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Cornelius Borck

Medizinphilosophie zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat

Michael Hagner, Zürich

Ina Kerner, Berlin

Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2016 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: © Anna Hartmann

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-110-4

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-746-7

1. Auflage 2016

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

1.Einleitung

1.1 Longue durée und Fortschrittsorientierung

1.2 Die relativistische Distanz der Medizinphilosophie und der Realismus der Medizin

1.3 Medizin als Herausforderung der Philosophie

1.4 Zum Programm dieser Einführung

2.Wozu Philosophie der Medizin?

2.1 Zur Ausgangslage

2.2 Theorie in der Medizin vs. Reflexion auf Medizin

2.3 Medizin als Modellfeld der Wissenschaftsphilosophie

2.4 Krankheit, Kultur und Kritik

2.5 Leben im Horizont der Lebenswissenschaften

3.Was ist Gesundheit?

3.1 Kranksein in der Wissensgesellschaft

3.2 Die These von der Enteignung der Gesundheit

3.3 Diätetik, »Volksgesundheit« und ewiges Leben

3.4 Die Verborgenheit der Gesundheit und die »große Gesundheit«

3.5 Gesundheit als Leerstelle der Medizin und als Utopie

3.6 Der Eigensinn des Lebendigen

3.7 Gesundheit Summe objektiver Funktionsparameter

3.8 Die Last der Prävention

3.9 Gesundheit in globaler Perspektive

4.Praxeologie – Orte ärztlichen Handelns

4.1 Theorie und Empirie, Wunder und Wellness: eine Basistypologie

4.2 Das Krankenhaus und die Erfindung der körperlichen Untersuchung

4.3 Das Labor als Ort der Wissensproduktion

4.4 Medizin als technische Beherrschbarkeit des Lebens

4.5 Biomedicine: Von der Begriffsgeschichte zur Biopolitik

4.6 Datenkörper: Zur Performanz technowissenschaftlicher Repräsentationen

4.7 Medizin als Deutungspraxis und als Handlungswissenschaft

4.8 Ethik und Erkenntnisgewinn in der Klinik

5.Quo vadis Medizin?

5.1 Die Dynamik der Medizin

5.2 Von der Erklärung zur Evidenz

5.3 Markiert die Einführung der EBM einen Paradigmenwechsel?

5.4 Neue Hierarchien und Systemlogiken

5.5 Probleme der Evidenz

5.6 Ent-Täuschung als medizinisch-anthropologische Herausforderung

5.7 Von der personalisierten zur individualisierten Medizin

5.8 Effizienz und Enhancement: Homo faber im 21. Jahrhundert

6.Coda über das Scheitern

Anhang

Anmerkungen

Weiterführende Literatur

Über den Autor

1. Einleitung

Gesundheit und Kranksein bilden einen asymmetrischen Gegensatz. Die Adjektive gesund und krank lassen sich im Deutschen sowohl als Gegenstand als auch als Zustand zum Substantiv machen: Gesundheit/Gesundsein, Krankheit/Kranksein. Das Wortpaar Krankheit/Kranksein bildet in etwa ab, was im Englischen als disease und illness unterschieden wird, die objektivierte, meist medizinisch definierte Krankheit im Unterschied zur individuellen, kulturell überformten Erfahrungswirklichkeit des Krankseins. Aus ihrem Kranksein heraus suchen Patientinnen und Patienten ärztliche Hilfe, die das individuelle Kranksein zum Leiden an einer objektivierbaren Krankheit macht. Aber während die Krankheit als etwas Vergegenständlichtes dem Leiden im Kranksein gegenübergestellt werden kann, gilt das für das Wortpaar Gesundheit/Gesundsein nicht: Gesundsein manifestiert sich weniger als ein Zustand denn als Aktivität oder Handlungsfähigkeit. Gesundheit ist wesentlich kein Gegenstand, sondern ein Abstraktum. Gesundheit ist aber auch kein Zustand wie das Kranksein. Gesundheit ist vielmehr die Möglichkeit zu lebendiger Aktivität, deren Urheber nicht der handelnde Mensch ist; vielmehr resultiert Handlungsfähigkeit aus gesunder Lebendigkeit. Krankheiten bilden den Gegenstand der Medizin, diese erforscht und behandelt sie. Gesundheit und Kranksein hingegen beziehen sich auf den anthropologischen Horizont, in dem Medizin agiert. Medizinphilosophie diskutiert, wie Medizin als Wissenschaft der Erforschung und Behandlung von Krankheiten in Beziehung steht zur anthropologischen Spannung von Gesundheit und Kranksein.

Gesundheit und Kranksein sind zentrale Dimensionen menschlichen Lebens, entsprechend vielfältig sind die kulturellen Vorstellungen zu Krankheiten und ihren Ursachen, zu Medizin und Gesundheit. Gleichwohl konnte sich innerhalb der Philosophie der Bereich von Krankheit und Gesundheit nicht als eigenständiges philosophisches Arbeitsgebiet etablieren, und auch seitens der Wissenschaftsphilosophie wird die Medizin als disziplinäres Feld nur stiefmütterlich behandelt. Zwar gibt es eine Reihe älterer Überblicksdarstellungen, und gerade in jüngster Zeit sind einige Handbücher und Einführungen erschienen, aber Medizinphilosophie existiert bislang nicht als erkennbar eingegrenzter Forschungsbereich, obwohl im deutschen Medizinstudium seit gut zehn Jahren ein »Querschnittsbereich Geschichte, Theorie, Ethik« verankert ist. Die heutige Medizin steht als forschende Wissenschaft wie als klinische Praxis philosophischen Reflexionen eher reserviert gegenüber, sobald diese den Bereich medizinethischer Handreichungen übersteigen. Diese Ausgangslage macht eine Einführung einerseits reizvoll, weil ein weitgehend freies Feld bearbeitet werden kann, andererseits problematisch, weil der Gegenstand nicht selbstverständlich ist, also die Aufgabenstellung erst konturiert werden muss.

Die anthropologisch zentrale Stellung der Frage nach Gesundheit und Kranksein darf dabei nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Medizin erst in jüngster Zeit ihre alles überragende Vormachtstellung im Umgang mit Gesundheit errungen hat. Auch in westlichen Gesellschaften hatten bis weit ins 19. Jahrhundert nur kleine Teile der Bevölkerung Zugang zu wissenschaftlich ausgebildeten Ärzten, und erst im 20. Jahrhundert avancierte die Medizin zur zentralen Instanz nicht nur für Gesundheitsstörungen, sondern für alle Fragen, die das menschliche Leben als biologisches Phänomen betreffen. Im Zuge dieses Aufstiegs wurde Medizin zur Technik, einzelne Körper zu kontrollieren und Bevölkerungen zu regulieren. Entsprechend wird heute unter dem Stichwort Biopolitik diskutiert, wie Fragen der Gesellschaftsordnung und Prozesse der Subjektivierung zunehmend als biowissenschaftliche Probleme thematisiert und bearbeitet werden. Medizinphilosophie muss also der Spannung zwischen der universalen Frage nach dem Verhältnis von Gesundheit und Kranksein und der historisch-politischen Dynamik der Medizin als Fachwissenschaft gerecht werden. Als Bemühen um die Erhaltung und Wiederherstellung der Gesundheit lässt sich die Aufgabe der Medizin universal formulieren, aber sie hat dabei im Lauf ihrer Geschichte verschiedene Strategien verfolgt und aus je spezifischen Verknüpfungen von Wissen und Technik ihren Gegenstand unterschiedlich geformt. Medizinphilosophie muss deshalb historisch und deskriptiv verfahren, ohne ihre fundamentalen Fragen aufzugeben. Weil die Krankheiten mehr als das Kranksein die Sache der Medizin sind, führt die Frage nach dem Gesundwerden und der Gesundheit zur Philosophie.

1.1 Longue durée und Fortschrittsorientierung

In der abendländischen Kultur ist das Philosophieren über Gesundheit in etwa so alt wie die Philosophie selbst. Aussagen zu medizinischen Themen sind schon von den Vorsokratikern belegt: So gehört zu den wenigen von Alkmaion von Kroton aus dem 5. Jahrhundert v. Chr. überlieferten Fragmenten etwa eine Bestimmung von Gesundheit als Isonomia.1 Gesundheit wird hier mit dem damals revolutionären Konzept für ein politisches Gleichgewicht, für eine demokratische Gesellschaftsordnung gefasst und Krankheit ihr als Monarchia, als Alleinherrschaft einer der im Körper wirkenden Kräfte gegenübergestellt. Bereits am Beginn der schriftlich verfassten Philosophie steht also eine Vorstellung von Gesundheit als einem dynamischen Gleichgewicht, und dieses Gleichgewicht findet in einem politischen Konzept seinen adäquaten Ausdruck. Medizin ist – so lässt sich aus diesem Befund verallgemeinern – ein Ineinandergreifen von Natur und Kultur. Für das Abendland wurde die Ausarbeitung dieser Gleichgewichtsvorstellung zur sogenannten Viersäftelehre oder Humoralpathologie durch Galen aus Pergamon im zweiten nachchristlichen Jahrhundert besonders folgenreich. Als System antagonistisch wirkender, universaler stofflicher Prinzipien prägte sie Theorien der Medizin bis in die Neuzeit und ihre Praxis bis weit ins 19. Jahrhundert hinein. Ähnliche Gleichgewichtsvorstellungen sind aus vielen anderen Zeiten und Kulturen überliefert, heute wirken sie in alternativmedizinischen Richtungen fort.2 Aber es hieße, eine moderne Vorstellung von medizinischer Wissenschaft als Theorie auf die Antike zurückzuprojizieren, wenn die Vielschichtigkeit medizinischer Wissenspraktiken hinter dieser Rezeptions- und Transformationslinie der Gleichgewichtslehre ignoriert würde.

Medizinphilosophie muss vielmehr berücksichtigen, welcher Stellenwert und welche Reichweite ganz allgemein Theoretisierungen innerhalb konkreter Formen von Medizin zugesprochen wurden, damit die Vielfalt medizinischer, wissensbasierter Praktiken nicht vorschnell auf Theorie bzw. auf Theorien eines bestimmten Typs oder spezifischer Leistungsfähigkeit beschränkt wird. Dazu liefert der jüngste Paradigmenwechsel in der Medizin ein markantes Beispiel: Die Einführung der sogenannten evidenzbasierten Medizin (EBM) am Ende des 20. Jahrhunderts bedeutete eine durchgreifende Umstellung der Legitimation medizinischen Handelns von pathophysiologischen Erklärungen des Krankheitsgeschehens auf in klinischen Studien nachgewiesene Wirksamkeit therapeutischer Interventionen – ein erneuter radikaler Richtungswechsel im alten Streit um das Primat von therapeutischer Empirie oder theoretischem Wissen. Im Sinne des Erklärungsanspruchs der Pathophysiologie, wie sie als Leittheorie der wissenschaftlichen Medizin vor allem im 20. Jahrhundert etabliert worden war, stellt die EBM keine überzeugende Theorie dar, denn sie evaluiert ihre therapeutischen Strategien nicht am Maßstab physiologischer Erklärungen, sondern anhand statistisch nachgewiesener Wirksamkeit. Aber damit verfährt sie nicht weniger wissenschaftlich, sie hat einen bestimmten Theorietypus gegen ein empirisches Paradigma von Wissenschaftlichkeit ausgetauscht.

Dieser Longue durée eines Widerstreits von Empirie und Theorie über die verschiedenen konkreten Ausprägungsformen von Medizin hinweg steht eine Fixierung der modernen Medizin auf den naturwissenschaftlich-technischen Fortschritt gegenüber. Erst seit der Entstehung und mit der Durchsetzung der laborexperimentellen Forschung im 19. Jahrhundert hat die Medizin ihre Vergangenheit mitsamt deren akkumulierten Wissensspeichern verabschiedet und sich radikal auf eine Zukunft stets neuer Interventionsstrategien ausgerichtet. Ein Beispiel vermag zu illustrieren, welchen epistemischen Bruch diese Transformation darstellte: Der im Jahr 1809 gegründete Lübecker Ärzteverein konzentrierte sich – wie vergleichbare Initiativen seiner Zeit – über ein Jahrhundert darauf, medizinisches Wissen möglichst umfassend und vollständig in einer Bibliothek zu speichern. Am Anfang des 20. Jahrhunderts waren nicht nur zu viele Bücher und Zeitschriften zusammengekommen, um die Einrichtung weiterhin ehrenamtlich zu betreuen. Was dort aufgehäuft war, bildete in einem nun radikal gewandelten Verständnis medizinischer Wissenschaft nicht mehr den medizinischen Wissensschatz aller Zeiten ab, sondern war – bis auf wenige Neuzugänge – nur noch eine Sammlung veralteter Anschauungen, weswegen die Bibliothek an die Stadt abgegeben wurde. Viele medizinische Fach- und Zweigbibliotheken sind inzwischen denselben Weg gegangen und heute zu Lieferdiensten für aktuelle Publikationen in elektronischer Form geworden. In wenigen anderen wissenschaftlichen Feldern besteht ein ähnlich hoher Innovationsdruck, gelten Theorien und Interventionsstrategien binnen weniger Jahre als überholt.3 In der Musik mag eine historische Aufführungspraxis ihren besonderen Wert haben, im Operationssaal oder auf dem Zahnarztstuhl würde sie zur strafbaren Körperverletzung, denn ärztliches Handeln muss den aktuell anerkannten »Regeln der ärztlichen Kunst« (Sozialgesetzbuch V, §28, Abs. 1) folgen. Hier vollziehen sich ausgesprochen komplexe Prozesse soziotechnischer Innovation und wissenschaftlich-epistemischer Transformation, in deren Folge die Medizin vergangener Tage nur noch als überwundene Medizin vorstellbar ist. Auch ihre gegenwärtige Form ist davon nicht ausgenommen. Medizin ist nicht im Besitz endgültiger Wahrheiten, sondern begreift sich stets nur als Vorstufe noch besserer Handlungsmöglichkeiten. Seit hundertfünfzig Jahren ist Medizin als Wissenschaft mit einem Versprechen für die Zukunft besetzt.

1.2 Die relativistische Distanz der Medizinphilosophie und der Realismus der Medizin

Diese Umorientierung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit der therapeutischen Neuausrichtung der Medizin am Ideal einer technisch-praktischen Beherrschung von Krankheiten anstelle einer möglichst günstigen Beeinflussung und Lenkung natürlicher Krankheitsverläufe.4 Die Fortschrittsorientierung, wie sie die Gegenwart medizinischen Handelns durchdringt und bestimmt, stellt für einen methodischen Relativismus, der sich insbesondere in der Historischen Epistemologie als fruchtbar erwiesen hat und heute die Kulturwissenschaften dominiert, eine besondere Herausforderung dar. Das positivistische Selbstverständnis der Medizin und ihre Methoden-Adhärenz weitgehend ohne theoretisches Bewusstsein müssen als wissenschaftlicher Realismus ernst genommen werden, ohne damit dessen epistemische und ontologische Voraussetzungen ungeprüft zu übernehmen. Denn das hieße, die aktuelle Form von wissenschaftlichen Problembeschreibungen, medizinischen Therapieverfahren und Gesundheitstechniken mit dem Gegenstand, also Gesundheit und Kranksein als Phänomenbereiche philosophisch-theoretischer Reflexion, zu verwechseln. Gerade die Dynamik und Fortschrittsorientierung der modernen Medizin verlangen von der Medizinphilosophie kritische Distanz zur gegenwärtigen Praxis, damit diese Spannung nicht aus dem Blick gerät.

Medizinische Theorien stehen in besonders enger Wechselwirkung zu je spezifischen Wissenschaftskulturen, aber sie beziehen sich zugleich auf menschliche Grunderfahrungen, denen sie eine zeitspezifische konkrete Fassung geben. Diese Spannung wird noch dadurch zugespitzt, dass die Medizin ihre Wirklichkeitsbeschreibungen zwar beinahe täglich revidiert, aber ihren Wirklichkeitskonstruktionen zugleich den Status objektiver, ahistorischer Naturtatsachen zuspricht. Die neuesten Entdeckungen medizinischer Wirkmechanismen oder regulatorischer Genprodukte mögen gestern noch unbekannt gewesen sein, aber als Naturtatsachen sollen sie schon bestanden haben, obwohl sie vielleicht bereits morgen anders begriffen werden. Selbst sogenannte Zivilisationskrankheiten wie Adipositas oder Störungen der sozialen Integration wie das Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) konzeptualisiert die Medizin heute typischerweise als zwar sozial vermittelte und sozialpolitisch relevante, aber der Sache nach biologisch-organische Naturtatsachen.

Nirgendwo greift moderne Naturforschung so konkret und unmittelbar in die Bedingungen menschlichen Lebens ein wie in der Medizin und den mit ihr verschränkten Biowissenschaften. Medizin verändert die Vorstellungen davon, was menschliches Leben ist, und stellt vielfältige, bis vor Kurzem noch undenkbare Interventionsmöglichkeiten bereit. Intensivmedizin und Organtransplantation haben den Tod zu einem medizinisch neu zu definierenden Problem werden lassen. Die Reproduktionsmedizin verändert die Bedingungen von Elternschaft und Generativität. Genetische Tests identifizieren latente Krankheitsdispositionen und machen aus Gesunden Patienten im Wartestand. Die Ausdifferenzierung medizinischer Möglichkeiten provoziert die Frage, ob neben der Therapie bestehender Leiden auch die Verbesserung natürlicher Anlagen als Enhancement legitimerweise Ziel ärztlichen Handels sei. Für nahezu alle Fragen nach dem menschlichen Leben scheint heute die Medizin zuständig. Diese wenigen Stichworte genügen, um den Aktionsradius von Medizin und Biowissenschaften zu skizzieren, die im Namen einer objektiven Naturforschung massiv die Lebensbedingungen in der modernen Welt transformieren. Damit erweist sich einmal mehr, dass die Dichotomie von Natur und Kultur eine problematische Erfindung der Moderne darstellt, deren Folgewirkungen nur schwer zu beherrschen sind (Latour 1995). Die westliche Medizin war ungemein erfolgreich mit dem Projekt einer Naturalisierung aller Krankheitserscheinungen. Deshalb zeigen sich hier die kulturellen Folgen dieses Wissenschaftsprogramms besonders deutlich. Medizin exponiert die Aporien der Natur-Kultur-Dichotomie quasi am eigenen Leibe. Vor diesem Hintergrund thematisiert dieser Band Theorien der Medizin im soziohistorischen Kontext und diskutiert philosophische Implikationen der Medizin nicht wissenschaftsimmanent, sondern im Hinblick auf ihre epistemologischen, biopolitischen und ethischen Dimensionen.

1.3 Medizin als Herausforderung der Philosophie

Medizin ist eine besondere Wissenschaft, denn die Suche nach Erkenntnis ist hier der Hilfe im konkreten Fall untergeordnet. Bei medizinischen Problemen verschränken sich Wissen, menschliches Leben und Leiden im Ausgangspunkt von einem konkreten Einzelfall. Wie in anderen Disziplinen treiben auch bei den Biowissenschaften die theoretische Neugierde und die Suche nach neuen Machbarkeiten die Forschung voran, aber in der Medizin steht die Suche nach Wissen hinter der Therapiebedürftigkeit erst an zweiter Stelle. Noch vor jeder theoretischen Neugierde sind Schmerz und Leid bzw. die Not ihrer praktischen Beherrschbarkeit der konkrete Ausgangspunkt und Anlass für die Suche nach geeigneten Interventionen, nach übertragbaren Strategien und stabilen Konzepten. Um dieser Besonderheit gerecht zu werden, kann Medizinphilosophie nicht einfach beim medizinischen Wissen und Vorgehen starten. Denn Theorien der Medizin sind nachträgliche Produkte einer therapeutischen Praxis als Antwort auf die Vorgängigkeit menschlichen Leidens, wie der Epistemologe Georges Canguilhem hervorgehoben hat. Er hatte als ausgebildeter Philosoph ein Medizinstudium aufgenommen, nicht um die medizinische Praxis philosophisch zu kritisieren oder aus der Wissenschaftsphilosophie heraus eine bessere Theorie für sie zu entwerfen, sondern »als Einführung in konkrete menschliche Probleme« (Canguilhem 1974: 15). Denn die Philosophie sei eine Form der Reflexion, der jeder fremde Gegenstand guttue und der jeder vertraute Gegenstand fremd sein müsse.

Die folgenden Kapitel zielen darauf, eine in diesem Sinne philosophische Lektüre zur Herausforderung Medizin zu bieten: Am Gegenstandsbereich der Medizin will das Buch aufweisen, wie philosophische Fragen an deren wissenschaftliche Praxis notwendigerweise über das hinausweisen, was als Wissenschaftsphilosophie der Medizin zur Spezialdisziplin geronnen ist. Es geht also um den medizinischen Umgang mit Gesundheit und Kranksein, um ärztliches Handeln und medizinische Theorien. Es geht um die Strukturen, Dynamiken und Effekte medizinischer Vorstellungen in historisch konkreten, soziotechnischen Kontexten. Medizinphilosophie zielt auf eine philosophische Reflexion über die Antworten der Medizin auf die menschliche Grundfrage nach Gesundheit und Kranksein. Das Buch kann keinen philosophischen Grundkurs für Medizinstudierende liefern und will ihnen auch nicht den Weg zu einer ethisch besseren Berufsausübung weisen. Vielmehr sollen die Handlungslogiken, Legitimationsstrategien und epistemischen Dynamiken im medizinischen Feld untersucht werden. Es geht um eine Analyse der Praktiken und Arbeitsweisen, der Denkstile und Wissensformen in der Medizin in ihrer historisch gewordenen und aktuellen Dynamik. Deshalb geht diese Einführung über eine kritische Sichtung der in der klinischen Praxis vorfallenden theoretischen Probleme hinaus, diskutiert die mit diesen Theorien verbundenen Leitvorstellungen in ihren praktischen Konsequenzen (vgl. Ackerknecht 1967) und nimmt fundamentale Fragen auf, die von der herrschenden Biomedizin heute aufgeworfen werden. Ein Bereich bleibt hierbei freilich ausgeklammert, obwohl er in besonderer Weise die philosophische Reflexion herausfordert – die Psychiatrie.5 Ihre Praxis war und ist zwar vielfach mit der wissenschaftlichen Medizin verschränkt, deren Tendenzen hier diskutiert werden, aber sie wirft Fragen auf, die weit darüber hinausgehen und den Rahmen dieser Einführung sprengen. Einen hervorragenden Überblick gibt Fulford et al. 2013.

1.4 Zum Programm dieser Einführung

Das folgende Kapitel Wozu Philosophie der Medizin führt in das hier nur knapp skizzierte Projekt systematisch ein. Das dritte Kapitel Was ist Gesundheit? beginnt bei der nur scheinbar selbstverständlichen, aber von der Medizin im Zuge ihrer Aneignung des Körpers inzwischen weitgehend verlorenen Frage nach der Gesundheit. Diese Frage führt philosophisch zur Lebenskunst und zur Utopie eines gesunden Lebens, wie in der Gesundheitsdefinition der WHO ausgeführt. Dem steht in der Medizinphilosophie ein scheinbar rein deskriptiver, objektiver Begriff von Krankheit gegenüber, dessen praktische Probleme sich nicht zuletzt bei den aktuellen Bemühungen um Prävention zeigen. Das vierte Kapitel Praxeologie untersucht Orte ärztlichen Handelns und setzt in der Antike bei der Konkurrenz der Hippokratiker zu anderen Formen der Heilkunde an. Die zentralen Orte medizinischer Praxis sind erst über grundlegende Transformationen medizinischen Handelns im Laufe der Geschichte entstanden, wie der Weg vom Hospital zum Krankenhaus und der Aufstieg des Labors zum entscheidenden Ort der Wissensproduktion illustrieren. Nur aufgrund der spezifischen Handlungsbedingungen an diesen Orten konnte sich die Medizin ihre heutigen Interventionskompetenzen aneignen. Darauf will eine Medizinethik als Regulierung ihrer Anwendungspraxis antworten, während Philosophie der Medizin darüber hinausgehend die sozialen und politischen Dimensionen medizinischen Wissens als deren Wirklichkeit berücksichtigen muss. Das fünfte Kapitel Quo vadis Medizin? diskutiert die rezente Wende zur evidenzbasierten Medizin mit ihrer Problematik der Übertragbarkeit von Daten aus klinischen Studien auf die individuelle ärztliche Praxis. Diesem Trend steht die sogenannte personalisierte Medizin gegenüber, die üblicherweise molekulargenetisch individualisiert und damit in ein doppeltes Spannungsfeld gerät – zum personalen Erleben des Krankseins und zur Logik klinischer Studien. Die wunscherfüllende Medizin und das Enhancement führen zu dem Paradox, dass Individualisierung zugleich soziale Stereotype forciert. Das sechste und letzte Kapitel begreift die aktuellen Trends als verschiedene Optimierungsstrategien und hinterfragt den Problemlösungsperfektionismus der Medizin. Die Coda über das Scheitern reflektiert Medizin im Horizont der Endlichkeit menschlichen Lebens.

2. Wozu Philosophie der Medizin?

2.1 Zur Ausgangslage

Offenbar entzünden sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts in postmodernen Industriegesellschaften an medizinischen Praktiken eine ganze Reihe vitaler Diskussionen zu fundamentalen philosophischen Fragen. Das verweist auf die Inneren Verbindungen zwischen Medizin und Philosophie (Engelhardt 1980), denn in beiden Fächern stehen das menschliche Wohl und ein gelingendes Leben im Mittelpunkt. Aber trotz der von der Sache her engen Beziehungen zwischen Medizin und Philosophie scheint der Austausch zwischen beiden Fächern über die Jahrhunderte hinweg allenfalls punktuell fruchtbar geworden zu sein, z.B. in der polnischen medizinphilosophischen Schule der Zwischenkriegszeit (Löwy 1990). Heute ist Philosophie der Medizin zumeist der Name für eine eher randständige Subdisziplin, wo sich Spezialisten der Wissenschaftstheorie mit Experten für medizinische Theoriebildung treffen. Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts spezialisieren sich einige Zeitschriften, Forschungsgruppen und Fachkonferenzen auf diesem Gebiet,6 aber ihre Diskussionen haben weder auf die klinische Forschung und medizinische Praxis noch auf die Philosophie spürbare Auswirkungen gezeigt. Mediziner verbitten sich Zurechtweisungen, wenn Philosophinnen ihnen erklären wollen, wie sie ihre Wissenschaft richtig zu verstehen und zu praktizieren haben. Wenn Wissenschaftsphilosophen aus Sorge um Unordnung im Garten der Theorie Vielfalt und Komplexität auf Seiten der Medizin für reformbedürftig halten, gerät der Aufruf zu logischer Strenge und strikter begrifflicher Disziplin zum Plädoyer für die Reinheit philosophischer Glasperlenspiele. Die richtige Medizin für eine unordentliche Praxis kann kaum die Einpassung der Lebenswelt in einen rationalen Schematismus sein. Verwundert fragt man sich dabei, was aus der anthropologischen Frage nach Gesundheit und Kranksein in diesem Spezialdiskurs geworden ist. So wird die Chance verpasst, im Ausgang von der Vielschichtigkeit medizinischer Problemlagen Einsichten in die Maximen medizinischer Praxis zu gewinnen, geschweige denn Aussichten auf eine Philosophie gelingenden Lebens. Aber auch die Wissenschaftsphilosophie verkümmert dabei zu einem weltfremden Geschäft, statt die Wirklichkeit der Medizin zu erhellen.

Aktuelle Bewegungen auf dem internationalen Buchmarkt geben Anzeichen, dass heute über solche wissenschaftstheoretischen Klarstellungen und über die mit breiter öffentlicher Aufmerksamkeit geführten bioethischen Diskussionen hinaus ein Bedarf besteht für ein kritisches, philosophisches Nachdenken über die gegenwärtige Medizin, über Gesundheit und Kranksein, über alternative Heilmethoden und die Rolle biomedizinisch-lebenswissenschaftlicher Forschung in der Gesellschaft. Man kann diese Neuerscheinungen in drei Gruppen einteilen: erstens Bücher, die mit Philosophie eine theoretische Grundlegung der medizinischen Ethik aus der klinischen Praxis avisieren wie zum Beispiel The Philosophy and Practice of Medicine and Bioethics von Barbara Maier und Warren A. Shibles (2011) oder der Sammelband Philosophy for Medicine: Applications in a Clinical Context (Evans et al. 2004); zweitens Bücher, die mittels wissenschaftstheoretischer und philosophischer Untersuchungen Medizin auf gut begründete, exakt definierte und klar geordnete Konzepte zu stellen suchen wie Kazem Sadegh-Zadehs monumentales Handbook of Analytic Philosophy of Medicine (2015) oder das engagierte Plädoyer für eine neue Aufklärung über die Aussagekraft von Medizinstatistiken von Gerd Gigerenzer und Muir Gray (2011); sowie drittens schließlich Bücher, die im Sinne der Medical Humanities Annahmen, Ziele und Folgen medizinischer Praxis hinterfragen wie James Marcums Introductory Philosophy of Medicine: Humanizing Modern Medicine (2008) oder der Sammelband Medicine and Society: New Perspectives in Continental Philosophy (Meacham 2015).

Neben diesen vergleichsweise etablierten Richtungen beginnt sich unter dem programmatischen Titel einer Phenomenology of Medicine ein eigenständiger Reflexionsbereich herauszubilden, der mit frischer Dynamik genuin philosophische Fragen an die Wirklichkeit der Medizin heranträgt. In diesem Namen verbinden sich dabei zwei Strömungen, eine deskriptiv-empirische Beschreibung der von der Medizin aufgeworfenen Phänomene und deren transzendentale Hinterfragung im Sinne der philosophischen Phänomenologie. Einerseits geht es um die qualitative Erforschung der psychosozialen Aspekte der mit der modernen Medizin verbundenen Lebensformen, also um die Effekte medizinischer Praktiken auf das Alltagsleben, die Wahrnehmung des Körpers und die Erfahrung von Krankheit. Andererseits knüpfen Autoren hier an die philosophische Tradition der Phänomenologie von Edmund Husserl über Martin Heidegger bis Maurice Merleau-Ponty und Emmanuel Levinas an, um solche individuellen, psychologischen und soziologischen Phänomene als biomedizinisch und technisch rekonfigurierte Lebensformen und damit als neuen Horizont der Lebenswelt zu rekonstruieren, als die heute geltenden Bedingungen der Möglichkeit menschlicher Wahrnehmung und Erfahrung (Svenaeus 2001; Toombs 2001). Der beiden Richtungen gemeinsame Ausgangspunkt ist die grundlegende Differenz zwischen Krankheit und Kranksein (disease und illness), der auch diesem Buch zugrunde liegt. Es ist dabei alles andere als ein Zufall, dass auf die Differenz zwischen der objektivierten Krankheit als Gegenstand medizinischer Forschung und der subjektiven Wahrnehmung des Krankseins aus der Perspektive der ersten Person und eingebettet in die Sinnhorizonte sozial geteilter Lebenswelten insbesondere von Phänomenologinnen hingewiesen wurde (Carel 2008; Carel/Cooper 2013) und inzwischen eine feministische Phänomenologie der Medizin entstanden ist (Zeiler/Folkmarson 2014). Ein Wort an dieser Stelle zur Redeweise: Im Sinne des Primats der Epistemologie für die hier vorgelegte Medizinphilosophie wird nicht durchgehend in geschlechtergerechter Sprache formuliert, sondern historisch präzise zwischen Ärzten und Ärztinnen unterschieden, aber ansonsten durch Variation auf Geschlechtervielfalt abgehoben.

Der Gegenstandsbereich der Medizinphilosophie soll in diesem Buch nicht nur um die Perspektive der individuellen Erfahrung einer zunehmend medizinisch definierten Wirklichkeit ergänzt werden. Vielmehr gilt es, gemäß dem transzendentalphilosophischen Anspruch der Phänomenologie die Voraussetzungen von Erfahrung und Wirklichkeit als widersprüchliche Spannungen zwischen beiden Perspektiven auszuloten. Ebenso wichtig wie das Anliegen, die Perspektive der ersten Person in die Medizin einzubringen, ist für eine Wissenschaftsphilosophie der Medizin, die Dynamik wissenschaftlicher Begriffe und Theorien herauszuarbeiten, was kürzlich unter dem Titel einer phenomenology of concepts vorgeschlagen wurde.7 In diesem Sinne sollen hier die historischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen der Medizin kritisch hinterfragt und die sozioepistemischen Effekte ihrer Verfahrensweisen geprüft werden (vgl. Lindemann/Nelson 1999). Damit stellt sich diese Medizinphilosophie in die Tradition eines kantischen Programms der Klärung der Bedingungen der Möglichkeit von Wissen und dessen Historisierung durch Michel Foucault. Zuschnitt und Anspruch sind allerdings bescheidener, weil dieses Buch auf der Basis einer historisch-epistemologischen Analyse primär zur Reflexion anregen will, ohne ein Mandat in Anspruch zu nehmen, der Medizin oder der Gesellschaft, in der diese Medizin praktiziert wird, die Richtung zu weisen. Vielmehr versteht diese Einführung Philosophie als das Projekt, mit theoretischer Reflexion Wirklichkeit zu begreifen.

2.2 Theorie in der Medizin vs. Reflexion auf Medizin

Seit Kurzem setzt die Initiative für ein Philosophicum für Mediziner an der Universität Würzburg einen Kontrapunkt zum Physikum als erstem Abschnitt des medizinischen Staatsexamens: So wichtig eine fundierte Grundausbildung in den Naturwissenschaften auch sei, gehe die bestehende Prüfung mit ihrer einseitigen Ausrichtung doch an der Komplexität des Arztberufs vorbei, für die mit geisteswissenschaftlicher und ethischer Reflexion bereits frühzeitig im Studium sensibilisiert werden müsse. Zugleich erinnert der Name an eine alte Prüfung und damit an eine folgenreiche Umorientierung im Medizinstudium. Denn bis ins 19. Jahrhundert mussten Mediziner (damals hatten in Deutschland nur Männer Zugang zum Medizinstudium) ein Philosophicum ablegen, wenn sie das allgemeinbildende Grundstudium an der Universität beenden und in die klinische Ausbildung eintreten wollten. Im Jahr 1861 erließ das Preußische Kultusministerium dann eine neue Prüfungsordnung, mit der erstmals eine Vorprüfung in Naturwissenschaften wie Physiologie, Chemie und Physik abgelegt werden musste. Die Einführung dieser nun Physicum genannten Prüfung bedeutete also eine Umorientierung von den Geisteswissenschaften zu den Naturwissenschaften als Grundlage der medizinischen Ausbildung. Spätestens als Abraham Flexner in seinem Report für die Carnegie-Foundation 1910 eine mangelhafte medizinische Ausbildung in den USA konstatierte und zu ihrer Reform eine Übernahme des deutschen Systems empfahl, wie es damals bereits an der amerikanischen Reformuniversität Johns-Hopkins realisiert war,8 erlangte das Modell einer naturwissenschaftlich fundierten Medizin internationale Geltung.

Wenn heute wieder ein Philosophicum angeboten wird, soll damit freilich nicht die naturwissenschaftliche Ausrichtung rückgängig gemacht, sondern vielmehr deren Stellenwert im Hinblick auf die ärztliche Tätigkeit reflektiert werden. Der Ruf nach Philosophie ergeht in der Hoffnung, mit ihrer Hilfe Ordnung in unübersichtliche Wissensbestände und Handlungsanforderungen zu bringen, die verschiedenen an der Medizin beteiligten Wissenschaftszweige besser zu integrieren oder die Praxis bestimmter klinischer, diagnostischer und therapeutischer Verfahren grundsätzlich wissenschaftstheoretisch zu klären bzw. bezogen auf konkrete Fälle ethisch abzuwägen. Von Seiten der etablierten Medizin mischt sich in solche Bemühungen um philosophische Reflexion typischerweise oft Skepsis, ob eine Suche nach Orientierungswissen und Handlungskompetenz ausgerechnet in der Philosophie fündig werde: Ihre Diskussionen gelten als abstrakt, abgehoben und nicht auf der Höhe der Zeit angesichts der rasanten Entwicklungen in den Biowissenschaften, kurzum als nicht passend zugeschnitten für die stets drängenden praktischen Aufgaben der Medizin in Diagnostik, Therapie und Prävention. Solchen aktuellen Anforderungen gilt es also gerecht zu werden, ohne dabei eine genuin philosophische Reflexion aus den Augen zu verlieren.

Bereits 1935 fragte der erst viel später als Medizinhistoriker berühmt gewordene Karl Eduard Rothschuh: »Brauchen wir in der Medizin Theorie?« Das war natürlich als rhetorische Frage gemeint, denn ihm ging es um eine »Begründung ihrer Notwendigkeit in der Gegenwart«, wie der Untertitel des Aufsatzes anzeigte, mit dem Rothschuh die zentralen Thesen seiner Dissertation (Rothschuh 1936) dem breiten Publikum der Klinischen Wochenschrift vorstellte. Er führte zwei Gründe an, die noch heute oft als Aufgaben der Philosophie in der Medizin genannt werden. Einerseits sollte Medizintheorie die aus dem Reduktionismus der Naturwissenschaften resultierende Fragmentierung der Medizin in immer weitere Einzelaspekte zu überwinden helfen und zur Synthese einer ganzheitlichen Betrachtung führen. Andererseits wies er der Philosophie die Aufgabe zu, kritische Übersicht und systematische Ordnung zu schaffen:

»Wir leben in einer suchenden Zeit, deren Fragestellungen nicht mit der Darstellung von einzelwissenschaftlichen Ergebnissen beantwortet werden können. Die Medizin bedarf über ihre speziellen Ergebnisse hinaus einer allgemeinen Theorie, welche dem Arzte Antwort auf seine Fragen und Ruhe in seinem Handeln zu geben vermag. […] Wir halten es für richtig und wahrscheinlich, daß mit klar durchdachten und scharf disziplinierten Untersuchungen über die theoretischen Grundlagen der Therapie manche Wirrnis der Gegenwart sich als eine Donquichotterie herausstellen würde.« (Rothschuh 1935: 1402 f.)

Was es bedeutet, gesund zu sein