Ein Leben als Arzt, Maler,
Schreiber und Patient

Titelbild: Dietmar Weiß (›Das mechanische Herz‹ (2010), Acryl). Auch die Bilder im Text stammen vom Autor.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

D. Weiß, ›Internistische & hinterlistige Betrachtungen‹

Originalausgabe

© 2019 memorabilia (www.memorabilia-ed.de) – ein

Imprint der Ganymed Edition, Hemmingen

Alle Rechte vorbehalten

Gestaltung & Verlag: Ganymed Edition, Hemmingen

ISBN 978-3-946223-80-1

(auch als eBook ISBN 978-3-946223-81-8)

Printed in Germany

Inhalt

›Sich auflösende Landschaft‹ (2007)

Vorwort

Na also, jetzt hast du - wer auch immer du sein magst – tatsächlich dieses Heft in einer verstaubten Kiste auf dem Dachboden gefunden, wie ich mir das vorgestellt habe, als ich diese Lebenserinnerungen in den Jahren 2006 und 2019 zu Papier gebracht habe.

Ich habe mir gedacht, dass du so vierzehn bis siebzehn Jahre alt sein könntest, möglicherweise Enkel oder Urenkel; wahrscheinlich habe ich dich ja nicht mehr kennengelernt, und du hast vielleicht höchstens mal gehört, dass es unter deinen Vorfahren einen Landarzt gab, der irgendwann sowas wie seine Memoiren geschrieben hat, aber bald hat keiner mehr gewusst, wo das Heft geblieben ist. Aber jetzt hast du es in der Hand!

Nun, erwarte bitte nicht zu viel. Man kann in Memoiren nicht über alles schreiben, mit Rücksicht darauf, dass doch irgendjemand sie irgendwann lesen könnte und so bleiben sie immer unvollständig. Ich kann mir aber vorstellen, dass es dich doch interessiert zu erfahren, wie deine Vorfahren am Ende des 20. Jahrhunderts gelebt haben, und welche Schikanen man sich schon damals ausgedacht hat, Ärzten ihren ohnehin stressigen Beruf noch zu erschweren. Ich gehe mal davon aus, dass es zu deiner Zeit Ärzte ohnehin nicht mehr geben wird, sondern einerseits Medizinaltechniker und andererseits Scharlatane, die Tendenz geht ja jetzt schon dahin.

Okay, ich weiß natürlich aus eigener Erfahrung, dass man sich in der Jugend für das Vorleben der Eltern nicht besonders interessiert, man ist ja auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Ich habe zum Beispiel meinen Vater nie gefragt, wie es ihm im Krieg ergangen ist, weiß nur von einer Granatsplitterverwundung im Bauch, die Narbe sah man ja immer beim Schwimmen, und er selbst hat auch lieber geschwiegen.

Heute würde ich gern mit ihm darüber reden und viel mehr vom Krieg erfahren, den wir ja auch vielleicht doch noch einmal erleben – und wohl nicht überleben – werden; nach der jetzt schon so lang andauernden Friedensperiode in der westlichen Welt kriechen ja die Ratten in Gestalt inkompetenter und psychopathischer Regierungschefs wieder aus ihren Löchern. Der Mensch ist nun einmal das unberechenbarste und gefräßigste aller Raubtiere.

So, das musste gesagt sein. Bevor deine Taschenlampe jetzt den Geist aufgibt, gehst du wohl besser in die Dachkammer nebenan, dort fällt genug Licht durch die Dachluke. Ich werde mich bemühen, so zu schreiben, dass du das Heft nicht gleich wieder in die Kiste zurücklegst, aber es kann natürlich sein, dass ihr zu eurer Zeit ganz andere Interessen habt als lesen, dann bin ich dir nicht böse, und wir vergessen das Ganze, aber immerhin hast du jetzt so etwas wie ein kleines Geheimnis, und dann war es nicht umsonst geschrieben.

›Ausblick‹ (2007)

Kindheit

Ich weiß natürlich nicht, ob ihr in der Schule noch etwas von den beiden Weltkriegen erfahrt, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganz Europa verwüsteten und vielen Millionen Menschen das Leben kosteten, aber selbst in solch mörderischen Zeiten werden wieder Menschen geboren, und dazu gehörte auch ich.

Jedenfalls erblickte ich im Juni 1944 in Kanth bei Breslau, im damaligen Schlesien, das Licht einer allerdings fast vollständig verfinsterten Welt. Meine Mutter berichtete in ihren leider sehr unvollständigen Memoiren von einer doppelseitigen Lungenentzündung, die ich mir auf der Flucht nach Westen zugezogen habe, und dass der nur widerwillig schließlich erschienene Arzt (verständlich, er heiratete am selben Tag), nicht damit gerechnet habe, mich am nächsten Tag lebend wiederzusehen. So aber hatte ich schon sehr früh zum ersten Mal die Kurve gerade noch gekriegt – es sollte nicht das letzte Mal sein.

Erste Erinnerungen habe ich an das Haus in Ronnenberg bei Hannover, in das wir nach Flucht und Kriegsende einquartiert wurden, schließlich wieder vereint mit meinem Vater nach seiner Entlassung aus der Kriegsgefangenschaft. Im Gedächtnis sind mir vor allem das große Pferd, das einmal in der angrenzenden Scheune stand, die Ratten auf den Toiletten, Kartoffeln roden auf den Feldern, auf der Müllkippe mit meinem Vater, Verwertbares aussortieren, Hühner im Garten, die ich mit einem anderen Jungen beobachtete, wie sie unter einer kleinen Abdeckung verschwanden und wieder auftauchten.

Eines Tages ging ich mit einem Pfennigstück zum Kaufmann nebenan und bekam tatsächlich eine Tüte mit den begehrten kleinen Schokoladenplätzchen. In Erinnerung sind auch die vielen Panzer, die am Haus vorbei ratterten, der Kachelofen in der Küche, die Großeltern mütterlicherseits im Zimmer nebenan, der gelegentliche Besuch bei Onkel und Tante am anderen Ende des Ortes. Man musste an der Bahn entlang, und eine Schar Gänse, die sich bedrohlich schnatternd jedes Mal näherte, machte den Ausflug zum Abenteuer.

Es gab auch die Wege zu einem kleinen Garten, immer links die Hauptstraße entlang; zum Sportplatz geradeaus, mein Vater im Handballtor, Tischtennis gegenüber in oder vor der Gaststätte, stillsitzen, während mein Vater mich zeichnete (das Blatt habe ich noch heute). Einmal wurde er mit dem Krankenwagen weggebracht, war aber bald zurück – das mit dem ›Kurve kriegen‹ habe ich von ihm. Meine Mutter behauptete immer, sie habe ihm damals das Leben gerettet, weil sie sich vor den Operations-Saal gestellt habe und die geplante Operation (wohl wegen des Granatsplitters im Bauch) verhindert habe. Das ist ihr dann selbst an ihrem Lebensende noch zum Verhängnis geworden, als sie sich starrköpfig gegen die nun wirklich notwendige Operation wegen eines eingeklemmten Dünndarms wehrte.

Später kamen Geschwister, erst Zwillingsschwestern, wieder zwei Jahre später ein Bruder. Als die Hebamme kam, begrüßte ich sie mit: ›Herein, herein, wenn’s auch kein Schneider ist‹.

Die Schule in Ronnenberg besuchte ich, soweit erinnerlich, nur wenige Tage, dann erfolgte der Umzug – mit angetrunkenem Fahrer auf einem Kohlenwagen – nach Hannover-Waldhausen, wo meine Eltern ein kleines Holzhaus auf einem, wie uns damals schien, riesigen Gartengrundstück mit kleinem Wäldchen hatten errichten lassen. Sie hatten nach dem Krieg eine postalische Totound Lotto-Annahmestelle übernommen, und offenbar haben die Leute schon damals, oder gerade damals, viel getippt, denn es gab immer viel Arbeit, die wir Kinder auch mit übernehmen mussten, was für uns aber eher ein Spiel war.

Ein Erlebnis war immer das Ausleeren der Jauchegrube, denn es gab noch keinen Anschluss an die Kanalisation, und vor allem das Verteilen der stinkenden Jauche auf den Beeten. Mein Vater studierte damals auch noch Tiermedizin, und wir hatten neben den Hunden fast immer Hühner im Garten – beim Bau der Hühnerställe machte mir vor allem das Nageln viel Spaß, und ich tat es vorwiegend mit links, obwohl man mir das Schreiben mit rechts beigebracht hatte. Keinen Spaß hatten wir, wenn der Vater sich anschickte, die Hühner zu schlachten, da sahen wir immer ängstlich hinter den Gardinen zu, wie die kopflosen Hühner noch eine Weile umherflatterten, und wir weigerten uns strikt, das Hühnerfleisch zu essen. Wie eine Entschädigung war es aber, das Ausbrüten und Schlüpfen der Küken beobachten zu dürfen.

Ich weiß nicht, ob du das nachvollziehen kannst, aber obwohl wir noch keine Handys und Computer, damals nicht einmal ein Fernsehgerät hatten:. Eigentlich fehlte uns nichts in unserer Kindheit, da war der große Garten, später mit vielen Spiel- und Turngeräten, Sandgrube, Schwimmbecken, sogar ein kleiner Tennisplatz, da war der nahe Wald mit einem kleinen Bach, in dem damals noch Kaulquappen schwammen. Mit dem Fahrrad konnte man stundenlang durch die Wälder der Umgebung streifen. Zur Schule brauchte man nur ein kleines Stück durch den Wald zu gehen; besonders lästig fand ich die Schule nicht, ich hatte bald erkannt, dass die Lehrer einen in Ruhe ließen, wenn man sie nicht ärgerte. Mit den Schulkameraden konnte man prima im Wald spielen, vor allem Reiterkämpfe, wobei ich, da ich immer der Kleinste war, als Reiter besonders begehrt war. Später gab es sogar Fußballplätze in der Umgebung mit Toren und immer bessere Bälle – was wollte man mehr?

Spielt ihr noch selbst Fußball, obwohl das Spiel ja eigentlich längst zu einem vom Geld dominierten Event verkommen ist? Für uns gab es nichts Schöneres, als hinter dem runden Leder herzujagen. Und kannst du verstehen, dass das allergrößte Erlebnis meiner Kindheit und Jugend der Gewinn der Weltmeisterschaft im Fußball 1954 war? Am Radio natürlich – noch heute kann ich mich hineinversetzen, wie ich als Zehnjähriger am Fenster rücklings auf dem Sessel hockte, regungslos gebannt durch die Reportage von Herbert Zimmermann, und noch heute bekomme ich eine Gänsehaut, wenn Szenen, meist natürlich das Siegtor zum 3:2 gegen den haushohen Favoriten Ungarn, im Radio eingespielt werden. Natürlich habe ich erst sehr viel später begriffen, was das ›Wunder von Bern‹ nach den katastrophalen Kriegsereignissen für die Erwachsenen bedeutete.

Eines Tages war die heile Welt der Kindheit plötzlich zu Ende; es war ein heißer Sommertag, als mein Großvater, ein ehemaliger Polizeireiter, wohl knapp über sechzig, plötzlich verstarb. Auch hier eine Erinnerung, die sich ins Gedächtnis eingebrannt hat: Ich saß im Garten auf der Hundehütte, als meine Mutter aus dem Haus stürzte und nach meinem Vater rief: Der Opa stirbt!

Ich war mit etwa zehn Jahren damals alt genug, um zu verstehen, dass ja auch ich sterben könnte, aber noch nicht alt genug, um das Risiko abschätzen zu können. Die Folge waren monatelang anhaltende Angstzustände, auch eine Zeit lang Arztbesuche, ich erinnere mich an den Geruch von Baldrian, den ich in Tropfenform einnehmen musste. Aber mit dem Übergang in die Jugendzeit kam auch der unerschütterliche Glaube der Jugend an die eigene Unsterblichkeit zurück. Auf dem Friedhof war es mir aber, wie ja den meisten Menschen, noch viele Jahre unheimlich. Heute freilich bin ich ein ausgesprochener Friedhofs-Fan, kann sein, dass ich hier so etwas wie meine ›Gesammelten Werke‹ suche.

Ich weiß nicht, ob du schon Erfahrungen gemacht hast mit dem Tod. Ich meine nicht in Filmen oder im Fernsehen, sondern in der Wirklichkeit. Eines kann ich dir zu deiner Beruhigung sagen: In der Wirklichkeit ist nichts ganz so dramatisch und tragisch wie im Film, und schließlich sind wir ja die bei weitem überwiegende Zeit tot, also ist das der Normalzustand, unnormal und gefährlich (manchmal auch schön) ist nur das Leben. Und bisher hat es noch jeder geschafft, zu sterben, auch Leute, die sonst nichts auf die Reihe kriegen, also muss es doch das Leichteste von der Welt sein.

Wenn ich die Todesanzeigen meiner Patienten gesammelt hätte, könnte ich heute eine ganze Wand damit tapezieren, es waren nur wenige darunter, die offensichtlich Angst vor dem Sterben hatten. Die meisten hatten eher Angst vor dem Leben, und die Angst ist ja längst die häufigste Krankheit geworden.

Als Kind denkt man immer, Erwachsene haben keine Angst, nur Kinder, aber glaub mir, es ist eher umgekehrt. Erwachsene sind auch nur groß gewordene Kinder. Nimm ein bisschen Rücksicht auf sie.

Schulzeit

Die nächste Beerdigung, zu der ich gehen musste, war die meines Onkels. Den hatte es schon mit knapp über fünfzig erwischt, plötzlich auf der Straße fiel er um. Nicht lange zuvor hatten wir noch seinen fünfzigsten Geburtstag gefeiert, eine Feier von legendären Ausmaßen – was den Alkoholkonsum angeht. Überhaupt, was haben die Leute nach dem Krieg gesoffen! Heute kaum noch vorstellbar.