Meiner Frau Anja Georgia mit Dank für etliche inhaltliche Anregungen. Und ihr und unserer Tochter für ihre Geduld mit dem Autor in der Phase des Schreibens.

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Originalausgabe, 1. Auflage 2020

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Redaktion: Daniel Bussenius

Korrektorat: Silke Panten

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Satz und E-Book: Daniel Förster, Belgern


ISBN Print 978-3-95972-271-1

ISBN E-Book (PDF) 978-3-96092-497-5

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-96092-498-2


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Inhalt

Fünf Thesen zur Macht der Grünen

Kapitel 1
Die Farbe Grün

Historie
Wie sich Rudi Dutschke an Herbert Gruhl vorbeimogelte

Kapitel 2
Die halbherzige Umweltpolitik von Union und SPD

Kapitel 3
Totalitarismus, Liberalismus, Ökomoralismus

Kapitel 4
Wir wissen alles über den Klimawandel – und fast nichts

Kapitel 5
Der Klimawandel hat Folgen – auch positive

Kapitel 6
Überfluss an Gesellschaft statt Überflussgesellschaft

Kapitel 7
Wie die Republik unter Schwarzen, Roten und Gelben grün wird

Kapitel 8
Neue Deutsche Welle: Robert Habeck, Annalena Baerbock und der grüne Griff nach der Macht

Historie
Staatsknete für Staatsgegner oder: Wie die K-Gruppen die Grünen übernahmen

Historie
Nicht mehr links, doch wieder links, gegen Jamaika, für Jamaika – und für Grün-Rot-Rot

Kapitel 9
Veggie-Day und Sitzenbleiben: Sind die Grünen Gestaltungs- oder Verbotspartei?

Kapitel 10
Zur Ehrenrettung der Grünen: Legenden und gefälschte Zitate im Netz

Kapitel 11
Was Greta Thunberg verdient

Kapitel 12
Der CO2-Fußabdruck der »Generation Panik«

Kapitel 13
Die Grünen, der Moralismus und die Doppelmoral

Kapitel 14
Die drohende Ökodiktatur

Historie
Die Anti-SPD-Partei

Kapitel 15
Grünen-Prinzipien: Basisdemokratie, imperatives Mandat, Rotation und Promi-Verbot

Historie
Grüne und Gewalt: Briefe an die RAF

Kapitel 16
»Burn Capitalism«: Fridays for Rebellion

Historie
»Nie wieder Deutschland«

Kapitel 17
Warum die Grünen nicht mehr aus der Nato wollen

Kapitel 18
Für Europa – zusammen mit »progressiven Nationalisten«

Kapitel 19
Öko-Wirtschaft und Wohlfühl-BIP: Warum Grüne keine Liberalen sein können

Kapitel 20
Das grüne Panikorchester und die Atomkraft

Kapitel 21
Die untaugliche Verkehrswende

Kapitel 22
Können Grüne regieren? Von Rot-Grün im Bund über R2G in Berlin bis zum »Kretsch« in Stuttgart

Kapitel 23
Grüne Verirrung: Die Pädophilie-Debatte

Kapitel 24
Der Traum von offenen Grenzen und linkem Patriotismus

Kapitel 25
Die gescheiterte Energiewende

Kapitel 26
Warum Grüne und AfD einander brauchen

Kapitel 27
Grüner Feminismus

Kapitel 28
Die Kraft der Innovationen oder: Wie leben wir 2050?

Kapitel 29
Die Zukunft der Farbe Grün

Über den Autor

Literaturverzeichnis

Fünf Thesen zur Macht der Grünen

Grün steht für Hoffnung. Und für Macht? Die Grünen sind in Deutschland an der Macht, unabhängig von Regierungskoalitionen und der Zahl von Abgeordneten. Wenn vor allem die Periode des Wiederaufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg christdemokratisch geprägt war, 1968 eine sozialdemokratische Periode einleitete und kurz nach dem Jahrtausendwechsel die Zeit des Liberalismus gekommen zu sein schien, dann erleben wir heute eine grüne Hegemonie.

Dieses Buch zeigt auf, so lautet die erste These, dass in Deutschland ein grüner Konformismus herrscht. Ein Konformismus, der politische Entscheidungen vorantreibt, aber sich nicht auf die Politik beschränkt. Er hat Auswirkungen darauf, wie wir leben und denken. Oder zumindest vorgeben, zu leben und zu denken. Nach der politischen Korrektheit hat sich eine ökologische Korrektheit entwickelt, die keinen geringeren Anspruch erhebt, als die Welt zu retten.

Der Klimawandel ist real, und der Mensch trägt eine Mitverantwortung daran. Aber die gesellschaftliche Polarisierung über die richtige Balance zwischen Klimaschutz und Erhalt von Arbeitsplätzen und Wohlstand, dies ist die zweite These des Buches, wird weiter zunehmen, weil die CO2-Emissionen in jedem Fall auf absehbare Zeit steigen werden – schon wegen des rasanten Wachstums der Weltbevölkerung, das nach UN-Prognosen erst zur nächsten Jahrhundertwende stagnieren wird. Mehr Menschen bedeuten mehr Energiebedarf, mehr Konsum, mehr Produktion. Das begünstigt den Populismus auf beiden Seiten. »Die Wirtschaft wird ruiniert«, sagen die einen, »der Planet stirbt«, warnen die anderen.

Dritte These: Eine globale anhaltende Steigerung von CO2-Emissionen wird in Teilen der grünen Bewegung, zu der die Kids von Fridays for Future und die Untergangspropheten von Extinction Rebellion gehören, als Versagen der Marktwirtschaft und der parlamentarischen Demokratie verstanden. Enttäuschte Klimaaktivisten erleben, dass auch die Grünen zähe Kompromisse schließen müssen. Möglicherweise entsteht eine Party for Future, eine radikalgrüne Partei deutlich links von den heutigen Grünen. Und während es bislang nur einzelne verirrte Befürworter ökodiktatorischer Maßnahmen gibt, droht diese Stimmung vor einem solchen Hintergrund zu wachsen.

Die vierte These: Panik ist nicht angezeigt. Innovationen und Marktmechanismen sind die Lösung. Und: Eine Rehabilitierung neuer Generationen der Kernkraft, die bei näherer Betrachtung ohnehin keine Hochrisikotechnologie ist, mag dazugehören. Zukunftsvertrauen ist gefragt. Leider begegnet uns das Grüne derzeit allzu häufig als fantasiebefreites Ressentiment wider die Moderne.

These Nummer fünf: Wenn die Grünen, als Idee, an der Macht sind, und die Grünen, als Partei, nach der Macht greifen, ist es wichtig, auf die Geschichte der Grünen zurückzublicken. Auf die wichtigen und positiven Beiträge, die sie seit 1980 für die Sensibilisierung unseres ökologischen Gewissens geleistet haben. Aber auch auf ihre ideologischen Irrungen und politischen Versäumnisse. Sie standen häufig auf der falschen Seite der Geschichte. Darum ist das Fundament dünn, auf dem sie jetzt als Kompass in unsere Zukunft weisen wollen.

Kapitel 1
Die Farbe Grün

Grün, es sei wiederholt, ist Hoffnung. Grün ist sympathisch. Grün ist die Farbe der Flora. Grün steht seit Jahrhunderten für Natur, Wachstum und Fruchtbarkeit. Für das, was in Ordnung ist: »Wie geht’s?« – »Danke, alles im grünen Bereich.«

Grün hat weltweit eine hohe Symbolkraft. In den USA steht Grün wegen der Farbe der Dollarnoten, der Greenbacks, für Geld und für die Wall Street. Die amerikanische Freiheitsstatue schimmert grün, obwohl sie bei ihrer Enthüllung 1886 noch bräunlich glänzte – dann reagierte die Kupferummantelung auf Luft und Regen. Fast alle Wüstenstaaten haben ein grünes Element in ihrer Fahne, das Oase und Wasser und Leben versinnbildlicht – und den Islam. Die zu ihren Ahnen und einem Gott namens Mukuru betenden Himba im Norden Namibias kennen mehr Begriffe für »Grün«, als es in der deutschen oder englischen Sprache gibt, aber nicht einen einzigen für »Blau«.

Grün ist Malerei. Albrecht Dürer, der als erster überlebensgroßer Künstler Pflanzen, Gräser und Rasenstücke am Wegesrand in ihrem scheinbar trivialen Grün festhielt, wurde zum »Columbus der Naturstudie«. Johann Wolfgang von Goethe definierte in seiner Farbenlehre Grün als Symbiose aus Hell und Dunkel: »Zunächst am Licht entsteht uns eine Farbe, die wir Gelb nennen, eine andere zunächst an der Finsternis, die wir mit dem Wort Blau bezeichnen. Diese beiden, wenn wir sie in ihrem reinsten Zustand dergestalt vermischen, bringen eine dritte hervor, welche wir Grün heißen.«1

Grün ist Literatur. In Gottfried Kellers monumentalem, teils autobiografischem Bildungsroman Der grüne Heinrich taucht die Farbe wiederkehrend auf. Da ist vom »grünsten Grün« des Grases die Rede und von einer »grünen Seele«, es »schimmert das verborgene Grün durch den dunklen Hausflur so kokett auf die Gasse«, und der Protagonist, ein an sich ebenso zweifelnder Maler, wie es der Schweizer Keller vor seiner Zeit als Literat war, erhält den Spitznamen, der zum Buchtitel wurde, weil ihm seine Mutter aus dem grünen Frack des früh verstorbenen Vaters einen Anzug schneiderte. Das Buch Kellers, des »größten deutschen Realisten« (so der ungarische Philosoph und Literaturkritiker Georg Lukács2), endet mit den Schlussworten des alt gewordenen Erzählers, alles habe sich gefügt, um »noch einmal die alten grünen Pfade der Erinnerung zu wandeln«.3

Die österreichische Autorin Maria Grengg beschrieb 1930 in ihrem Erfolgsroman Die Flucht zum grünen Herrgott eine Frau, die von ihrem brutalen und verständnislosen Ehemann enttäuscht wird und ihren Frieden in und mit der Tiroler Natur findet – und in der letzten Passage des Buches kommen »all die guten Geister« und »umringten sie wie die Engel am Fass der grünen Jägerin die himmlische Maria umschwebten«.4 Grengg, die gefeierte Heimatdichterin, wurde eine glühende Nationalsozialistin und Verehrerin Adolf Hitlers. Grün, das sei nicht vergessen, ist ambivalent. Es steht auch für Neid, für Gift. Wem übel ist, der wird grün im Gesicht. Wen man nicht mag, dem ist man nicht grün. Und es steht für mangelnde Erfahrung: für das »Greenhorn« in der englischen Sprache, den unbedarften Neuling im Wilden Westen, für den überforderten Anfänger. Das entspricht dem deutschen Tadel: »Du bist ja noch grün hinter den Ohren.«

Aber diese Interpretation ist schon wieder von Sympathie getragen für die Jungen, die sich noch entwickeln werden: Die Partei der Grünen sei 1980 »aus einem ›Crosby, Stills, Nash & Young‹-artigen Gefühl des ›We can change the world‹ gegründet worden«, schreibt der taz-Autor Peter Unfried unter Anspielung auf den Text des Titels »Chicago« der Folkrock-Band.5

Die Deutschen waren grün, bevor es die Grünen gab. Das Grüne, das Naturliebende und gelegentlich -verklärende liegt den Deutschen spätestens seit der Romantik im Blut. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert schufen deutsche Maler wie Caspar David Friedrich und Literaten wie Novalis, die Brüder Friedrich und August Wilhelm Schlegel oder Clemens Brentano eine gefühlsdominierte Gegenästhetik zu der insbesondere von ihrem Landsmann Immanuel Kant vorangetriebenen Vernunft der Aufklärung. »Waldeinsamkeit, / Du grünes Revier, / Wie liegt so weit / Die Welt von hier!«, schwärmte Joseph von Eichendorff. Das Erleben des deutschen Waldes, aber auch exotischer Landschaften, die vermeintliche Wahrhaftigkeit des unverbildeten Volkes auf dem Land und die Suche nach der metaphysischen Wahrheit hinter der empirisch erfassbaren Welt gehören zum Kanon der deutschen Kultur.

Die deutsche Schwärmerei distanzierte sich von der in Zeiten einer enger werdenden Welt als rücksichtslos gelesenen Botschaft aus Genesis 1,28: »Füllet die Erde und machet sie euch untertan.« Sie war auch ein Gegenentwurf zu Friedrich Nietzsches auf das 20. Jahrhundert bezogene Allmachtfantasien: »Die Menschheit wird sich im neuen Jahrhundert vielleicht schon viel mehr Kraft durch die Beherrschung der Natur erworben haben als sie verbrauchen kann ... Statt Kunstwerke zu schaffen, wird man die Natur im großen Maße verschönern in ein paar Jahrhunderten Arbeit, um die Alpen aus ihren Ansätzen und Motiven der Schönheit zur Vollkommenheit zu erheben.«6

Die Alpen verschönern! Die Schöpfung vervollkommnen! Solche Vorstellungen eines stadtmüden, in anderen Fragen ausgesprochen scharfsinnigen Denkers lassen nicht mehr lachen angesichts von Plänen, im Tiroler Ötztal eine Bergspitze östlich des Linken Fernerkogels um 36 Meter zu kürzen, um mittels einer Seilbahn zwei Skigebiete zu verbinden.7 Sie machen das Erstarken des ökologischen Gedankens nachvollziehbar – und zugleich bleiben die touristischen Wünsche vieler Skifahrer und ökonomische Interessen der Anwohner legitim.

Grün ist kein deutsches Monopol. Es gibt in anderen Ländern ebenfalls erfolgreiche Umweltparteien, darunter die »Groen« in Flandern und »Ecolo« in Wallonien, die beide im gesamtbelgischen Senat vertreten sind und im Parlament eine Fraktion bilden. In Luxemburg sitzen sie in der Regierung. In Frankreich avancierte »Europe Écologie – Les Verts« bei der Europawahl 2019 zur drittstärksten Partei. In Österreich bilden die Grünen nach den Skandalen um den vormaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache seit Januar 2020 mit der dezidiert konservativen FPÖ von Sebastian Kurz eine schwarz-grüne Koalition. Der Wirtschaftswissenschaftler Alexander van Bellen, ein Grüner mit sehr bürgerlichem Auftreten, nicht unähnlich dem Schwaben Winfried Kretschmann, wurde als formal unabhängiger Kandidat im Januar 2017 zum neunten österreichischen Bundespräsidenten der Zweiten Republik gewählt.

In Island wurde die Links-Grüne Bewegung im Oktober 2017 zweitstärkste Partei, so dass die Vorsitzende Katrín Jakobsdóttir ein Bündnis schmieden und Ministerpräsidentin werden konnte. In Finnland gelangten die Grünen im Sommer 2019 als Juniorpartner in die Regierung. In der Schweiz lag nach den Parlamentswahlen im Oktober 2019 zwar die konservative Schweizerische Volkspartei SVP weiterhin klar vorne, aber sie verlor Prozentpunkte. Gleich zwei Ökoparteien verdoppelten hingegen ihre Ergebnisse nahezu: Die klassischen linken Grünen, vergleichbar der deutschen Partei, kamen auf 13 Prozent, und die Grünliberalen, eine Art ökologische FDP, auf 7,8 Prozent. In den USA mit ihrem faktischen Zweiparteiensystem fristen die intern oft zerstrittenen Grünen ein Schattendasein. Ihr damaliger Spitzenkandidat Ralph Nader holte bei der Präsidentschaftswahl 2000 immerhin 2,7 Prozent. In Australien und Neuseeland sind grüne Parteien hingegen ernstzunehmende Kräfte; die United Tasmania Group (später Tasmanian Greens), gegründet am 23. März 1972 von dem Biologieprofessor Richard Jones, war die erste grüne Partei weltweit. Bei den Parlamentswahlen im Mai 2019 kamen die australischen Greens als drittstärkste Partei auf gut 10 Prozent.

In der pazifischen Inselrepublik Vanuatu schaffte es der grüne Hinterbänkler Moana Carcasses Kalosil 2013 zuerst in die Regierung und schließlich gar in das Amt des Premiers. Der Schönheitsfehler an der Geschichte: Kalosil wurde 2015 wegen des Versuchs der Bestechung einzelner Abgeordneter abgesetzt und zu mehreren Jahren Gefängnis verurteilt.8

Die grüne Hegemonie

Grün ist die Modefarbe vor allem der deutschen Politik – und das begann nicht erst mit Annalena Baerbock und Robert Habeck, die Anfang 2018 zu Grünen-Vorsitzenden gewählt und Ende 2019 eindrucksvoll bestätigt wurden. Große Koalitionen und selbst schwarz-gelbe Regierungen in Berlin fassen oder fassten Beschlüsse mit grünem Inhalt, während die Grünen in der Opposition sind oder waren: Quoten für Aufsichtsräte, Kohlekompromiss, den endgültigen Atomausstieg. Menschen kaufen bio, imkern auf dem Balkon, schämen sich für ihre Teneriffa-Flüge, radeln zur Arbeit und verehren Greta – kaum einer macht das alles, aber fast jeder zumindest etwas. Vieles davon ist positiv. Doch in der Summe wird es gefährlich, wenn auf der Straße eine Stimmung entsteht, nach der grüne Anliegen, vor allem das der Klimarettung, mehr Legitimität besäßen als andere Interessen, etwa das der Sicherung von Arbeitsplätzen, individueller Mobilität, Wohlstand und Freiheit. Wenn es nicht auf demokratischem Weg, durch Wahlen und in Parlamenten, gelingt, den grünen Anliegen zum Durchbruch zu verhelfen, erscheint es vielen nahezu zwingend, Demokratie und Parlamente zur Disposition zu stellen.

Verstärkt wird dieser Trend durch die von Greta Thunberg inspirierte Fridays-for-Future-Bewegung. Idealistische junge Leute, vornehmlich Schüler und Studenten, weniger Auszubildende, demonstrieren gegen den Klimawandel, hüpfen für den Kohleausstieg und schwänzen freitags die Schule, um die Welt zu retten. Das hat etwas Anrührendes, etwas Tröstliches nach Jahrzehnten, in denen die Jugend als apolitisch galt. Aber da drängen zugleich Selbstgerechtigkeit, Intoleranz und Dogmatismus ins Bild. Wer sich entschieden hat, dass sein Weg der einzig richtige sei und, mehr noch, dass nur dieser Weg die Menschheit retten kann, sieht sich legitimiert, die gesetzliche Schulpflicht in Frage zu stellen oder Hauptverkehrsadern, Flughäfen, Kreuzfahrtschiffe oder Automessen zu blockieren. Und gegen den Kapitalismus, vulgo: unser Wirtschaftssystem zu agitieren. Wenn auch das nicht weiterhilft? Wer jeden Zweifel ausgeschlossen hat an der eigenen Wahrheit, akzeptiert kein Stoppschild.

Dabei ist trotz der medialen Dauerpräsenz grüner Kernanliegen der Eindruck falsch, für die gesamte Bevölkerung habe das Thema CO2-Emissionen Priorität. Die Immigration ist nach wie vor die größere Sorge der Europäer. 34 Prozent nannten in dem im Juni 2019 veröffentlichten »Eurobarometer« der Europäischen Kommission dieses Thema das »wichtigste«, dem sich die EU gegenübersehe. Der Klimawandel folgte mit 22 Prozent auf Platz 2, die wirtschaftliche Situation auf Rang 3 (18 Prozent). Unter den deutschen Befragten war die Reihenfolge nicht anders, auch wenn der Abstand mit 37 Prozent für das Immigrationsthema und 31 Prozent für den Klimawandel geringer ausfiel.9 Und während die Grünen im Juni 2019 im ARD-Deutschlandtrend mit 26 Prozent erstmals auf Platz 1 lagen und die Union um einen Punkt überflügelten, lehnten zugleich nahezu zwei Drittel der Deutschen die von den Grünen geforderte CO2-Steuer ab.10

Sieben von zehn Deutschen sagten laut diesem ARD-Deutschland­trend, sie hätten ihre persönliche Einstellung zu Klima- und Umweltfragen aufgrund Greta Thunbergs Aktivitäten nicht (41 Prozent) oder kaum (31 Prozent) verändert. Nur wenige Deutsche gaben an, stark (17 Prozent) oder sehr stark (7 Prozent) von der jungen Schwedin und der »Fridays for Future«-Bewegung beeinflusst worden zu sein.

Laut Forschungsgruppe Wahlen wird bei der Frage nach »wichtigen Themen« mit klarem Vorsprung (und deutlich fallender Tendenz) der Komplex »Ausländer / Integration / Flüchtlinge« von rund 25 Prozent der Deutschen genannt. Erst auf die Anschlussfrage nach »weiteren wichtigen Themen« dominiert hingegen mit bis zu 60 Prozent »Umwelt / Klima / Energiewende«.11 Als der Versicherer R+V »die größten Ängste der Deutschen 2019« abfragte, rangierten »Überforderung des Staats durch Flüchtlinge« (56 Prozent) und »Spannungen durch Zuzug von Ausländern« (55 Prozent) ganz vorne. »Klimawandel« (41 Prozent) nahm lediglich Platz 12 ein.12

Die »grüne Hegemonie«, die Zeit-Chefredakteur Giovanni di Lorenzo konstatierte (wir kommen darauf zurück), ist angesichts einer solchen gesellschaftlichen Entwicklung und Polarisierung nicht begrenzt auf die Wahlergebnisse der grünen Partei. Grün ist an der Macht, weil andere Parteien grüne Themen zu kopieren versuchen und grüne Inhalte umsetzen, während die grüne Partei noch auf den Oppositionsbänken sitzt. Die CDU ist über die Jahre deutlich nach links gerückt, in der Wirtschafts- wie in der Migrationspolitik. Und die Sozialdemokraten seien gar »linker als die Linkspartei geworden und ökologischer als die Grünen«, sagte der einstige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel im August 2019. Derweil bemüht sich Markus Söder um eine grüne Grundierung für die Christsozialen, von der Betonung des Schutzes der Schöpfung über einen vorgezogenen Kohleausstieg (was für den Freistaat ohne Kohlevorkommen eher unproblematisch ist) bis zur Frauenquote für Vorstandsämter in der CSU.

Selbst die AfD, deren Altvordere jeden nennenswerten menschengemachten Beitrag zum Klimawandel bestreiten, sah sich nach dem Ergebnis der Europawahl, bei der sie unter ihren Erwartungen blieb, vom Berliner Landesverband ihrer Jugendorganisation gedrängt, »von der schwer nachvollziehbaren Aussage Abstand zu nehmen, der Mensch würde das Klima nicht beeinflussen«.13

Darum sind die Grünen an der Macht als konsensuales Prinzip, ganz losgelöst von der Stärke der Partei. Dieses Prinzip hat den Kampf gegen die unübersehbaren Folgen der vom Menschen beschleunigten Erderwärmung, gegen schmelzende Gletscher und Polkappen, zur vordringlichen Aufgabe der Politik erhoben. Das Pariser Klimaabkommen vom Dezember 2015 proklamiert das Ziel, die Erderwärmung im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter auf »deutlich unter« 2 Grad Celsius und nach Möglichkeit auf »nur« 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Doch es wird von Monat zu Monat schwieriger, Fachleute zu finden, die es für erreichbar halten. Gerade idealistische junge Menschen zweifeln aber an der Aufrichtigkeit der Erwachsenen, wenn der Kampf gegen CO2-Emissionen einerseits von Bundeskanzlerin Angela Merkel zur »Menschheitsherausforderung« erklärt wird und die Regierungskoalition andererseits im September 2019 Maßnahmen beschließt, die zunächst niemandem weh zu tun scheinen. Von einem »Klimaschutzpaketchen« sprach Grünen-Chefin Annalena Baerbock im Herbst 2019. »Der homöopathische Einstieg in die CO2-Bepreisung von 10 Euro die Tonne CO2 wird keinerlei Lenkungswirkung entfalten«, kritisierten Umweltverbände wie Nabu, Greenpeace, BUND und WWF in einer gemeinsamen Stellungnahme.14 Oder tun die Maßnahmen doch weh? »Die Bundesregierung ist gerade dabei, die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Industrie zu ruinieren«, warnte BDI-Präsident Dieter Kempf. Ungerührt verschärfte der Bundesrat auf Druck der Grünen im Dezember die Maßnahmen.15

Die Wahrheit liege nicht in der Mitte, sondern nur in der Tiefe, hat der österreichische Dramatiker Arthur Schnitzler gesagt. Wer das »Klimaschutzprogramm 2030« der Bundesregierung als mutlos und ineffizient geißelt, muss nicht nur berücksichtigen, dass es auf eine bereits schwächelnde Konjunktur trifft in einem Industrieland, dessen Strompreise schon zuvor (neben denen Dänemarks und Belgiens) an der Spitze Europas lagen.16 Er sollte auch die Bilder der gewalttätigen Proteste der Gelbwesten oder »gilets jaunes« in Frankreich im Blick haben, die sich an einer ökologisch begründeten Mineralölsteuer entzündeten. Darum bemüht sich das Programm der Regierungskoalition um eine sachgerechte Balance. Auf der einen Seite schafft es den Einstieg in eine CO2-Bepreisung nicht mehr nur des Energiesektors, sondern nun auch für Gebäude und Verkehr. Auf der anderen Seite nimmt es Rücksicht auf soziale und wirtschaftliche Erfordernisse. Es enthält Anreize für Konsumenten und eine (zeitlich befristete) Kompensation etwa bei der Pendlerpauschale. Doch die Lenkungswirkung bleibt zunächst sehr gering. Subjektiv wird das Klimaschutzpaket vor dem Hintergrund der oft dröhnenden Öko-Rhetorik des Kanzleramts als unambitioniert empfunden. »Menschheitsherausforderungen«, so stellt man sich vor, dulden keinen Aufschub, sondern erfordern umgehend Blut, Schweiß und Tränen.

Das jedoch wäre ein Irrweg in einem Land, das 2,1 Prozent zum weltweiten CO2-Ausstoß beiträgt – nicht etwa, weil es nicht lohnte, bei einer solchen überschaubaren Marge anzusetzen, sondern, ganz im Gegenteil, weil Deutschland mit diesen 2 Prozent und etwa 800 Millionen jährlich emittierten Tonnen Kohlendioxid zu den Top-Ten-Emittenten gehört. Darum muss es ein Vorbild sein. Aber eine Zerstörung der deutschen Wirtschaft durch noch höhere Energiepreise im Namen des Klimaschutzes samt Firmenpleiten, Massenarbeitslosigkeit und sozialen Verwerfungen würde international eben nicht nachgeahmt, sondern als abschreckendes Beispiel dienen. Dann hätte Deutschland beim Klimaschutz mutig Tempo gemacht, und andere schauen eingeschüchtert zu, wie eine mächtige Wirtschaftsnation die Automobilbranche als ihren Motorblock ins Stottern bringt und letztlich abwürgt. Dem Beispiel würde niemand folgen.

Eine grüne Volkspartei und eine linksgrüne Fridays-for-Future-Partei?

Strategisch kommen den Grünen die moderaten Schritte der großen Koalition zupass, weil dadurch ihr Monopol auf radikalere Forderungen gewahrt bleibt. Das gilt, solange sie in der Opposition sind. Aber der nächsten Bundesregierung werden sie angehören – es ist wegen der Unberührbarkeit der AfD (insbesondere nach dem Abgang des ehemaligen CDUlers Alexander Gauland als Bundesvorsitzender im November 2019) politisch schlicht keine Koalition denkbar, die ohne die Grünen eine Mehrheit bekäme. Was aber, wenn die Partei an die Regierung kommt, vielleicht gar den Kanzler stellt und angesichts der Sachzwänge auf eine radikale Klimapolitik unter den Augen enttäuschter Jugendlicher verzichten muss? Wenn sich die Grünen entgegen ihrer »Wir können keine Minute mehr warten«-Rhetorik mit zähen Kompromissen begnügen müssen?

Dann kann links von den heutigen Grünen eine neue linksgrüne Fridays-for-Future-Partei entstehen, die zunächst als außerparlamentarische, später vielleicht als parlamentarische Opposition viel kompromissloser argumentieren und ganz offen das marktwirtschaftliche System ablehnen dürfte. Der linke Digitalexperte und Autor Johnny Haeusler nennt Schlagworte, bei denen Jugendliche wesentlich radikalere Forderungen stellen können als die um einigermaßen realpolitische Positionen bemühten Grünen. Dazu gehören aus seiner Sicht Europa, Nachhaltigkeit, Bildungspolitik, Jugendwahlrecht, Asylrecht, Verkehrspolitik, Stadtplanung, Tierrechte und Chancengleichheit. »Eine aus diesen Überlegungen und mit diesen Themen entstehende neue Partei, gegründet von den engagiertesten Köpfen von ›Fridays for Future‹, der erweiterten YouTube-Community und solidarischen, natürlich auch älteren Expertinnen und Experten aus der Wissenschaft, dem digital orientierten Bildungs- und Sozialwesen und vielen weiteren, auch bereits politisch aktiven Akteuren und Teilnehmenden von #wirsindmehr und #unteilbar, könnte nicht zuletzt durch den Einsatz von gekonnter Online-Kommunikation erfolgreich sein«, schreibt der Autor ohne Angst vor Bandwurmsätzen. Offenkundig hat Haeusler, Mitbegründer der Gesellschaftskonferenz re:publica, auch die Überreste der einstigen Piratenpartei dabei im Visier. Laut Haeusler zeigten sich FFF-Aktivisten bislang, »angesprochen auf eine solche Perspektive, eher wenig motiviert«. Doch »auf Dauer« lasse sich »Politik mit echter Nachhaltigkeit nur parlamentarisch machen.« 17

Über 50 Prozent der Schüler bei Fridays for Future haben nach einer Befragung des Protestforschers Moritz Sommer keine Parteipräferenz. Diejenigen, die sich mit einer Partei identifizieren, sympathisieren zu 63 Prozent mit den Grünen.18 Laut Sommer sind die Klimaaktivisten gut beraten, sich »als Bewegung weiterzuentwickeln«. Ob es dann »in näherer Zukunft eine Parteientwicklung gibt, werden wir sehen«.19

Auch ohne die Entstehung einer linksgrünen Partei erlebt Deutschland eine weitere Linksverschiebung. Bündnis 90 / Die Grünen hat für die Wähler die Rolle eingenommen, die den Sozialdemokraten noch in der Bundestagswahl 2017 zugebilligt wurde. Seit ihrem Godesberger Programm hat sich die SPD als zuverlässiger innen-, außen- und sicherheitspolitischer Stabilisator der Bundesrepublik erwiesen und mehrfach als wichtiger Modernisierer. Das Votum der Genossen Ende November 2019 für die linke Doppelspitze Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken (Botschaft auf Twitter: »Wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung.«20) war eine Absage an diese Modernisierung. Wo immer die Union mit der SPD künftig koaliert, wird sie noch größere Zugeständnisse machen müssen an deren neolinken Kurs. Und obwohl die SPD versuchen wird, die Grünen als »liberale« Partei zu denunzieren, fehlt für Grün-Rot-Rot nur noch das Votum des Wählers. Sollte es hingegen zu Schwarz-Grün kommen wie in Wien, liefe diese Konstellation eher auf Grün-Grün hinaus – weil der CDU in Deutschland das konservative Selbstverständnis fehlt, das die österreichische ÖVP des Sebastian Kurz zu einem ebenbürtigen Korrektiv für die Grünen macht.


1 Goethe, Johann Wolfgang von: Farbenlehre, ausgewählt und erläutert von Rupprecht Matthaei, Ravensburg 1971, S. 75.

2 Lukács, Georg: Gottfried Keller, (Ost-)Berlin 1947, S. 9 und 39.

3 Keller, Gottfried: Der grüne Heinrich, München, o. J., S. 707.

4 Grengg, Maria: Die Flucht zum grünen Herrgott, Berlin 1930, S. 302.

5 Unfried, Peter: Das große Missverständnis, in: Kursbuch, 197, März 2019, S. 12 ff., hier S. 16.

6 Zit. nach Djuric, Mihailo: Nietzsche und die Metaphysik, Berlin 1985, S. 263.

7 https://www.welt.de/politik/ausland/plus203914376/Oesterreich-Fusion-der-Skigebiete-Pitz-und-Oeztal-sorgt-fuer-Streit.html?wtrid=onsite.onsitesearch (2.12.2019)

8 https://www.abc.net.au/news/2015-10-09/vanuatu-court-rules-on-mps-corruption-case/6842050 (14.8.2019).

9 https://ec.europa.eu/commfrontoffice/publicopinion/index.cfm/Survey/getSurveyDetail/instruments/STANDARD/surveyKy/2253 (15.8.2019).

10 https://www.tagesschau.de/multimedia/bilder/crbilderstrecke-583.html und https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/klimapolitik-mehrheit-der-deutschen-gegen-co2-steuer-16314807.html (25.9.2019).

11 http://www.forschungsgruppe.de/Umfragen/Politbarometer/Langzeitentwicklung_-_Themen_im_Ueberblick/Politik_II/ (31.10.2019).

12 https://www.ruv.de/presse/aengste-der-deutschen/grafiken-die-aengste-der-deutschen (1. 12. 2019)

13 https://www.welt.de/politik/deutschland/article194321453/Nach-Europawahl-Berliner-AfD-Jugend-gegen-Leugnung-des-Klimawandels.html (25.10.2019).

14 https://www.bund.net/service/presse/pressemitteilungen/detail/news/regierung-verweigert-notwendigen-klimaschutz/ (25.10.2019).

15 https://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/klima-energie-und-umwelt/bdi-chef-kempf-die-regierung-ruiniert-die-industrie-16449690.html (25.10.2019).

16 https://www.ee-news.ch/de/erneuerbare/article/41714/strompreise-in-europa-danemark-setzt-sich-an-die-spitze-und-verweist-deutschland-auf-platz-2 (25.10.2019).

17 Haeusler, Johnny: »Neue Zeit, neue Partei«, in: Berliner Zeitung, 19.7.2019.

18 Sommer, Moritz/Rucht, Dieter/Haunss, Sebastian/Zajak, Sabrina: »Fridays for Future. Profil, Entstehung und Perspektiven der Protestbewegung in Deutschland«. Berlin 2019, S. 29.

19 https://www.morgenpost.de/berlin/article226721795/Berlin-spielt-fuer-Fridays-for-Future-eine-zentrale-Rolle.html (22.10.2019).

20 https://twitter.com/EskenSaskia/status/950285499926745089 (1.12.2019)