Mittendrin und nirgendwo
Mittendrin und nirgendwo
1. Vorwort
2. Überblick
3. Die rote Feder
4. Das Märchen vom Spiegelmeister
5. Der Junge mit der Gitarre
6. Schachtelheim
7. Warte, warte nur ein Weilchen
8. Lebensmut
9. Lichtblick
10. Danksagung
11. Über die Autor*innen und die Künstlerin

 

 

 

Mittendrin und nirgendwo

 

Benefiz-Anthologie für den Verein

Straßenkinder e.V.

 

Herausgeber: Swantje Berndt

 

 

 

 

 

 

 

Copyright © 2019 Swantje Berndt

Erschienen 2017

 

Zugunsten des Vereins Strassenkinder e.V. Berlin

 

 

1. Vorwort

 

Ein sauberes Bett und eine warme Mahlzeit.

Simple Dinge.

Die wenigstens von uns nehmen sie bewusst wahr, weil wir davon ausgehen, jederzeit darüber verfügen zu können.

Jeder, der schon eine Nacht hungrig in Kälte und Regen verbracht hat, sieht das jedoch anders.

Was für Erwachsene eine derbe Herausforderung darstellt, ist für Kinder und Jugendliche eine maßlose Überforderung. Spätestens wenn es Winter wird, beginnt aus dem oft unfreiwillig gewählten Abenteuer ein Albtraum zu werden.

Was sich anfangs noch wie Freiheit anfühlte, wandelt sich schleichend oder abrupt zu einem Gefühl des Verlorenseins.

Wenn der Rückweg in die Familie nicht existiert, weil die Verhältnisse dort unerträglich sind, bleibt vielen nur das Ausharren auf der Straße übrig. Inklusive sämtlicher Gefahren, die sie bereithält.

Schlagworte wie Drogenmissbrauch und Prostitution sagen sich leicht daher, wenn man sie nur von außen betrachten darf. Ein kurzes Darübernachdenken, ein mitleidiges Seufzen oder gar verständnisloses Kopfschütteln und der Alltag mit geheizten Räumen sowie vollen Kühlschränken geht weiter.

Eine alte Weisheit besagt, dass man erst über einen anderen Menschen urteilen darf, wenn man eine Zeitlang in dessen Schuhen gelaufen ist.

Ich für meinen Teil reiße mich nicht um die Erfahrung, als Kind vor dem eigenen Elternhaus fliehen zu müssen, und ich maße mir schon gar kein Urteil darüber an, warum Kinder und Jugendliche auf der Straße das tun, was sie für überlebenswichtig halten. Aber ich bin dankbar, dass es Organisationen gibt, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, sich um diese Kinder zu kümmern. Eine Aufgabe, die sich im Prinzip jedem von uns stellt, insofern wir uns als ein Teil der Gesellschaft verstehen. In einer echten Gemeinschaft wird niemand fallengelassen. Hier unterscheidet sich die Theorie eklatant von der Praxis egoistischen Nutzenmaximierens.

Die vorherrschende Meinung, wenn sich jeder um sich selbst kümmert, ist jedem geholfen, ist und bleibt genau das: eine Meinung. Was dem einen leichtfällt, ist für den anderen unmöglich. Für Kinder trifft dies in ganz besonderer Weise zu.

Straßenkinder e.V. versucht mit viel Mühe und Engagement diese Lücke zu schließen, die unter anderem auch der Staat hinterlassen hat. Nicht nur mit Unterkünften und warmen Mahlzeiten, auch mit Bildungs- und Freizeitangeboten, persönlichen Gesprächen, Präventionsarbeit und organisatorischer Hilfe jeder Art.

Ein Ersatz für eine funktionierende Familie?

Auf jeden Fall eine liebevolle und verantwortungsbewusste Alternative, die dort auffängt, wo der Großteil der Gesellschaft hilflos mit den Schultern zuckt.

Als ich von einem guten Bekannten gebeten wurde, zu Gunsten dieses Vereins eine Kurzgeschichtensammlung herauszubringen, fiel mir die Zusage daher spielend leicht.

Zusammen mit sechs Kolleginnen und einem Kollegen setzte ich mich an die Arbeit und es entstanden sieben sehr unterschiedliche Geschichten zum Thema »Mittendrin und nirgendwo«.

Im Namen meiner Kollegen wünsche ich Ihnen, werter Leser, viel Vergnügen bei der Lektüre und bitte Sie, dem Verein Straßenkinder e.V. auch weiterhin Ihr Augenmerk zu schenken oder ihn sogar durch Spenden zu unterstützten.

Die Homepage finden Sie unter strassenkinder-ev.de

 

Herzliche Grüße

Swantje Berndt

2. Überblick

 

Die rote Feder

 

Sandra Andrea Huber

 

Geld und ein trockener Schlafplatz  ̶̶  das ist, was für Cash zählt. Träume füllen weder den Magen, noch bringen sie Bares in die Kasse, daher sind sie fehl am Platz. So fehl und überflüssig, wie er und die anderen Straßenkinder Berlins es sind. An einem Tag wie jedem anderen entfacht eine mysteriöse Begegnung einen Funken, der die Macht hat, nicht nur Cash´ Zukunft zum Positiven zu verändern. Denn nicht immer kommt Feenstaub von oben; manchmal wohnt er auch im Herzen eines Jungen …

 

~*~

 

Das Märchen vom Spiegelmeister

 

Swantje Berndt

 

Eben noch saß Paul vor einem U-Bahneingang und ließ sich vom Schneeregen durchweichen, als er sich plötzlich in einer staubigen Werkstatt, umgeben von mannshohen Spiegeln, wiederfindet.

Der alte Ephraim stellt sich als ihr Meister vor und bietet Paul an, bei ihm in die Lehre zu gehen.

Trotz seiner Zweifel lässt sich Paul darauf ein und erlebt ein Abenteuer jenseits von Traum und Realität.

 

 

~*~

 

Der Junge mit der Gitarre

 

Eve Flavian und Neela Faye

 

Schon seit einigen Wochen schmachtet Pascal den jungen Straßenmusiker David vor seinem Lieblings-Coffeeshop an. Endlich traut er sich, seinen Schwarm anzusprechen, allerdings reagiert dieser zunächst eher abweisend,

wenngleich er nicht gänzlich unempfänglich für die ungewohnte Aufmerksamkeit ist.

Als Pascal David eines abends schwerverletzt unter einer Brücke findet, zögert er nicht. Aber er weiß, dass der Musiker mehr als medizinische Hilfe braucht.

Doch wird er sie annehmen?

 

~*~

 

Schachtelheim

 

Julia Bohndorf

 

Das Königreich Wanzreh wird von Armut und Hunger geplagt und besonders die Kinder leiden darunter. Riel ist eines von ihnen und der Fund eines Apfels sorgt für eine Hetzjagd durch kalten Regen sowie dunkle Gassen. Der Verlust seiner Beute auf der Flucht ist jedoch nicht das Ende, sondern der Weg in die Arme einer fremden Person und zu einem wahrhaft magischen Gegenstand.

 

~*~

 

Warte, warte nur ein Weilchen

 

Tanja Meurer

 

Wie wahnsinnig können Menschen sein?

Diese Frage stellt sich Anni Beckmann, als im letzten Kriegssommer 1918 eine entsetzliche Mordserie an Kindern ihren Anfang nimmt. Bald rücken die Ereignisse in den Hintergrund, als ihre Eltern zwei Kriegsveteranen als Untermieter aufnehmen. Einer der beiden Landser - Heinrich Wolff - ist Anni vom ersten Moment an unheimlich, obwohl er aus ihrer Nachbarschaft stammt und ein Freund der Familie ist. Der entstellte Mann verströmt den Hauch von etwas Tierhaftem. Erst als Annis Vater unter Mordverdacht an den Kindern verhaftet wird, ist sie gezwungen, sich näher mit Wolff, der ihr seine Hilfe anbietet, zu beschäftigen.

 

~*~

 

Lebensmut

 

Daniel Schiller

 

Jens lebt auf der Straße. Eines Tages schlägt das Schicksal zu und er verliert seinen besten Freund. Aufgerüttelt durch dieses Ereignis stellt er sein bisheriges Leben in Frage. Als er schon aufgeben möchte, findet er neue Hoffnung.

 

~*~

 

Lichtblick

 

Juliane Seidel

 

Eine rote Höhle, ein schwarzer See und eine geisterhafte Stimme, die nach ihm ruft: Finns Dasein gleicht einer Gefangenschaft, ist trist und ohne Abwechslung. Erst als seine Erinnerungen Stück um Stück zurückkehren und einen Teil der Höhle zum Einsturz bringen, öffnet sich ein Lichtblick am Horizont. Doch den Sprung ins Ungewisse zu wagen und herauszufinden, was mit ihm passiert ist, stellt Finn vor eine Herausforderung, der er sich zunächst nicht gewachsen fühlt.

 

~*~

 

 

 

3. Die rote Feder

(Sandra A. Huber)

 

»Hey Alter, hast du dir etwa in die Hose gepisst?«

Natter kriegt sich vor Lachen kaum noch ein. Die neongrüne Strähne, das letzte bisschen Haar auf seinem kahlgeschorenen Kopf, baumelt vor seinem Gesicht wie eine Schlange und macht seinem Spitznamen alle Ehre. Sein Hund Ringel - zusammen das Dreamteam Ringelnatter - hebt das Bein zum Hals und versucht seine Flöhe aufzuscheuchen. Natürlich heißt Natter nicht wirklich Natter. Unsere echten Namen lassen wir zurück; sie passen nicht in dieses Leben auf der Straße. Trotzdem weiß ich, dass Natter, ehe seine Mutter ihn und Ringel rausgeworfen hat, weil sie kein Geld für drei Mäuler hatte oder ausgeben wollte, Frederik hieß. Weil er es mir verraten hat. Weil wir Freunde sind.

Mein Name war André.

Heute bin ich Cash. Weil ich fast immer das meiste Geld auftreibe.

Ich stemme mich vom Boden in eine sitzende Position und wische mir beiläufig Spucke aus dem Mundwinkel. Meine Glieder fühlen sich steif an, regelrecht tiefgekühlt. Wenn man lediglich den freien Himmel über und ein paar zusammengeknüllte Kleidungsstücke unter sich hat, ist das einfach so. So, wie man aufs Klo gehen und sterben muss; eventuell sogar gleichzeitig.

Die flüchtige Frage, ob ich mich irgendwann daran gewöhnen werde, an den ranzigen Geschmack in meinem Mund, und die Erkenntnis, dass gerade mal Herbstanfang ist, ertränke ich in dem letzten Rest Bier. Er schmeckt schal und fad; verträgt sich also gut mit meinem Mundgeruch. Ehe ich die Brühe herunterschlucke, nutze ich sie dann doch lieber zum Gurgeln, spucke sie auf den nackten Asphalt neben mich und begutachte abermals meinen Schritt. »Verdammt, bei der Kälte frieren mir noch die Eier ab! Warst du das?!«

»Ob ich dich angepisst hab?«

»Ob du mir Bier in den Schritt geschüttet hast, du Pisser!«

»Selber Pisser!«

Ich ziehe eine Grimasse; Natter erwidert sie. Kurz bin ich versucht mich nach unten zu beugen; habe ich mich vielleicht doch angepisst? Nein, es ist Bier. Selbst wenn es nicht Bier ist, ist es Bier. Wie ein Iltis stinke ich trotzdem. Im Großen bin ich hart im Nehmen; für den Moment kann ich mich allerdings selbst nicht mehr riechen.

»Ich brauch ´ne Dusche«, sage ich und stehe auf. »Kommst du mit?«

Natter streckt die Beine durch und krault Ringel hinter dem Ohr. »Nö, lass mal.«

»Dann eben nicht.« Ich klaube mein Zeug zusammen, womit ein lädierter Armee-Rucksack und eine Plastiktüte mit dreckiger Wäsche gemeint sind. »Um zwei am Alex?«

»Wahrscheinlich.« Sein Wahrscheinlich ist lässiger und unverbindlicher als ein Ja, meint jedoch das Gleiche; so gut kenne ich ihn inzwischen.

Ich nicke. »Man sieht sich.«

»Bring mir ein Bier mit!«, ruft Natter mir noch hinterher; ich zeige ihm freundlich den Stinkefinger und verschwinde um die nächste Ecke.

Wir sind nun mal da, denke ich, während ich gegen den bunten Strom Passanten anlaufe, hier und da anecke, es genieße und gleichsam hasse. Wir können uns nicht einfach in Luft auflösen oder unsichtbar machen, auch wenn ihr euch dann besser fühlen würdet, denke ich. Manchmal finde ich die Vorstellung allerdings gar nicht so übel. Luft sein; frei sein; keine Sorgen haben.

Nach einer notdürftigen Wäsche in einem öffentlichen Klo, die Tüte vollgestopft mit feuchten Klamotten, treibt mich der Hunger an eine belebte Straße. Zeit den nicht vorhandenen Geldbeutel aufzufüllen. Ich hoffe, dass es nicht allzu lange dauert, bis ich genug für einen Burger und eine Coke zusammenhabe; mein Magen hängt ziemlich durch. Schmächtig sein ist von Vorteil, wenn man schnell abhauen muss, und schlecht, weil man nicht viel auf den Rippen hat, von dem man zehren kann. Wenn die Einnahmen üppig ausfallen, leiste ich mir vielleicht eine Tube Zahnpasta, überlege ich, nachdem die ersten Cent-Stücke in meiner geköpften Dose gelandet und mehrere Passanten mit Starbucks-Bechern und Smartphones in den Händen an mir vorbeigelaufen sind. Aber nur vielleicht. Wahrscheinlich gewinnt doch wieder das Bier. Oder die gesüßte Kondensmilch, die hält den Kreislauf aufrecht. Und der Zuschuss zum Pott. Samy schulde ich auch noch eine Dose Bier. Dafür schuldet Natter mir noch drei Kippen, fällt mir ein und das malt mir ein Grinsen auf die Lippen.

»Hast du dich an einen Witz erinnert?«

Ich hebe den Kopf und begegne dem Gesicht eines langen, dunkelhaarigen Typen, schätzungsweise um die dreißig. Er ist ähnlich schmal wie ich, wirkt jedoch drahtiger und genährter.

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht.«

»Ich war einfach nur neugierig. Das ist nicht verboten, oder?«

Ich zucke mit den Achseln, schaue die Straße entlang und warte darauf, dass der Typ weitergeht - was er nicht tut. Stattdessen setzt er sich neben mich auf den Boden, als wäre nichts dabei.

»Was soll das werden, wenn´s fertig ist?« Ich ziehe meinen Rucksack näher zu mir und mustere den Kerl mit Skepsis und Argwohn. Ein Polizist? Einer vom Jugendamt? Ein Streetworker? Ich kann ihn nicht einordnen.

»Ich wollte mich nur kurz ausruhen.«

»Is’ klar«, äffe ich. »Such dir was Eigenes. Da hinten steht ´ne Bank, da machste dir deine hübsche Hose auch garantiert nicht dreckig.«

»Hosen kann man waschen oder gegen eine neue tauschen.«

»Ach nee.«

»Leben auch.«

Doch sowas wie ein Streetworker. »Verpiss dich einfach und erzähl jemand anderem von deinen Pseudoweisheiten, wie wär das?« Anscheinend ist Pissen, in allen Varianten, heute Wort des Tages. Könnte schlimmer sein. Überdosis ist beispielsweise ein Scheißwort. Oder erfrieren.

»Ich würd sie dir aber gern erzählen, André.«

Ich erstarre innerlich, presse die Lippen aufeinander, verspüre den Drang aufzuspringen und mich vom Acker zu machen. Definitiv irgendein Typ der deutschen Bürokratie. »Woher willst du wissen, dass ich so heiße?«

»Die Erklärung ist simpel und kompliziert zugleich.«

»Eh besser, du behältst sie für dich«, sage ich mit einer wegwerfenden Handbewegung. Dann will ich aufstehen - werde jedoch zurückgehalten, was mich noch mehr drängt, aufzustehen. »Pfoten weg!!«

»Ich bin keiner vom Amt.«

»Meinetwegen, dann bist du eben von einer Sekte. Aber nicht mit mir, such’ dir ’nen anderen Dummen!«

»Du solltest dir die Zahnpasta kaufen.«

Nun starre ich den Kerl wirklich an. Also noch mehr als vorhin. Immer noch skeptisch und argwöhnisch, aber auch verwirrt. Und irritiert. Und neugierig. »Wer zum Teufel bist du?«

»Ich bin du - oder vielmehr derjenige, der du mal sein wirst. Mit anderen Worten: dein vierunddreißigjähriges Ich.«

Einen kurzen Moment schießen mir tausend Gedanken durch den Kopf, dann lache ich los. So laut, dass ich ein paar pikierte Blicke und das ein oder andere Nasenrümpfen ernte, als wäre es verboten in der Öffentlichkeit zu lachen. Später heißt es garantiert wieder, diesen Straßenkids ginge es doch gut, die hätten den größten Spaß; immerhin drücken sie sich vor Arbeit und Schule. Faule Kids eben. Aufmüpfige Kids. Perspektivlose Kids - das denken sich alle, ohne es zu sagen.

»Schon klar«, sagt der Mann leichthin und macht eine kreisende Fingerbewegung um seine Schläfe. »Du denkst, ich hab einen an der Waffel. Kann ich verstehen; immerhin weiß ich ja, wie ich ticke, weil ich du bin.«

»Jetzt wird´s mir echt zu bunt!«

»Mal im Ernst, willst du in fünf Jahren immer noch hier sitzen? Oder in zehn? In fünfzehn? Denkst du, dass du dann noch hier sitzen kannst? Alkohol, Drogen, all die Gestalten, die hier rumlaufen … gibt genug Gründe, den Löffel abzugeben. - Und mindestens genauso viele von der Straße runterzukommen, kein Bier mehr zu gurgeln und das Gefühl eines vollen Magens besser zu kennen als das eines leeren.«

»Das kann auch nur einer sagen, der Markenjeans trägt und lupenreine Zähne hat.«

»Falsch. Das kann einer sagen, der es von dort, wo du gerade sitzt, auf die Seite dir gegenüber geschafft hat. Du hast es bereits auf die andere Seite geschafft - du musst nur noch deinen Hintern hochkriegen und verstehen, dass du bereits gewonnen hast. Ein wasserdichtes Spiel.« Er hebt die linke Hand und spreizt die Finger. »Siehst du das? Du bist verheiratet, mit einer echt heißen Frau. Du hast süße, manchmal unglaublich nervende Kinder und ein tolles Zuhause. Du hast all das, weil du verstanden hast, dass du all das haben kannst. Weil du daran geglaubt hast, dass du ein gutes Leben führen kannst. Weil du an dich geglaubt hast.«

»Sekte - sagte ich doch.«

»Wäre doch dämlich, wenn ich mich selbst anlügen würde, oder nicht? Was bitte schön hätte ich davon? Rein gar nichts. Ich hab nur was davon, wenn du mir glaubst. Andernfalls war´s das mit meinem lupenreinen Leben.«

Ich stehe auf. »Tja, dann gehst du wohl leer aus. Pardon, wir gehen leer aus«, sage ich spottend.

Er greift in seine Gesäßtasche, zieht einen Fünfziger heraus und drückt ihn mir in die Hand. »Such dir ein Zimmer, gönn dir eine ausgiebige Dusche und schlaf eine Nacht drüber. Lass dir meine Worte einfach mal durch den Kopf gehen. Du kannst mehr schaffen, als du dir zutraust. Es liegt ganz bei dir, wie viel.«

»Klar, Alter.« Ich stecke das Geld rasch in den Bund meiner Shorts. »Morgen fliege ich zum Mond.« Mein Gegenüber grinst und für den Bruchteil einer Sekunde glaube ich, mich in der Mimik und den dunklen Augen, dem ganzen Auftreten wiederzuerkennen.

»Tendenziell ein gutes Ziel, nur werden wir flugkrank. Das gäbe eine schöne Sauerei. Frei umherfliegende Kotze … nein danke, das muss nicht sein. Behalte lieber den Boden im Auge - und die Gebäude, die darauf stehen. Prenzlauer Berg ist ein guter Bezirk; den solltest du nicht außer Acht lassen.« Er zwinkert mir zu.

»Wovon hast du wie viel geschluckt und was hast du dafür bezahlt?«, rufe ich dem Spinner hinterher, doch er hebt nur die Hand zu einem letzten Wink, ruft so was wie »Die heutige Nacht könnte nicht nur dein Leben verändern«, ehe er in der Masse verschwunden ist.

Ich stehe noch lange an der Ecke und starre in die bewegte Menschenmenge, als würde mich ihr Hin und Her in Trance versetzen. Sogar mein Magenknurren vergesse ich vorübergehend, weil sich ein anderer, längst vergessener, verdrängter Hunger in mir breit macht.

Was für ein Idiot, sage ich irgendwann später laut und mache mich auf den Weg zum Kiosk.

 

 

~*~

 

Ich weiß weder, wie noch warum ich hergekommen bin, was nichts daran ändert, dass ich vor einem kleinen Hotel stehe und mich frage, wer nun der größere Idiot ist: der Typ, der denkt, er käme aus der Zukunft, oder der, der dessen Worten Glauben schenken möchte, auch wenn er dabei seinen letzten Rest Grips vor die Straßenbahn wirft.

Warmes Wasser, Seife, ein weiches Bett, ein Zimmer nur für mich allein - deswegen bin ich hier, sage ich mir, während ich verdränge, was ich stattdessen für das Geld bekommen könnte. Keinen megamäßigen Rausch, aber zumindest einen, der die Welt für kurze Zeit rosiger aussehen ließe. Ich hätte meine Schulden begleichen oder Vorräte anlegen können; hätte mir eine neue Iso-Matte oder Klamotten besorgen können. Hätte uns allen ein 1A Abendessen spendieren können. Und was mache ich? Ich schieße das Geld in den Wind, für eine einzige Nacht, von der ich morgen früh nichts mehr haben werde. Mein letztes bisschen Grips muss längst aufgebraucht sein; eine andere Erklärung habe ich nicht. Statt Vernunft ist da nur noch diese Sehnsucht, die ich mich kaum traue an mich heranzulassen, weil sie noch viel mehr wehtut als ein Magen, der leerer als leer ist.

Mein gefälschter Ausweis und das Geld des Spinners ebnen mir den Weg und befördern eine weiße Schlüsselkarte in meine Hand. Ich schließe die Zimmertür hinter mir ab, atme mehrmals durch und werde von einer Welle Emotionen überrollt. Zu Boden gedrückt. Weggespült. Zermahlt und zerlegt.

Wie lange ist es her, dass ich einen solchen Luxus genießen konnte? Wie lange, dass ich einen Schlüssel besaß, der mich alles und jeden aussperren ließ? Wie lange, dass ich einfach nur ein Junge in einem Zimmer war?

Ich dusche, bis aller Dreck von mir abgespült und alles warme Wasser aufgebraucht ist. Den Bademantel auf der geröteten Haut, lasse ich mich rücklings ins Bett fallen, fühle mich federleicht und tonnenschwer zugleich. Ich hasse es eingesperrt zu sein und doch genieße ich es, dass mein Blick von der Decke gebremst wird und der freie Himmel sich zur Abwechslung um ein Gebäude und nicht um mich spannt. Hier und jetzt ist dieses Zimmer mein Zuhause und ich bin sein alleiniger Besitzer und Bewohner. So viel habe ich lange nicht mehr besessen; so jung und alt zugleich habe ich mich noch nie gefühlt.

Ich packe die Lebensmittel vom Kiosk aus, breite sie vor mir auf dem Bett aus, wie bei einem Picknick, das ich nie erlebt habe, weil mein Vater mehr Freude hatte, mich durch die Wohnung zu prügeln, und Dosenbier im Kühlschrank für ausreichend hielt. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus zwischen ihm und den Wänden und Decken und bin abgehauen. Zu freiem Himmel, Schlafplätzen ohne Matratze, steifgelegenen Gliedern und Karies. Weil ich nicht zurückwill, aber müsste, da ich fünfzehn bin und Erwachsenen gerade mal so weit traue, dass ich ihnen ihr Geld abluchse, meide ich Jugendamt und Polizei - so wie viele meiner Straßenfreunde es tun. Enttäuschung kann tief sitzen; die Erwachsenen haben bei den meisten keinen Stein im Brett. Wenn es hart auf hart kommt, sind wir die besseren Erwachsenen - weil wir aufeinander achtgeben.

Beim Gedanken an die anderen, an Natter und Jazz, Zecke und Bieber machen sich Schuldgefühle in mir breit. Ich bin fast immer derjenige, der die meiste Kohle einsackt und in den Pott einzahlt; derjenige, der die anderen von dummen - zu dummen - Ideen abhält. Derjenige, der heute nicht um zwei am Alex war und keinem gesagt hat, wo er sich rumtreibt. Heute bin ich ein Egoist, kein guter Freund und dieses Gefühl ist mies. Und trotzdem … eine Nacht in einem sauberen, warmen Zimmer, nur für mich, ist das wirklich so ein egoistischer Wunsch?

Ich esse so viel, dass ich satt bin; den Rest packe ich wieder weg, um ihn morgen mit den anderen zu teilen. Auch wenn ich mir diese eine Nacht stehle, werde ich kein Egoist; dafür bin ich nicht gemacht. Ich brauche die anderen, vielleicht sogar mehr als sie mich.

Irgendwann wache ich auf, verwirrt, weil ich zuerst nicht weiß, wo ich bin. Es ist Nacht, das Zimmer düster, nur erhellt vom Fernseher, den ich an-, aber nicht mehr ausgemacht habe. Schlaftrunken zappe ich durch die Kanäle, bin müde, will aber nicht, dass es Morgen wird. Ich bleibe an bunten, gezeichneten Bildern hängen, an einem Typen in grünen Strumpfhosen, mit roten Haaren und einer Kappe auf dem Kopf. Peter Pan. Klar kenne ich die Story, die kennt doch jeder. Eine Geschichte für Kinder, nicht für jemanden wie mich. Umschalten kann ich trotzdem nicht. Also sehe ich zu, wie er und die Darlingkinder in die Londoner Nacht abheben, im Nimmerland ankommen, Captain Hook und den verlorenen Kindern begegnen. Jung gegen Alt, Kinder gegen Erwachsene, nicht anders als die Realität - bis auf den Feenstaub.

Wir verdienen auch Feenstaub, denke ich, als ich zurück in den Schlaf drifte; verdienen auch jemanden, der sich um uns kümmert, uns ein Zuhause gibt; wir sind auch verlorene Kinder. Und dann träume ich. Von Peter Pan, der mir tief in die Augen sieht und sagt, ich müsse nur glauben. Von Peter Pan, der mir die rote Feder seines Hutes ins Haar steckt und sagt, er sei stolz auf mich. Von Peter Pan, der mir gegenübersteht und plötzlich ich ist.

 

~*~

 

Ich öffne die Augen; diesmal ist es hell um mich und auch diesmal brauche ich ein paar Augenblicke mich zu orientieren. Der Fernseher läuft immer noch, kommt mir jedoch leiser vor. Wahrscheinlich, weil der Tag lauter ist als die Nacht.

Ich setze mich auf, der Bund des Bademantels hat sich gelöst, reibe mir den Sand aus den Augen und wappne mich gegen das Loch, das mich erwartet, wenn ich durch die Zimmertür in den Flur trete. Jetzt bloß nicht rumheulen. Ich fahre mir durchs Haar - und erstarre in der Bewegung. Es vergehen einig Sekunden, dann gleitet meine Hand über die Matratze, meine Finger greifen zu, heben eine einzelne, rote Feder in die Höhe.

Nur ein Traum, sage ich mir. Es war nur ein Traum.

Ich streiche mit der Spitze über meine Wange, komme mir vor wie jemand, der testet, ob er wirklich wach ist und nicht doch noch schläft. Die Feder ist weich und kühl, kitzelt über meine Haut und jagt mir ein Prickeln über den Nacken. Ich schlafe nicht mehr, bin wach, aber anders als sonst. Der neue Tag ist da wie immer, schubst mich zurück in die Realität.

Als ich wieder durch die Straßen Berlins laufe, an grünen Ampeln warte und an roten loslaufe, fällt das Gefühl des Schlafwandlers nicht von mir ab. Da ich nicht weiß, wo die anderen gerade sind, peile ich instinktiv den Alex an. Es ist jedoch keiner von ihnen da; um dort zu warten, bin ich viel zu unruhig. Also mache ich mich wieder auf den Weg, zwänge mich ohne Ticket in eine U-Bahn und trete wenig später im Bezirk Prenzlauer Berg zurück an die Oberfläche.

Ich schlendere den Gehsteig entlang, die Feder in eine Strähne meines schulterlangen Haares geknotet, wie ein Symbol, dessen Bedeutung ich nicht kenne; ein Statement, dessen Credo mir nicht bekannt ist; ein Schild, dessen Feinde ich nicht beim Namen nennen kann. Suche nach etwas, von dem ich keine Ahnung habe, was es sein soll, komme mir dumm vor und kann doch nicht anders, als weiter danach Ausschau zu halten.

Berlin ist Berlin; was soll an diesen Straßen - oder Häusern - besonders sein? Berlin hat Platz für alle, nur nicht für die verlorenen Kinder. Wir sind die vergessenen Kinder; uns will keiner, weil wir … ich weiß auch nicht, was mit uns nicht stimmt. Ich weiß nur, was mit den Erwachsenen nicht stimmt.

Auf der gegenüberliegenden Seite eines grauen mit Graffiti bemalten Hauses bleibe ich stehen; unter meinem gebannten Blick gleiten Autos hin und her. Unruhe befällt meine Beine, sodass ich die Straße überquere. Am Fenster neben der Tür hängt ein Schild mit der Aufschrift »Diese Immobilie steht zum Verkauf«; darunter prangt die Adresse einer Bank. Ich drücke mich an die Glasscheibe, schirme mein Gesicht mit den Händen ab und spähe ins Innere. Der Fußboden ist von einer dicken Staubschicht überlagert, hier und da liegen lose Kabel und Überreste von etwas, das wohl irgendwann mal Mobiliar gewesen ist.

Ich mache einen Schritt zurück, verharre unschlüssig an Ort und Stelle, die vier Stockwerke immer wieder mit in den Nacken gelegtem Kopf begutachtend, von seinem Anfang zum Ende und vom Ende zum Anfang laufend. Als sich mein Hals steif anfühlt, beschließe ich zu gehen, zu den anderen, zurück in die Realität und Normalität. Weg von dem Unsinn, den ich hier treibe.

Ich mache ein paar Schritte in die Richtung, aus der ich gekommen bin, da bleibt etwas unter meinem rechten Schuh kleben. Ich bücke mich, ziehe das postkartengroße Ding von der Sohle und starre es an. Bunte, verschnörkelte Buchstaben auf einem eingerissenen, knittrigen, schmutzigen Stück Papier starren zurück.

 

Vertrauen öffnet Türen.

 

In diesem Moment habe ich eine Idee. Einen Wunsch. Etwas, an das ich glauben möchte. Wir sind die besseren Erwachsenen, weil wir aufeinander achtgeben. Ich weiß, was ich will, und auch, was nun zu tun ist. Wie es funktionieren soll, weiß ich nicht, aber in diesem Moment ist das Was wichtiger als das Wie, weil das Was vor dem Wie kommt, der erste Schritt ist.

Ich laufe los. Berlin ist groß, aber ich kenne mich aus, muss mich auskennen, das ist lebenswichtig. Ich weiß also, wo ich besagte Bank finde. Und ich habe Glück; sie ist geöffnet, als ich dort ankomme.

Damit mich die Vernunft kurz vorm Ziel nicht doch noch in die Knie zwingt, lasse ich sie einfach vor der Tür zurück und stürme in die Filiale, den Kopf leergefegt, die Brust gefüllt mit einem utopischen Ziel und etwas, das nur Feenstaub sein kann, weil es nicht von dieser Welt ist. Mehr habe ich nicht. Wie das reichen soll, weiß ich nicht, aber es muss genug sein.

Vor einem Schalter mache ich Halt. »Mit wem muss ich reden, wenn es um das graue Haus in der Kastanienallee geht?«

Auf dem Gesicht der Dame mir gegenüber zeichnet sich Irritation ab. »Du meinst die Immobilie, die zum Verkauf steht?«

Ich nicke. »Wer ist der Besitzer?«

»Was willst du von ihm?«

»Das möchte ich ihm persönlich sagen.«

Skepsis und Gemurmel breiten sich in der Filiale aus. Keine Ahnung, wie laut oder leise es hier üblicherweise zugeht; selbst in diesem Augenblick könnte ich nicht sagen, ob es still oder laut ist. Irgendwie trifft beides zu.

»Die Immobilie gehört der Bank.«

»Und wer von der Bank entscheidet, was mit ihr passiert?«

»Hast du ein Konto bei uns? Oder deine Eltern?«

»Nein, aber darum geht es ja gar nicht. Ich will einfach nur mit dem sprechen, der entscheidet, was mit dem Haus passiert.«

Die Frau scheint am Ende ihres Lateins zu sein, greift nach dem Hörer des Telefons und wählt eine Nummer. Aus Angst, sie könnte die Polizei rufen, blicke ich mich hektisch um, fasse ein verglastes Büro ins Auge, renne los und stolpere durch die geschlossene Tür vor den Schreibtisch eines Mannes.

»Die Immobilie in der Kastanienallee - kann ich mit Ihnen darüber sprechen?«, bringe ich hektisch hervor.

»Tut mir leid, er ist einfach so losgerannt«, verteidigt sich die Dame vom Schalter, nun ebenfalls einen Fuß im Büro.

Der blauäugige Mann mit dem dichten Schnauzer mustert mich durchdringend, dann nickt er seiner Kollegin zu. »Schon in Ordnung, Bea. Gegen eine Unterhaltung ist nichts einzuwenden.«

Ich spüre eine Welle von Hitze durch mich strömen.

»Setz dich«, fordert der Mann freundlich und bestimmend zugleich. Als ich vor ihm Platz genommen habe, sieht er mich wartend an. »Nun?«

»Sie entscheiden, was mit dem Gebäude passiert?«, vergewissere ich mich mit fester Stimme.

Mein Gegenüber nickt.

»Ich weiß, was Sie damit machen können. Ich weiß, was die beste Verwendung für dieses Haus ist. Schenken Sie es mir und meinen Freunden.«

»Ich soll es …«, sagt der Mann und beugt sich blinzelnd nach vorne, »… dir und deinen Freunden schenken?«

Ich nicke. »Sie haben ein Haus und wir brauchen einen Platz, wo es warm, trocken und sicher ist. Sie könnten uns ein Zuhause geben - wir kümmern uns auch darum! Wir können es sauber halten und Dinge reparieren.«

»Was ist mit deinen Eltern? Den Eltern deiner Freunde? Warum wohnt ihr nicht bei ihnen?«

»Würden Sie bei jemandem wohnen wollen, der Sie nicht bei sich haben will? Der denkt, Sie seien dumm oder faul oder wertlos oder kosten zu viel? Der Sie immerzu anschreit oder schlägt? Dem Sie nichts bedeuten?«

Schweigen, bis auf das Ticken der Armbanduhr des Mannes.

»Ich soll dir und deinen Freunden also ein Haus schenken, damit ihr darin wohnen könnt? Allein, ohne Erwachsene? Und wie soll das funktionieren? Womit bezahlt ihr euer Essen? Wer kümmert sich um euch?«

»Wir können aufeinander aufpassen und füreinander da sein.«

»Kinder können nicht für Kinder sorgen.«

»Wir haben aber nur uns; ein Erwachsener ist nicht da. Soll es etwa besser sein, sich allein durchzuschlagen als zusammenzuhalten?« Ich sehe ihm in die Augen.

»Es gibt Häuser, wo du und deine Freunde hinkönnt. Wo ihr etwas zu essen bekommt und wo man sich um euch kümmert. Wo man neue Familien für euch findet.«

»Wo man uns reparieren will. Uns voneinander trennt oder zurück zu unseren Eltern schickt. Hauptsache, die Straßen sind sauber; Hauptsache, wir sind aus dem direkten Blickfeld verschwunden. Wir sind nicht immer leicht, aber wir sind nicht nichts - wir sind da. Was wir brauchen, ist eine Chance - und Vertrauen.« Ich beuge mich nach vorne, meine Stimme wird eine Nuance heller. »Wir können lernen und arbeiten, können anderen etwas beibringen und damit Geld verdienen. Picco zum Beispiel ist ein klasse Zeichner! Samy kann skateboarden, Kelly singen und Zuko tanzen. Wir sind nicht chancenlos - nur chancenleer.« Ich hole Luft, dann sage ich langsam, mit fester, lauter Stimme: »Sie haben ein Haus und wir brauchen eins. Eigentlich ist es doch ganz einfach - oder nicht?«

Wir sitzen lange Zeit regungslos voreinander, betrachten einander schweigend. Mein Herz klopft wie verrückt, springt mir fast aus der Brust. Das Ticken der Armbanduhr lässt mich an das Krokodil denken, das Captain Hook die Hand abgebissen hat.

»Wie heißt du, Junge?«

»André.«

Er nickt, wieder und wieder. »Hör zu André. Ich kann mich weder über die Gesetze des Staates noch über eure Eltern hinwegsetzen, ebenso wie ich nicht einfach so ein Haus im Wert von mehreren hunderttausend Euro verschenken kann.«

Meine Brust zieht sich schmerzhaft zusammen.

Was hab ich mir nur gedacht? Hab ich ernsthaft geglaubt, ich könnte mit Worten - meinen Worten - etwas bewirken? Noch dazu etwas derart Großes?

Ich wünsche dem Kerl von gestern die Pest an den Hals.

Und Peter Pan samt seiner dummen Fee.

Und mir selbst.

»Aber …«, sagt mein Gegenüber, »… ich kann mich dafür einsetzen, damit du und deine Freunde nicht zurück nach Hause müsst. Ich kann zwischen dem Jugendamt und euch vermitteln, kann mit Leuten sprechen, die eine Idee wie deine unterstützen würden. Ich kann mich nach Sponsoren umsehen, die der Bank das Haus abkaufen, um es in ein Zuhause für dich und deine Freunde zu verwandeln. Wenn ihr das wirklich wollt und dahintersteht, wenn ihr mit dem Jugendamt kooperiert und euch an bestimmte Vorgaben haltet, wenn du mir versprichst, dass ihr eure Chance nutzt, dann werde ich alles tun, was ich tun kann, um euch zu helfen deine Idee Wirklichkeit werden zu lasen.«

Es vergeht eine Ewigkeit, bis ich realisiert habe, was er gerade gesagt hat. Was es bedeutet - wirklich bedeutet. »Ist das … Ihr Ernst?«

»Ist es dein Ernst, André?«

Ich nicke, weil ich kein Wort herausbringe.

»Haben wir einen Deal?« Er streckt mir die Hand entgegen.

Ich starre auf das mit einer breiten, goldenen Armbanduhr bestückte Handgelenk. Meine Augen werden feucht, ohne dass ich es verhindern kann. Wie in Zeitlupe hebe ich meine Hand. »Deal.«

»Hast du schon einen Namen im Sinn?«

»Namen?«

»Für euer Haus.«

»Wie wäre es mit«, ich denke nach, »Immerland

 

 

19 Jahre später

 

 

Der blauäugige Mann von der Bank hat Wort gehalten. Er hat einen Kompromiss mit dem Jugendamt ausgehandelt. Hat Menschen zusammengebracht, die meine Idee unterstützt haben. Hat Menschen gefunden, die das Haus gekauft und dem Immerland e. V. überschrieben haben. Er hat den vergessenen Kindern ein Zuhause ermöglicht, in dem die Bewohner Hausherren und die Erwachsenen nur Gäste sind. Gäste, die für Skateboard und Hip- Hop-Kurse, Artwork und Poetry Slam bezahlt und unsere Kasse gefüllt haben. Wir gingen zur Schule, nicht immer motiviert, manchmal auch zum Psychologen, mehr als oft widerwillig. Das war nicht leicht und ganz sicher nicht lustig, aber wir wussten unsere Chance zu nutzen. Die meisten von uns zumindest.

Dass Natter sich gegen ein anderes Leben entschieden hat, hat mir das Herz gebrochen. Irgendwann hörte ich, dass er an einer Überdosis gestorben ist und es brach mir das zweite Mal das Herz.

Ich kann nicht sagen, wie sein Leben verlaufen wäre; ob er heute noch am Leben wäre, wenn er sich uns angeschlossen hätte. Dass er tot ist, weil er sich gegen uns entschieden hat, glaube ich nicht. Vielmehr denke ich, dass er gestorben ist, weil er nicht an seinen eigenen Wert geglaubt hat und es auch dann nicht konnte, wenn jemand anderes es getan hat. Das ist, was ihm schlussendlich das Genick gebrochen hat. Wenn ein anderer einem einredet, dass man wertlos und gewissermaßen Dreck unter den Schuhsohlen sei, ist das eine Sache. Eine andere ist, wenn man es selbst glaubt; wenn man davon überzeugt ist wert- und chancenlos zu sein. Das bringt die Waage zum Umkippen und macht einen vergessenen Jungen wahrhaftig zu einem verlorenen Jungen.

Und was mich angeht: Ich bin glücklich verheiratet, habe zwei Töchter, ein mehr als hübsches Dach über dem Kopf und setze mich für die Belange der Immerland-Kids ein - innerhalb wie außerhalb. Bis heute weiß ich nicht, wer der Mann mit dem Fünfziger war; ob er überhaupt existiert hat oder nur ein Bildnis meiner Phantasie war, ausgelöst durch zu viel Bier und zu wenig Essen; zu kalte Nächte und zu wenig Liebe. Manchmal, wenn ich in den Spiegel schaue, blicke ich ihm ins Gesicht - weil ich ihm verdammt ähnlich sehe. Dann frage ich mich, ob ich vielleicht nur eine andere Version von mir selbst geworden bin.

Schlussendlich spielt es keine Rolle. Wer immer er war, er hat an mich geglaubt. Und, was noch viel wichtiger ist, er hat es geschafft, dass ich angefangen habe wieder an mich selbst zu glauben. Etwas in mir zu sehen. Mich als wertvoll zu fühlen. Mut zu gewinnen. An eine Zukunft fern meines damaligen Lebens zu glauben und sie auch für andere zu sehen.

Der Mann hat den Stein ins Rollen gebracht - und Peter Pan hat ihm Flügel verliehen.

 

~*~

 

4. Das Märchen vom Spiegelmeister

(Swantje Berndt)

 

»Kriege ich den Rest?« Paul angelte nach den Pommes. Es waren nur noch drei Stück auf der mit Ketchup beschmierten Pappe.

»Klar.« Jacky klapperte mit dem Becher, doch die Frau sah grimmig geradeaus und ging vorbei.

Paul schob sich die Pommes in den Mund. Sie waren längst kalt. Aber längst nicht so kalt wie er selbst.

»Der Winter soll hart werden.« Jacky zog die Schultern hoch. »In den Nachrichten faseln sie, dass das für Berlins Obdachlose ein Problem wird.« Er grinste sein schiefstes Grinsen, das ihm Ähnlichkeiten mit einem Comic-Kojoten verlieh. »Schätze, dann wird das auch für uns zum Problem.« Wie automatisch hielt er einem Mädchen, das mit Alexa-Tüten bewaffnet durchs Scheißwetter eilte, denn Becher hin. »Hey, ist ein bisschen Kohle vom Shoppen übrig?«

Das griff ebenso automatisch in die Hosentasche. »Sicher.« Sogar ein Lächeln bekam es hin.

Paul schlang die Arme um den Oberkörper. Ihm war eisig. Trotzdem lächelte er zurück. »Soll ich dir ein Herz auf deine Jeans malen?« Manche mochten so was. Extra dafür hatte er sich einen schwarzen Edding gekauft. »Oder ist dir ein Smiley lieber?«

»Ne lass mal.« Das Mädchen marschierte eine Spur schneller Richtung U-Bahn-Eingang.

»Immerhin ein Euro«, murmelte Jacky. »Wetten, sie hat noch mehr gehabt?«

»Sie hat was gegeben.« Das war okay. Die meisten ignorierten Schnorrer. Allerdings war er gut darin, den Leuten den Weg abzuschneiden, wenn sie einen Bogen um ihn machen wollten. Zu nerven zahlte sich aus. Oder die klassische Mitleidsschiene. Bei einigen funktionierte auch extreme Freundlichkeit, die haarscharf an Arschkriecherei entlangschrammte, aber das war nicht sein Ding.

Kowalski rutschte näher zu ihm und rollte sich auf der Decke zusammen. Paul kraulte Jackys Hund ebenso automatisch, wie das Mädchen den Euro gezogen hatte.

»Ich habe keine Nächte mehr fürs Sleep In übrig«, murmelte Jacky, während er einem Mann den Becher hinhielt.

Der sah nicht einmal hin.

»Erst nächsten Monat wieder.«

»Ich hab noch drei.« Der nächste Monat begann in eineinhalb Wochen.

Dezember. Paul schauderte es.

Dabei war der Dezember rein einnahmetechnisch okay. Selbst Glühwein ließ sich schnorren. Aber sonst war der Monat übel. Ganz übel.

An einem Dezemberabend vor zwei Jahren hatte ihn sein Vater aus der Wohnung geprügelt. Damals war Paul vierzehn gewesen und trotzdem schon erwachsen. Nein. Hier war er erwachsen geworden. Auf der Straße.

Per Anhalter nach Berlin, weil’s die nächste große Stadt war. Außerdem hatte er sich dort ein bisschen ausgekannt. Früher war seine Mutter öfter mit ihm und seinem Bruder hierhergefahren. Seine Tante besuchen.

»Darf ich Sie um einen Euro bitten?«, versuchte Jacky die höfliche Schiene bei einem freundlich aussehenden Turnschuhträger. »Sie fahren jetzt nach Hause, stimmt’s? Wir nicht. Wäre doch fair, wenn Sie uns …«

Der Typ ließ ihn stehen, als wäre er Luft.

»Arschloch«, zischte Jacky und hockte sich neben Paul. »Ich hasse es, wenn die das machen.«

»Was?«

»Mich ignorieren. Können die nicht wenigstens nein sagen oder mich ansehen und den Kopf schütteln?« Er stellte den Becher vor sich, begann, sich einen Joint zu drehen. »Basti geht anschaffen«, sagte er nebenbei. »Birdy hat’s mir erzählt.«

»Schade um ihn.« Was sollte Paul dazu sagen? Wer wusste schon, was er alles getan hätte, hätte er im ersten Winter nicht Jacky und Kowalski getroffen. Nicht nur die beiden. Auch die anderen. Doch das mit Jacky war verbindlicher. Eben Freundschaft. Außerdem war Kowalski echt groß. Eine Mischung aus allem Möglichen mit gutmütigen Augen, aber im Notfall konnte er tief und gruselig knurren.

»Hier.« Jacky hielt ihm den Joint hin. »Ich weiß, dass so was nicht dein Ding ist. Mach mal wieder eine Ausnahme.« Erneut grinste er wie der Comic-Kojote.

Die dritte Ausnahme in dieser Woche.

Scheiß der Hund drauf.

»Mr. Charming meinte, wir sollen es genießen«, plauderte Jacky in Pauls ersten Zug. »So wie er mich angesehen hat, hat er irgendwas reingemischt.«

»Bist du irre, mir das Zeug von Charming anzudrehen?« Der Hustenkrampf setzte automatisch ein. »Der ist verrückt! Das weiß jeder!« Pauls Herz schlug von jetzt auf gleich doppelt so schnell. Auch wenn es im Moment mies war, er hing an seinem Leben. »Du hast mir versprochen, nichts mehr von Charming zu kaufen.«

»Mr. Charming.« Jacky klopfte ihm auf den Rücken. »Bleib mal locker. Wer auf der Straße überlebt, überlebt alles.«

»Bis auf den eigenen Tod.« Diese Standardsprüche gingen ihm auf die Nerven.

»Tja. Den wohl nicht.« Seufzend nahm ihm Jacky den Joint wieder ab. »Letzte Nacht habe ich geträumt, ich hätte einen Job bei einem Konditor. Überall standen Torten herum. So richtig edle mit Verzierungen und Hochzeitspaaren drauf. Ich sollte eine davon mit Schokolade bepinseln, habe aber den Pinsel nicht gefunden. Da waren tausend Schubladen mit Kram drin, doch nichts, mit dem ich die dämliche Schokomasse auf die Torte hätte schmieren können.«

»Wie ging der Traum aus?«

»Der Konditor hat mich rausgeschmissen, was sonst?« Jacky inhalierte erschreckend tief. »Jeder würde mich rausschmeißen.«

»Falsch, keiner würde dich einstellen.« Nach den ersten Monaten auf der Straße hatte es Paul aufgegeben, um Jobs zu betteln. Für die Meisten war es okay, einen Euro in den Becher zu schnippen. Mehr jedoch nicht.

Paul lehnte sich zurück, bis er an der feuchten Betonmauer Halt fand. Er sah den Leuten zu, die an ihm vorbeigingen. Hörte ihre Schritte und ihr Reden bald wie durch Watte.

Kein Lachflash. Auch gut. Musste ja nicht immer sein. Vielleicht kam er später. Eigentlich war das der wichtigste Grund für seine Ausnahmen. Sinnfreies Lachen. Dafür nahm er das schwindelige Gefühl und die anschließende Übelkeit in Kauf. Und den Hunger, der sich irgendwann einstellte und sich nicht stillen ließ.

Die Kälte verkroch sich in die Schneeregenpfützen, der Frust der letzten Jahre fiel langsam von ihm ab.

Schräg über ihm blinkten tausende von Sternen.

Schwachsinn. Über Berlin blinkten nur die ganz großen, wenn überhaupt. Außerdem war es bewölkt. Auch wenn es längst dunkel war, es musste so sein. War den gesamten Tag so gewesen. Und es regnete. Konnten Sterne durch Regenwolken scheinen?

Paul zwinkerte.

Die Sterne blieben, wo sie waren. Am Himmel. So viele hatte er noch nie gesehen. Wind streifte sein Gesicht. Er war trocken, roch nach Vanille und etwas anderem. Sehr lecker.

Immer mehr Sterne. Der größte hing wie ein Lampion über einer Sanddüne.

Sand. Überall. Er fühlte sich warm zwischen seinen Fingern an. Paul steckte sie tiefer hinein, bis er Kühle spürte.

 

~*~

 

Die Spiegelplättchen an seiner Kappe blinkten im Licht der Lampe. Nett. Wie Sterne. Sterne in seiner Werkstatt. Das wäre doch mal was.

Ephraim polierte die frisch eingefügte Glasfläche des neuen Spiegels und die Zierde seiner Kappe funkelte noch heller. Machte Spaß, sich das anzusehen.

Eitelkeit. Eine seiner größten Schwächen und das trotz der exorbitant gekrümmten Nase.

Verringerte das Wissen um eine Sünde ihr Ausmaß? Fragen wie diese stellte er sich seit vielen Jahrhunderten, ohne eine Antwort zu finden.

»Weißt du es?« Spiegel waren klug. Zwar auf eine halbkriminelle Weise, doch dennoch klug. Manchmal auch hinterhältig, vor allem, wenn man nackt davorstand. Aber sie beherrschten es ebenfalls, zu schmeicheln. Je nach Lichtquelle und Einstrahlungswinkel.

Der Spiegel schwieg.

Kein Grund, ungeduldig zu werden. Junge Spiegel neigten zu Schüchternheit, alte zu Zynismus und übermäßig strapazierte schwiegen ohnehin – vor Erschöpfung. Oder sie wurden böse.

Vor fünfhundert Jahren war dies einem seiner Meisterstücke geschehen. Vierundzwanzig »Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land?« pro Tag waren einfach zu viel für ihn gewesen. In tausend Scherben war er zersprungen. Ephraim hatte das Klirren bis in seine Werkstatt hinein gehört. Er hörte einiges, was in der Welt vor sich ging. Und was er überhörte, das zeigten ihm die Spiegel. Auch, wenn einer ihrer Brüder in tausend Scherben zersprang.

Ephraim hatte sich gleich auf den Weg gemacht, jede einzelne von ihnen aufgesammelt und den schwarzen, prachtvollen Rahmen auf seinen Eselskarren gezurrt. Manche Menschen wussten echte Handwerkskunst nicht zu schätzen und missbrauchten das Einzigartige, ohne sich Gedanken um die Seelen der Dinge zu machen. Ephraim hatte den Spiegel repariert, so gut er konnte. Aber er war nie mehr derselbe geworden und fristete ein einsames Dasein im hintersten Winkel der Werkstatt.

Gequälte Spiegel reflektierten zu viel Dunkles, wenn man hineinblickte. Das tat keiner der beteiligten Seelen gut. Weder der des Spiegels noch der eigenen.

Der Neue offenbarte bisher nur Ephraims hageres Gesicht mit den unzähligen Falten. Und den Bart. Der Spiegel hätte blind sein müssen, um den zu übersehen. Neue Spiegel waren vieles, doch niemals blind.

Ach ja. Den Teil der Werkstatt, der hinter Ephraim lag, den zeigte der Spiegel ebenfalls. Und – das war das Wichtigste – die Spiegelkappe. Sie saß akkurat auf Ephraims Kopf. Wie kleine Diamanten glitzerten die winzigen Scherben und lenkten von seiner übergroßen Nase ab.

Die Eitelkeit. Schon wieder.

Betrübt beobachtete sich Ephraim beim Kopfschütteln. Er wurde alt und die Arbeit strengte ihn von Tag zu Tag mehr an. Auf den Marktplätzen der Welt trieben schlitzohrige Händler Wucher mit seinen Werken und dennoch stieg die Nachfrage astronomisch an.

Bei den klugen – ob gut oder böse.

Alle anderen schoben Einkaufswagen durch Möbelmärkte und stapelten in Styropor verpackte Glasscheiben mit dunklem Anstrich auf der Rückseite hinein. Sie erwarteten nichts von diesen unnützen Dingern, außer mit ihrer Hilfe kontrollieren zu können, ob der Lippenstift verschmiert war oder die Frisur richtig saß.

Ephraim kontrollierte seine eigene. Viel war nicht zu sehen. Die Kappe verdeckte das Meiste der weißen, schon ziemlich schütteren Pracht.

Eitelkeit.

Nun ja.

Vielleicht war er ein schlechter Spiegelmeister. Zu sehr auf Äußerlichkeiten bedacht, wobei sein Beruf diese charakterliche Schwäche mit sich brachte.

Vermutlich landeten seine Werke deshalb so oft in den falschen Händen.