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Pirmin Stekeler-Weithofer
zum 65. Geburtstag

Christian Schmidt

Karl Marx zur Einführung

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Wissenschaftlicher Beirat

Michael Hagner, Zürich

Ina Kerner, Koblenz

Dieter Thomä, St. Gallen

Junius Verlag GmbH

Stresemannstraße 375

22761 Hamburg

www.junius-verlag.de

© 2018 by Junius Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Covergestaltung: Florian Zietz

Titelbild: © Deutsches Historisches Museum, Berlin

E-Book-Ausgabe September 2019

ISBN 978-3-96060-109-8

Basierend auf Printausgabe

ISBN 978-3-88506-806-8

1. Auflage 2018

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Zur Einführung …

… hat diese Taschenbuchreihe seit ihrer Gründung 1977 gedient. Zunächst als sozialistische Initiative gestartet, die philosophisches Wissen allgemein zugänglich machen und so den Marsch durch die Institutionen theoretisch ausrüsten sollte, wurden die Bände in den achtziger Jahren zu einem verlässlichen Leitfaden durch das Labyrinth der neuen Unübersichtlichkeit. Mit der Kombination von Wissensvermittlung und kritischer Analyse haben die Junius-Bände stilbildend gewirkt.

Seit den neunziger Jahren reformierten sich Teile der Geisteswissenschaften als Kulturwissenschaften und brachten neue Fächer und Schwerpunkte wie Medienwissenschaften, Wissenschaftsgeschichte oder Bildwissenschaften hervor. Auch im Verhältnis zu den Naturwissenschaften sahen sich die traditionellen Kernfächer der Geisteswissenschaften neuen Herausforderungen ausgesetzt. Diesen Veränderungen trug eine Neuausrichtung der Junius-Reihe Rechnung, die seit 2003 von der verstorbenen Cornelia Vismann und zwei der Unterzeichnenden (M.H. und D.T.) verantwortet wurde.

Ein Jahrzehnt später erweisen sich die Kulturwissenschaften eher als notwendige Erweiterung denn als Neubegründung der Geisteswissenschaften. In den Fokus sind neue, nicht zuletzt politik- und sozialwissenschaftliche Fragen gerückt, die sich produktiv mit den geistes- und kulturwissenschaftlichen Problemstellungen vermengt haben. So scheint eine erneute Inventur der Reihe sinnvoll, deren Aufgabe unverändert darin besteht, kompetent und anschaulich zu vermitteln, was kritisches Denken und Forschen jenseits naturwissenschaftlicher Zugänge heute zu leisten vermag.

Zur Einführung ist für Leute geschrieben, denen daran gelegen ist, sich über bekannte und manchmal weniger bekannte Autor(inn)en und Themen zu orientieren. Sie wollen klassische Fragen in neuem Licht und neue Forschungsfelder in gültiger Form dargestellt sehen.

Zur Einführung ist von Leuten geschrieben, die nicht nur einen souveränen Überblick geben, sondern ihren eigenen Standpunkt markieren. Vermittlung heißt nicht Verwässerung, Repräsentativität nicht Vollständigkeit. Die Autorinnen und Autoren der Reihe haben eine eigene Perspektive auf ihren Gegenstand, und ihre Handschrift ist in den einzelnen Bänden deutlich erkennbar.

Zur Einführung ist in der Hinsicht traditionell, dass es den Stärken des gedruckten Buchs – die Darstellung baut auf Übersichtlichkeit, Sorgfalt und reflexive Distanz, das Medium auf Handhabbarkeit und Haltbarkeit – auch in Zeiten liquider Netzpublikationen vertraut.

Zur Einführung bleibt seinem ursprünglichen Konzept treu, indem es die Zirkulation von Ideen, Erkenntnissen und Wissen befördert.

Michael Hagner
Ina Kerner
Dieter Thomä

Inhalt

1. Marx’ Problem

I.KRITIK

2. Nach der Religionskritik: Gegen Staat, Recht und Eigentum

3. Die Analyse der Entfremdung als philosophische Kritik der Ökonomie

II.IDEOLOGIE

4. Wirklichkeit, Ideologie und kommunistisches Bewusstsein

5. Streit unter Brüdern: Gegen Bruno Bauer und Max Stirner

6. Eine Phänomenologie des Werts: Das besondere Verhältnis zu Proudhon

III. GESCHICHTE

7. Revolution, Klassenkampf, Geschichte

8. Geschichte: Struktur und Krise

9. Gegen den Staat: Die »ursprüngliche Akkumulation« und die Kommune

IV. ÖKONOMIE

10. Was ist eine Wissenschaft?

11. Vom Warenwert zum Kapital

12. Fetisch, Mystifikation, Bewusstsein

V. POLITIK

13. Marx und die Internationale

14. Offene Probleme des Kommunismus

Danksagung

Anhang

Anmerkungen

Literaturhinweise zum Einstieg

Über den Autor

1. Marx’ Problem

Die Philosophie Hegels war ein Versprechen. Auf einen jungen Mann, der, wie Karl Marx, dem Wunsch seines Vaters gemäß das Jurastudium mit dem Ziel einer Verwaltungslaufbahn aufnahm, aber in sich »vor allem Drang, mit der Philosophie zu ringen«1, verspürte, muss ein philosophisches System besonders anziehend gewirkt haben, das beides miteinander verband und den frischgebackenen Studenten lehrte: »Alles, was ist, hat eine ideale und eine reelle Seite, eine Seite der Erscheinung und eine Seite des Gedankens. Die ideale Seite ist die philosophische, die reelle ist die Geschichte. […] Die Rechtsphilosophie soll hier nicht als ein abstraktes Leeres erscheinen, sondern als ein Gedanke, der sich verwirklicht hat. Dagegen soll die Rechtsgeschichte ebenfalls nicht bloß äußerlich erscheinen, sondern als gedankenartig, als ihren Geist in sich tragend.«2

Eduard Gans, von dem dieses Zitat stammt, war Hegels Schüler und Freund gewesen. Zu jener Zeit, als Marx in Berlin studierte, hielt er die Naturrechtsvorlesungen.3 Nach Hegels Tod gab er die um Hegels mündliche Zusätze erweiterte Ausgabe der Grundlinien der Philosophie des Rechts und die Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte heraus. Die Vorlesungen zur Rechtsphilosophie hatte er schon vor Hegels Tod mit dessen Billigung und großem öffentlichen Erfolg übernommen. Gans hob besonders das Moment der Verwirklichung hervor, den Gedanken, dass philosophische Einsichten auch institutionelle und politische Folgen haben, die geschichtlich spürbar sind. Damit betonte er auch das revolutionäre Potenzial der Hegel’schen Philosophie. »Ist die Verfassung des Volkes demselben unangemessen«, heißt es in diesem Sinne bei Gans zum Thema Volkssouveränität, »ist sie durchaus etwas anderes als dasselbe, so wirft es sie ab und metamorphiert sich von selbst, und dies sind die gründlichen Krisen der Geschichte, die Revolutionen.«4

Zudem verband Gans die Hegel’sche Philosophie mit Reflexionen über die politischen, gesellschaftlichen und philosophischen Entwicklungen im Europa seiner Zeit. Er hatte Freunde in Paris und London und brachte von seinen Reisen aufsehenerregende Informationen über Gruppen wie die Saint-Simonisten oder über Jeremy Bentham mit, die auf ganz verschiedene Weise versuchten, Heilmittel für das bittere Elend zu finden, das der auch in den deutschen Ländern heraufziehende Kapitalismus produzierte. Die Hegel’sche Philosophie, wie sie Gans präsentierte, war also trotz ihres systematischen Ansatzes nicht geschlossen. Sie versprach Orientierung in den gesellschaftlichen Umbrüchen, die sich am Beginn des 19. Jahrhunderts vollzogen. Und sie versprach eine bessere Zukunft – nicht irgendwann, sondern eine bessere Zukunft, die eigentlich schon begonnen hatte, zumindest aber unmittelbar bevorstand.

Das Zentrum des Versprechens, dessen Verwirklichung die Hegel’sche Philosophie damals ankündigte, lässt sich dabei in einem einzigen Wort zusammenfassen: Freiheit. »Das Denken fängt da an, wo die Freiheit anfängt; Freiheit, Denken, Recht, Erkennen und Wollen sind identisch. […] Die Philosophie ist selbst ja der Gedanke der Freiheit, das freie Denken ohne Voraussetzung.«5 Diese Freiheit hat eine individuelle und eine gesellschaftliche Komponente. Sie ist die Freiheit der Einzelnen, die über sich selbst bestimmen und ein eigenes Urteil suchen. Sie ist aber auch eine Freiheit, die sich im Verhältnis zum Staat, das heißt zur Ordnung des gesellschaftlichen Zusammenlebens, zeigt. »Die Rechtsphilosophie beginnt, sobald nicht mehr Gott die Gesetze gibt, sondern der Mensch anfängt, selbst Legislator zu sein. […] Sowie das Recht vom Menschen gemacht ist, ist auch die Rechtsphilosophie da.«6

Am Beginn des Marx’schen Denkens steht also die Begegnung mit einem philosophischen Ansatz, für den Reflexion keine bloß gelehrte Übung ist, sondern der sich selbst dezidiert als Kritik versteht, der die Praxis der Menschen ins Zentrum der Überlegungen rückt und mithilfe der Analyse dieser Praxis die Dynamik geschichtlicher Entwicklungen zu entschlüsseln versucht. Philosophie nach Hegel ist Gesellschaftskritik, die das Prinzip ihrer eigenen Wirksamkeit gleich mitzuliefern scheint. Denn dieses Prinzip ist nichts anderes als die Freiheit, aus der die menschliche Praxis entspringt.

Marx wird im Laufe seines Lebens Hegel und den Hegelianismus immer wieder heftig attackieren, aber die wesentlichen Elemente der Hegel’schen Philosophie, dass die Menschen ihre Geschichte selbst machen, dass das philosophische System die Dynamiken der geschichtlichen Entwicklungen analysieren und kenntlich machen soll und dass das Ziel der theoretischen Überlegungen zu sozial wirksamen Kräften und Strukturen darin besteht, die gesellschaftliche Wirklichkeit zu ändern, das heißt, sie zu verbessern, all das bleibt für ihn prägend.

Angesichts dieses entscheidenden Einflusses der Hegel’schen Philosophie auf den ganz jungen Marx lässt sich die Heftigkeit der Marx’schen Hegelkritik vor allem als eines lesen: die Anzeige eines fundamentalen Problems, mit dem sich Marx in seinem Denken konfrontiert sieht. An der Auseinandersetzung mit Hegel zeigt sich nämlich beispielhaft, was für viele der Marx’schen Polemiken gegen politische, philosophische und wissenschaftliche Weggefährten gilt. Die Angriffe werden umso drastischer, je mehr Marx Positionen angreift, die seinen eigenen zum Verwechseln ähnlich sind. Das Rigorose in diesen Polemiken ist vor allem eine unausgesprochene Unnachgiebigkeit gegen das eigene Denken, von dessen Ungenügen Marx sich mit aller Kraft losreißen will.7 Der oft diffamierende und verletzende Angriff auf befreundete Autoren ist der Weg, auf dem Marx nach einer theoretischen Selbstverständigung sucht, die keine Kompromisse erträgt und sich über Freundschaften brüsk hinwegsetzt. Auch die Heftigkeit der Marx’schen Hegelkritik ist daher das Symptom einer radikalen Enttäuschung, die sich zu einem tief sitzenden Problem auswächst.

Das Problem mit der Hegel’schen Philosophie ist für Marx (im Übrigen aber auch für seine politisch engagierten junghegelianischen Freunde) das Ungenügen der von ihr inspirierten Gesellschaftskritik. Denn die Kritik, die im Ausgang von Hegel entwickelt wurde, scheint zunächst einmal ganz praktisch zu versagen. Offenkundig klaffen die politische Ordnung und der Anspruch philosophischer Einsicht nicht nur erheblich auseinander. Diese Kluft öffnet sich am Übergang der 1830er zu den 1840er Jahren auch noch immer weiter, statt sich – der Hegel’schen Prognose folgend – fortwährend schneller zu schließen. Wie die Kluft zwischen Einsicht und Staat in der Marx’schen Wahrnehmung wächst, lässt sich gut an der kritischen Darstellung der Verhandlungen des Rheinischen Landtags über ein Holzdiebstahlsgesetz sehen, die Marx im Herbst des Jahres 1842 in der inzwischen von ihm geleiteten Rheinischen Zeitung anonym veröffentlichte. Ganz im Geiste der Hegel’schen Rechtsphilosophie kritisiert Marx das Gesetz, das das zuvor gewohnheitsrechtlich gestattete Sammeln von herabgefallenen Ästen und Zweigen als Diebstahl mit Gefängnis oder Zwangsarbeit bedrohte, als nicht »der rechtlichen Natur der Dinge«8 entsprechend.

Marx beschreibt mit Hegels eigenen Worten die Funktion des Rechts als »das Dasein der Freiheit«9. Statt aber ein solches »vernünftiges«, »menschliches« Recht in Gesetzesform zu bringen, fällt der Landtag, der erkennbar einzig die Interessen der Waldbesitzer im Auge hat, in vormoderne Formen des Rechts zurück. Den Armen werden mit dem neuen Gesetz nämlich nicht nur die »Almosen der Natur« vorenthalten, auf die ihnen »ein instinktmäßiger Rechtssinn« bisher Anspruch gab,10 bei der Verfolgung des neu eingeführten Verbrechens sind der Waldbesitzer oder sein Bediensteter auch noch Ankläger, Zeuge, Richter und Vollstrecker der Strafe. Empört konstatiert Marx, dass der Staat so »die Unsterblichkeit des Rechts [dem] endlichen Privatinteresse« opfere und dem Verbrecher »die Sterblichkeit des Rechts« beweise.11

Eduard Gans in diesem Punkt noch folgend, glaubt Marx Anfang der 1840er Jahre aber, dass sich das Recht schließlich doch mit aller Macht gegen jedes Gesetz durchsetzen wird, das den Namen »Gesetz« nicht verdient, weil es sich gegen seine begriffliche Bestimmung der »allgemeinen und authentischen« Wahrheit »über die rechtliche Natur der Dinge« verweigert. Geschehe das nicht mittels Einsicht, dann geschehe es mittels der Konsequenzen, die das sogenannte Gesetz heraufbeschwört: »Ihr habt die Grenzen verwischt, aber ihr irrt, wenn ihr glaubt, sie seien nur in euerem Interesse verwischt. Das Volk sieht die Strafe, aber es sieht nicht das Verbrechen, und weil es die Strafe sieht, wo kein Verbrechen ist, wird es schon darum kein Verbrechen sehen, wo die Strafe ist.«12 Wie bei Gans entfaltet hier die ideale Seite der Geschichte ihre Wirkung nicht nur über den philosophisch informierten Beamtenapparat des Staates oder den Landtag als Gesetzgeber, der ihr schließlich im konkreten Fall enttäuschenderweise entgegensteht. Die geschichtliche Handlungsmacht ist breiter verteilt und erfasst auch das Volk mit seinen Vorstellungen von Recht und Gerechtigkeit, das sich – so die Marx’sche Hoffnung – dem Staat mit seinen Gesetzen und bürgerlichen Eigentumsrechten verweigern oder sogar widersetzen kann.

Mit seiner Argumentation für die Beibehaltung der alten Raffholzrechte will Marx sich aber nicht zum Verteidiger des Gewohnheitsrechts schlechthin aufschwingen. Die Debatte zeigt für ihn vielmehr schlagend, dass bei den Rechten der Ärmsten auf das Gewohnheitsrecht zurückgegriffen werden müsse, weil »das Dasein der armen Klasse selbst bisher eine bloße Gewohnheit der bürgerlichen Gesellschaft ist, die in dem Kreis der bewußten Staatsgliederung noch keine angemessene Stelle gefunden hat«13. Mit anderen Worten, die Existenz der »armen Klasse« ist das Zeichen für die Unvernunft, die der bürgerlichen Gesellschaft und der ihr entsprechenden staatlichen Ordnung innewohnt. Und das offenbart eine empfindliche Lücke in der Hegel’schen Konzeption einer freiheitlichen Rechtsordnung, für die die Landtagsdebatte das Symptom ist.

Doch nicht nur die politische und gesellschaftliche Entwicklung blieb hinter den Erwartungen zurück, die die Hegel’sche Philosophie geweckt hatte. Auch auf dem akademischen Feld waren herbe Rückschläge zu verzeichnen, die die Junghegelianer ganz persönlich trafen. Marx hatte nicht ganz freiwillig eine publizistische statt einer akademischen Laufbahn eingeschlagen. Für ebenso radikale wie kompromisslose Junghegelianer gab es inzwischen keinerlei Chance mehr, an einer Universität angestellt zu werden.

Wie sich die akademische und gesellschaftliche Lage entwickelt hatte, zeigte sich auch daran, dass nach dem frühen Tod von Gans 1839 auf dessen Lehrstuhl in Berlin Friedrich Julius Stahl folgte. Stahl bekämpfte den von Gans nahegelegten Republikanismus, der mit Hegels Philosophie – um das Mindeste zu sagen – kompatibel war, mit einer Theorie, die auf die Stärkung der persönlichen Autorität des Monarchen zielte. Obwohl sich auch in Stahls theoretischen Konzepten Einflüsse Hegels finden lassen und er beispielsweise den Staat als Rechtsstaat auffasste, »schloss«, wie Warren Breckman herausgestellt hat, »die Unteilbarkeit monarchischer Souveränität aus, dass die Idee des Parlaments oder, was das betrifft, vernunftgeleitete öffentliche Debatten eine wirksame Rolle spielen konnten, wenn es darum geht, die Stabilität der rechtlichen Normen zu bewahren. Stattdessen musste sich Stahl ganz auf die Selbstbeschränkungen des Monarchen verlassen. […] Die Autorität des Monarchen durchdringt alle politischen und gesellschaftlichen Institutionen, aber sie überschreitet diese insofern sie als monarchische nicht an sie gebunden ist. Stahl besteht darauf, dass in Krisenzeiten die Maxime: In dubio pro rege14, alle Normen übertrifft.«15

Sollte wenig später die Debatte um das Holzdiebstahlsgesetz beweisen, dass die Verwirklichung der Vernunft nicht als Resultat von Parlamentsdebatten allein zu erwarten war, propagierte Stahls politische Theorie die offene Abkehr vom liberalen Erbe der Hegel’schen Philosophie. Die Hegel’sche Linke reagierte auf diese Herausforderung zunächst einmal ihren Möglichkeiten entsprechend publizistisch. Dabei modifizierte sie Schritt für Schritt ihre Haltung zu Kirche und Staat. Zunächst hatte es für die Junghegelianer nämlich noch so ausgesehen, als sei der Protestantismus mit seiner Unmittelbarkeit der Gottesbeziehung und der Betonung des persönlichen Glaubens – wie von Hegel analysiert – ein geschichtlicher Anknüpfungspunkt für die vollständige Realisierung der Freiheit,16 doch nun wurde unter dem Banner des protestantisch-christlichen Staates die Restauration betrieben. »Freiheit ist für Stahl nur noch gut und richtig, wenn sie die gegebene Ordnung bestärkt, aber sie ist sündig und zu bestrafen, wenn sie die Selbstsüchtigkeit gegen die äußeren Autoritäten bejaht.«17

Als die jungen Anhänger der Hegel’schen Philosophie mit ihren universitären Karrieren in eine Sackgasse geraten und auch ihre außeruniversitären Publikationen mehr und mehr von der Zensur unterdrückt werden, fangen sie daher an, sich von Hegel zu distanzieren. Aber das heißt nicht, dass sie auf die Argumentation der Restauration einschwenken. Sie beginnen vielmehr jene Elemente in Hegels Philosophie zu denunzieren, die scheinbar oder tatsächlich von Denkern wie Stahl übernommen werden können. Bezüglich der Religion propagieren sie den offenen Atheismus, und aus der Hegel’schen Kritik wird die Kritik des Hegel’schen Staatsrechts, die Kritik der Hegel’schen Rechtsphilosophie überhaupt. Kategorien wie das Beamtentum, die konstitutionelle Monarchie und das Eigentum sind der Gegenstand dieser Kritik, die darauf gerichtet ist, das Hegel’sche Erbe zu bewahren, indem sie es in betont herausfordernder Weise überbietet.

Doch bald schon zeigt sich in diesen Auseinandersetzungen eine weitere Schwäche der Hegel’schen Kritik. Die Republik und die Verwirklichung der Freiheit lassen sich nicht herbeischreiben, und die Hegel’sche Philosophie benennt abseits des Staates kein konkretes gesellschaftliches Subjekt, das den philosophischen Reflexionen zur Realität verhelfen könnte. In einem der Manuskripte von Marx und Engels, die später unter dem Titel Die deutsche Ideologie editorisch zusammengefasst wurden, lässt sich das Bedauern über diese Schwäche vernehmen, wenn die »Auflösung der Hegelschen Schule in eine allgemeine Zänkerei« konstatiert wird: »das Theatrum mundi beschränkt sich auf die Leipziger Büchermesse, & die gegenseitigen Streitigkeiten«18.

Wer verstehen will, worum es in Marx’ rastlosem Denken geht, das sich Unmengen an historischem und wissenschaftlichem Material einverleibt, das Seite um Seite mit Exzerpten und Entwürfen füllt, von denen viele überhaupt erst postum veröffentlicht wurden und manche bis heute nicht veröffentlicht sind, das sogar eine ganze Wissenschaft, die Politische Ökonomie19, neu begründen will und dennoch zu keinem Abschluss kommt, wer in dieses Monument eines unermüdlichen Forschens eindringen will, muss die Problematik verstehen, die sich an seinem Anfang stellte und deren Unabweisbarkeit den Antrieb des Schreibens, Umschreibens und Aufs-Neue-Beginnens bis zum Ende dieses produktiven Lebens geliefert hat.

Wenn Marx sich mit geschichtlichen Vorgängen oder den Ereignissen seiner Zeit befasst, dann sucht er kein einzelnes Prinzip wie Hegels Verwirklichung der Freiheit, keine Gesetzmäßigkeiten, die die Geschichte prognostizierbar machen. Marx verabscheute den Schematismus bei der Darstellung historischer Ereignisse geradezu. Er versucht vielmehr, die Kräfte zu verstehen, die das Geschehen antreiben, sowie jene, die immer wieder zur Niederlage der Revolution führen. Aber im Feld dieser Kräfte nimmt Marx schon ziemlich früh eine besondere Struktur wahr, die die Gesellschaft seiner Zeit dominiert. Diese Struktur ist die Ökonomie, die Systematik der Regeln, nach denen das individuelle und das gemeinsame, gesellschaftliche Leben materiell produziert und reproduziert werden. Auch diese Regeln sind wie die politischen Regeln von Menschen gemacht, aber sie haben eine besondere Qualität, die dazu führt, dass sie sich gegenüber ihrer willentlichen Veränderung abschließen.

Ist das Problem, vor dem Marx zunächst mit den Junghegelianern steht, dass sich die von der Hegel’schen Philosophie genährten Hoffnungen auf eine Verwirklichung der Freiheit nicht erfüllen, so führt ihn die Beschäftigung mit der kapitalistischen Ökonomie auf ein Feld, das zu erklären vermag, auf welch komplexe Weisen die Verwirklichung der Freiheit scheitern kann. Die Ökonomie des Kapitalismus soll nämlich einerseits Freiheit verwirklichen, doch die spezifische Weise, in der die Freiheit hier verwirklicht wird, erzeugt ein Feld von Gesetzmäßigkeiten und Abhängigkeiten, denen die scheinbar Freien wie einer Naturgewalt gegenüberstehen, die über sie hereinbricht.

Die Eigenschaft der ökonomischen Zusammenhänge, ein Feld der Eigengesetzlichkeit zu bilden, hat Marx nicht entdeckt. Sie war ein Merkmal, das die Wissenschaft der Politischen Ökonomie prägte, die sich im 18. Jahrhundert neu entwickelte. Die Politische Ökonomie bricht mit wesentlichen Prinzipien der politischen Ordnung ihrer Zeit, indem sie davon ausgeht, dass sich das Ökonomische den Versuchen entzieht, es politisch zu beherrschen. »Die Wirtschaft […] verstanden als Praxis, aber auch als Art und Weise des Eingreifens der Regierung, als Handlungsform des Staates oder des Souveräns […] kann daher nur kurzfristige Absichten haben, und wenn es einen Souverän gäbe, der behauptete, langfristige Pläne zu haben, einen globalen und umfassenden Blick, dann würde dieser Souverän immer nur Trugbilder sehen. Die politische Ökonomie zeigt in der Mitte des 18. Jahrhunderts deutlich den Fehlschluß der vollständigen politischen Erfassung des Wirtschaftsprozesses«20, fasst Michel Foucault diese Abtrennung der Ökonomie vom Bereich souveräner Verfügungsgewalt zusammen.

Foucault zieht aus der Eigengesetzlichkeit der ökonomischen Struktur, ihrem Funktionieren ohne einen souveränen Willen, der sie als Ganze erfassen und beherrschen könnte, den Schluss, die Politische Ökonomie sei »eine atheistische Disziplin; […] eine Disziplin ohne Gott; […] eine Disziplin ohne Totalität«21. Für Marx aber ist diese Eigenschaft ein Zeichen für den religiösen Charakter der kapitalistischen Alltagspraktiken. Zwar kennt die Politische Ökonomie keinen Gott, der alles sieht und überwacht, aber dafür kennt sie mystische Fetische, tote Dinge, die Eigenschaften des Lebendigen haben sollen. Plötzlich hat das Kapital – Produkt von geleisteter Arbeit, aber selbst bloß noch eine Ansammlung von Dingen – die Fähigkeiten zu produzieren, zu organisieren, zu berechtigen und sich fortzupflanzen.

So wie für Gans die Rechtsphilosophie erst beginnt, wenn die Menschen selbst die Gesetze machen und kein Gott, so beginnt für Marx die Politische Ökonomie als wirkliche Wissenschaft erst, wenn sie die Fetische entlarvt und eine Perspektive eröffnet, sich die ökonomischen Verhältnisse wieder politisch anzueignen, um so der Freiheit Geltung zu verschaffen. Das heißt, der Gegenstand der Politischen Ökonomie ist für Marx tatsächlich ein politischer Gegenstand, etwas, das historisch entstanden ist und auch in seiner Gesamtheit historisch verändert werden kann. Die Analyse der Politischen Ökonomie liefert deshalb für ihn keine ewig gültigen Sätze, sondern Beschreibungen einer spezifischen Struktur, die es in ihrem Funktionieren und ihren materiellen wie geistigen Wirkungen zu verstehen gilt.

Wenn Marx in irgendeiner Hinsicht mit Hegel brechen wird, dann tut er dies am ehesten an dem Punkt, an dem er in den ökonomischen Strukturen nicht länger das Vernünftige sucht, das ihnen innewohnt, sondern die Verkehrungen und Mystifikationen, die die Verwirklichung von Freiheit in einem umfassenden Sinn verhindern, indem sie Freiheit in einer spezifischen Form realisieren.

Der Bruch, den Marx in dieser Frage sucht, ist kein völliger Bruch mit Hegel. Eher handelt es sich um eine Komplizierung des Hegel’schen Ansatzes, in dem die geschichtlich entstandenen Formen der Institutionen jeweils Momente der Freiheit realisieren. Denn nun zeigt die kritische Analyse dieser Momente, dass sie selbst zu Hindernissen werden können. Staat und Eigentum, die bei Hegel unverzichtbare Bestandteile einer anspruchsvollen Konzeption von Freiheit waren, werden so problematisiert.

Marx stellt immer noch die Frage nach der Verwirklichung der Freiheit. Aber er rekonstruiert die Freiheit nicht mehr wie Hegel als eine Idee, die ihre Wirksamkeit und Vernünftigkeit in der Geschichte bereits erwiesen hat und nur noch begriffen zu werden braucht, um mit vollem Bewusstsein verwirklicht werden zu können. Er will keine bloße Zusammenstellung von Konzepten oder abstrakten Prinzipien wie Solidarität, Brüderlichkeit, Liebe oder Egoismus erfinden, die angeblich das Problem der Verwirklichung der Freiheit lösen. Solche Entwürfe sind für ihn schnell bloße Utopie und als solche – darin bleibt er Hegel treu – zu verwerfen.

Marx sucht stattdessen die Auseinandersetzung mit der Weise, wie sich die Gesellschaft, in der er lebt, erhält. In dieser gesellschaftlichen Organisation stecken die Keime, aus denen die Unfreiheit hervorwächst. Jede alternative Vergesellschaftung muss ebenso eine Weise finden, in der sie sich selbst erhalten kann, in der sie alles zu produzieren vermag, was sie aktuell benötigt und was es ihr erlaubt, sich zu entwickeln. Und Marx sieht recht bald die Gefahr, dass alle Alternativentwürfe, die den aktuellen Modus der Reproduktion der Unfreiheit nicht durchschaut haben, diese Keime in die angeblich neue Gesellschaft einschleppen. Deshalb nähert er sich der Verwirklichung der Freiheit auf einem anderen Weg. Er sucht die Hindernisse, die sich ihr in den Weg stellen. Und er sucht diese Hindernisse nicht auf abstrakte Weise, sondern will sie ganz konkret begreifen, in ihrer Vielfalt, in ihrer Komplexität und ihrem Zusammenhang.

Vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum dieses Denken an kein Ende kommt. Das Problem, vor dem es steht, lässt sich zwar benennen, aber es lässt sich nicht so leicht identifizieren. Marx fasst es im Laufe seiner Analyse immer wieder neu. Manchmal geht es darum, es einfach noch präziser zu beschreiben, oft ändert sich aber auch der Gegenstand. Marx bricht mit Paradigmen, verwirft Ansätze und Darstellungsweisen, aber immer mit dem Ziel, eine Kritik der Gesellschaft zu gewinnen, die die praktische Schwäche der Hegel’schen Philosophie überwindet. Marx’ Problem besteht also darin, die Prinzipien zu erkennen, nach denen die moderne kapitalistische Gesellschaft funktioniert, weil diese Prinzipien sachliche Zwänge und eine Deformation des Bewusstseins erzeugen, die die Verwirklichung der Freiheit aufhalten. Gegen Sachzwang und Bewusstseinsdeformation will Marx Erkenntnisse setzen, die eine radikale Praxis der Gesellschaftsveränderung, die Revolution, ermöglichen. Doch um so radikal zu werden, gilt es, zuerst die richtige Ebene und ein angemessenes Maß an Komplexität für die Kritik zu finden.

I. KRITIK
(1843/44)

2. Nach der Religionskritik: Gegen Staat, Recht und Eigentum

Die Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie – der einzige Teil dieser Kritik, den Marx selbst jemals veröffentlicht hat – beginnt mit dem Satz: »Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendigt, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.«1 Mit diesem programmatischen Satz schreibt sich Marx in den junghegelianischen Diskurs um den Protestantismus ein und schlägt gleichzeitig vor, die in diesem Rahmen geführte Diskussion zu überschreiten. Die Bewegung des anknüpfenden Loslösens vollzieht Marx in seinem Text dabei zweimal. Zunächst zieht er eine Konsequenz aus der hegelianisch-junghegelianischen Deutung der Religion überhaupt. Diese Deutung der Religion hatte Bruno Bauer drei Jahre zuvor, 1841 und folglich genau in jenem Jahr, in dem auch Ludwig Feuerbachs Wesen des Christentums mit der gleichen Stoßrichtung erschien und sofort Furore machte, so zusammengefasst:

»Das ist nach Hegel die Versöhnung der Vernunft mit der Religion, daß man einsieht, es gebe keinen Gott […] Das realisierte Selbstbewußtsein ist jenes Kunststück, daß das Ich sich einerseits wie in einem Spiegel verdoppelt und endlich nachher, wenn es sein Spiegelbild jahrtausendelang für Gott gehalten hat, dahinterkommt, daß jenes Bild es selber sei. […] Die Religion hält jenes Spiegelbild für Gott, die Philosophie hebt die Illusion auf und zeigt dem Menschen, daß hinter dem Spiegel niemand steckt, daß es also nur der Widerschein des Ichs sei, mit welchem bis dahin dasselbe verhandelt, welchem es Opfer, Gebete und Huldigungen dargebracht habe.«2

Für Marx ist eine solche Haltung zur Religion, »welche den Menschen für das höchste Wesen des Menschen erklärt«3, die Grundlage aller Kritik, weil sie es ist, die neue, entscheidende Fragen ermöglicht. Zwar sei die Religion »das Opium des Volks«, aber dieses Opium sei »die Protestation gegen das wirkliche Elend«4. Wenn nun die Kritik fordere, die Illusionen der Religion aufzugeben, dann nicht, damit das Elend illusionslos ertragen würde, sondern um zum Kern der Probleme, zur »Welt des Menschen, Staat, Sozietät« vorzudringen.

Wenn die Religionskritik enthüllt hat, dass hinter dem Glauben an das Göttliche menschliche Verhältnisse stehen, die es erfordern und hervorbringen, dann muss die Religionskritik zu einer Kritik dieser menschlichen Verhältnisse werden. »Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in die Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik5

Die Fragen, die die Kritik der Religion ermöglicht hat, sind die Fragen, wie solche Verhältnisse zu kritisieren sind. Aus dem französischen Exil, wohin er wegen der Zensur in Deutschland und drohender politischer Verfolgung6 ausgewichen ist, um gemeinsam mit Arnold Ruge die Deutsch-Französischen Jahrbücher7 herauszugeben, blickt Marx voll Abscheu auf die Verhältnisse zurück, denen er entflohen war. Aber indem er die deutschen Zustände als »unter dem Niveau der Geschichte« und damit als »unter aller Kritik« charakterisiert,8 stellt sich nur umso mehr die Frage, welche Situation mit welchen Mitteln kritisiert werden soll. Marx geht den gleichen Weg wie viele seiner Weggefährten und stellt der entwickelten Version der bürgerlichen Gesellschaft in Frankreich die Analysen der deutschen Philosophie, das heißt der Philosophie Hegels, gegenüber.9 Nur dessen Staats- und Rechtsphilosophie befindet sich für ihn mit der fortgeschrittensten sozialen und politischen Entwicklung in Frankreich, England und den USA auf Augenhöhe. Diese Philosophie zu kritisieren ist für Marx 1843/44 »beides, sowohl die kritische Analyse des modernen Staats und der mit ihm zusammenhängenden Wirklichkeit als auch die entschiedene Verneinung der […] spekulative [n] Rechtsphilosophie selbst«10. Gegen jene, die das Philosophieren aufgeben und endlich zur Tat schreiten wollen, beharrt Marx darauf, dass man sich von der Hegel’schen Philosophie nicht einfach abwenden könne, die Hegel’sche Philosophie – so die Marx’sche Überzeugung – muss verwirklicht werden, um überwunden werden zu können: »Ihr könnt die Philosophie nicht aufheben, ohne sie zu verwirklichen11

Die Verwirklichung einer Philosophie ist aber selbst kein philosophischer Akt, auch wenn für Marx erst die kritische Auseinandersetzung mit ihr die Fragen der Zeit offenbart. Die Verwirklichung der Philosophie ist nur als ihre Aufhebung möglich. Sie ist Praxis, der Übergang von der »Waffe der Kritik« zur »Kritik der Waffen«.12 Das klingt entschlossen und revolutionär. Doch an dieser Stelle, an der es darum gehen müsste, wie der Übergang von der Theorie zur materiellen Gewalt vollzogen werden soll, wie eine Theorie die Massen ergreift und das theoretische Freiheitsversprechen der Philosophie praktisch eingelöst wird, an dieser revolutionstheoretisch entscheidenden Stelle erfolgt zum zweiten Mal jene Bewegung, mit der Marx an den junghegelianischen Religionsdiskurs anknüpfend diesen überschreiten will.

Wie Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Weltgeschichte betrachtet auch Marx die Reformation als die geistige Revolution in Deutschland. Sie hatte einen Freiheitsgewinn zur Folge, weil sie die Innerlichkeit stärkte und damit Überzeugungen an die Stelle des hierarchisch gebotenen Gehorsams setzte. Schon Hegel fragt aber mit dem Blick auf die jeweiligen Verwirklichungsdefizite der Freiheit in Deutschland und Frankreich: »[W]arum sind die Franzosen sogleich vom Theoretischen zum Praktischen übergegangen, wogegen die Deutschen bei der theoretischen Abstraktion stehenblieben«? Die Antwort findet Hegel in der Innerlichkeit, in der Gesinnung, die der Protestantismus hervorbringt: »Dem formellen Prinzip der Philosophie in Deutschland […] steht die konkrete Welt und Wirklichkeit mit innerlich befriedigtem Bedürfnis des Geistes und mit beruhigtem Gewissen gegenüber.«13 Im gemeinsamen Glauben an die Freiheit des Christenmenschen akzeptieren die Deutschen die herrschenden Verhältnisse. Marx urteilt ganz ähnlich, der Protestantismus habe »den Leib von der Kette emanzipiert, weil er das Herz in Ketten gelegt«14. Beide, Marx und Hegel, hoffen aber, dass die Dynamik von Reformation und Revolution noch nicht erschöpft ist, sondern früher oder später über den status quo hinaustreibt.

Was aber ist genau das Treibende, auf das die beiden hier setzen? Sicher spielt der aktive Wille zu einer dem Menschen angemessenen Gesellschaftlichkeit, zur »sozialen Freiheit«, eine Rolle. Doch für Marx reicht es nicht, dass »der Gedanke zur Wirklichkeit drängt«, tatsächliche Veränderung bedarf auch eines »passiven Elementes, einer materiellen Grundlage«, »die Wirklichkeit muß sich selbst zum Gedanken drängen«15. Was mit diesen Formeln gemeint ist, erläutern die letzten Seiten der Einleitung. Von radikalen Bedürfnissen ist dort die Rede und vom Enthusiasmus, mit dem sich eine Klasse als Repräsentant der gesamten Gesellschaft setzen muss, um ihren revolutionären Forderungen die nötige gesellschaftliche Resonanz zu verschaffen. Das Passive, Materielle sind hier also die in einer Gesellschaft verbreiteten Wünsche und Bedürfnisse, deren Verwirklichung und Befriedigung jene Gruppe verspricht, die gegen die herrschende gesellschaftliche Ordnung opponiert.

Im Deutschland der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hingegen herrsche überall, auch bei den Klassen, »jener bescheidene Egoismus, welcher seine Beschränktheit geltend macht und gegen sich geltend machen läßt«16. Hier, so die Marx’sche Einschätzung, will niemand im Namen der ganzen Gesellschaft Ansprüche formulieren. Alle wollen ihre Interessen lediglich als je besondere gewahrt wissen. Doch Marx sieht schon eine Klasse im Entstehen begriffen, deren Ausschluss aus der bürgerlichen Gesellschaft so vollkommen ist, deren Leiden so umfassend sind, dass sie gar nicht anders kann, als ihre Forderungen als universelle Forderungen zu stellen.

Statt die Gewährung von Privilegien für sich könne das Proletariat – und keine andere als diese Klasse der Ausgebeuteten, Erniedrigten und Unterdrückten ist hier gemeint – nur die Aufhebung aller Privilegien fordern, weil es von allen Begünstigungen und insbesondere vom Eigentum ausgeschlossen ist. Seine privilegienlose Existenz sei der Gegensatz zur bürgerlichen Existenz schlechthin, und die Gesellschaft, in der es befreit ist, sei deshalb die Überwindung der bürgerlichen Gesellschaft.

Formelhaft kommt in der Einleitung von Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie vieles zusammen, wofür das Marx’sche Denken berühmt und berüchtigt ist: Revolutions- und Klassentheorie, Materialismus und eine Kritik der ökonomischen Verhältnisse. Solche programmatischen Wendungen – und in dem Text wimmelt es geradezu von kanonisch gewordenen Formulierungen, die bis heute immer und immer wieder zitiert werden – bedeuten allerdings nichts, solange Marx sie nicht durch Inhalte konkretisiert. Das aber ist sein Bestreben und wird es bis zu seinem Tod bleiben. Im Umfeld der »Einleitung« beginnt diese Arbeit. Sie schlägt sich zum einen in dem zweiten Manuskript nieder, das Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie gehört und von Marx nicht veröffentlicht wurde: in der Kritik des Hegelschen Staatsrechts. Zum anderen ist sie in einer Auseinandersetzung mit Bruno Bauers seinerzeit viel besprochenem Buch Die Judenfrage zu finden.

Bauers Judenfrage ist schon bei ihrem Erscheinen ein gewollt skandalöses Buch. Es steht im Kontext einer Debatte um die Aufhebung eines diskriminierenden Dekrets, das Napoleon für die Rheinprovinzen erlassen hatte und das die preußische Regierung auch nach den Befreiungskriegen in Kraft ließ und in seiner Wirkung sogar noch verschärfte. So musste beispielsweise Marx’ Vater, Heinrich Marx, der während der napoleonischen Zeit Anwalt geworden war, zum Protestantismus übertreten, um seinen Beruf als Advokat unter der 1815 beginnenden preußischen Herrschaft weiter ausüben zu können – und das sehr wahrscheinlich bereits vor der Geburt seines Sohnes Karl am 5. Mai 1818.17 Nun, 1843, empfahl der Rheinische Landtag, der selbst nicht zur Gesetzgebung befugt war, mit überwältigender Mehrheit und unter großer öffentlicher Zustimmung Regierung und König in Berlin erneut die Aufhebung des »Infamen Dekrets« und die vollständige Emanzipation der Juden.

Bauer hingegen nimmt die öffentliche Debatte zum Anlass, ausgehend von der junghegelianischen Kritik der Religion die These zu vertreten, als Juden könnten die Juden nicht emanzipiert werden. Als Menschen sei ihre Emanzipation zwar durchaus möglich und sogar erwünscht, aber Voraussetzung der menschlichen Emanzipation sei und bleibe die Loslösung von der Religion und folglich – im konkreten Fall – vom Judentum.18 Der liberale Einsatz für jüdische Emanzipation, also für die volle rechtliche und politische Anerkennung, sei lediglich eine Ablenkung von der menschlichen Emanzipation, der Emanzipation im strengen Sinn.

Bauers Schrift löste unmittelbar eine Vielzahl von meist ablehnenden Reaktionen aus. Marx’ Auseinandersetzung mit Bauers Judenfrage gehört zwar auf den ersten Blick auch zu den zahlreichen Verteidigungen der bürgerlichen Emanzipation der Juden, sie spannt aber einen weiteren Bogen, der die Frage der Befreiung nicht auf die Frage der jüdischen Emanzipation beschränkt und den Marx’schen Text auf diese Weise nicht nur zu einem Schlüsseltext für die Kritik der bürgerlichen Rechte, sondern auf den zweiten Blick zudem zu einer Verteidigung Bauers und seines Begriffs der menschlichen Emanzipation macht. Der darin enthaltene Spagat gelingt Marx, indem er die bürgerliche oder – wie er sie nennt – politische Emanzipation begrifflich von der menschlichen Emanzipation trennt und Bauer vorhält, beides durcheinanderzuwerfen.

Die politische Emanzipation aller Menschen, gleich welcher religiösen Überzeugung, ist für Marx nicht nur möglich, sondern geradezu geboten, weil im bürgerlichen Rechtszustand die Religion zu »einer rein individuellen Angelegenheit«19 geworden ist. Sie hat nichts mehr mit dem Geist des Staates oder dem Wesen der Gemeinschaft zu tun, wie Marx mit Blick auf die nordamerikanischen Verhältnisse bemerkt, sondern ist zur bloßen Privatangelegenheit (Marx schreibt religionskritisch: »Privatschrulle«) geworden. Jude sein und Staatsbürger sein sind zwei voneinander vollkommen getrennte Sachen und folglich durchaus miteinander verträglich.

Marx erkennt im betonten Kontrast zu Bauers These an, dass die politische Emanzipation »ein großer Fortschritt« sei: »Wir sprechen hier von wirklicher, von praktischer Emanzipation.«20 Doch auch wenn die bürgerlichen Freiheiten und ihre Anerkennung als allgemeine Menschenrechte ein großer Schritt bei der Verwirklichung der Freiheit seien, menschliche Emanzipation, wirkliche Befreiung seien sie dann doch noch nicht. Der Grund dafür liegt für Marx in der Form, die die politische Emanzipation hat und die einen ganz spezifischen Freiheitsbegriff verwirklicht.

Die Freiheit der bürgerlichen Rechte ist die Freiheit des einzelnen, auf sich bedachten Menschen. »Keines der sogenannten Menschenrechte geht also über den egoistischen Menschen hinaus, über den Menschen, wie er Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft, nämlich auf sich, auf sein Privatinteresse und seine Privatwillkür zurückgezogenes und vom Gemeinwesen abgesondertes Individuum ist. […] Das einzige Band, das sie zusammenhält, ist die Naturnotwendigkeit, das Bedürfnis und das Privatinteresse, die Konservation ihres Eigentums und ihrer egoistischen Person.«21

Marx stört zweierlei an dieser Freiheitsdefinition, die in den bürgerlichen Menschenrechten steckt. Zum einen naturalisiert sie die Bedürfnisse und Privatinteressen. Es wird nicht gefragt, ob diese Bedürfnisse und Interessen in irgendeinem Sinne »gut« oder »angemessen« sind. Es wird auch nicht gefragt, was diese Bedürfnisse und Interessen hervorgebracht hat, sondern mit der Erklärung der Rechte, wird das, was die Rechte schützen, zur unpolitischen Natur, die es anzuerkennen und zu respektieren gilt.22 Zum anderen führt die politische Emanzipation paradoxerweise zu einer Entpolitisierung entscheidender Lebensbereiche. »Die politische Revolution […] zerschlug die bürgerliche Gesellschaft in ihre einfachen Bestandteile, einerseits in die Individuen, andrerseits in die materiellen und geistigen Elemente, welche den Lebensinhalt, die bürgerliche Situation dieser Individuen bilden. Sie entfesselte den politischen Geist, […] befreite ihn von seiner Vermischung mit dem bürgerlichen Leben und konstituierte ihn als die Sphäre des Gemeinwesens, der allgemeinen Volksangelegenheit in idealer Unabhängigkeit von jenen besondern Elementen des bürgerlichen Lebens.«23

Der Fehler eines solchen Freiheitsverständnisses steckt für Marx in den Trennungen, die es produziert. Es trennt die Individuen voneinander, die doch nur gemeinsam politisch handeln können. Zwar können die Einzelnen sich immer noch auf ein politisches Gemeinsames beziehen und tun das auch, aber sie tun es mit Bezug auf eine besondere abgetrennte Sphäre: den Staat. Dieser bleibt dabei von der bürgerlichen Gesellschaft geschieden, von dem Ort, an dem die Menschen produzieren und ihre Interessen verfolgen. Seine ganze Legitimation bezieht der Staat aus dem rechtlichen Schutz der Sphäre der besonderen, »egoistischen« Interessen.

Menschliche Emanzipation, wirkliche Befreiung ist für Marx aber nur möglich, wo diese Trennungen aufgehoben werden, wo der Mensch seine eigenen Kräfte zu produzieren und die Wirklichkeit zu gestalten »als gesellschaftliche Kräfte erkannt und organisiert hat und daher die gesellschaftliche Kraft nicht mehr in der Gestalt der politischen Kraft von sich trennt«24.

Für Marx heißt Freiheit, das gesellschaftliche Leben als gemeinsames Leben auch gemeinsam zu gestalten. Dieser Freiheit stehen die bürgerlichen Rechte im Wege, auch wenn sie die Menschen aus den Verhältnissen des Feudalismus befreit haben, die alle Verhältnisse zwar als Verhältnisse des Gemeinwesens und in diesem Sinne als »politisch« begriffen, aber ihrer gemeinsamen Gestaltung keinen Raum boten. Die bürgerlichen Rechte, die aus solch allzu engen Verhältnissen emanzipieren, verhindern jedoch durch die Trennungen, die sie produzieren, dass die Individuen das gesellschaftliche Leben als ein gemeinsames erfahren können.

Die Kritik der Trennung von bürgerlicher Gesellschaft und Staat sowie der Gegenentwurf eines gemeinsamen Lebens bestimmen auch die Überlegungen in Zur Kritik des Hegelschen Staatsrechts. Die Kritik der Politik ist hier vor allem eine Kritik des Staates, der über der Gesellschaft steht und diese beherrscht. Das Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft beschreibt Marx im Anschluss an eine Hegel’sche Formulierung als »die Identität zweier feindlicher Heere, wo jeder Soldat die ›Möglichkeit‹ hat, durch ›Desertion‹ Mitglied des ›feindlichen‹ Heeres zu werden«25 Der Staat dagegen, jenes »feindliche Heer«, dem sich das Volk in den modernen bürgerlichen Ordnungen gegenübersieht, ist zunächst einmal bloß ein abstraktes Konzept.