M. A. Bennett

SIEBEN

M. A. Bennett

hat venezianische Wurzeln, wurde in Manchester geboren und wuchs im nordenglischen Yorkshire auf. Nach ihrem Studium der Geschichte in Oxford und Venedig studierte sie Kunst und arbeitete als Illustratorin, Schauspielerin und Filmkritikerin. Außerdem war sie Tour-Designerin mehrerer Rockbands, unter anderem von U2 und den Rolling Stones. Sie lebt mit ihrer Familie in Nordlondon.

Ebenfalls von M. A. Bennett im Arena Verlag erschienen:
Bloody Weekend. Neun Jugendliche. Drei Tage. Ein Opfer.

M. A. Bennett

SIEBEN

Spiel ohne Regeln

Aus dem Englischen
von Bea Reiter

Für Sacha,
der früher ein Nowhere Man war
und jetzt ein Somewhere Man ist.

»Niemand ist eine Insel ganz für sich allein …«

John Donne

* * *

Die Personen auf der Insel

Lincoln Selkirk: Der Nerd

Flora Altounyan: Die Außenseiterin

Sebastian Loam: Die Sportskanone

Miranda Pencroft: Die Klassenschönheit

Ralph Turk: Der Kriminelle

Jun Am Li: Die Streberin

Gilbert Egan: Der Trottel

Erste Platte

Ode an die Freude

Ludwig van Beethoven (1785)

PROLOG

Das Erste, woran ich mich erinnern kann, ist der Sand auf der Insel. Ich machte die Augen auf und sah Sand, nichts als Sand, total aus der Nähe, als würde er unter einem Mikroskop liegen. Das hört sich jetzt vielleicht bescheuert an, aber bis zu dem Moment hatte ich nicht gewusst, dass Sand von Nahem genauso aussieht wie eine Menge winzig kleiner Felsbrocken, die zusammenkleben wie dieser krümelige braune Zucker, den es in England gibt. An der Seite, auf der mein Kopf am Boden lag, fühlte sich mein Schädel irgendwie flach gedrückt an, als hätte er sich von einem runden englischen Fußball zu einem ovalen amerikanischen Football verformt.

Ich blinzelte und versuchte, meine Umgebung zu erkennen. Irgendetwas kam auf mein Gesicht zu. Es war warmes Salzwasser. Als es in meinen Mund spritzte, musste ich würgen, dann zog es sich so genauso schnell zurück, wie es gekommen war. Ein paar Sekunden später war es wieder da und dieses Mal hatte es etwas mitgebracht. Ich streckte eine Hand aus, die nicht mir zu gehören schien, packte das schwarze Gebilde, das wie eine Spinne aussah, und hielt es mir vors Gesicht. Es war meine Brille, die ich für vier Pfund bei Tiger gekauft hatte. Sie war noch heil.

Ich setzte mich auf. In meinem Kopf pochte es auf einmal schmerzhaft. Nachdem ich die Brille im Meerwasser gewaschen hatte, setzte ich sie auf, aus reiner Gewohnheit. Das Wasser fiel von den Gläsern wie Tränen auf mein Gesicht. Es war so heiß, dass die Tränen fast sofort trockneten. Ich bewegte meinen Kiefer. Er tat weh. Als ich mit der Zunge über meine rechte Zahnreihe fuhr, fühlte es sich ein bisschen wacklig an. Aber ich konnte keine Lücken ertasten, nur die scharfe Kante des Zahns, der abgebrochen war, als mir mal eine reingehauen wurde. Meine Mom hatte mir wochenlang in den Ohren gelegen, dass ich zum Zahnarzt sollte, aber ich war einfach nicht dazu gekommen. Jetzt würde ich vermutlich noch erheblich länger damit warten müssen.

Ich begutachtete den Rest von mir. Er sah nicht so aus, als hätte er etwas abbekommen. Meine dürren weißen Arme waren okay und meine dürren weißen Beine schienen auch in Ordnung zu sein. Ich hatte keinen Spiegel, daher konnte ich meinen Football-Kopf nicht untersuchen, aber nach einem Blick auf mein Hemd hatte ich den Eindruck, dass mein Oberkörper ebenfalls unverletzt war und so aussah wie immer: schmal und schwächlich, mit ungefähr so vielen Haaren, wie Homer Simpson auf dem Kopf hatte. Erbärmlich für einen Sechzehnjährigen, aber völlig intakt. Das weiße Hemd und die Khaki-Shorts, die ich im Flugzeug getragen hatte, waren ein bisschen schmutzig und an einigen Stellen zerrissen und irgendwie hatte ich es geschafft, meine Sneaker zu verlieren – meine großen weißen Füße waren nackt. Aber für jemanden, der gerade vom Himmel gefallen war, schien ich in ziemlich guter Verfassung zu sein.

Ich blickte mich um. Ich war auf einer bilderbuchartigen SpongeBob-Insel gelandet, mit Palmen, türkisfarbenem Meer und blauem Himmel. Eine goldene Sonne brannte von oben auf mich herunter. Mir war noch nie in meinem Leben so heiß gewesen, nicht einmal, als wir noch in Palo Alto gewohnt hatten. In meinem Kopf konnte ich meinen eigenen Atem hören und außerhalb meines Kopfs hörte ich das Geräusch der Brandung, die an den Strand schlug und sich dann wieder zurückzog. Die Insel atmete auch.

Eine angenehm kühle Brise kam auf und dann fiel mir noch ein Geräusch auf: eine Art Flüstern, das der Wind in den Palmen verursachte. Die großen glänzenden Blätter wedelten hin und her, darunter hingen, immer paarweise, große grüne Kokosnüsse. Hinter den Palmen konnte ich eine dschungelartige Wildnis und einen hohen, mit frischem Grün bewachsenen Hügel erkennen. Natürlich wusste ich nicht von Anfang an, dass ich auf einer Insel war, aber es sah ganz klar wie eine aus. Im Sand hinter mir befand sich eine lange, bogenförmige Furche, als hätte mich jemand am Strand entlanggezogen, nachdem ich dort aufgekommen war. Über die gesamte Länge des Strandes verstreut lagen ein paar weiße Teile, die vom Flugzeug stammen mussten, in dem ich und meine Klasse gesessen hatten.

Ich stand langsam auf und spuckte Sand aus, während meine Beine zitterten wie die eines neugeborenen Fohlens. Augen, Nase und Mund waren voller Sand. Ich blinzelte und hustete und spuckte. Die rechte Seite meines Kopfs – die Seite, die eingedrückt war – tat tierisch weh. Aber das war mir egal. Ich drehte mich einmal um mich selbst und suchte alles ab, was ich bis zum Horizont erkennen konnte. Ich konnte keine Menschenseele sehen. Ich war allein.

In dem Moment hätte ich Angst bekommen sollen. Aber ich bekam keine. Fehlanzeige. Stattdessen führte ich einen kleinen Freudentanz auf und schwenkte die Hände über meinem Kopf hin und her wie einer dieser aufblasbaren, wild zuckenden Röhrenmänner, die manchmal an Tankstellen stehen. Trotz der Sandkörner in meiner Kehle sang ich ein paar ziemlich schief klingende Takte der »Ode an die Freude«. Jetzt fand ich es nicht mehr so ätzend, dass es die Melodie zu unserem Schullied war.

Meine Klassenkameraden waren tot. Sie waren alle tot. Und das war ein Grund zum Feiern.

Meine Mom hatte recht gehabt.

Der Nerd besaß die Erde.

Zweite Platte

Nowhere Man – The Beatles

John Lennon, Paul McCartney (1965)

DREI JAHRE VORHER

1

DESERT ISLAND DISCS

Für meine Spezies – der kleine Nerd – gibt es bestimmte Stereotypen, an die wir uns halten müssen. Wir mögen Wörter (ich kann sämtliche Dialoge aus Star Wars zitieren). Wir mögen Zahlen (ich kann Pi mit Hunderten Nachkommastellen auswendig). Und richtig gut sind wir, wenn es um Wörter und Zahlen geht (ich finde es toll, dass es 39 Stufen oder 101 Dalmatiner sind oder dass der Graf von Monte Christo »Nummer 34« genannt wurde). Wir mögen Computer. Wir mögen Marvel und DC. Wir können alles Mögliche bauen, aber mit Leuten reden können wir nicht. Wir können alles finden, nur keine Freunde. Wir mögen Mädchen, aber wir kriegen sie nicht. Und unter keinen, wirklich gar keinen Umständen machen wir Sport. Oder, wie es in meiner neuen Schule heißt, Spiele.

Spiele waren für mich immer Videospiele. Videospiele wären in Ordnung gewesen. Wie die meisten Angehörigen meiner Spezies bin ich ein ziemlich guter Gamer (Fortnite. Uncharted 4. Link’s Awakening von Zelda. Und der Klassiker: Myst.) Klar, einige dieser Spiele können ganz schön brutal sein. Aber es ist alles virtuell und deshalb harmlos.

Die Spiele an meiner Schule waren anders.

Sie waren gefährlich.

Bis ich dreizehn war, hatte ich es geschafft, um Sportunterricht herumzukommen, ganz einfach deshalb, weil ich um Schule selbst herumgekommen war. Seit unserem Umzug nach England (bei dem ich noch ziemlich klein gewesen war) war ich zu Hause unterrichtet worden und konnte mir nichts Besseres vorstellen. Ich wurde an der amerikanischen Westküste geboren. Meine Eltern sind Wissenschaftler und unterrichteten an einem Hippie-College, an dem alle mit Batikklamotten und Birkenstock-Sandalen herumliefen und Kristalle sammelten. Und dann bekamen meine Wissenschaftler-Eltern beide eine Forschungsstelle an der Universität von Oxford in England und wir zogen nach Oxford.

An unserem neuen Wohnort mussten wir uns alle anpassen. Meine Eltern sehen aus, als wären sie direkt aus den 1970ern ins 21. Jahrhundert gebeamt worden. Mein Dad hat eine Wallemähne und einen Bart und trägt eine Pilotenbrille und Nylonhemden, die knistern, wenn man ihn umarmt. Die Haare meiner Mom reichen ihr bis zur Taille und sie läuft immer in bodenlangen Röcken herum. An der Universität von Palo Alto (ihrer alten Uni) wurden sie Paul und Marilyn genannt, sogar von ihren Studenten. Keinen von beiden hatte ich jemals in etwas anderem als Sandalen gesehen. In Oxford waren sie plötzlich Professor P. Selkirk und Professorin M. Selkirk und mussten richtige Schuhe tragen. Aber das schien ihnen egal zu sein. Sie schwärmten geradezu von der historischen Stadt und den alten Colleges und dem ganzen Kram und arbeiteten an einem bahnbrechenden neuen Verhaltensforschungsprojekt, von dem sie total begeistert waren. Und was mich anging, dachten sie, der Übergang von meiner alternativen amerikanischen Westküstenschule, an der eigentlich nur Malen mit Fingern und nicht viel mehr unterrichtet wurde, zu einer steifen britischen Privatschule in einer akademisch geprägten Stadt wie Oxford wäre vielleicht ein bisschen zu heftig. Und deshalb beschlossen sie, mich selbst zu unterrichten.

Da ich immer zu Hause war, kannte ich eigentlich gar keine anderen Kinder, bis ich dreizehn war. Klar, wenn die Kinder der Kollegen meiner Eltern Geburtstag hatten, wurde ich zu den Partys mitgeschleppt, aber ich schloss keine dauerhaften Freundschaften. Zum einen geht es in der akademischen Welt ziemlich wechselhaft zu, die Leute schwirren ständig in der Welt herum, weil sie irgendwo anders eine Forschungsstelle für dieses oder einen Lehrstuhl für jenes annehmen. Und deshalb waren die Kinder, die ich kennenlernte, sozusagen nur für zwei Sekunden in Oxford. Zum anderen war ich der Meinung, dass ich niemand anderen als meine Eltern brauchte. Ich fand es toll, dass sie mich unterrichteten. Sie arbeiteten an einer neu gegründeten modernen Fakultät, die »Institut für Verhaltenswissenschaften« hieß und zu einem wahnsinnig alten und wahnsinnig schönen College namens Trinity gehörte. Aber es war immer jemand zu Hause und dieser Jemand unterrichtete mich dann.

Auf dem Stundenplan standen Naturwissenschaften – natürlich –, Mathe, Englisch und sogar ein bisschen Latein, weil es, wie Dad immer sagte, die Wissenschaftssprache war. Und Politik, wofür ich mich von Anfang an interessierte, was an meinem Namen lag. Ich hatte mein ganzes Leben lang gewusst, dass ich nach Präsident Lincoln benannt worden war, aber aus irgendeinem Grund fragte ich meine Eltern erst, nachdem wir nach England gezogen waren, warum ausgerechnet nach ihm.

»Er ist mein Lieblingspräsident«, hatte Mom gesagt.

»Und wenn man nach einer bestimmten Person benannt ist, fängt man manchmal an, ihr nachzueifern«, fügte Dad hinzu. Sie redeten oft so, immer abwechselnd, einer nach dem anderen – sie waren ein echt gutes Zweierteam, nicht nur bei der Arbeit, sondern auch zu Hause. »Das nennt man nominativen Determinismus.« Meine Eltern schraubten ihr geistiges Niveau nie für mich herunter, nicht einmal, als ich noch klein war. Sie erwarteten einfach von mir, dass ich alles verstand.

»Ihr wollt also, dass ich mit vierundfünfzig in einem Theater erschossen werde?«, fragte ich.

Sie lachten. »Nein, du Dummerchen«, erwiderte meine Mutter. »Ich dachte eher an die Art und Weise, in der er gelebt hat, nicht daran, wie er gestorben ist. Er war ein vorbildlicher Präsident mit einem starken moralischen Kompass. Wusstest du, dass er die Sklaverei abgeschafft hat?«

Na klar wusste ich das. »Ich glaube, das mit der Sklaverei ist abgehakt, Mom. Ich kann sie ja schlecht noch mal abschaffen.«

»An einigen Orten auf der Welt gibt es immer noch Sklaven«, wandte mein Vater ein. »Und deine Mom meint eigentlich, dass du eines Tages Präsident sein könntest.«

»Aber wir leben doch jetzt in England.«

»Macht doch nichts«, sagte Dad. »Viele Präsidenten haben eine Zeit lang in Oxford gewohnt. John Quincy Adams. JFK. Bill Clinton. Link, wichtig ist nur, dass du in den Vereinigten Staaten geboren wurdest. Das hast du übrigens uns zu verdanken.«

Meine Eltern nannten mich immer Link. Mit dem Link aus Zelda hat das aber nichts zu tun, falls das jetzt jemand denken sollte. Ich hielt es lange für eine Abkürzung von Lincoln, aber irgendwann sagte Dad einmal, dass sie damit angefangen hätten, mich so zu nennen, weil sie mich zu den Essenszeiten nie finden konnten. Ich war nämlich ständig mit irgendeinem Spiel beschäftigt, suchte Primzahlen auf einem Schachbrett oder baute ein Modellflugzeug oder etwas anderes. Mein Stuhl am Esstisch blieb immer leer, bis einer von ihnen laut seufzte, die Serviette hinlegte und sich auf die Suche nach mir machte. Und deshalb nannten sie mich dann »Missing Link« – wie diese Theorie der Überlieferungslücke in der Entwicklungsgeschichte. Sie lachten sich kaputt darüber, aber es dauerte Jahre, bis ich den Witz verstand.

Das war das Tolle daran, zu Hause unterrichtet zu werden. Es gab keine Struktur. Wenn ich gerade dabei war, etwas im Garten zu erfinden, ließen sie mich einfach machen, bis es so dunkel war, dass ich nichts mehr erkennen konnte. Wenn ich in ein Buch versunken war, das mich interessierte, ließen sie mich weiterlesen, bis mein Magen knurrte und ich mich nicht mehr auf die Geschichte konzentrieren konnte. Manchmal, wenn meine Eltern beide zu Hause waren, beschlossen sie beim Frühstück spontan, den Unterricht an diesem Tag ausfallen zu lassen und stattdessen einen Ausflug zu machen. Diese Ausflüge waren immer irgendwie pädagogisch, aber einem Nerd wie mir machten sie Riesenspaß. Wir fuhren mit dem Zug nach London und verbrachten ganze Tage im Natural History Museum, das, in dem Dinosaurierskelette stehen. Oder nach Stratford-upon-Avon, wo wir die Schwäne fütterten und uns dann ein Stück im Royal Shakespeare Theatre ansahen. Wenn ich jetzt so darüber nachdenke, fällt mir auf, dass mich meine Eltern zu einer Menge Theaterstücke mitgenommen haben. Das ist schon ein bisschen merkwürdig, wenn man bedenkt, dass ich nach einem Präsidenten benannt wurde, der in einem Theater erschossen wurde. Es waren auch Stücke darunter, für die ich eigentlich noch zu jung war. Ich kann mich noch gut an das erste Theaterstück erinnern, das ich in England gesehen habe. Ich glaube, da war ich erst acht. Es ging um einen Butler, der von seiner hochnäsigen englischen Oberklassefamilie wie ein Sklave behandelt wird, aber dann stranden er und die Familie auf einer einsamen Insel, wo sich alles umkehrt, und plötzlich ist er der Boss und sie sind seine Sklaven. Meine Eltern köderten mich dadurch, dass sie sagten, es sei von dem Typ, der auch Peter Pan geschrieben hätte. Ich war noch viel zu jung, um alles zu verstehen, aber ich fand es toll.

Die Abende verbrachten wir meistens zu Hause. Wir wohnten in einem alten Haus aus roten Backsteinen in einem hübschen Viertel von Oxford, das Jericho hieß, aus Gründen, die mir nie jemand erklärt hat. Nach dem Essen saßen wir immer in der Küche und hörten der Waschmaschine beim Schleudern zu, während im Radio eine ganz bestimmte Sendung lief. Für meine Eltern war das Beste an England die BBC und das Beste an der BBC war BBC Radio 4, und das Beste an BBC Radio 4 war Desert Island Discs.

Bei der Sendung ist jede Woche ein anderer Prominenter zu Gast, der sich vorstellen soll, dass es ihn als Schiffbrüchigen auf eine einsame Insel verschlägt. Die Moderatorin – sie hat einen unglaublich weichen (schottischen?) Akzent – fordert ihn oder sie dazu auf, sich acht Lieblingsmusikstücke auszusuchen, und dann fragt sie, warum es ausgerechnet diese Titel sein sollen, und spielt sie in der Sendung. Die Teilnehmer sind keine bekackten B-Promis wie die Kardashians, sondern richtig tolle Schauspieler, Wissenschaftler, Politiker und so. Sie dürfen sich auch ein Buch aussuchen. Die Bibel und Shakespeares Gesammelte Werke kriegen sie sowieso, wenn sie auf der einsamen Insel stranden, die brauchen sie nicht zu nehmen. Und dann können sie noch einen Luxusgegenstand nennen, zum Beispiel ein Klavier oder einen Whirlpool oder etwas in der Art. Es klingt ein bisschen verrückt, aber es ist cool. Offenbar läuft die Sendung seit einer halben Ewigkeit und hatte schon viele richtig tolle Gäste, Stephen Hawking zum Beispiel.

Am 1. April 1963 haben sie sogar die Zuschauer reingelegt und eine komplette Sendung mit jemandem gemacht, der von vorne bis hinten erfunden war. Sie dachten sich einen Typ namens Sir Harry Whitlohn aus, der angeblich Bergsteiger war, und engagierten einen Schauspieler, der mit seinen Expeditionen prahlte und Musik aussuchte und so. Das haben ihnen tatsächlich alle abgenommen. Das Konzept der Sendung besteht darin, dass die Musikauswahl einer Person mehr darüber aussagt, wie sie wirklich ist, als die kurzen Interviews, die zwischen den Songs geführt werden.

Mir gefiel Desert Island Discs wirklich gut, weil ich mich – musikalisch gesehen – nie als Kind meiner Zeit gefühlt habe. Die aktuelle Musik ist für mich mit den sozialen Medien verbunden (mit Künstlern wie Taylor Swift, die ihre Waren auf Instagram anpreisen) und soziale Medien sind für mich gleichbedeutend mit Angst, aus Gründen, die ich später noch erläutern werde. Aber durch Desert Island Discs habe ich alte Musik kennengelernt, die Art von Musik, die meine Eltern mochten. Die Art von Musik, die tatsächlich einmal auf eine Schallplatte gepresst worden war und kein Download oder Stream oder MP-was-auch-immer. Diese Art von Musik war ungefährlich. Und diese Musik mochte ich.

Tagsüber hatte ich also Unterricht und abends hörte ich mir Desert Island Discs an oder war in meinem Zimmer, wo ich ein Videospiel spielte, aber nie, wirklich nie musste ich bei Spielen mitmachen, bei denen man seinen ganzen Körper bewegte. Kein Sportunterricht. Nicht einmal eine Kniebeuge.

Dann wurde ich dreizehn und alles änderte sich. Meine Eltern schickten mich auf eine Schule, denn in dem Alter suchen sich englische Jugendliche ihre Fächer für die Zwischenprüfungen am Ende der zehnten Klasse aus. In einigen Fächern war ich inzwischen besser als meine Eltern, nicht in den Naturwissenschaften (natürlich nicht), aber in ein paar anderen Bereichen. Es war jetzt nicht so, dass sie mich an sich drückten und sagten: Junge, du bist ein Genie. Wir können dir nichts mehr beibringen. Aber es war so ungefähr das, was sie meinten.

Ich brauchte Fachlehrer, Lehrer, die Experten auf ihrem Gebiet waren. Ich brauchte einen Lehrplan und mehr Unterricht als nur ein paar Stunden zwischendurch. Und vor allem, jedenfalls nach Ansicht meiner Eltern, musste ich »sozialisiert« werden. Mein Vater und meine Mutter verwendeten eine Menge Fachbegriffe aus der Verhaltensforschung und mit »sozialisieren« meinten sie, dass ich andere Jugendliche kennenlernen sollte. »Du bist ein Einzelkind, Schätzchen«, sagte Mom immer. »Wenn wir könnten, würden wir dich für immer zu Hause behalten. Aber dir fehlt die Interaktion mit anderen Jugendlichen deines Alters.« Und dann sagte mein Dad etwas, an das ich in Zukunft noch sehr oft denken sollte: »Niemand ist eine Insel ganz für sich allein.«

Also meldeten sie mich an einer sehr teuren, sehr renommierten Privatschule an – auf einer Insel, ausgerechnet –, die für Kinder von Dozenten der Uni umsonst war. Und deshalb landete ich im Alter von dreizehn Jahren in der Hölle auf Erden. In Osney.

2

DER SPORT-NAZI

Natürlich hatte ich gleich an meinem ersten Schultag in Osney Sportunterricht. Oder, wie gesagt, Spiele, wie sie das hier nannten. Kurz vor Mittag stand ich im Innenhof der Schule und fror mir den Arsch ab, weil ich nur Sportsachen trug.

Meine Sachen waren zwar von guter Qualität, aber dünn wie Papier. Es war erst September, trotzdem fühlte es sich an, als hätten wir schon Minusgrade. Mir war noch nie in meinem Leben so kalt gewesen. Die Sportkleidung in Osney bestand aus marineblauen Shorts und einem T-Shirt in der gleichen Farbe, das auf der rechten Brust mit dem Schulemblem verziert war. Das Wappen der Schule war ein kleiner Baum auf einer Insel mit drei wellenförmigen Linien darunter, die, glaube ich, Wasser symbolisierten. Die Schule war nämlich auf einer Art Insel namens Osney, die in der Mitte des Flusses lag.

Der einzige Trost, den mir meine Sportsachen gaben (denn Wärme war es mit Sicherheit nicht), war die Tatsache, dass ich aussah wie alle anderen. Ich hoffte inständig, dass ich mich zwischen meinen Mitschülern verstecken konnte, die exakt die gleiche Kleidung trugen wie ich, und die Stunde überstand, ohne mich komplett zum Idioten zu machen. Ich wusste, dass in Osney nicht die Sportarten unterrichtet wurden, in denen ich bei uns zu Hause in den Vereinigten Staaten mit Sicherheit eine Niete gewesen wäre, Basketball oder Baseball oder so. Mich erwartete eine ganze Batterie neuer Disziplinen, in denen ich meine Unfähigkeit beweisen konnte. Außerdem war Osney eine Schule für Jungen und Mädchen und etwa die Hälfte der anwesenden Schüler war weiblich. Was keine gute Nachricht war. Das Potenzial, mich lächerlich zu machen, steigt immer exponentiell zur Anzahl der Mädchen in meiner Nähe. Also schlotterte ich vor Kälte, versteckte mich und versuchte, nicht allzu sehr aufzufallen.

Natürlich sah ich nicht exakt so aus wie alle anderen. Meine Haare sahen grauenhaft aus, was daran lag, dass ich sie wie immer selbst geschnitten hatte. Meine Eltern gehen nicht zum Friseur. Und ich auch nicht. Ich habe etwas zu lange braune Haare, und wenn mir ein paar Strähnen in die Augen fallen, schneide ich sie einfach mit einer Nagelschere ab, meistens viel zu kurz, damit ich es nicht andauernd wieder machen muss. Und das lässt mich dann irgendwie dumm aus der Wäsche gucken, was ich auch weiß. Meine Mom sagt ständig, dass ich gut aussehe, aber das ignoriere ich grundsätzlich – Mütter sind genetisch darauf programmiert, ihre Nachkommen für attraktiv zu halten. Immerhin hatte ich ziemlich intakte Haut für einen Dreizehnjährigen (wenig Pickel und so). Und ich trug an dem Tag meine neue Brille, die dreihundert Pfund gekostet hatte und auf die ich sehr stolz war. Ich fragte mich jedoch, ob es so eine gute Idee gewesen war, sie im Sportunterricht zu tragen (außer mir hatte niemand eine Brille auf der Nase). Aber ich hatte noch keinen Spind und wollte sie nicht einfach irgendwo rumliegen lassen, dazu war sie einfach zu teuer gewesen.

Meine Eltern hatten mir die Brille als eine Art Bestechung gekauft, als sie mir sagten, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben zur Schule gehen würde. Sie war ein bisschen zu groß für mein Gesicht, hatte eine schwarze Hochglanzbeschichtung und entspiegelte Gläser und auf einem der Bügel stand in matten Silberbuchstaben Tom Ford. Ich war kein bisschen beunruhigt darüber, zur Schule zu gehen – ich hatte ja keine Ahnung, was mich erwartete –, aber die Brille nahm ich trotzdem, weil ich sie für ziemlich cool hielt. Eigentlich bin ich gar nicht richtig kurzsichtig, aber ich trage gern Brillen. Sie sind so etwas wie ein Markenzeichen für mich und meine Spezies.

Ich starrte also durch meine neue Brille auf meine Umgebung. Osney sah genauso aus wie ein College in Oxford, was es im Prinzip auch war. Genau genommen sah es aus wie eine kleinere Version des Trinity Colleges, an dem meine Eltern arbeiteten. Ich stand gerade im Innenhof, einer großen, quadratischen Rasenfläche in der Mitte der Schule. Der Rasen und die daran angrenzenden Pflastersteine waren auf allen vier Seiten von langen, niedrigen Gebäuden umgeben – alle wunderschön, alle unterschiedlich, alle ein paar Jahrhunderte alt –, die das sogenannte »Viereck« bildeten. Osney war eine ziemlich teure Schule, was einem schon auf den ersten Blick auffiel. Wenn sie keine Verbindung zur Universität gehabt hätte, wäre ich dort mit Sicherheit nicht angenommen worden.

Während alle warteten und ich vor Kälte zitterte, kam ein Typ in einem Sweatshirt mit Osney-Wappen und Trainingshose auf den Hof (der Mann hatte Glück gehabt – er musste nicht in kurzen Hosen frieren). Er joggte übertrieben schnell bis zur Mitte des Rasens, nur um zu beweisen, dass er supersportlich war. An einem Band um seinen Hals hing eine Trillerpfeife, die er wie eine olympische Goldmedaille trug. In der ganzen Zeit, in der ich in Osney war, habe ich kein einziges Mal gesehen, wie er die Pfeife benutzt hat. Für ihn war die Pfeife das, was meine Brille für mich war: ein unnötiges, aber entscheidendes Accessoire. Der Mann war Mr Llewellyn, der Spielelehrer, wie man in Osney zu sagen pflegte.

Er war sehr groß, mit schütteren blonden Haaren und stechenden blauen Augen. Vermutlich als Ausgleich für die Haare, die er auf dem Kopf verloren hatte, hatte er sich einen großen blonden Schnurrbart wachsen lassen. Er starrte uns an, als wären wir Kakerlaken auf seiner Pizza. Ich versuchte, mich hinter den anderen zu verstecken, aber er entdeckte mich sofort. Er musterte mich, als hätte er eine Waschmaschine gewonnen.

»Aha! Ich sehe da einen neuen Schüler!«, rief er, während er mit einem seiner großen Wurstfinger auf mich zeigte. »Tritt vor, Junge. Wie heißt du?«

Und das war’s dann mit meinem Versuch, unbemerkt zu bleiben. Ich machte einen Schritt nach vorn. »Lincoln Selkirk«, stieß ich zwischen klappernden Zähnen hervor.

»Lincoln Selkirk, Sir.« Er schniefte, wobei sein Schnurrbart kurz nach oben hüpfte. »Merkwürdiger Name.«

»Ich wurde nach Abraham Lincoln benannt, dem sechzehnten Präsidenten der Vereinigten Staaten.«

Ich konnte Mr Llewellyn ansehen, dass es ihm herzlich egal war, dass ich nach Abraham Lincoln benannt worden oder dass er der sechzehnte Präsident der Vereinigten Staaten gewesen war. Das waren einfach zu viele Informationen für den guten Llewellyn. Später fand ich heraus, dass er sich – wie die meisten Leute in Osney – eigentlich nur für Sport interessierte. Wenn Abraham Lincoln Fußballspieler gewesen wäre, hätte er vielleicht anders reagiert.

»Mit deinem Vornamen, so ausgefallen er auch sein mag, brauchen wir uns hier ja zum Glück nicht zu beschäftigen«, meinte Mr Llewellyn. »Hier heißt du einfach Selkirk.«

»Ja, Sir.«

»Du bist Amerikaner, Selkirk?«

Es war das erste Mal, dass mir jemand diese Frage stellte, weshalb ich darüber nachdenken musste. Was war ich? Ich war mit sieben Jahren nach England gekommen, aber in den Vereinigten Staaten geboren worden, was vermutlich schwerer wog.

»Ja, Sir.«

»Hmmm. Dann gehe ich davon aus, dass du noch nie richtig Sport getrieben hast.«

Dieser Satz sagte mir alles, was ich über Mr Llewellyn wissen musste. Er war ein Sport-Nazi. Wenn Mr Llewellyn bei Desert Island Discs zu Gast wäre, würde er Titel wie »Chariots of Fire«, »Escape to Victory« und »Eye of the Tiger« aussuchen. Sein Buch wäre eines dieser Bücher, die keine richtigen Bücher sind, aber 1001 Fakten über Sport oder so ähnlich heißen und für Leute geschrieben werden, die auf dem Klo was zum Lesen brauchen. Und sein Luxusgegenstand wäre diese idiotische kleine Trillerpfeife.

»In dem Fall, Selkirk, ist es vermutlich nur fair, wenn wir dir zeigen, wie wir das hier in Oxford machen. Was meinst du?« Er hatte einen näselnden Oberschichtakzent. »Also?«, fragte er an seine Klasse gewandt. »Sollen wir unserem amerikanischen Cousin zeigen, wie wir das hier in Oxford machen?«

Ich muss kurz etwas einschieben. Das Theaterstück, das Präsident Abraham Lincoln sich ansah, als er (mit vierundfünfzig Jahren) erschossen wurde, hieß Our American Cousin. Ich weiß noch, dass ich es damals für ein ausgesprochen schlechtes Omen hielt, als Mr Llewellyn an meinem ersten Tag ausgerechnet dieses Theaterstück erwähnte. Es stellte sich dann heraus, dass ich recht gehabt hatte.

»Selkirk, du wirst jetzt Teil einer großartigen Tradition, die wir hier in Oxford schon sehr lange pflegen. Wie alle neuen Schüler bist du verpflichtet, am Osney-Sprint teilzunehmen, einem Kurzstreckenlauf um das Osney-Viereck.« Mit einer weit ausladenden Bewegung zeigte er auf alle vier Seiten des Innenhofs, einschließlich des Gebäudes in der Mitte, das so ähnlich wie eine Kapelle aussah und einen Glockenturm mit einer Uhr hatte. Die Uhr besaß ein blaues Ziffernblatt (es war in etwa der gleiche Farbton, den inzwischen die Gesichter der meisten Schüler angenommen hatten) und goldene Ziffern. Die ebenfalls goldfarbenen Zeiger standen auf fünf Minuten vor zwölf. »Ich werde dir einen Tempomacher mitgeben, einen Schüler, der mit dir zusammen läuft, aber das Rennen findet nicht zwischen dir und ihm statt, sondern zwischen dir und der Glocke.« Er zeigte mit seinem Wurstfinger auf die Uhr am Glockenturm. »Es ist fast Mittag. Du musst die Strecke absolviert haben, bevor die Glocke zwölf schlägt.«

Ich sah mir den großen Innenhof an. Er war riesig. »Jetzt gleich?«, fragte ich.

Meine Mitschüler kicherten.

»Nein«, erwiderte Mr Llewellyn. »Du darfst erst beim ersten Glockenschlag loslaufen.«

Es war ein Albtraum. Ich würde nicht nur im Zentrum der Aufmerksamkeit stehen – also genau da, wo ich überhaupt nicht sein wollte –, ich wusste auch ganz genau, wie langsam ich rannte. »Sie wollen, dass ich in zwölf Sekunden um den ganzen Innenhof herumlaufe?«

»Nein«, erklärte Mr Llewellyn geduldig. »Bevor die volle Stunde geschlagen wird, gibt es noch vier Viertelstundenschläge. Das sind mindestens noch mal zehn Sekunden. Du rennst los, wenn der erste Glockenschlag der ersten Viertelstunde ertönt.«

Ich glaube, da wusste ich, was er meinte. Die Viertelstundenschläge waren die vier Ding Dong Ding Dong vor der vollen Stunde. Aber selbst damit hielt ich es für unmöglich.

»Das ist jetzt nicht Ihr Ernst.«

»Nicht frech werden, Selkirk«, blaffte Mr Llewellyn. »Es ist ganz einfach. Und es ist sogar möglich, die gesamte Strecke zu laufen, bevor der erste Stundenschlag ertönt – eine Meisterleistung, die wir als ›Viertel‹ bezeichnen. Loam hier ist der einzige Vierteljunge seit hundert Jahren.«

Und da trat dann dieser riesige Kerl vor, der aussah wie ein Riesenbaby – er war genauso breit wie hoch.

»Die meisten Schüler beenden den Sprint irgendwo zwischen dem fünften und zehnten Glockenschlag der vollen Stunde«, fuhr Mr Llewellyn fort. »Die Anzahl der Glockenschläge gestattet es mir, ihr voraussichtliches sportliches Können zu beurteilen.« Als er sich an das Riesenbaby wandte, bekam seine Stimme einen völlig anderen Ton. »Loam, du bist der Schrittmacher. Versuche, deinen Rekord zu brechen, in Ordnung?«

»Ja, Sir.«

»Selkirk, das ist Loam.«

Das Riesenbaby streckte die Hand aus. Da ich nicht so richtig wusste, was ich tun sollte, nickte ich ihm zu.

»Gib ihm die Hand, Selkirk!«, brüllte Mr Llewellyn mich an. »Du bist jetzt nicht mehr in den Kolonien, sondern in England. Hier sind wir zivilisiert.«

Als ich die Pranke des Riesenbabys nahm, zerquetschte es mir fast die Hand.

Und so lernte ich Sebastian Loam kennen.