Über das Buch

»Ein Wunder ist jeder Fund, mit dem Bolano aufs Neue berückt.« (Süddeutsche Zeitung) — Drei einzigartige Erzählungen aus dem Nachlass von Roberto Bolano, dem Autor von »2666«

»,Du hast gekündigt, aber was willst du stattdessen machen?‹, fragte mein Vater. ,Die Revolution‹, sagte ich. ,Welche Revolution denn?‹« 1973 macht sich der 20-jährige Arturo Belano auf den Weg von Mexiko nach Chile mit nur einem Ziel: die linke Revolution Allendes zu unterstützen. Ob Bolaño von Arturos Schiffsreise nach Valparaiso erzählt, ob von der idyllisch-finsteren Fahrt zweier Liebender in einem VW-Käfer durch den Süden Chiles oder von einer Sonnenfinsternis in Guyana, die zum geheimnisvollen Vorboten einer surrealistischen Untergrundliga wird: Diese drei Erzählungen sind kleine Meisterwerke zwischen Albtraum und Euphorie, voll Abgründen und Witz — die letzte große Entdeckung aus Bolaños Werk.

Roberto
Bolaño

Cowboygräber

Drei Erzählungen

Aus dem Spanischen von Christian Hansen und Luis Ruby

Mit einem Nachwort von Heinrich von Berenberg

Carl Hanser Verlag

Cowboygräber

1.  Der Flughafen

Ich heiße Arturo, und das erste Mal einen Flughafen gesehen habe ich im Jahr 1968. Im November oder Dezember, vielleicht auch schon in den letzten Oktobertagen. Ich war fünfzehn damals und wusste nicht, ob ich Chilene oder Mexikaner war, machte mir darüber aber keine allzu großen Gedanken. Wir wollten nach Mexiko, um mit meinem Vater zusammenzuleben.

Zweimal versuchten wir fortzugehen, der erste Versuch schlug fehl, der zweite hatte Erfolg. Beim ersten Anlauf unterhielten sich meine Mutter und meine Schwester gerade mit meiner Großmutter und zwei oder drei anderen Leuten, deren Gesichter ich komplett vergessen habe, als sich mir ein Unbekannter näherte und mir ein Buch in die Hand drückte. Ich weiß noch, dass ich ihm ins Gesicht schaute, von unten herauf, weil er sehr groß war und hager, und dass er mir zulächelte und mich mit einem Nicken (er sagte die ganze Zeit kein Wort) ermunterte, sein unverhofftes Geschenk anzunehmen. Auch sein Gesicht habe ich vergessen. Er hatte leuchtende Augen (manchmal allerdings trug er in meiner Erinnerung eine schwarze Sonnenbrille, die nicht nur seine Augen verbarg, sondern auch einen Großteil seines Gesichts) und eine makellos rasierte, bis zu den Ohren glatt gespannte Haut. Im nächsten Moment war der Typ verschwunden, und ich erinnere mich, wie ich auf einem der Koffer saß und das Buch las. Es war ein Handbuch über Zivilflughäfen in aller Welt. Ich erfuhr darin, dass ein Flughafen über Hangars verfügt, die an die verschiedenen Fluggesellschaften vermietet werden und der Unterbringung und Instandhaltung der Maschinen dienen, dass sie Abflughallen haben, aus denen die Passagiere über Flugsteige zu den wartenden Flugzeugen gelangen, eine Wetterstation, einen Kontrollturm von üblicherweise mehr als 35 Metern Höhe, Rettungsdienste, deren Spezialeinheiten auf dem Rollfeld stationiert sind und vom Tower aus gelenkt werden, einen Windsack zur örtlichen Bestimmung der Windrichtung, der, wenn er waagerecht steht, eine Windgeschwindigkeit von 25 bis 30 Knoten anzeigt, ein Gebäude für die Flugabfertigung, in dem sich die zentralen Flugplanungsbüros befinden, ein Gepäckverladezentrum, Geschäfte, Restaurants und eine Polizeistation, in der man durchaus auf einen oder mehrere Interpol-Beamte stoßen kann. Kurz darauf nahmen wir Abschied von den Leuten, die uns zu diesem Zweck zum Flughafen begleitet hatten, und stellten uns in die Schlange zum Einsteigen. Das Buch steckte in meiner Jackentasche. Dann wurde über Lautsprecher der Name meiner Mutter ausgerufen. Ich glaube, der ganze Flughafen hörte ihn. Die Schlange geriet ins Stocken, die Passagiere sahen sich gegenseitig an und hielten Ausschau nach der Frau, die man suchte. Auch ich sah mich suchend um, aber weil ich wusste, wen ich suchen musste, schaute ich direkt meine Mutter an, was getan zu haben, ich mich bis heute schäme, wo ich dies schreibe. Die Reaktion meiner Mutter war übrigens ziemlich einzigartig: Sie tat völlig unbeteiligt, blickte sich sogar ihrerseits um, als suchte sie nach der ausgerufenen Person, nur weniger intensiv als die anderen Passagiere des Flugs Santiago—Lima—Quito—Mexiko DF. Einen Augenblick dachte ich, sie würde damit durchkommen und dass das Unvermeidliche, wenn sie es nicht akzeptierte, auch nicht eintreten werde, dass man also nur weiter in Richtung Flugzeug zu gehen brauchte, nur die Lautsprecherdurchsage ignorieren musste, damit die Stimme es leid wurde, nach ihr zu suchen, oder immer noch nach ihr suchen würde, wenn wir schon längst auf dem Weg nach Mexiko waren. Dann rief die Stimme sie erneut aus, und diesmal nannte sie zusätzlich zu ihrem Namen auch den meiner Schwester (die erst erbleichte und dann rot anlief wie eine Tomate) und meinen. Ich glaube, ich sah von fern, jenseits der Schlange zum Einsteigen, durch Glasscheiben von uns getrennt, meine Großmutter, die uns mit ängstlichem Gesicht oder hochrotem Kopf Zeichen machte und aus unerfindlichen Gründen auf die Uhr an ihrem linken Handgelenk deutete, als wollte sie sagen, es sei höchste Zeit oder schon zu spät. Dann erschienen zwei Beamte von Interpol und forderten uns nicht gerade höflich auf, ihnen zu folgen. Meine Mutter hatte uns kurz zuvor gesagt, keine Panik, Kinder, und als wir jetzt den Polizisten folgen mussten, sagte sie das erneut und fragte (scheinbar die Polizisten, die uns eskortierten, in Wirklichkeit aber niemand Bestimmten), was das für ein Skandal sei und dass man sich hüten solle, sie aufzuhalten, wir würden den Flieger verpassen. Typisch meine Mutter.

Meine Mutter war Chilenin, mein Vater Mexikaner, ich bin in Chile geboren und habe mein Leben lang in Chile gelebt. Der Umzug aus unserem Haus in das meines Vaters machte mir möglicherweise mehr Angst, als ich zugeben mochte. Außerdem ließ ich bei meinem Fortgang Vieles unerledigt. Ich hatte, bevor ich fortging, noch versucht, Nicanor Parra zu treffen. Ich hatte versucht, mit Mónica Vargas zu schlafen. Daran erinnere ich mich jetzt und knirsche mit den Zähnen, vielleicht erinnere ich mich auch nur an mich selbst und sehe mich mit den Zähnen knirschen. Damals waren Flugzeuge etwas Gefährliches und gleichzeitig das große Abenteuer, das wahre Reisen, aber ich hatte dazu keine eigene Meinung. Keiner meiner Lehrer war je geflogen. Keiner meiner Schulkameraden. Einige hatten schon ihr erstes Mal gehabt, aber geflogen war noch keiner. Meine Mutter sagte regelmäßig zu uns, Mexiko sei ein wunderbares Land. Bislang hatten wir immer in kleinen Provinzhauptstädten im Süden Chiles gelebt. Santiago, wo wir einige Tage blieben, bevor wir die Reise antraten, kam mir vor wie eine Metropole der Träume und Alpträume. Warte, bis du Mexiko-Stadt kennenlernst, sagte meine Mutter. Manchmal imitierte ich die mexikanische Art zu sprechen, imitierte die Art, wie mein Vater redete (obwohl ich mich kaum an seine Stimme erinnern konnte) und wie die Typen in den mexikanischen Filmen redeten. Ich imitierte Enrique Guzmán und Miguel Aceves Mejía. Meine Mutter und meine Schwester lachten sich schief, und auf diese Weise vertrieben wir uns an langen Winterabenden die Zeit, wobei ich das zuletzt nicht mehr so witzig fand wie am Anfang und mich schließlich verdrückte, ohne zu sagen, wohin. Ich ging gern in der Natur spazieren. Einmal besaß ich ein Pferd. Es hieß Zafarrancho. Mein Vater hatte das Geld geschickt, damit man es mir kaufte. Wo wir damals wohnten, weiß ich nicht mehr, vielleicht in Osorno, vielleicht in der Gegend von Llanquihue. Ich erinnere mich, dass unser Haus einen Patio hatte, mit einem Schuppen, der vom früheren Mieter als Werkstatt genutzt worden war und in dem wir eine Art Stall für mein Pferd einrichteten. Wir hatten Hühner, zwei Gänse und einen Hund, Duque, der mit Zafarrancho bald dick befreundet war. Jedenfalls sagten meine Mutter oder Celestina immer, wenn ich mit dem Pferd ausritt: Nimm Duque mit, er wird dich beschützen und dein Pferd beschützen. Lange Zeit (fast mein ganzes Leben lang) wusste ich nicht, was sie damit sagen wollten, vielleicht interpretierte ich ihre Worte auch falsch; Duque war ein großer Hund, aber immer noch kleiner als ich und viel kleiner als mein Pferd. Er besaß die Größe eines Deutschen Schäferhunds (war aber alles andere als ein Rassehund), hatte weißes Fell mit hellbraunen Flecken und Schlappohren. Manchmal verschwand er für mehrere Tage von zu Hause, und dann verbot mir meine Mutter kategorisch, mit dem Pferd auszureiten. Nach drei oder längstens fünf Tagen tauchte er wieder auf, magerer denn je, mit einem kühischen Gesichtsausdruck und solchem Durst, dass er imstande war, einen halben Eimer Wasser auszutrinken. Vor kurzem träumte ich während eines nächtlichen Bombardements, das am Ende nicht über ein militärisches Geplänkel hinauskam, von Duque und Zafarrancho. Beide waren tot, und ich wusste das. Duque, Zafarrancho, sagte ich zu ihnen, kommt her und schlaft doch bei mir, es gibt Platz genug. Mit meiner Traumstimme (dass ich träumte, begriff ich sofort, ohne aufzuwachen) imitierte ich den chilenischen Akzent, so wie früher immer den der mexikanischen Filme. Das war aber unwichtig. Wichtig war nur, dass mein Hund und mein Pferd aus freien Stücken in mein Zimmer kamen und dass sie die Nacht bei mir verbrachten.

Meine Mutter war eine schöne Frau. Sie las viel. Mit zehn hielt ich sie für den belesensten Menschen in dem Ort, in dem wir lebten, wo immer das auch gewesen sein mochte, obwohl sie in Wirklichkeit nie mehr als fünfzig Bücher besaß und ihre eigentliche Vorliebe den Zeitschriften für Esoterik oder Mode galt. Sie kaufte die Bücher im Versandhandel, was, glaube ich, auch der Grund war (anders kann ich es mir nicht vorstellen), warum wir die Gedichte und Antigedichte von Nicanor Parra ins Haus bekamen. Ich nehme an, dass jemand es irrtümlich der Büchersendung meiner Mutter beigelegt hatte. Der einzige Dichter, der bei uns gelesen wurde, war Pablo Neruda, weshalb ich das Buch von Parra für mich behielt. Meine Mutter hatte die Angewohnheit, uns die zwanzig Liebesgedichte von Neruda vorzutragen (vor oder nach meinen mexikanischen Imitationen), und manchmal weinten wir alle drei, andere Male, nicht oft, muss ich gestehen, errötete ich, schrie auf und floh durchs Fenster, weil sich mir alles drehte und ich das Gefühl hatte, mich übergeben zu müssen. Ich erinnere mich, dass meine Mutter rezitierte wie eine argentinische Vortragskünstlerin, die ich einmal im Radio gehört hatte. Sie hieß Alcira Soust Scaffo, und so wie ich die Mexikaner nachahmte, ahmte meine Mutter die Stimme von Soust Scaffo nach und konnte im Handumdrehen von den höchsten Tönen der Angst zu samtiger Tiefe wechseln. Um nicht zurückzustehen, imitierte meine Schwester in einigen Alptraumnächten Marisol. Manchmal denke ich über Chile nach und glaube, dass alle Chilenen, zumindest die, die in den Sechzigern am Leben und mehr oder weniger bei Sinnen waren, im Grunde ihres Herzens Imitatoren sein wollten. Ich erinnere mich, dass ein Komiker mit der Imitation von Batman und Robin Berühmtheit erlangte. Und dass ich die Comics von Batman und Robin sammelte und mir die Imitation frevelhaft und unflätig erschien, dass ich aber trotzdem lachte und sie mir, je länger ich darüber nachdachte, nicht mehr gar so frevelhaft und unflätig erschien, sondern eher traurig. Einmal machte Alcira Soust Scaffa in Cauquenes oder Temuco, oder wo immer wir damals wohnten, im Zuge einer langen Tournee durch die Theater des chilenischen Südens Station, und meine Mutter nahm uns mit in ihre Vorstellung. Sie war sehr alt (obwohl sie auf den wenigen Plakaten, die wir auf der Plaza de Armas y de la Municipalidad sahen, jung und ernst wirkte, mit einer Frisur, die sicher in den Vierzigern Mode gewesen war) und besaß eine Stimme, die mich live, ohne die verzeihende Übertragung des Radios, vom ersten Moment an nervös machte. Der Lyrikabend musste, keine Ahnung warum, vielleicht aus gesundheitlichen Gründen, mehrmals unterbrochen werden. Nach jeder Unterbrechung kehrte Alcira Soust Scaffa unter schallendem Gelächter auf die Bühne zurück. Von meiner Mutter erfuhr ich, sie sei kurz darauf in einem Irrenhaus in ihrer Geburtstadt Buenos Aires gestorben. Meine Aversion gegen Neruda stammt aus jener Zeit. Damals nannten sie mich im Gymnasium El Mexicano. Manchmal fühlte es sich gut an, diesen Spitznamen zu tragen, andere Male empfand ich ihn eher als Beleidigung. Ich hörte es lieber, wenn sie mich El Loco nannten.

Meine Mutter arbeitete viel. Ob sie es gut machte oder schlecht, weiß ich nicht, auf jeden Fall versetzte man sie alle zwei, drei Jahre auf einen anderen Posten in einer anderen Provinz. Auf diese Weise machten wir Bekanntschaft mit den statistischen Abteilungen (was in vielen Fällen nur ein euphemistischer Name für ihr eigenes, oft kleines und schäbiges Büro war) fast aller Krankenhäuser im Süden des Landes, in denen sie arbeitete. Schon immer ein Luchs, was Mathematik anging, meine Mutter wohlgemerkt, nicht ich. Was sie selbst zugab: In Mathematik bin ich ein Luchs, sagte sie lächelnd, aber mit leicht verklärter Stimme. Die Mathematik war auch schuld, dass sie meinen Vater kennengelernt hatte, bei einem Schnellkurs (oder Intensivkurs oder einer Weiterbildung) für statistische Mathematik, den sie sechs Monate lang in Mexiko absolviert hatte. Sie kehrte schwanger nach Chile zurück, und neun Monate später erblickte ich das Licht der Welt. Bald darauf kam mein Vater nach Chile, um mich kennenzulernen, und als er wieder fuhr, war meine Mutter mit meiner Schwester schwanger. Ich konnte mich nie für Mathematik erwärmen. Ich mochte Zugfahrten, das Reisen in Bussen, sich die Nächte um die Ohren schlagen, fand es toll, die neuen Häuser zu erkunden, in die wir einzogen, aber die neuen Schulen mochte ich nie. Es gab da ein Busunternehmen, das Vía Sur hieß und die Panamericana bis hinunter nach Puerto Montt befuhr. Als Kind habe ich eine Weile in Puerto Montt gelebt, kann mich jedoch an nichts erinnern, nur an den Regen vielleicht, außerdem in Temuco, Valdivia, Los Ángeles, Osorno, Llanquihue und Cauquenes. Meinen Vater habe ich während der Zeit zweimal gesehen, einmal, als ich acht, und das andere Mal, als ich zwölf Jahre alt war. Meiner Mutter zufolge hat es vier Begegnungen gegeben, aber bei den beiden, die ich vergessen habe, muss ich noch sehr klein gewesen sein und kann mich an nichts erinnern. Die Vía Sur existiert sicher nicht mehr oder heißt jetzt anders. Ich bin auch mit einer Buslinie namens Lit gereist und mit einer, die Der fünfte Reiter hieß, sogar mit einer, die sich La Andina nannte und deren Firmenlogo ein brennender Berg war, kein Vulkan, wie man vernünftigerweise hätte annehmen können, sondern ein brennender Berg. Jedes Mal, wenn wir umzogen, folgte uns mein Vater wie ein Phantom von Ort zu Ort, mit seinen von Fehlern wimmelnden Briefen und seinen Versprechungen. Meine Mutter hatte ihn natürlich öfter als viermal in fünfzehn oder sechzehn Jahren gesehen. Einmal ist sie nach Mexiko geflogen und verbrachte dort mit ihm zwei gemeinsame Monate, während meine Schwester und ich in der Obhut unserer Mapuche-Haushälterin blieben. Damals wohnten wir in Llanquihue. Als meine Großmutter, die in Viña del Mar lebte, erfuhr, dass meine Mutter uns aus Stolz nicht bei ihr hatte unterbringen wollen, sprach sie fast ein Jahr lang kein Wort mit ihrer Tochter. Meine Großmutter hielt meinen Vater für den Inbegriff des Lasters und der Verantwortungslosigkeit und nannte ihn, wenn sie von ihm sprach, immer den Herrn Mexikaner oder diesen mexikanischen Hallodri. Am Ende verzieh meine Großmutter meiner Mutter, denn so, wie sie meinen Vater für den Inbegriff des Lasters hielt, wusste sie, dass meine Mutter der Inbegriff der Traumtänzerei war.

Die Hausangestellte, bei der wir blieben, hieß Celestina Maluenda und stammte aus Santa Bárbara in der Provinz Bío-Bío. Sie wohnte viele Jahre bei uns und folgte meiner Mutter von Provinz zu Provinz und von einem Haus zum nächsten, bis zu dem Tag, an dem meine Mutter beschloss, mit uns nach Mexiko zu ziehen. Was geschah? Ich weiß nicht, kann sein, dass meine Mutter sie bat, uns nach Mexiko zu begleiten, und dass Celestina nicht wollte, kann sein, dass meine Mutter sagte, das war’s, Celestina, alte Freundin, Schluss, aus, Ende, man sieht sich, kann sein, dass Celestina für eigene Kinder und Enkel zu sorgen hatte und glaubte, die Zeit sei dafür reif, kann sein, dass meine Mutter nicht das Geld hatte, ihr ein Flugticket für Mexiko zu kaufen. Meine Schwester liebte sie sehr und weinte, als sie sich von ihr verabschiedete. Celestina weinte nicht: Sie strich ihr übers Haar und sagte, pass gut auf dich auf. Mir gab sie nicht einmal die Hand. Wir sahen uns von weitem an, und sie murmelte etwas zwischen den Zähnen, wie es ihre Art war. Vielleicht sagte sie: Pass auf deine Schwester auf, Arturo. Vielleicht schickte sie mich dorthin, wo der Pfeffer wächst. Oder sie wünschte mir viel Glück.

Zu der Zeit, als man uns mit Celestina allein ließ, lebten wir in Llanquihue, am Stadtrand, in einer von Pappeln und Eukalyptusbäumen gesäumten Straße ohne Häuser. Es gab bei uns ein Gewehr, von dem keiner wusste, wer es eigentlich angeschleppt hatte (obwohl ich vermute, dass es ein Freund meiner Mutter war), und ich hatte mir angewöhnt, nachts, bevor ich ins Bett ging, das Haus Zimmer für Zimmer, Keller eingeschlossen, mit dem Gewehr über der Schulter abzulaufen, gefolgt von Celestina, die mir mit einer Taschenlampe die Ecken ausleuchtete. Manchmal übertrieb ich es mit der Wachsamkeit und schloss auch den Patio in meinen Rundgang ein, wagte mich sogar einige Meter auf die dunkle Straße hinaus. Ich kam bis zur ersten Straßenlaterne, schon ein gutes Stück vom Haus entfernt, begleitet nur von meinem Hund, und kehrte dann zurück. Celestina blieb an der Tür stehen und wartete auf mich. Danach rauchten wir jeder eine Zigarette und gingen schlafen. Das Gewehr verstaute ich unter meinem Bett. Eines Nachmittags jedoch bemerkte ich, dass das Gewehr entladen war. Als ich Celestina fragte, wer mir die Patronen geklaut habe, antwortete sie, das sei sie gewesen, aus Vorsicht, damit ich niemanden verletzen könne. Ist dir nicht klar, sagte ich, dass ein ungeladenes Gewehr total nutzlos ist? Es kann nützen, Angst einzujagen, sagte Celestina. Der Vorfall brachte mich ganz aus dem Häuschen, ich schrie und heulte, um die Patronen zurückzubekommen. Schwöre mir, dass du niemanden umbringst, sagte Celestina. Hältst du mich etwa für einen Mörder?, antwortete ich. Ich würde nur schießen, um mich zu verteidigen, um dich und meine Schwester zu beschützen. Mich muss man nicht mit einem Gewehr beschützen, sagte sie. Und was willst du tun, wenn eines Nachts ein Mörder kommt? Ihre Schwester und Sie an die Hand nehmen und davonlaufen (manchmal duzte mich Celestina, manchmal siezte sie mich). Am Ende schwor ich, und Celestina gab mir die Patronen zurück. Als ich das Gewehr geladen hatte, sagte ich, sie solle sich einen Apfel auf den Kopf legen. Du irrst dich, wenn du an meiner Treffsicherheit zweifelst, warnte ich sie. Celestina sah mich lange wortlos an, mit einem tiefen und traurigen Blick, und sagte schließlich, wenn ich so weitermachte, würde ich bald als Mörder enden. Ich töte keine Vögel, sagte ich. Ich bin kein verdammter Jäger. Ich töte keine Tiere. Ich verteidige mich nur. Ein andermal flog meine Mutter nach Miami und traf sich dort mit meinem Vater. Das waren die herrlichsten dreißig Tage meines Lebens, sagte sie. Ein Glück, dass er dir nicht noch ein Kind gemacht hat, sagte ich. Meine Mutter holte zu einer Ohrfeige aus, aber ich war schneller und wich ihr aus.

Manchmal war es meine Mutter, die ihre Reise bezahlte, andere Male schickte ihr mein Vater die Flugtickets. Für uns Kinder schickte er nie welche. Meiner Mutter zufolge nicht deswegen, weil er uns nicht sehen wollte, sondern aus Angst, das Flugzeug könne abstürzen und man würde meine Schwester und mich erst lange Zeit später schlafend in einem Nest aus verbogenem, verglühtem Metall in irgendeiner gottverlassenen amerikanischen Bergregion finden. Um ehrlich zu sein, hatte ich ernste Zweifel hinsichtlich dieser Erklärung. In den Tagen, die zwischen unserem ersten vereitelten Versuch, nach Mexiko aufzubrechen, und dem zweiten lagen, erinnerte sich meine Mutter wieder an meine Zweifel und zeigte mir (nur mir) den letzten Brief, den mein Vater ihr geschickt hatte, als es für unsere Reise nach Mexiko bereits Datum und Uhrzeit gab. In dem Brief schrieb mein Vater, er schlafe mit einer Pistole in der Nachttischschublade, für den Fall, dass wir verunglückten. Und was soll das heißen?, fragte ich. Dein Vater gibt mir damit zu verstehen, dass er sich eine Kugel in den Kopf schießt, wenn uns etwas zustößt. Und was sollte uns zustoßen? Dass das Flugzeug, was Gott verhüten möge, abstürzt. Und mein Vater will sich umbringen, wenn wir sterben? Ja, sagte meine Mutter, wenn er schreibt, er schlafe mit der Pistole neben sich, dann, um seinem Leben ein Ende zu setzen, wenn den Herrschaften etwas zustößt. Die Herrschaften waren wir, meine Schwester und ich. Der Gedanke an meinen Vater und seine Pistole ging mir tagelang nicht aus dem Kopf, und nach der Ankunft in Mexiko, bevor für mich der Unterricht in einer neuen, mexikanischen Schule begann, als ich noch nichts zu tun hatte und niemanden kannte, durchsuchte ich sogar sämtliche Zimmer des Hauses, habe sie aber nie gefunden.

Briefe bekamen wir tatsächlich, seitenlange, von Hand geschriebene Briefe in krakeliger Schrift und mit haufenweise orthographischen Fehlern. Er sprach darin von »meiner zweiten Heimat«, wie er sich hochtrabend ausdrückte, wenn er Chile meinte, oder von »meiner anderen Heimat«, »meiner Heimathaftigkeit«, »meiner Andersheit«. Manchmal, nicht oft, sprach er von meinem Großvater und meiner Großmutter, einem Galizier und einer Indianerin aus Sonora, die mir so fern schienen, als seien sie Außerirdische. Er sagte, er sei das jüngste von sieben Geschwistern, mein Großvater wäre neunzig und besäße Land in der Gegend von Santa Teresa, meine Großmutter wäre sechzig, genau dreißig Jahre jünger als der Großvater. Manchmal stellte ich aus Langeweile Berechnungen an (obwohl ich Mathematik nicht mag) und bekam die Zahlen nicht unter einen Hut: Als ich zur Welt kam, war mein Vater laut Aussage meiner Mutter, die von allen außer von sich selbst das genaue Alter kannte und verriet, fünfundzwanzig; zu der Zeit, als wir nach Mexiko gingen, muss mein Vater etwa vierzig gewesen sein; wenn meine Großmutter damals sechzig war, hätte sie zwanzig sein müssen, als sie meinen Vater bekam; aber wenn mein Vater das jüngste von sieben Geschwistern war, wie alt war dann meine Großmutter, als das erste zur Welt kam? Meine Großmutter dreizehn und mein Großvater dreiundvierzig. Es gab natürlich noch eine andere Möglichkeit: dass meine Großmutter nicht die Mutter aller Kinder meines Großvaters war, sondern nur die der beiden letzten oder bloß die von meinem Vater. Wie dieser in seinen fürchterlichen Briefen berichtete, die ich manchmal nicht einmal zu Ende las, sei mein Großvater bis vor kurzem noch geritten. Er schrieb auch, dass der alte Mann während eines Telefongesprächs, in dem mein Vater ihm erzählte, wobei er sich in seiner Erzählung heillos verstrickte, weder waren die Verbzeiten klar, noch sonst etwas nachvollziehbar, er hätte mir Geld für ein Pferd geschickt, die Hoffnung geäußert habe, mich eines Tages reiten zu sehen, in Sonora und auf richtigen Pferden. Damit erreichte er allerdings nur, mich gegen meinen Großvater einzunehmen, den ich übrigens nie kennengelernt habe. Einmal fragte ich meinen Vater (ganz beiläufig, fast als sprächen wir über Fußball, während wir in einem Stau auf der Avenida Insurgentes standen) nach der frühreifen Mutterschaft meiner Großmutter, woraufhin er mir gestand, sie sei die zweite Frau meines Großvaters gewesen und dass sie ihr erstes Kind mit neunzehn, das zweite mit zwanzig bekommen habe. Ich weiß nicht, warum ich ihn daraufhin nach seiner ersten Frau fragte, nach der meines Vaters, nicht der meines Großvaters, übergangslos und ohne Umschweife, als wenn alles, worüber wir an diesem Nachmittag redeten, darauf abgezielt hätte, am Ende auf diesen Punkt zu sprechen zu kommen. Mein Vater blieb zunächst stumm, zeigte keine Reaktion, schaute, die Hände am Lenkrad, nach vorn. Dann erklärte er, dass es in Mexiko anders als in Chile seit langem die Scheidung gebe, aber dass es gleichzeitig, im Unterschied zu Chile, sehr teuer sei, sich scheiden zu lassen. Ich weiß nicht warum, sagte er, aber sich scheiden zu lassen ist sehr teuer. Das muss an den verdammten Kindern liegen, sagte ich und schnippte die Zigarette aus dem Fenster (seit ich fünfzehn war, seit ich in DF mexikanischen Boden betreten hatte, ließ mich mein Vater rauchen). Das wird es sein, sagte er. Ich erinnere mich nicht mehr, ob wir in Richtung UNAM oder La Villa unterwegs waren, nur dass wir im Schneckentempo vorankamen und mein Vater es vermied, mich anzusehen (er schaute starr auf die ins Stocken geratene Blechlawine vor uns, aber mit einem Gesichtsausdruck, als betrachtete er die großen, offenen Weiten Amerikas, die Schänken und Fabriken, die dämmrigen Gebäude, in denen Menschen wohnten wie er, Menschen über vierzig), aber als er mich endlich ansah, lächelte er und wollte etwas sagen, was er dann doch nicht tat.

Bei seinem letzten Besuch in Chile, anderthalb Jahre bevor wir nach Mexiko gingen, luden uns Freunde meiner Mutter für ein Wochenende auf ihr Landgut ein. Eines Nachmittags machten wir einen Ausritt. An manchen Tagen erinnere ich mich ganz deutlich an die Stimmen, an das Gelb und Dunkelgrün der Landschaft, an die Vögel, die spärlichen, unglaublich hohen Wolken, an anderen Tagen erinnere ich mich wie durch Nebelschleier, als wäre es ein verwackelter oder mit schadhaftem Filter aufgenommener Film oder als hätte man etwas mit meinem Gehirn gemacht. Wir waren sieben Chilenen und ein Mexikaner, und die Chilenen wollten sehen (ich war einer der Chilenen und wollte auch sehen), ob der Mexikaner Manns genug war, zu reiten, ohne vom Pferd zu fallen. Einer der Chilenen, ein Arzt, der aber auch ein Heilpraktiker gewesen sein könnte, hatte vermutlich ein Verhältnis mit meiner Mutter gehabt, ich erinnere mich an seine Besuche zu Hause, an die Stimme meiner Mutter, die Celestina befahl, uns ins Bett zu bringen, an die Musik vom Plattenspieler, als sie dann allein waren, der Stücke aus dem Film Orfeu Negro