur ... verwirrt.«

Zärtlich streichelt sie seine Hand und startet einen neuen vergeblichen Versuch zu lächeln.

»Ist schon okay. Es ist alles in Ordnung. Hauptsache, du bist wieder da.«

»Ich werde nicht weggehen.« Er versucht sich auch an einem Lächeln, erfolglos.

»Kann ich Sie jetzt wieder losbinden?«

Zuerst versteht er die Frage nicht, aber dann bemerkt er, dass er ans Bett gefesselt ist. Das erklärt, warum er sich nicht bewegen konnte, als er die Frau ... als er die Einbildung hatte.

»Sie haben fürchterlich randaliert, einen Pfleger und mich angegriffen. Sie waren einfach nicht zu bändigen. Also mussten wir Sie fixieren und ruhigstellen.«

Ungläubig schaut er den Arzt an. Vergeblich wartet er auf den Satz, dass der Mann sich nur einen Scherz auf seine Kosten erlaubt hat. Der Arzt bleibt jedoch völlig ernst.

»Machen Sie sich darüber keine Gedanken. Es ist alles okay. Nichts passiert. Ich habe Ihnen etwas zu essen geholt, nichts Schweres.«

Er verspricht, den Anweisungen des Arztes zu folgen. Mit einem freundlichen Lächeln bindet der Arzt ihn vom Bett los und stellt ihm das Tablett auf seine Beine. Er freut sich auf das Essen, aber die Suppe ist einfach nur fürchterlich. Der Auskunft des Arztes zufolge soll sie eine Gemüsesuppe darstellen, was sich am Geschmack jedoch nicht feststellen lässt. Trotzdem schlingt er die Suppe gierig herunter. Der Pappkarton neben der Suppe sollte ein Brötchen sein und ist auch ganz passabel.

Seine Frau räumt nach seinem üppigen Mahl das Tablett weg und setzt sich wieder auf den Stuhl neben seinem Bett. Der Arzt ist verschwunden, nicht ohne den Hinweis zu geben, noch einmal vorbei zu schauen.

Die Frau, seine Frau, erklärt ihm, dass er bewusstlos im Haus aufgefunden wurde. Sanitäter und der Notarzt konnten ihn einfach nicht aufwecken, so wurde er ins Krankenhaus eingeliefert, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen. In der Nacht hat er das Pflegepersonal und den Arzt angegriffen. Mit starken Medikamenten wurde er ruhiggestellt und sicherheitshalber ans Bett gefesselt.