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Band 8

Das
magische Tor
im Kaukasus

von
Friedhelm Schneidewind

Mit einem Epilog
von Bernhard Hennen

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KARL-MAY-VERLAG
BAMBERG • RADEBEUL

Herausgegeben von

Thomas Le Blanc und Bernhard Schmid

In der Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ sind bisher erschienen:

Band 1 – Alexander Röder Im Banne des Mächtigen (auch als Hörbuch)

Band 2 – Alexander Röder Der Fluch des Skipetaren

Band 3 – Alexander Röder Der Sturz des Verschwörers

Band 4 – Alexander Röder Die Berge der Rache

Band 5 – Alexander Röder, Tanja Kinkel u. a. Sklavin und Königin

Band 6 – Alexander Röder, Thomas Le Blanc Auf der Spur der Sklavenjäger

Band 7 – Jacqueline Montemurri, Bernhard Hennen Der Herrscher der Tiefe

Band 8 – Friedhelm Schneidewind, Bernhard Hennen Das magische Tor im Kaukasus

Thomas Le Blanc (Hrsg.) Auf phantastischen Pfaden Eine Anthologie mit den Figuren Karl Mays

Weitere Informationen zur Reihe „Karl Mays Magischer Orient“ finden Sie im Internet auf

www.magischer-orient.karl-may.de

© 2019 Karl-May-Verlag, Bamberg

Alle Urheber- und Verlagsrechte vorbehalten

Illustration: Elif Siebenpfeiffer

eISBN 978-3-7802-1408-9

www.karl-may.de

Inhalt

Erstes Kapitel Eine Bahnfahrt mit Folgen

Zweites Kapitel Fasane und Rosen

Drittes Kapitel Ein unerwartetes Wiedersehen

Viertes Kapitel Gräber und Türme

Fünftes Kapitel Kampf im Palast

Sechstes Kapitel Überraschende Begegnungen

Siebtes Kapitel Schach ohne Matt

Achtes Kapitel Wölfe in der Nacht

Neuntes Kapitel Ein alter Freund

Zehntes Kapitel Von Tigern und Schlangen

Elftes Kapitel Bärenjagd im Kaukasus

Zwölftes Kapitel Eine grausame Schlächterei

Dreizehntes Kapitel Doppelter Hinterhalt

Vierzehntes Kapitel Sturz vom Sockel

Fünfzehntes Kapitel Goldgräber-Stimmung in Mestia

Sechzehntes Kapitel Ein Gastmahl in Georgien

Siebzehntes Kapitel Geheimnisse im Turm

Achtzehntes Kapitel Ein Ja sei ein Ja

Neunzehntes Kapitel Adlerauge und Katzenohren

Zwanzigstes Kapitel Kampf mit Feuer und Wasser

Einundzwanzigstes Kapitel Verhör und Verhandlung

Zweiundzwanzigstes Kapitel Die dünne Wand

Dreiundzwanzigstes Kapitel Neue Spuren

Vierundzwanzigstes Kapitel Hirschjäger und Wisentschlächter

Fünfundzwanzigstes Kapitel Menschenschinder und Entführer

Sechsundzwanzigstes Kapitel Der Riss zwischen den Welten

Siebenundzwanzigstes Kapitel Ein Tor wird geschlossen

Achtundzwanzigstes Kapitel Kampf im Kessel

Neunundzwanzigstes Kapitel Der Fütterer der Wölfe

Dreißigstes Kapitel Glückliches Ende

Bernhard Hennen Epilog

Erstes Kapitel

Eine Bahnfahrt mit Folgen

„Sihdi, glaubst du, diese neue Bahn wird irgendwann auch nach Batumi fahren? Wir wären damit bestimmt um einen Tag schneller gewesen. Und Batumi ist doch der größere der beiden Häfen, die Georgien am Schwarzen Meer hat.“ Mein treuer Freund und Begleiter Hadschi Halef Omar wurde unterbrochen, als die Pfeife der Lokomotive schrillte – das Signal für die letzten Reisenden hier in Poti, einzusteigen. Kurz danach fuhr der Zug los, nach Tiflis, georgisch Tbilissi.

Wir beide saßen schon recht gemütlich in einem ansonsten leeren Abteil. Die Wagons waren noch ziemlich neu, war doch die Bahnstrecke von Poti nach Sestaponi erst vor fünf Jahren eröffnet worden und hatte damit den Anschluss an die ein Jahr zuvor fertiggestellte Bahnstrecke Sestaponi–Tiflis geschaffen. Wir genossen es, uns in den gepolsterten Sitzen zurücklehnen und die Beine ausstrecken zu können, nach dem Gewaltritt, den wir hinter uns hatten. Von den Weidegründen der Haddedihn in der nördlichen Dschesireh waren wir rund 1.000 Kilometer geritten, und das in nur acht Tagen; unser Auftrag duldete keinen Aufschub. Wir hatten einen Termin in Kutaissi!

Die letzten beiden Tage waren dagegen regelrecht erholsam gewesen.

Diese Zeit hatte uns die Bahn geschenkt.

Ich riss mich aus meinen Gedanken und lächelte Halef an.

„Die Eisenbahngesellschaft Poti-Tbilissi hat hier, mit Poti, begonnen, weil Batumi zum Osmanischen Reich gehört, dieser Teil Georgiens hingegen zum Russischen Kaiserreich.“

Der Zug bremste und hielt zum ersten Mal an, im Dörfchen Sag.

Halef zeigte auf die Menschen, die in die Wagons stiegen.

„Sind wir jetzt in Europa, Sihdi? Die Menschen hier sehen so ganz anders aus als bei uns im Orient.“

Ich musste ihm Recht geben. Die Kleidung der meisten Männer war sehr europäisch; teils trugen sie russische Uniformen, teils moderne Anzüge, wie man sie auch in Berlin oder Paris sehen konnte, manche aber auch Anzüge aus Leder oder Leinenstoff, ähnlich der Trapperkleidung, wie ich sie üblicherweise anhatte, wenn ich mich in Amerika aufhielt; nur einige wenige Männer zeigten sich in Trachten. Die meisten Frauen hatten weite Blusen an, oft mit Jacken darüber, und lange wehende Röcke. Sie waren unverschleiert; bei manchen der älteren Frauen verhüllte ein Kopftuch das Haar.

Ich musterte Halef, der sein übliches arabisches Gewand trug; auch ich war noch orientalisch gekleidet.

„Und was sprechen die Menschen hier für eine Sprache, Sihdi?“, fragte er mich, nachdem der Pfiff der Lokomotive verhallt war und während der Zug anfuhr. „Verstehst du sie?“

Ich hatte schon in Poti und während des kurzen Aufenthalts hier aufmerksam gelauscht und mich auf der Reise natürlich infomiert.

„Es gibt mehrere einheimische Sprachen. Wir sind hier im Fürstentum Mingrelien oder Megrelien, dem ‚Land der tausend Quellen‘. Die Einheimischen nennen sich Megrelen, werden aber auch Kolcher genannt, weil hier das antike Kolchis gelegen hat. Ihre Sprache ist eng mit der georgischen und der swanetischen verwandt. Ich spreche keine dieser Sprachen, aber wir dürften hier überall mit Russisch durchkommen; das Land gehört seit Anfang des Jahrhunderts zum russischen Reich, wie seit einigen Jahren ganz Georgien. Und natürlich müssen die Georgier die Sprache ihrer Herren beherrschen.“

Ich interpretierte Halefs gequälte Miene offensichtlich richtig.

„Sihdi, du sprichst natürlich Russisch und bewegst dich wie ein Fisch im Wasser unter diesen Menschen hier. Aber was nützen mir die arabischen Dialekte, die ich beherrsche, und das bisschen Englisch und Deutsch, das ich von dir und Sir David gelernt habe? Vielleicht hätte ich doch bei den Haddedihn bleiben sollen, bei meiner geliebten Hanneh, bei meinem Sohn Kara, bei Amscha und Djamila.“

Ich konnte meinen Freund gut verstehen, war es uns doch erst vor Kurzem gelungen, die beiden jungen Frauen aus der Gewalt levantinischer Piraten zu befreien, und das auch nur mit Hilfe der legendären Teuta. Die Bande hatte Halefs Frau und Schwägerin entführt, aus Rache dafür, dass wir einige Zeit zuvor eine Gruppe von Sklavinnen aus ihrer Gewalt befreit hatten, und weil sie Halef für einen konkurrierenden Sklavenhändler hielten, den sie beseitigen wollten. Mit Hilfe der mächtigen Piratenwitwe Teuta und des Magiers Haschim hatten wir die beiden Frauen befreien und sogar eine friedliche Lösung mit den Piraten aushandeln können. Hanneh und ihre Mutter Amscha waren in ihre Heimat gereist, wir Männer (und Djamila, die sich an Bord geschlichen hatte), wurden vom britischen Geheimdienst genötigt, in Kreta ein geheimnisvolles Labyrinth zu erforschen. Durch Kapitän Nemo und die Gefangenschaft auf dessen Nautilus wurde unsere Rückreise zu den Haddedihn erheblich verzögert. Und dann hatte Halef die Gesellschaft seiner jungen Familie kaum genießen können, denn nach nur wenigen Tagen im Beduinenlager erreichte uns unser Auftrag. An diesen erinnerte ich meinen Freund nun, um ihn aufzumuntern.

„Ich kann dich gut verstehen, mein lieber Halef. Umso mehr bewundere ich deine Tapferkeit und deine Entschlossenheit, mich zu begleiten auf dieser Queste, die mir Marah Durimeh auferlegt hat, in ein fremdes Land, dessen Sitten du nicht kennst und dessen Sprache du nicht sprichst. Du hättest bei Weib und Kind bleiben können; dass du mich aus Freundschaft begleitest, rechne ich dir hoch an, und ja, ich bin darüber sehr froh.“

Halefs Miene hellte sich auf.

„Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich dich alleine in diese Gefahr hätte ziehen lassen und dir dann etwas zugestoßen wäre. Ausruhen in den Zelten meines Stammes kann ich mich, wenn ich ein alter Mann bin. Jetzt ist die Zeit, die Welt von bösen Menschen zu befreien, ganz besonders, wenn Marah Durimeh, die hochgeschätzte Königin, uns darum bittet. Und wenn wir dabei ein paar spannende Abenteuer erleben und interessante Menschen kennenlernen, soll es mir recht sein.“

Halefs Augen funkelten, unbewusst hatte er sich aufgerichtet und den Kopf stolz erhoben. So klein er war, so wenig imposant er wirkte mit seinen spärlichen Barthaaren – mir wurde wieder einmal bewusst, wie sehr sich mein ehemaliger Diener und jetziger guter Freund zu einem klugen und tapferen Mann entwickelt hatte. Nur wenigen Männern würde ich mein Leben eher anvertrauen als ihm – meinem Blutsbruder Winnetou, meinem Freund Scheik Haschim … Halef war wohl ein wenig impulsiver als diese beiden, weniger bedacht in Wort und Tat, doch mein Vertrauen in ihn war nicht geringer. Da hatte ich schon gestandene Männer kennengelernt, die weitaus unvernünftiger und unzuverlässiger gewesen waren; ich musste an Amad el Ghandur denken und den einen oder anderen Westmann wie Old Surehand und Old Firehand.

Wieso kamen mir solche Gedanken? Weil ich seit Längerem zum ersten Mal wieder über meine Trappergewandung nachgedacht hatte? Ich musterte Halef noch einmal gründlich, dann nickte ich ihm zu.

„Mein lieber Halef, wir sind schon in anderen Gegenden gewesen, wo wir uns mit der Sprache schwertaten. Doch muss ich dich bitten, dein Gewand einzutauschen gegen eine Kleidung, wie sie hier üblich ist. Auch ich werde das tun.“

Mein treuer Freund riss für einen Moment Augen und Mund auf, dann platzte es aus ihm heraus:

„Nein, Sihdi, das kannst du nicht verlangen. Ich bin ein Sohn der Wüste, ein Bedu, ein stolzer Araber. Ich werde nicht solche engen Beinkleider tragen wie diese Männer hier.“ Er zeigte nach draußen auf den Bahnsteig; wir hielten gerade am Bahnhof Tekleti. „Und warum sollte ich meinen Turban ablegen, den Schmuck meines Hauptes? Und meinen Oberkörper in solch ein enges Jacket zwängen?“

Wir hatten wohl schon die halbe Strecke zurückgelegt auf unserer Fahrt zu dem Bahnhof, an dem wir in den Zug nach Kutaissi umsteigen mussten. Bis wir in Kutaissi angekommen sein würden, wollte ich Halef überzeugt haben. Ich wies auf einen älteren Mann.

„Schau dir diesen an. Er trägt Hosen, aber doch weit und bequem, ganz ähnlich der Sirwal, der langen und weiten Pluderhose, wie sie in weiten Teilen der arabischen Halbinsel üblich ist. Nur trägt er darüber keine Dischdascha, kein knöchellanges Gewand, wie es bei euch die Hose in der Regel verbirgt. Und denke an den unglücklichen Hassan Ardschir Mirza, der diese teuren weiten Seidenhosen trug.“

„Ja, Sihdi, aber über diesen Sirdschame hatte er stets ein Pirahan an, ein Hemd, und sein Alkalik, sein Unterkleid, reichte ihm bis unter die Knie. Dazu kamen dann noch Kaba und Balapusch, Rock und Oberkleid. Aber dieser Mann hier hat ja nur ein Hemd und eine offene Weste an, und seine Jacke bedeckt gerade mal die Hüften!“

Ich musste lachen.

„Mein guter Halef, sei froh, dass wir im Osten Europas sind, wo die Sitten und Bräuche und auch die Kleider noch einigermaßen dezent sind und vieles bedecken. In westlichen Ländern ist es hin und wieder modern, ganz körperbetonte Anzüge zu tragen, mit schmaler Taille und engen Hosen. Und so sieht man an der Vorderseite alles, was den Mann auszeichnet, und viele Hosen haben vorne einen Hosenschlitz, den man mit Knöpfen verschließt, um die Hose nicht mehr herunterziehen zu müssen, wenn einen ein Bedürfnis überkommt.“

Halef schaute mich mit großen Augen an und schüttelte sich dann.

„Brr! Du machst keinen Scherz mit mir, nicht wahr, Sihdi? So etwas würde ich nie anziehen. Aber eine weite Hose wie vorhin der Mann auf dem Bahnhof …“ – wir waren schon längst wieder unterwegs –, „dazu kann ich mich überreden lassen, wenn wir ein passendes Obergewand finden.“

„Das wird uns in Kutaissi sicher gelingen, das ist keine kleine Stadt. Doch schau, wir nähern uns dem Bahnhof Rioni. Hier müssen wir umsteigen.“

Der Bahnhof, benannt nach dem Fluss, der durch Poti wie durch Kutaissi fließt, wirkte, als habe man ihn frisch herausgeputzt. An den Wänden hingen vielfarbige Girlanden aus frischen Blumen und Blättern, über dem Gleis war ein bunt bemalter Triumphbogen aus Holz aufgebaut, an dem Texte in verschiedenen Schriftarten zu sehen waren. Halef versuchte, sie zu entziffern.

„Sihdi, hier kann ich ja gar nichts lesen! Das auf der linken Seite verstehe ich überhaupt nicht, und die Schrift auf der rechten Seite sieht wieder ganz anders aus, fast wie eure Buchstaben, aber es ergibt keinen Sinn.“

Ich nickte.

„Die Inschrift rechts, das ist die russische Schrift, die man Kyrilliza nennt. Manche Buchstaben sehen aus wie die in der europäischen, der lateinischen Schrift, die du kennst, bedeuten aber etwas ganz anderes. Da steht KUTAISI, mit nur einem ‚s‘. Je nach Sprache schreibt man es mit einem oder zweien. Links, diese runden Buchstaben, die kann ich auch nicht lesen, das ist wahrscheinlich georgische Schrift.“

Wir ließen uns auf einer der Bänke nieder, die für Reisende wie uns, die auf ihren Zug warteten, an der Wand des Bahnhofgebäudes aufgestellt waren, packten von der mitgebrachten Verpflegung aus und genossen die Augustsonne. Es war früher Nachmittag, und der Zug sollte in etwa einer Stunde fahren. Es waren nur wenige Kilometer bis Kutaissi; wir hätten die Stadt auch in einer mehrstündigen Wanderung erreichen können, doch waren wir beide froh, einmal auf bequemere Weise zu reisen, zumal der Weg hügelig und es sehr heiß war. Und schließlich hat man nicht alle Tage die Gelegenheit, eine fast jungfräuliche Bahnstrecke zu befahren; beim Fahrkartenkauf in Poti hatte man uns erzählt, dass die Stichstrecke Rioni–Kutaisi erst gestern eröffnet worden war, deshalb der Schmuck am Bahnhof. Ich lehnte mich zurück, schloss die Augen und ließ die turbulenten letzten zwei Wochen noch einmal Revue passieren.

Nach unserem Abenteuer auf Kreta hatten wir beschlossen, Djamila zu den Haddedihn zu begleiten. In Tymbaki hatten wir ein Schiff nach Latakia genommen – ich erinnerte mich gerne an meine leicht skurrile Begegnung mit Professor Thadewald in Kokkinos Pyrgos, dem Tymbaki vorgelagerten Hafenort. Das Büchlein Über die Erhaltung der Kraft von Helmholtz, das er mir im Auftrag von Kapitän Nemo überreicht hatte, lag gut verwahrt in meinem Gepäck und hatte mir schon manch lehrreiche Stunde beschert. In Latakia verabschiedeten wir uns von Scheik Haschim, der nach Hause wollte, auf seinen Landsitz in der Nähe von Taif. Er würde sicher einige Wochen brauchen, da er gemütlich reisen wollte, nicht mit einem Gewaltritt, wie wir ihn erst vor wenigen Monaten hinter uns gebracht hatten, als es darum ging, Hanneh und Djamila, Halefs Frau und Schwägerin, aus der Gewalt von Sklavenjägern zu befreien. Damals hatten wir die über 2.000 Kilometer, die den Hedschas – die Region in Arabien, in der die beiden heiligen Stätten des Islams liegen, Mekka und Medina – von der nördlichen Dschesireh trennt, auf Haschims schnellen Meharis in knapp drei Wochen zurückgelegt. Diese edlen und schnellsten aller Dromedare hatten wir bei den Haddedihn gelassen, was uns später sehr zugutekommen sollte.

Beim Abschied sahen Haschim und ich uns lange in die Augen, ohne etwas zu sagen. Wir wussten, wir waren Freunde für’s Leben geworden, und so umarmten wir uns nur kurz und drückten einander. „Ich bin sicher, wir werden uns wiedersehen, so Gott will!“, gab ich ihm auf den Weg. „Inschallah!“, antwortete Haschim mit Inbrunst und schwang sich auf das Pferd, das er im Hafen gekauft hatte. „Inschallah!“, schallte es ihm von Halef hinterher, von dem Haschim sich, wie von Djamila, schon verabschiedet hatte. Ich glaubte, eine Träne im Auge meines treuen Freundes zu sehen, doch als er meinen Blick sah, wischte er sich schnell die Augen und meinte: „Der Wind bläst scharf hier am Hafen.“

Der Ritt zu den Weidegründen der Haddedihn verlief ereignislos und gemütlich. Eine weitere Woche, nach den Tagen auf dem Schiff, hatten wir Zeit, uns über unsere Erlebnisse auszutauschen. Als die Zelte des Stammes in Sicht kamen, waren Djamila und ihr Schwager, zwischen denen die Ereignisse auf Kreta alle Vorbehalte ausgeräumt hatten, die besten Freunde, und obwohl sie mich immer noch mit offensichtlichem Respekt betrachtete, waren doch auch wir inzwischen sehr vertraut miteinander. In den letzten Stunden vor unserer Ankunft allerdings war Halef sichtlich unruhig geworden. „Amscha?“, fragte ich ihn. Er nickte nur.

Doch die Ankunft bei den Haddedihn zerstreute alle seine Bedenken. Es gab nicht nur ein großes Freudenfest mit Pferderennen und viel Schießerei, sondern, für Halef viel wichtiger, eine feste und aufrichtige Umarmung durch seine Schwiegermutter. „Nun bringst du mir schon wieder eine meiner Töchter zurück. Ich hoffe, dass wir alle stets auch weiterhin so auf dich bauen können!“ Amscha fasste Djamila fest ins Auge: „Wir hingegen, junge Abenteuerin, werden uns einmal sehr ernsthaft unterhalten müssen!“ Wohl niemandem von uns aber entging ihr angedeutetes Schmunzeln, das sie auf einmal viel jünger aussehen ließ.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen.

„Entschuldigung, haben Sie Feuer?“

Vor mir auf dem Bahnsteig stand ein Mann mittleren Alters, den ich in einer Menge in einer amerikanischen Stadt sicher übersehen hätte, so unscheinbar wirkte alles an ihm: das lange Allerweltsgesicht, der braune moderne Anzug mit Weste, der helle Stetson. Dazu passte, dass er mich in unverkennbar amerikanischem Englisch angesprochen hatte. Trotz meiner orientalischen Kleidung schien er in mir einen Landsmann zu vermuten. In der Hand hielt er eine dünne, unangezündete Zigarre.

„Mir sind leider die Zündhölzer ausgegangen, und ich muss wohl warten, bis ich in eine richtige Stadt komme, um mich wieder einzudecken“, meinte er entschuldigend. „Daniel Brown mein Name, aus Georgia, USA. Ich hoffe, Sie verstehen mich.“

„Aber ja“, antwortete ich mit breitem amerikanischen Akzent. Der Mann war mir nicht ganz geheuer, deshalb verstellte ich mich etwas. „Ben Nemsi. Ich helfe Ihnen gerne aus.“

Während ich in meiner Gürteltasche nach den Zündhölzern suchte, den Blick scheinbar gesenkt, sah ich, wie Brown blitzschnell zum Bahnhofsgebäude hinüberschaute. Ich konnte niemanden sehen, doch verriet mir ein Schatten, dass im Eingang ein Mann stehen musste. Unauffällig schaute ich zu Halef, der tat, als beobachte er ein paar Tauben, die auf dem Bahnsteig nach Futter suchten. Ich erkannte aber, dass er eine Hand unauffällig auf seinem Revolver, die andere an seiner Kurbatsch liegen hatte.

„Bitte“, sagte ich und reichte Brown die Schachtel mit den Sicherheitszündhölzern. Brown zündete sich die Zigarre mit sichtbarem Genuss an, gab mir die Zündholzschachtel zurück und fragte:

„Reisen Sie nur nach Kutaissi? Oder wollen Sie noch weiter? Mit einem arabischen Wüstensohn“ – er nickte zu Halef hinüber – „ist es sicher ein Erlebnis, in den Bergen des Kaukasus herumzukraxeln.“

Während die beiden Fragen noch nach Smalltalk klangen, ließ mich die letzte Bemerkung aufmerken; mein Misstrauen war sowieso schon geweckt.

„Wir reisen nur nach Kutaissi; wir wollen uns die alten Bauwerke anschauen, das Kloster Gelati, die Bagrati-Kathedrale … Wir sind Historiker. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte, die Reise bisher war anstrengend, ich möchte mich noch ein wenig ausruhen.“

Mit diesen Worten ließ ich mich nach hinten an die Mauer sinken und zog den Schleier meiner Kopfbedeckung über mein Gesicht, aber so, dass ich, scheinbar schlafend, alles um mich herum beobachten konnte. War dies eine zufällige Begegnung? Oder hatte sie etwas mit unserem Ziel, unserem Auftrag zu tun? Hellwach und hochkonzentriert, ließ ich mir diesen noch einmal durch den Kopf gehen.

Drei Tage hatten die Haddedihn gefeiert, und wir mit ihnen. Nicht immer hatte ich deshalb genug Schlaf bekommen und noch weniger Bewegung, und so hatte ich mich am dritten Tag frühmorgens entschlossen, mit Rih auszureiten und mir irgendwo die leiblichen Genüsse und Leckereien durch einen ausführlichen Spaziergang aus dem Leib zu treiben. Es war ein herrlicher Sommermorgen, und ich ließ die Blicke über die Weite der Landschaft schweifen, während ich mit Rih im leichten Trab gen Osten ritt. Plötzlich sah ich einen dunklen Schatten am Himmel, der schnell und pfeilgerade auf mich zuschoss. Vorsichtshalber zügelte ich meinen Rappen und griff nach dem Henrystutzen. Gespannt beobachtete ich den näherkommenden Vogel. Sollte es Scheik Haschims Falke Manakir sein? War diesem etwas zugestoßen? Doch nein, die Farbe stimmte nicht, und auch die Art des Fluges und die Flügelsilhouette – es war eine Brieftaube, die auf mich zuhielt. Wie aber konnte das sein? Brieftauben suchen ihr Zuhause auf, nicht einen einsamen Reiter, und doch … Mich überkam ein Verdacht, und ich streckte den linken Arm aus. Einen Moment später saß gurrend eine schwarze Taube auf meinem Handgelenk. Ich löste vorsichtig die Lederkapsel von ihrem Bein und schaute hinein.Wenig später saß ich mit Halef und unseren Freunden Malek und Amad el-Ghandur, den Scheiks der Ateibeh und der Haddedihn, um ein Feuer und betrachtete das edle Papier, das klein zusammengerollt in der Lederkapsel gesteckt hatte. Es gab keine Unterschrift, aber ich hatte sofort die Handschrift von Marah Durimeh erkannt, unserer geheimnisvollen Freundin und Wohltäterin.

„Triff mich bitte in der Hauptstadt von Kolchis, der Stadt der Rosen und des Mai, am gekrönten Türmlein, wo die heilige Gottesgebärerin entschlafen ist, am Tag ihrer Aufnahme in den Himmel, wenn die Sext gebetet wird.“

Mir war sofort klar, was Marah Durimeh meinte, meinen muslimischen Freunden aber musste ich es erklären, hatte sie doch bewusst in einer Art geschrieben, die den meisten Menschen hier unverständlich sein dürfte. „Marah Durimeh fordert mich auf, nach Georgien zu kommen, in dessen alte Hauptstadt Kutaissi, nicht weit von Batumi am Schwarzen Meer, wo wir ja vor einiger Zeit schon einmal waren.“ Ich sah Halef an, dass er sofort erkannt hatte, was ich meinte, und auch die anderen beiden wussten aufgrund unserer Erzählungen Bescheid. Vor gut einem Jahr waren wir beide ganz kurz in Batumi gewesen; gemeinsam mit unserem Freund Sir David Lindsay und dessen Nichte Ann hatten wir die Niederländerin Marijke van Beverningh aus der Sklaverei befreit. Das hatte uns eine lange und anstrengende Flucht beschert, die uns durch die Wüste Rub al-Chali nach Hadramaut und schließlich ins Reich der Königin von Saba führte, wie ich es in einem meiner kürzlich erschienenen Reiseberichte ausführlich geschildert habe – und war letztendlich der Grund gewesen für die Entführung von Hanneh und Djamila durch die Sklavenjäger.

Halef verzog das Gesicht.

„Das ist eine weite Reise. Aber wie kommst du darauf?“

„Du kennst die griechische Sage von der Reise des Prinzen Jason, der das Goldene Vlies gewinnen sollte, das Fell des goldenen fliegenden und sprechenden Widders Chrysomallos. Der war in Kolchis dem Kriegsgott Ares geopfert worden, das Fell hing in dessen Hain. Und das antike Kolchis war ein Königreich zwischen dem Kaukasus und der Ostküste des Schwarzen Meeres, seine Hauptstadt war Kutaia, das heutige Kutaissi, am Fluss Phasis, der heute Rioni heißt. Die Einwohner nennen ihre Stadt auch Stadt der Rosen und des Mai.“

„Und dort sollen wir – wann – sein?“, fragte Halef mit zweifelndem Gesichtsausdruck.

„Am 15. August, das ist das Fest der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel, wie es die katholische Kirche nennt, bei den Orthodoxen bekannt als Hochfest des Entschlafens der allheiligen Gottesgebärerin.“

Amad el-Ghandur sprang auf.

„Das ist unmöglich zu schaffen. Das sind nur noch fünfzehn Tage bis dahin! Was hat sich eure mächtige magische Geisterfreundin dabei gedacht? Hat sie für euch ein fliegendes Pferd bereit?“

„Vielleicht sollten wir es Vorsehung nennen, oder besser Gottes Wille“, warf Scheik Malek ruhig ein und gab dem Jüngeren mit einem Handzeichen zu verstehen, er möge sich wieder setzen. „Noch haben wir die Meharis hier, die Rennkamele von Scheik Haschim. Wenn ihr alle vier mitnehmt und zwischendurch die Tiere wechselt, solltet ihr die Strecke bis zum Schwarzen Meer in zehn Tagen bewältigen können.“

„Wir?“, fragte ich und blickte Halef an. „Marah Durimeh hat mich aufgefordert, zu ihr zu kommen. Du, mein guter Freund, warst jetzt so lange von deiner Frau getrennt, ich kann dir nicht zumuten, sie wieder zu verlassen.“

Halef sprang auf.

„Auf keinen Fall lasse ich dich alleine in diese gefährliche Gegend ziehen! Was wäre ich für ein Freund, wenn es eines Tages heißen müsste, dass meinem Sihdi etwas zugestoßen ist, weil sein treuer Freund und Beschützer ihn nicht retten konnte!“

So übertrieben dieser Ausbruch wirkte, war er doch ernst gemeint, und so nahm ich ihn auch auf.

„Ich könnte mir nichts Schöneres vorstellen, mein lieber Halef!“

Am nächsten Morgen brachen wir auf.

Während des folgenden Gewaltritts sprachen Halef und ich abends am Lagerfeuer oft über die Argonautensage, die er ja schon ein wenig kannte, wegen seiner Erfahrungen mit dem angeblich magischen Widderfell, das uns auf der Nautilus so gute Dienste geleistet hatte, gerade weil es sich nicht als magisch entpuppt, sondern auf physikalischem Weg die Maschinen des Unterseeboots im richtigen Moment lahmgelegt hatte. An einigen Abenden erzählte ich Halef die Sage ausführlicher: wie Jason von seinem Freund Argos die Argo bauen ließ, das schnellste Schiff seiner Zeit, das angeblich sogar sprechen konnte. Es war mit 50 Rudern bestückt, an denen die berühmtesten Helden Griechenlands saßen, die meisten Väter von Recken, die später in den Trojanischen Krieg ziehen sollten, aber auch Herakles und der Sänger Orpheus. Ich malte Halef aus, wie die Helden nach vielen gefährlichen Abenteuern Kolchis erreichten und mit Hilfe der Königstochter Medea, die sich in Jason verliebt hatte, den Drachen, der das Vlies bewacht hatte, besiegen und das Vlies an sich bringen konnten.

Unser Ritt führte uns durch Anatolien über Bingöl und Erzurum bis zum Schwarzen Meer, dann an der Küste über Hopa nach Batumi, wo wir uns am Abend ein ausgiebiges Mahl gönnten und in Erinnerungen schwelgten. Das Dorf, in dem wir Marijke van Beverningh aus der Sklaverei befreit hatten, hatten wir natürlich gemieden. Es war der 10. August, und da wir in Batumi erfuhren, dass am 12. August die Bahngesellschaft die Stichstrecke Rioni–Kutaisi eröffnen würde, hatten wir zwei Tage Zeit, Poti zu erreichen, dann würden wir immer noch am 13. August in Kutaissi ankommen. So beschlossen wir am nächsten Morgen, kurz die Stadt, die auf einer flachen Halbinsel liegt, zu besichtigen. Schachbrettartig angelegt, reicht sie bis ans Meer. Die zwei- bis dreigeschossigen Häuser sind oft mit mythischen Figuren wie Chimären verziert. Steile Hügelketten schließen die Stadt ein, in der Nähe mündet der Fluss Çoruh, wie ihn die Türken, oder Tschorochi, wie ihn die Georgier nennen, ins Schwarze Meer. Viel zu sehen gab es in der Stadt nicht, weshalb wir bald aufbrachen und wie bei unserem ersten Besuch vor allem das herrliche Aroma der ausgedehnten Teeplantagen genossen, die Batumi an den Berghängen säumen.

Am späten Nachmittag erreichten wir nach einem gemütlichen Ritt Shekvetili, eine kleine Stadt, die vor allem aus einstöckigen Häusern im kaukasischen Stil besteht: ganz aus Holz gebaut und ringsum von einer Veranda umgeben. Nach einem ausgiebigen Bad im Schwarzen Meer fragte mich Halef beim Essen im Gasthof:

„Sihdi, glaubst du, irgendetwas ist dran an dieser Geschichte von den Argonauten und dem Goldenen Vlies? Und haben die Griechen das damals geglaubt?“

Ich überlegte einen Moment.

„Ich denke, sie haben das als schöne Geschichte gesehen, die ihnen manche für sie unerklärliche Begebenheiten verständlich machte. Kolchis war damals ein sehr reiches Land, es gab viel Gold, das man, wie auch heute noch, aus den Bächen und Flüssen gewinnen konnte, indem man Schaffelle hineinhängte, an denen sich dann der Goldstaub festsetzte, worüber wir ja schon auf Kreta sprachen. Daraus ist dann wohl die Sage vom Goldenen Vlies entstanden.“

Poti empfing uns am nächsten Nachmittag mit Regen, der unsere Kamele bis über die Fesseln im Schlamm versinken ließ. Es ist eine unscheinbare, düstere Kleinstadt, deren einzige Attraktion der Bahnhof in der Nähe des Marktplatzes ist, den man über eine Brücke erreicht, die den Rioni überquert. Ich musste an einen Reisebericht des berühmten Franzosen Alexandre Dumas denken, der 1859, als Poti von Zar Alexander II. die Stadtrechte verliehen bekam, ein paar Tage hier hatte verbringen müssen. Von den Schweinen, die sich nach seiner Beschreibung zahlreich in den Straßen tummelten, sah ich nichts, ihnen war vielleicht zu nass. Doch den Schlamm, in dem nach seinen Worten der Ausrufer des Zaren knietief versunken war, hatte er richtig beschrieben.

Als wir einen Gasthof mit angegliedertem Stall gefunden hatten, eines der wenigen größeren Gebäude im Ort, war es Abend und glücklicherweise auch wieder trocken geworden. Ich zahlte dem Wirt einen ordentlichen Vorschuss und vereinbarte mit ihm, dass er die vier Meharis gut unterbringen und verpflegen sollte, bis wir zurückkamen, dann würde er den Rest seines vereinbarten Lohns bekommen. Sollten wir allerdings am Tag des heiligen Nikolaus, am 6. Dezember, also in knapp vier Monaten, nicht zurück sein, würden die Rennkamele in sein Eigentum übergehen, er konnte sie behalten oder verkaufen, um seine Kosten zu decken. Wir setzten ein entsprechendes Schriftstück auf und ließen es von zwei Gästen als Zeugen unterzeichnen – dabei stellte sich eine unerwartete Frage: Welchen 6. Dezember meinten wir? Den nach unserem westlichen gregorianischen Kalender oder das Datum im julianischen Kalender, wie er in Georgien und Russland üblich war? Wir einigten uns auf das regionale Datum, was uns ein wenig mehr Zeit ließ, denn „der 6. Dezember nach dem hiesigen Kalender ist bei uns zwölf Tage später, also der 18. Dezember, wir haben so fast zwei Wochen mehr Zeit“, erklärte ich Halef, als wir uns auf den Weg zum Bahnhof machten.

Der Pfiff der Lokomotive riss mich aus meinen Erinnerungen. Der Zug nach Kutaissi war da.

Während wir einstiegen, beobachtete ich aufmerksam, aber unauffällig den Bahnsteig, Gerade als der Zug losfuhr, sprangen noch drei Gestalten auf den letzten Wagen auf, sie alle sahen Mister Brown verdächtig ähnlich. Sie trugen kleine Reisetaschen und auf dem Rücken jeweils ein Futteral, in dem gut eine Büchse Platz fand.

„Diese Begegnung war wohl kein Zufall“, raunte ich Halef zu, während wir uns setzten. „Wenn wir sie treffen, werden die Herren bestimmt so unauffällige Namen wie Black und White tragen.“

Halef stutzte kurz, dann lachte er auf.

„Sihdi, wir müssen auf der Hut sein. Und du hast wohl auch Recht, dass ich mich unauffälliger kleiden sollte. Wir müssen in Kutaissi ein Kleidungsgeschäft aufsuchen, und du musst mir dabei helfen, dass ich danach mehr wie ein Einheimischer aussehe.“

Ich musste lächeln.

„Das doch wohl nicht ganz. Ein wenig Extravaganz sei dir gestattet. Georgien ist groß, und das russische Zarenreich, zu dem es gehört, noch viel größer. Da gibt es viele Völker und Traditionen, und fast ein Zehntel der Bevölkerung sind sogar Muslime. Allerdings sind die über 90 Prozent, die orthodoxe Christen sind, auf diese häufig nicht gut zu sprechen, da deren Bekehrung vor allem aus der Zeit der osmanischen Herrschaft stammt, aus der sich Georgien ja mehr oder weniger unter den Schirm und Schutz des russischen Zaren geflüchtet hat.“

„Dann passt es ja“, meinte Halef, „dass wir mit Marah Durimeh an einer christlichen Stätte verabredet sind.“

Zweites Kapitel

Fasane und Rosen

„Sihdi, bist du sicher, dass es noch Sommer ist? Ich friere entsetzlich.“

Ich konnte Halef gut verstehen. Obwohl es Mitte August war und Kutaissi nur wenig mehr als 100 Meter über dem Meeresspiegel liegt, war es kurz vor Mitternacht an unserem erhöhten Standort empfindlich kalt, außerdem wehte über den Ukimerioni-Hügel, der über dem Fluss Rioni thront, ein scharfer Wind. Möglicherweise wirkte bei meinem arabischen Freund aber auch, dass er sich in seiner ungewohnten Kleidung noch nicht sonderlich wohlfühlte, obwohl er sie schon seit fast zwei Tagen trug.

Nach unserer Ankunft in der ältesten Stadt Georgiens und früheren Hauptstadt der Kolchis hatten wir zunächst ein Gasthaus in der Nähe des Bahnhofs aufgesucht, uns einquartiert und einen gemütlichen Abend gemacht. Am nächsten Morgen hatte der Wirt uns zur Tetri Chidi geschickt, der Weißen Brücke, um über diese den Rioni zu überqueren und in das Stadtviertel der Händler und Handwerker zu gelangen.

Es gab mehrere Kleiderhändler, sodass wir keine Probleme hatten, Halef und mich angemessen einzukleiden. Ich entschied mich für Kleidungsstücke, die mich an meine gewohnte Trapperkleidung erinnerten; Halef schloss sich mir an. Gleich mir trug er nun wildlederne Leggins und über einem Lederhemd eine vorne offene Lederweste mit mehreren praktischen Taschen und eine dicke Lederjacke. Weite Hosen waren ihm nicht nur unpraktisch erschienen, zudem war ihm eingefallen, dass Sultan Mahmud II. 1829 das Tragen von Pluderhosen als Bestandteil der bis dahin üblichen orientalischen Tracht untersagt hatte. Und da Kutaissi seit 1810 zum Russischen Zarenreich gehörte, das sich seit Kurzem wieder im Krieg mit dem Osmanischen Reich befand, wie uns der Kleiderhändler seufzend berichtet hatte – „Schon wieder! Der Krimkrieg ist doch gerade mal gut zwanzig Jahre her!“ –, wäre es wohl unklug gewesen, in einer alttürkischen Tracht herumzulaufen. Aus diesem Grund hatte sich Halef auch gegen einen Fes entschieden. Statt des breitkrempigen Lederhuts, den ich mir zugelegt hatte, zierte sein Haupt nun eine der hier typischen runden Filzmützen, wie bei vielen Georgiern. Das helle Ocker harmonierte gut mit den verschiedenen Brauntönen seiner Kleidung und der langen kräftigen Stiefel.

Nach dem Einkauf gönnten wir uns einen kleinen Mittagsimbiss in dem diesseitigen der beiden Lokale, die die Enden der Weißen Brücke markierten. Als wir gemütlich unseren Nalekiani Khava tranken, Kaffee, der nach türkischer Art in einer Metallkanne am Herd mit Zucker und Wasser aufgekocht worden war, ließ mich ein wiederholtes, lautes kuttuk kuttuk aufhorchen. Es kam von dem kleinen Hof zwischen Straße und Gasthaus, und ich sah einen farbenprächtigen Fasanenhahn seinen glänzenden Kopf ruckartig Richtung Hauswand strecken und dabei seinen Revierruf ausstoßen. Im nächsten Moment sah ich einen Schatten, der sich Richtung Haustür bewegte und dann in dem kleinen Vorraum des Gasthauses verschwand. Ich behielt die Tür zur Gaststube im Auge, doch es trat niemand ein. Halef war meinem Blick gefolgt.

„Sihdi, glaubst du, wir werden beobachtet?“

Ich nickte, hob meine Tasse, nahm langsam einen Schluck und tat so, als blickte ich ihn interessiert lauschend an. Aus dem Augenwinkel glaubte ich in dem Spiegel, der an der Garderobe am Ausgang hing, einen Mann zu sehen, den ich aufgrund seiner Silhouette für Brown oder einen seiner Gefährten hielt. Und tatsächlich sah ich ihn das Gasthaus verlassen und auf der anderen Straßenseite entlangschlendern, wie mir schien betont nonchalant, ohne einen Blick in unsere Richtung zu werfen.

„Dieser Brown ist wahrscheinlich nicht zufällig hier!“, mutmaßte Halef, nachdem ich ihn ins Bild gesetzt hatte. „Wie gut, dass dieser Fasan so einen Krach gemacht hat. Ich wusste gar nicht, dass es diese Vögel auch hier gibt.“

„Sie sind hier seit der Antike heimisch, und Jason hat sie angeblich nach dem Fluss hier benannt, der damals Phasis hieß, wie die Stadt, die wir heute Poti nennen. Sollen wir bei dem schönen Wetter einen kleinen Spaziergang durch die Stadt machen, um zu schauen, ob er uns wirklich folgt?“

Halef stimmte zu, und nachdem wir ausgetrunken hatten, schlenderten wir zunächst am Fluss entlang und bogen dann in eines der kleinen Gässchen ein, die uns auf der westlichen Seite des Rioni in die Händler- und Wohnviertel führten. Wir orientierten uns an den Ruinen der Bagrati-Kathedrale auf dem Ukimerioni-Hügel im Süden, zu denen wir später würden emporsteigen müssen, um die Nachricht von Marah Durimeh zu empfangen. Über Jahrhunderte war die 1003 vom georgischen König Bagrat III. erbaute Kirche eines der wichtigsten Gotteshäuser der orthodoxen Kirche gewesen; wir würden nur vor Ruinen stehen, denn 1692 war die Kathedrale von den Osmanen, die das Königreich Imeretien und dessen Hauptstadt Kutaissi überfallen hatten, gesprengt worden.

Um meinen Leserinnen und Lesern keinen falschen Eindruck zu vermitteln, möchte ich betonen, dass Kutaissi kein kleines Städtchen ist. Mit fast 30.000 Einwohnern hat die Stadt ungefähr die Größe von Bamberg, der von mir geliebten oberfränkischen Universitätsstadt, in der sich mein Verlag befindet und die aufzusuchen ich deshalb immer wieder das Vergnügen habe. Und wie Bamberg hat Kutaissi eine mittelalterliche Altstadt, in der wir uns nun bewegten und die nur wenige Quadratkilometer umfasst. Auch der Weg hinauf zur Kathedrale würde problemlos zu Fuß zu bewältigen sein; wenn auch ansteigend, so waren es doch nicht mehr als gute zwei Kilometer.

An diesem Nachmittag also schlenderten wir gemütlich durch enge Gässchen, in denen die meist zweistöckigen Häuser angenehmen Schatten warfen, bis wir uns vergewissert hatten, dass wir nicht verfolgt wurden, dann kehrten wir über die Rote Brücke zurück auf die Ostseite der Stadt. Wir bogen bald in die Tamar-Mepe-Straße ein, an deren Ende unser Gasthof lag. Als wir an einem schon etwas verfallenen kleinen Wohnhaus vorbeikamen, hörte ich aus einem offenen Fenster im ersten Stock vertraute Klänge: österreichisch gefärbtes Deutsch. Eine Frauenstimme deklamierte offensichtlich ein Gedicht, mit deutlichem Pathos. Ich blieb stehen und lauschte, Halef ging weiter und blickte sich dann erstaunt um. Ich gab ihm ein Zeichen, er möge auf mich warten und schweigen, und wies auf das Fenster. Was die Frau, die wohl eine geschulte Sprecherin war, rezitierte, kannte ich nicht, aber es faszinierte mich, und so nahm ich mein Notizbuch heraus, das ich, wie meine treuen Leserinnen und Leser wissen, wann immer möglich bei mir trage, und schrieb das Folgende mit:

„Die Chewsuren waren in der Schenke, im Kessel kochte der Met. Nun saßen sie auf dem Dach und schmausten, tranken den Met aus Schalen. Manche spielten das Panduri, andere sangen Gesänge gewaltiger Art und regten die Gefühle der Hörer mit Heldentaten an. Die Namen der Helden erwähnten sie mit Erregung in ihren Gedichten als Heilige. Die Alten rauchten die Pfeife, und Rauch umgab sie wie Nebel. Sie erzählten der Helden Taten und baten um Vergebung für sie. Die Jungen anzuspornen, erwähnten sie jene lobend.“

„Das Rauchen finde ich unpassend, liebste Bertha“, wurde die Deklamation von einer Männerstimme unterbrochen. „Du verwendest danach noch einmal das Wort Rauch. Was hältst du davon: Die Alten schmauchten die Pfeife, und Rauch umgab sie wie Nebel? Und vielleicht solltest du das Panduri erklären.“

Es war ein Moment Stille, dann hörten wir wieder die Frau:

„Das Schmauchen gefällt mir, mein Liebling, aber Panduri erkläre ich nicht, so wenig wie die Chewsuren – es sei denn, der Verleger ließe sich auf so etwas wie ein Glossar ein, ein Wörterverzeichnis, in dem dann beispielsweise zu den Chewsuren stünde: Bergvolk im Großen Kaukasus im Nordosten Georgiens, zu beiden Seiten des Kaukasus-Hauptkamms. Aber lass uns für heute das Übersetzen beenden, wir haben den ganzen Tag hart gearbeitet, lass uns zum gemütlichen Teil des Tages übergehen.“

Ich hatte gerade überlegt, diesem Paar einen Besuch abzustatten, aber der letzte Satz hielt mich davon ab. So packte ich mein Notizbuch weg und sagte zu Halef, während ich mit dem Kopf in Richtung unseres Gasthofs wies:

„Das sind interessante Landsleute, aber ich will sie heute Abend nicht mehr stören. Lass uns ins Gasthaus zurückkehren. Nachdem wir mit Marah Durimeh gesprochen haben und wissen, was sie von uns will, bleibt vielleicht die Zeit für einen Besuch, und da die beiden wohl schon länger hier leben, können sie uns vielleicht auch den einen oder anderen Ratschlag geben.“

Nach dem Abendessen unterhielten wir uns noch ein wenig darüber, was uns wohl am nächsten Tag erwarten würde. Ich zog das Schreiben von Marah Durimeh aus der Lederkapsel, in der ich es aufbewahrte, und las es noch einmal laut.

„Triff mich bitte in der Hauptstadt von Kolchis, der Stadt der Rosen und des Mai, am gekrönten Türmlein, wo die heilige Gottesgebärerin entschlafen ist, am Tag ihrer Aufnahme in den Himmel, wenn die Sext gebetet wird.“

„In Kutaissi sind wir, und dass wir zur Bagrati-Kathedrale müssen, ist auch klar“, meinte Halef. Wir hatten bereits herausgefunden, dass diese eigentlich ‚Kirche der Entschlafung der hochheiligen Gottesgebärerin‘ hieß, und bei unserem gestrigen Spaziergang auch das gekrönte Türmchen neben der Hauptruine gesehen, das der Zerstörung durch die Osmanen entgangen war und von dessen Spitzkuppel ein Kreuz emporragte. Halef fuhr fort: „Aber wann sollen wir dort sein? Das hast du mir noch nicht erklärt.“

Halef hatte Recht, darüber hatten wir noch nicht gesprochen. Ich erläuterte ihm:

„Sext ist eine Abkürzung für das lateinische sexta hora, die sechste Stunde. In der Antike hat man den Tag und die Nacht jeweils in zwölf Stunden eingeteilt, der Tag begann kurz vor Sonnenaufgang und endete kurz nach Sonnenuntergang. Die katholische Kirche hat das übernommen für ihre Gebetszeiten Prim, Terz, Sext und Non, benannte nach der ersten, dritten, sechsten und neunten Stunde des Tages. Marah Durimeh ist Christin und kennt diese Einteilung, mit Sext meint sie die Mittagsstunde.“

Ich sah, wie Halef kurz mit den Fingern nachrechnete, ehe er nickte.

„Das war klug von unserer Freundin, dass sie nicht nur den Ort, sondern auch die Zeit auf eine Art verschlüsselt hat, dass sie sicher nicht jeder verstanden hätte, auch wenn die Nachricht in die falschen Hände gefallen wäre.“

Am nächsten Morgen stiegen wir nach einem ausgiebigen Frühstück den Ukimerioni-Hügel empor. Unsere Langwaffen hatten wir im Gasthof eingeschlossen; wir sahen keine Notwendigkeit, uns mehr als notwendig zu belasten. Die Sonne brannte vom Himmel, und der Weg war zwar nicht lang, doch steinig und führte stetig bergauf. Dabei begleitete uns ein Geruch, an den wir uns erst gewöhnen mussten: der eigentümliche, nicht unangenehme Duft von sonnengetrocknetem Büffelmist. In manchem Hof sahen wir Büffel als Zugtiere eingespannt, und auf einigen Wiesen grasten weibliche Büffel, die sowohl zur Milch- wie zur Fleischgewinnung gehalten wurden.

Die Kathedrale musste einst ein beeindruckendes Gebäude gewesen sein. Man konnte noch die ursprüngliche Dreikonchenanlage mit dem Kleeblattchor erahnen; von der großen zentralen Kuppel war natürlich nichts mehr zu sehen. Drei unterschiedlich hohe, turmartige Überreste ragten empor wie die letzten Zahnstümpfe im Kiefer eines alten Mannes, an ihren Wurzeln umwuchert von verwilderten Rosensträuchern, die viele Knospen und erste kleine Blüten trugen. Es waren wohl öfterblühende Rosensorten, deren zweite Blühperiode kurz bevorstand. Das „Türmlein“, wie Marah Durimeh es genannt hatte, ragte unbeschädigt seitlich von der ursprünglichen Kathedrale empor und wirkte aus der Nähe gar nicht mehr so klein; es erreichte sicher mehr als 20 Meter an Höhe.

Es waren nicht wenige Menschen hier oben, auch als Ruine hatte die Kathedrale offensichtlich Anziehungskraft als Sehenswürdigkeit. Während Halef sich im Schatten eines der hohen Ruinenteile niederließ, schlenderte ich ein wenig umher und versuchte, mit den Einheimischen ins Gespräch zu kommen. Doch davon traf ich gar nicht so viele, hier waren mehr Russen als Georgier, vor allem Armeeangehörige, die am Schwarzen Meer, teils mit ihren Angehörigen, ihren Urlaub verbrachten. Von ihnen erfuhr ich, dass Zar Alexander II. Ende April Sultan Abdülhamid II. den Krieg erklärt hatte und deshalb seither in größerem Maße Wehrpflichtige eingezogen worden waren. Nun, nach drei Monaten, hatten die ersten Soldaten Fronturlaub. Für diese hatte die Kathedrale in der aktuellen Lage eine besondere Bedeutung, zeigte sie doch, zu was die Osmanen zumindest früher fähig und bereit gewesen waren, vor fast 200 Jahren – und deshalb wohl schickte die russische Regierung während des aktuellen osmanisch-russischen Krieges ihre Soldaten gerne im Fronturlaub hierher. Ich traf aber auch Geschäftsleute, die den schönen Sommertag zur Besichtigung nutzten; von ihnen erfuhr ich, dass die neue Bahnlinie schon zahlreiche Pläne angeregt habe; so wolle der Herzog von Oldenburg, ein Verwandter des russischen Zaren, in Kutaissi demnächst eine Sekt- und Branntweinfabrik errichten.

Nachdem ich festgestellt hatte, dass der unbeschädigte Turm zwar nicht so viel Aufmerksamkeit fand wie die Ruinenstümpfe, aber immer wieder von Neugierigen betreten wurde, schauten auch wir uns ihn gründlich an. Den würfelförmigen Unterbau von etwa fünf Metern im Quadrat betrat man durch einen Rundbogen, der sicher einmal mit einem zweiflügeligen Tor verschlossen gewesen war, wie die verosteten Angeln an den Wänden bewiesen. Der Raum unten, so hoch wie breit, war offensichtlich seit Langem unbenutzt und diente höchstens Tieren als Lager.

Über eine an einer Seite angelegte Steintreppe erreichten wir den etwas kleineren Würfelbau, der darüber lag und den wir durch eine etwa mannshohe gemauerte Türöffnung betraten. Die Treppe war breit genug, dass zwei Menschen aneinander vorbeigehen konnten, ganz eindeutig war der Turm nicht zur Verteidigung ausgelegt. Von dem oberen Stockwerk hatte es wohl mal eine Möglichkeit gegeben, auf die runde Plattform zu gelangen; durch die acht türähnlichen Öffnungen, deren Rundbogenabschluss sicher mehr als drei Meter über dem Boden lag, hatte man früher wahrscheinlich die Gegend im Auge behalten oder Signale verbreitet. Wir fanden keine Leiter oder dergleichen und verließen den Turm wie alle anderen Besucher deshalb wieder über die Treppe.

Wir zogen uns auf einen Beobachtungsposten seitlich der turmähnlichen Ruinen zurück und warteten auf die Mittagsstunde; hin und wieder fragten wir uns, wie Marah Durimeh uns hier, unter Beobachtung durch zahllose Menschen und im gleißenden Sonnenschein, eine Botschaft übermitteln wollte.

Ich war für einen Moment abgelenkt, als ich in der Menge einen der beiden Gefährten des ominösen Mister Brown zu erkennen glaubte, da stieß Halef mich mit dem Ellbogen an.

„Sihdi, sieh!“

Einen Moment zuvor hatte plötzlich eine kleine vollkommen schwarze Wolke die Sonne verdunkelt; sie warf einen scharfen Schatten genau auf die Wand des Turms, auf die Halef nun wies. Wahrscheinlich nur aus unserem Blickwinkel war zu erkennen, dass dieser Schatten eine bestimmte Form hatte, er zitterte zwar, doch konnte ich unschwer Buchstaben ausmachen: ein V, ein G und ein L. Dann verschwamm der Schatten, für einen kurzen Moment verwandelten sich die Buchstaben in MAT – und die Wolke löste sich auf.

Halef schaute mich aus aufgerissenen Augen an.

„Was sollte das, Sihdi?“

Ich grübelte einen Moment, dann nickte ich ihm zu.

„Lass uns einen Ort suchen, wo wir ungestört reden können.“

Und so saßen wir nun hier in der Kälte im Dunkeln, um kurz vor Mitternacht. Dem war des Nachmittags ein langes Gespräch mit Halef vorausgegangen; ihn zu überzeugen, sich hier des Nachts zu postieren, war nicht leicht gewesen.