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Drei Generationen, drei Schicksale und ein Schmuckstück, das sie für immer verbindet.

Als Goldschmied Liam Westaway 1901 eine wunderschöne Topasbrosche für seine große Liebe Corinne o´Mara entwirft, ahnt er nicht, wie dramatisch diese Brosche sein Leben verändern wird. Denn Liams Mutter, eine temperamentvolle Frau mit Zigeunerblut in ihren Adern, belegt die Brosche mit einem ganz besonderen Zauber: wer diese Brosche trägt, wird die wahre Liebe finden.

Aber Corinnes Vater verhindert die geplante Liebesheirat, lässt William entführen und nach Australien deportieren. Notgedrungen baut sich William dort ein neues Leben auf - Corinne jedoch kann er nicht vergessen.

Die Brosche verkauft er schließlich schweren Herzens und über die Jahrzehnte hinweg wird sie durch viele Familien und Generationen weitergegeben, bis sie eines Tages einer ganz besonderen Frau geschenkt wird: Liams Enkelin Linda...

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Lynne Wilding

Der Glücksbringer

Roman

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Über Lynne Wilding

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Impressum

1

Kilbricken in der Grafschaft Offaly

Irland 1901

 

 

Jemand klopfte zaghaft an die Hintertür des Cottages. Rosemary, die am Feuer stand und in einem Kessel mit Kaninchenragout rührte, lächelte nachsichtig. Wann immer gegen Abend an die Tür zum rückwärtigen Eingang geklopft wurde, gleich neben der Werkstatt ihres Sohnes, klang es zögernd und geradezu behutsam. Als wäre sich der heimliche Besucher noch unschlüssig, ob er auch wirklich zu ihr wollte. Sie wischte sich die Hände an einem Leinentuch ab und stapfte über die binsengeflochtenen Bodenmatten. Wer mochte das sein? Aha, draußen stand die junge Libby Tomlins in Begleitung ihrer Mutter.

»Na, was hast du denn auf dem Herzen, Libby?«, fragte sie ohne Umschweife. »Kann ich irgendwas für dich tun?«

»Mmmmh, ich könnt eins von deinen Zaubermitteln gebrauchen, Rosemary. Ich versuch jetzt seit gut zwei Jahren, ein Baby zu kriegen, aber es klappt einfach nicht. Will und ich strengen uns wirklich ganz doll an«, kicherte die junge Frau. »Du weißt schon, was ich damit meine, nich?«

Rosemary nickte. Sie wusste auch genau, was Libby brauchte. »Ich zünde eben die Gaslaterne an. Kommt nach hinten in meine Kräuterkammer.«

Was Rosemary als ihre Kräuterkammer bezeichnete, war ein fensterloser Verschlag mit einem undichten Dach, der sich an eine alte Backsteinmauer schmiegte, mit grob gezimmerten Holzwänden und einer Tür, die dringend einen neuen Anstrich gebraucht hätte. Das Schloss fehlte, aber das war ohnehin völlig überflüssig. Keiner im Dorf hätte es gewagt, ungebeten Rosemarys Allerheiligstes zu betreten. Einmal, kurz nachdem Jerome Westaway seine junge Braut heimgeführt hatte, hatte Ned Kilcare, ein übermütiger junger Kerl, sich dort hineingeschlichen und war erwischt worden. Am nächsten Tag war er an den Pocken erkrankt und dem Tod gerade noch einmal von der Schippe gesprungen. Seitdem munkelten die Dorfbewohner und die Bauern in der Gegend, dass Rosemary Westaway eine weise Frau sei. Als Halbzigeunerin hatte sie von ihren Vorfahren Rezepte für Zaubertränke überliefert bekommen und kannte Amulette und Glücksbringer, Verwünschungen und Beschwörungen. Folglich hielten sich die Dorfbewohner von ihrer »Hexenküche« fern.

»Ich warte besser draußen«, erklärte Libbys Mutter und zog fröstelnd den Mantel fester um ihre Schultern.

»Komm ruhig mit rein, hier draußen ist es ungemütlich kalt«, bot Rosemary ihr an und zuckte gleichgültig mit den Schultern, als die Frau hartnäckig den Kopf schüttelte.

Ihre Tochter Libby verharrte zunächst unschlüssig auf der Schwelle, folgte Rosemary dann jedoch ins Innere. Der flackernde Laternenschein warf zuckende Schatten auf Töpfe und Tiegel, die in unterschiedlichen Größen und Formen auf Borden aufgereiht standen, auf malerisch gebundene Kräutersträuße und Knoblauchzöpfe, die von den Holzbalken zum Trocknen herabhingen, tauchte Keramikmörser und Stößel in ein gespenstisch diffuses Licht.

»Ich misch dir eben was Frisches zusammen. Es geht ganz schnell. Setz dich so lange da auf den Schemel, Libby.«

Die Augen in einer Mischung aus Furcht und Faszination geweitet, beobachtete das junge Mädchen, wie die Zigeunerin konzentriert zu Werke ging. Eigentümliche Gerüche erfüllten den Schuppen, während sie Deckel von Tiegeln hob und eine Prise von diesem, eine Hand voll von jenem sowie einen Spritzer von einer dunklen, unangenehm in der Nase stechenden Flüssigkeit auf ein sauberes Läppchen gab. Als sie damit fertig war, band sie das Tuch mit einem Zwirnfaden zusammen und rollte den Inhalt zwischen ihren Handflächen, derweil sie etwas in einer Sprache flüsterte, die Libby noch nie gehört hatte.

»Da, fertig.« Lächelnd drückte Rosemary ihr das Beutelchen in die Hand. »Du musst es unter deine Matratze legen – und um Himmels willen kein Wort zu Will. Männer verstehen so was nicht. Und bevor ihr euch liebt«, sie beobachtete, wie Libby errötete, »denk an den Glücksbringer und wie wunderschön es sein wird, wenn du erst dein Baby in den Armen wiegen kannst.«

»Und… und hilft dieser Talisman denn auch wirklich?«

Rosemarys Augen brannten sich in die ihren. »Mit diesem Zaubermittel hat es schon bei etlichen Frauen im Dorf geklappt. Wenn du aber an seiner Kraft zweifelst, dann geht dein Wunsch nicht in Erfüllung.«

»Doch, doch, ich glaub ganz fest dran, Rosemary«, beteuerte Libby. Sie drückte der Zigeunerin einige Münzen in die wartend geöffnete Handfläche. »Ich wünsch mir so sehr ein Kind. Das ist mein sehnlichster Wunsch im Leben.«

 

Liam Westaway legte die winzige Pinzette auf die Werkbank zurück und rieb sich die müden Augen. Es war Abend, und die winterliche Kälte drang durch sämtliche Ritzen der kleinen Werkstatt, wo er Uhren reparierte und Schmuckstücke fertigte. Er knöpfte sich die dicke Wolljacke bis zum Hals zu und stampfte mit den Füßen am Boden auf, um die Kälte aus den Gliedern zu verscheuchen.

Zum Glück war es noch rechtzeitig fertig geworden, seufzte er zufrieden. Er rückte die kleine Gaslampe ein wenig näher zu sich heran und betrachtete das Schmuckstück von allen Seiten, woraufhin der geschliffene Topas in der filigranen Silberfassung aufblitzte, die so fein gearbeitet war wie das Stück Brüsseler Spitze, das er sich zum Muster genommen hatte. Er hätte zwar viel lieber achtzehnkarätiges Gold verwendet, aber das war wegen der Burenkriege in Südafrika unerschwinglich teuer geworden.

Es war das schönste Schmuckstück, das er je gefertigt hatte. Wie zur Bekräftigung nickte er. Eine Brosche für die Frau, die er liebte. Ein Geburtstagsgeschenk als Pfand für seine große Liebe. Bei dem Gedanken an Corinne O’Mara umspielte ein Lächeln seine Mundwinkel. Ihre langen lockigen Haare waren goldbraun und weich fließend wie Honig, ihr Teint zart wie die cremefarbene Seide, die er in Shaugnessys’ Stoffgeschäft gesehen hatte, und ihre Augen – war es ein Wunder, dass sie mit dem Topas um die Wette funkelten? Nein, genau diese Ähnlichkeit hatte ihn nämlich dazu bewogen, den prachtvollen Stein auf einer Edelsteinbörse zu kaufen, als er das letzte Mal in Dublin gewesen war.

Leises Schlurfen, gefolgt von dem notorischen Ächzen der altersschwachen Türscharniere signalisierte ihm, dass seine Mutter im Anmarsch war.

»Und, ist sie fertig?«, wollte Rosemary Westaway wissen. Elfenhaft klein und schmächtig, musste sie sich auf Zehenspitzen stellen, um ihrem Sohn über die Schulter schauen und das eben fertig gestellte Schmuckstück bewundern zu können.

»Ja, Ma. Und ich finde, es ist meine schönste Kreation.«

»Das ist es zweifellos, mein Junge. Und mit viel Liebe gemacht.« Rosemary nahm ihm die Brosche aus der Hand. »Sie ist wunderschön, Liam.« Ihre Augen strahlten voller Bewunderung über die Begabung ihres Sohnes. Ich möchte, dass du auf der Rückseite etwas eingravierst. Hier.« Sie fischte ein Stück Papier aus ihrer Schürzentasche, legte es auf die Arbeitsfläche und glättete es umständlich mit dem Handballen. »Es ist ein Zauberspruch, und er wird der Trägerin«, sie stockte, »Glück bringen. Schreibe ihn genau so, wie er hier steht, sonst wirkt er nicht.«

»Ma, du weißt genau, dass ich nicht an solchen Hokuspokus glaube.« Ihr Sohn blickte auf die Worte in gälischer Sprache.

Rosemary musterte ihn scharf. Seiner Statur nach hätte man bei Liam eher auf einen Bauern als auf einen Goldschmied getippt. Er war jetzt neunzehn, ein attraktiver junger Mann mit schwarzen Locken, grünen Augen und dem olivfarbenen Teint, den er von der Seite ihrer Familie geerbt hatte. Silberne und goldene Reifen klirrten leise an ihrem Handgelenk, als sie warnend den Zeigefinger hob: »Du magst dich zwar noch darüber lustig machen, aber eines Tages wirst du das anders sehen, mein Junge.« Sie legte abwartend den Kopf schief. »Und, tust du mir jetzt den Gefallen?«

Trotz ihrer zarten, unscheinbaren Statur besaß Rosemary Westaway ungeahnte Präsenz und einen eisernen Willen, weshalb ihr die Dorfbewohner genau das entgegenbrachten, worauf sie am meisten Wert legte: Respekt. Immerhin ging das Gerücht, dass Rosemary gewiss ihre Finger im Spiel hätte, wenn die Kühe plötzlich keine Milch mehr gaben oder Frauen unfruchtbar blieben.

Ihre Stimme duldete wie üblich keinen Widerspruch, und Liam nickte. Es war bei Weitem bequemer, ihren Wünschen nachzugeben, zumal sie ohnedies keine Ruhe geben würde. Sein Pa, Jerome Westaway, Gott sei seiner Seele gnädig, war ein duldsamer, verständnisvoller Mann gewesen. Er hatte sich damals den kleinen Liam vorgeknöpft und ihm erklärt, dass er die Mutter gewähren lassen und ihr nachgeben solle – es sei ja nicht oft, dass sie auf irgendetwas beharre –, damit der Haussegen niemals schiefhänge.

»Ich mach es morgen früh bei Tageslicht.«

»Gut. Dann komm.« Sie zupfte an seinem wärmenden Überzieher. »Das Abendessen ist fertig.«

 

Der Markttag auf dem Dorfplatz fiel zufällig auf das Datum von Lady Corinne O’Maras Geburtstag. Im Ort drängten sich die Farmer aus der Umgebung, Mühlenknechte und Minenarbeiter sowie deren Frauen, die die angebotenen Waren inspizierten und auf ein preiswertes Schnäppchen hofften. An solchen Tagen mutete der Dorfplatz direkt festlich an, mit bunt geschmückten Marktständen, an denen alles nur Erdenkliche zum Kaufen und Handeln feilgeboten wurde. Den ganzen Morgen über saß Liam an seinem Ladenfenster und fieberte darauf, einen Blick auf die Kutsche des Earl of Bonham zu erhaschen. Der Earl würde in Begleitung seiner Tochter Corinne sein. Nach dem Mittagessen war der junge Mann mit ihr hinter dem Fox in the Hollow verabredet, obschon ihm eine solche Heimlichtuerei beileibe nicht behagte. Die Idee war auch nicht auf seinem Mist gewachsen, sondern stammte von Corinne. Das sonst so couragierte, selbstbewusste Mädchen schien skeptisch, dass ihr Vater ihrer Beziehung auf die Schliche kommen und versuchen könnte, sie auseinanderzubringen.

Solange Liam sich entsinnen konnte, hatte er für die Grafentochter geschwärmt. Angefangen hatte es in der Schule, als sie Lesen und Schreiben gelernt hatten. Schon als achtjähriger Knirps fühlte er sich zu dem bezaubernd hübschen Mädchen hingezogen; eine Dumme-Schuljungen-Liebelei, die selbst dann nicht geendet hatte, als ihr Vater ihr Privatunterricht hatte erteilen lassen. Sonntags, in der Messe in der katholischen Kirche St. Finbar’s, hatte er aus der Ferne bewundert, wie sie zu einer reizenden jungen Dame heranwuchs. Im letzten Sommer, auf dem Herbstfest im Dorf, hatten sie stundenlang miteinander getanzt, was ihrem Bruder, Lord Edward, gottlob gar nicht aufgefallen war. Später hatten sie einander in der Scheune neben dem Wirtshaus umarmt und geküsst, und Corinne hatte darauf gedrängt, dass sie sich heimlich treffen sollten. Aus ihrer anfänglichen Zuneigung war Liebe geworden.

Zu diesem Zeitpunkt hätte Liam zu allem Ja und Amen gesagt, nur um bei ihr sein zu können, aber nach dem langen bitterkalten Winter hatte er die heimlichen Rendezvous restlos satt. Alle sollten erfahren, dass er Corinne liebte und dass sie seine Gefühle erwiderte. Und heute war es endlich so weit. Seine linke Hand glitt in die Jackentasche und ertastete das Stückchen Samt, worin die Brosche eingeschlagen war. Er spielte nervös an seiner Krawatte herum. Das einengende Gefühl war störend, denn er war es nicht gewöhnt, formelle Kleidung zu tragen.

Heute, an ihrem achtzehnten Geburtstag, hatte er sich fest vorgenommen, Corinne einen Heiratsantrag zu machen, und wenn sie ihn erhörte, würde er ihr einen hinreißend schönen Verlobungsring arbeiten. Bei der Vorstellung erhellte ein Lächeln seine ernsten Züge. Er war zwar nicht reich, hatte aber ein gutes Einkommen, das ihnen ein angenehmes Leben ermöglichen würde – wenn auch nicht so luxuriös wie in Bonham Hall. Er reckte den Kopf, als er den eleganten schwarzen Zweispänner gewahrte. Wie schön, sie saß in der Kutsche! Sein Herz raste vor Glück. Jetzt musste er nur noch warten, bis sie und ihr Vater in dem Gasthaus gegessen hatten. Nachher – zum Glück war der Earl ein Mann mit festen Gewohnheiten – würde Lord Patrick sich mit Richter Portman und Dr. Lucius Flynn, beides Freunde von ihm, in das Raucherzimmer zurückziehen und bei Brandy und Zigarre entspannen. Dann durfte Corinne bis zum Spätnachmittag über den Markt schlendern. Was der Earl indes nicht wusste, war, dass sie ihrer jungen Zofe freigeben würde, damit diese sie nicht verpetzte.

Corinne genoss die ersten Sonnenstrahlen, eine willkommene Abwechslung nach der winterlichen Kälte. Nachdem sie ihrem Vater zum Abschied hastig einen Kuss auf die Wange gehaucht hatte, nickte sie dem Richter und dem Arzt lächelnd zu und verließ das Gasthaus. Sie wartete neben der Grenzmarkierung von Farmer Martins Feldern, die frisch gepflügt und eingesät waren.

Den ganzen Morgen, nein, auch schon in der Nacht hatte sie sich auf das Wiedersehen mit Liam gefreut. Dass sie sich heimlich trafen, verstärkte die Empfindungen des jungen Mädchens, die bohrende Sehnsucht, mit ihm zusammen zu sein und sich ihm ganz zu schenken. Plötzlich dachte sie an das Gespräch, das sie nach dem gestrigen Abendbrot mit ihrem Vater geführt hatte, und ihr hübsches Gesicht verdunkelte sich. Der Earl war ein eigenwilliger Kopf, egoistisch, ehrgeizig und erzkonservativ. Trotzdem liebte sie ihn von ganzem Herzen, auch wenn er sich bisweilen wie ein Grobian aufführte. So hatte er sich bitter darüber beklagt, dass sie im letzten Jahr sämtliche Verehrer und Eheaspiranten abgewiesen hatte. Nachdem Edward Beatrice geheiratet und dem Grafen bereits einen Erben geschenkt hatte, war es sonnenklar, dass der Graf seine Tochter ebenfalls unter der Haube wissen wollte. Ein matter Seufzer entwich ihren Lippen. Wie könnte sie jemand anderen als ihren heimlichen Schatz heiraten? Ihr Herz gehörte nun einmal dem attraktiven Liam Westaway mit seiner zärtlichen Stimme und seinem umwerfenden Charme. Alle anderen Verehrer verblassten neben ihm. Sie spähte versunken zum Himmel und gewahrte ein paar einzelne dunkle Wolken, die sich dort oben zusammenballten. Was wohl Liams Mutter dazu sagen würde, wenn sie sich verlobten?

Bevor sie weitergrübeln konnte, wurde sie von hinten gepackt und herumgewirbelt. »Liam«, schalt sie ihren Angreifer scherzhaft. »Du hast mich fast zu Tode erschreckt!«

Er schloss das Mädchen in seine Arme, küsste sie auf Stirn und Wangen. Seine Lippen fanden ihren Mund, besiegelten ihn mit einem ungestümen Kuss. »Grundgütiger, meine schöne Corinne, das wäre das Letzte, was ich wollte!« Sein Grinsen war unwiderstehlich. »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, mein Schatz.« Ihr nachsichtiges Lächeln signalisierte ihm, dass sie ihm den stürmischen Überfall verzieh.

»Wohin gehen wir?«

Er überlegte für einen kurzen Moment. »Wir könnten in die Kirche gehen. Vater Conway nimmt die Beichte erst nach der Vesper ab. Oder in den Mietstall – allerdings hab ich eben gesehen, wie Ben, der Stallknecht, dort verschwunden ist. Vermutlich repariert er Geschirre und Deichseln. Was hältst du davon, wenn wir uns in eure Kutsche setzen und die Blenden runterlassen?« Er zwinkerte ihr verschwörerisch zu.

Obwohl sie wusste, dass sein Vorschlag nicht ganz ernst gemeint war, sprühten ihre braunen Augen vor Begeisterung über seinen verwegenen Einfall. »Was ist mit der Brücke unten am Fluss? Wir könnten uns dort auf die Bank setzen. Da ist es bestimmt schön sonnig.«

Er küsste sie erneut, zärtlich und lange. »Klingt verlockend.«

Corinne löste sich aus seiner Umarmung und lief vorsichtshalber allein durch das Dorf. Sobald sie sich unbeobachtet wähnten, gesellte Liam sich wieder zu ihr, und sie schlenderten händchenhaltend zum Fluss hinunter, wo eine verwitterte Holzbank stand.

Liam konnte es kaum erwarten, Corinne sein Geschenk zu überreichen. Kaum saßen sie, da fischte er das Stoffpäckchen aus seiner Jackentasche und gab es ihr in die Hand. »Für dich, zum Geburtstag«, verkündete er.

Sie öffnete geradezu andächtig das Stückchen dunkelblauen Samt und enthüllte die Brosche. »Oh!«, staunte sie. Und atmete tief ein. »O Liam, sie ist wunderschön! Du hast sie selbst entworfen, nicht wahr?«

Er grinste. »Extra für dich. Gefällt sie dir?«

Sie strahlte, ihre Augen glänzten. »Ich liebe sie. Dieser faszinierende Stein, die Farbe ist sehr ungewöhnlich.«

»Das ist ein Topas. Er harmoniert mit der Farbe deiner Augen.« Er nahm die Brosche und drehte sie auf die Rückseite. »Ma wollte unbedingt, dass ich einen ihrer Zaubersprüche eingraviere. Zum Glück war genug Platz. Sie meint, du sollst mit dem Zeigefinger die Worte berühren, bevor du sie trägst.« Corinne hing an seinen Lippen. »Komm, ich steck sie dir an.«

»Ich werde sie immer tragen«, versprach das Mädchen feierlich.

Er wurde ernst. »Eigentlich wollte ich dir etwas anderes zum Geburtstag schenken. Ich hätte dir lieber…« Er hielt inne und setzte stirnrunzelnd hinzu: »Ich hätte dir viel lieber einen Ring geschenkt. Einen Verlobungsring.« Seine Hände drückten zärtlich die ihren. »Ich liebe dich, Corinne. Ich habe dich immer geliebt. Willst du mich heiraten?«

2

Ja, Liam, es ist mein sehnlichster Wunsch«, wisperte sie. Sie träumte seit Monaten von diesem Augenblick, hatte ihn sich unterbewusst in glühenden Farben ausgemalt. Ihr schwindelte vor Glück. Liam liebte sie, und sie liebte ihn. Sie würden ein Paar werden und für immer zusammenbleiben. Plötzlich schoben sich dunkle Wolken vor die Sonne, tauchten die Bank und den Strom in kühlen Schatten. Corinne schauderte unwillkürlich. O Schreck, ihr Vater! Patrick O’Mara würde dieser Verbindung sicher nicht zustimmen. Er hatte mit wachsendem Unmut beobachtet, wie sie die Avancen des Ehrenwerten Randolph Swayne, eines stämmigen Generals im Ruhestand und seines Zeichens Sir Elroy O’Connell von Larne Hill, abgeschmettert hatte. Daniel O’Donnell, ein reicher Bankierssohn aus Waterford, hatte vor ihrem kritischen Auge ebenfalls keine Gnade gefunden. Nichtsdestotrotz würde ihr Vater es niemals billigen, dass sie einen einfachen Bürgerlichen zum Mann nahm. Als solchen bezeichnete er Liam nämlich, und das warf nach seinem Dafürhalten einen Schatten auf den stolzen Namen O’Mara. Zumal ihr Bruder eine wohlhabende Industriellentochter aus einflussreicher Familie geheiratet hatte. Sie spähte zu dem Mann hinüber, den sie abgöttisch liebte. Was sollten sie bloß machen?

»Du weißt, dass Vater das niemals erlauben wird«, murmelte sie niedergeschlagen.

»Ach, komm schon, Kopf hoch. Ich werde mit ihm reden. Wenn er erfährt, wie ernst es uns damit ist, wird er nachgeben«, versetzte Liam im Brustton der Überzeugung. »Du bist seine einzige Tochter, und er will schließlich, dass du glücklich wirst, oder?«

Sie starrte ihn mit großen Augen an. »Und wenn er uneinsichtig bleibt und uns seinen Segen verweigert?«

Liams Miene verhärtete sich, während er scharf überlegte. »Wenn das der Fall sein sollte, reißen wir einfach aus und heiraten heimlich. Dann bleibt deinem Vater nichts anderes übrig, als unsere Verbindung zu akzeptieren.« Als sie lächelte, neigte er sich vor und küsste sie mit mühsam kontrollierter Leidenschaft. »Ich kann es kaum erwarten, dich zu meiner Frau zu machen.«

»Mir geht es genauso«, seufzte sie weich. Ihre Finger streiften zärtlich seine Schläfen, zausten die dunklen Locken. Sie schob den Gedanken an die Reaktion ihres Vaters weit von sich. Ihr Liam würde es schon auf die eine oder andere Weise regeln. Egal wie, sie würden heiraten.

 

»Ich schwör’s, Mylord, ich hab’s mit eigenen Augen gesehen«, schnaubte David Boyle, der Kutscher. »Sie ham geküsst und gefummelt. Es war unsittlich. Abscheulich, Mylord.«

Patrick O’Mara, ein breitschultriger, beleibter Hüne von knapp einem Meter neunzig baute sich vor seinem Kutscher auf. Ungeachtet der heiklen Neuigkeit musste er sich bremsen, sonst hätte er diesem widerlichen Herumspionierer das schleimige Grinsen aus dem Gesicht geschlagen. Er konnte Dave nicht ausstehen und behielt ihn nur, weil sein Vater ein Händchen für Pferde hatte. Oliver Boyle galt in der gesamten Grafschaft als ausgewiesener Pferdekenner.

»Und wo haben Sie sie gesehen, Mann?«

»Unten am Fluss. Ich war spazieren. Und da war sie mit diesem Westaway-Burschen. Er gab ihr irgendwas Glitzerndes und hat es ihr ans Kleid gesteckt, in den Stoff, jawohl.« Er schnaufte verächtlich, wohl wissend, dass sich so etwas bei einer Dame von Stand nicht gehörte. »Danach schlenderten sie Hand in Hand fort.« Dave, der den Kopf gesenkt hielt, weil er niemandem direkt in die Augen zu schauen wagte, warf dem Earl einen schnellen Blick zu. »Bei meiner Ehre, Mylord, es ist die volle Wahrheit.«

Ein gepresster Seufzer kam aus O’Maras Kehle. »In Ordnung, Sie können gehen.« Er fingerte in seiner Westentasche herum und drückte dem Kutscher eine Münze in die Hand. »Und kein Wort davon zu irgendwem, unterstehen Sie sich! Haben wir uns verstanden?«

»Ja, natürlich, Sir, Mylord.« Dave senkte den Kopf und trottete mit eingezogenen Schultern aus der gräflichen Bibliothek.

Sobald er wieder allein war, ließ Patrick sich in den ausladenden Polstersessel sinken, der vor dem Kamin stand. Den Blick auf die zuckenden Flammen geheftet, seine Miene unergründlich, trommelte er mit seinen beringten Fingern nervös auf der Sessellehne. Abwesend versetzte er dem rotbraunen Jagdsetter einen Tritt, um ihn aus der Nähe des aufsprühenden Funkenflugs wegzuscheuchen, der ihm womöglich noch das Fell versengte. Worauf der Hund vor Schmerz auf jaulte und sich mit einzogenem Schwanz trollte.

Als die Uhr auf dem Kaminsims erneut schlug, sprang der Earl of Bonham geschäftig auf und läutete die Bedienstetenglocke. Kurz darauf klopfte eines der Zimmermädchen, bevor es behutsam die Tür zur Bibliothek öffnete.

»Mylord?«

»Hol mir Dave. Ich habe einen Auftrag für ihn«, sagte Patrick knapp. Sobald das Mädchen verschwunden war, setzte er sich an seinen wuchtigen Sekretär und verfasste eine kurze Notiz. Als Boyle auftauchte und mit der Mütze in der Hand unschlüssig zum Schreibtisch schlurfte – als hätte er etwas ausgefressen –, blickte sein Chef auf. »Aaah, Dave. Ich habe einen Auftrag für Sie. Satteln Sie einen von den Ackergäulen und bringen Sie das ins Dorf, zu Nummer 42, Codlington Street.« Er schob dem Kutscher die Notiz zu. »Fragen Sie nach Jack O’Rourke. Er wird dort sein. Geben Sie die Mitteilung aber keinem anderen, verstanden?« Als Dave nickte, fuhr der Earl fort. »Warten Sie auf Jacks Antwort, die bringen Sie mir dann umgehend her. Ja?«

»Ja, Mylord. Umgehend.« Nach einem erneuten Nicken drehte der Kutscher sich rasch herum und suchte schleunigst das Weite.

 

Am Sonntagmorgen entdeckte Rosemary Westaway Corinne in der ersten Reihe des Kirchengestühls der St. Finbar’s Church. Die junge Frau saß neben ihrem Vater und schaute sich heimlich um, bis sie Liam erspähte. Die Haube auf ihrem Kopf wippte kaum merklich nach vorn, und sie lächelte ihnen zu. Aha, sie trug die neue Brosche und schien unendlich stolz darauf. Sie steckte für alle gut sichtbar an dem Revers ihrer elegant geschneiderten dunkelgrauen Kostümjacke und glitzerte faszinierend. Rosemary stupste ihren Sohn an und raunte ihm zu: »Sie trägt sie, Liam.«

»Ich weiß, Ma.« Er grinste. »Ich miete mir noch diese Woche einen Einspänner, um nach Bonham Hall hinauszufahren. Dort werde ich bei ihrem Vater offiziell um Corinnes Hand anhalten.«

»Das ist das einzig Vernünftige, was du tun kannst, mein Sohn.« Während die Orgel die einleitenden Takte zu dem ersten Lied spielte und die Gemeinde sich erhob, versuchte Rosemary, ihre aufkommenden Zweifel auszublenden. Sie hatte Liam schon zigmal ins Gewissen geredet, er solle sich Corinne aus dem Kopf schlagen, weil sie unerreichbar für ihn war. Er hatte sich dann jedoch jedes Mal stur gestellt. Wollte ihre Argumente nicht gelten lassen, dass der Graf ihn für einen armen Schlucker hielt, der seiner Tochter kein angemessen sorgenfreies Luxusleben bieten könnte, geschweige denn einen wohlklingenden Adelstitel. Auf dem Ohr war Liam taub – den resoluten, willensstarken Charakter hatte er von ihr geerbt. Letztlich, und um den Hausfrieden nicht zu gefährden, hatte sie eingelenkt. Sie wollte ihrem verliebten Jungen keine weiteren Steine in den Weg legen, folglich hatte sie die Romanze gebilligt und ihn in seinem Brautwerben unterstützt.

Außerdem mochte sie die zauberhafte Corinne O’Mara. Sie war kein bisschen eingebildet oder hochmütig, wie es der Landadel sonst so an sich hatte. Das gesellschaftliche Klima hatte sich seit dem Tod von Königin Viktoria ohnehin verändert. Mit Beginn des neuen Jahrhunderts waren die Klassenunterschiede längst nicht mehr so ausgeprägt wie früher. Was war also verwerflich daran, dass ein Bürgerlicher eine Adlige heiratete? Umgekehrt war es schließlich seit Jahrhunderten der Fall, wenn ein verarmter Edelmann damit seine Vermögenslage aufbessern konnte. O’Mara würde gewiss dagegenhalten, dass Liam es aus dem einzigen Grund auf seine Tochter abgesehen habe, weil er sich ins gemachte Nest setzen wolle. So ein Unfug, wo doch inzwischen allgemein bekannt war, wie schwer der Adel damit zu kämpfen hatte, dass die Landbevölkerung zunehmend in die größeren Städte abwanderte, wo sich in den Fabriken und Spinnereien besser bezahlte Arbeit finden ließ. Weswegen hatte sein Sohn Edward denn die unscheinbare Beatrice Cox geheiratet, die wie die Westaways dem Bürgertum entstammte? Weil sie Geld wie Heu hatte! Das arme Ding konnte einem leidtun.

Aber das tat hier nichts zur Sache. Ihre Sorge galt einzig und allein Liam. Ungeachtet seiner künstlerischen Begabung war er freilich ein einfacher Mann, der niemandem Böses wollte und immer zuerst das Gute in den Menschen sah. Im Gegensatz zu ihr hatte er keine Ahnung, wozu Patrick O’Mara fähig war. Da waren beispielsweise die Gerüchte um unbezahlte Rechnungen – zu viele, als dass man es als dummes Gerede unzufriedener Pächter abtun könnte. Nein, ihr Sohn würde sehr, sehr umsichtig vorgehen müssen, so viel stand fest.

Die Gemeindemitglieder standen reihenweise auf und versammelten sich vor dem Altar, um die heilige Kommunion zu empfangen. Das lenkte Rosemary einstweilen von ihren brütenden Überlegungen ab.

3

Die drei Männer drückten sich in den Schatten des Mietstalls. Es war erst kurz vor fünf am Nachmittag, trotzdem dunkelte es bereits. Es waren raue, wilde Gesellen, mit dicken Jacken, Mützen und Schals zum Schutz vor der winterlichen Kälte, ihre Füße steckten in kräftigen Arbeitsstiefeln. Zwei von ihnen umklammerten wuchtige Knüppel. Ihr Anführer, ein hoch gewachsener Typ mit schütterem, grau meliertem Haar, schlug fröstelnd den Kragen seiner Jacke hoch und blies sich in die Hände, um die Kälte zu verscheuchen.

»Wenn er nicht bald kommt, Jack, steige ich aus der Sache aus. Mir frieren so langsam die Eier ab«, grummelte der Kleinste von ihnen.

»Mann, halt die Klappe, Bobby. Immerhin haben wir die Kohle für unsere Arbeit schon im Voraus eingesackt.«

»Wenn ihr mich fragt, sitzt bei dem Earl ’ne Schraube locker«, wandte Hugh ein, der Dritte im Bunde.

»Pssst! Ich höre Schritte«, warnte Jack seine Kumpane. Er blinzelte angestrengt in die Dunkelheit und gewahrte die breitschultrige Silhouette eines Mannes, der in ihre Richtung kam. »Hey, Mann, Sie sind nicht zufällig Liam Westaway?«, rief er der schemenhaften Gestalt zu.

»Doch, der bin ich.«

Nachdem das geklärt war, bauten die Männer sich strategisch geschickt auf, ihre Körperhaltung angespannt, augenblicklich bereit, ihren unrühmlichen Auftrag zu erfüllen. Sie beobachteten, wie Liam näher kam.

»Ach, das trifft sich gut«, sagte Jack und setzte feixend hinzu: »Wir sollen Ihnen nämlich eine Nachricht beibringen.« Er nickte seinen Kumpeln zu. »Los, schnappt ihn euch.«