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Über das Buch

Von Drachenhöhlen und uralten Gefahren

Die Geschwister Charlotte, Finn und Bruce McGuffin sehnen sich nach einem Abenteuer. Als sie ein goldenes Amulett finden, ist ihre Stunde endlich gekommen: Denn der Legende nach wurde es vom Zauberer Merlin höchstpersönlich geschmiedet und führt zu einem streng geheimen Ort. Kopfüber stürzen sie sich in die Schatzsuche. Nicht ahnend, mit wem sie es zu tun bekommen …

»Geheimnisse wie diese sollten nicht offenbart werden, außer in Zeiten höchster Not.«

Geoffrey von Monmouth

»Die Geschichte der Könige von Britannien«, Buch VIII, um 1135

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Für Jeanne

Hüterin des Schatzes

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Familie McGuffin

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Charlotte McGuffin (12) kann im Unterricht nicht lange stillsitzen. Wie einst ihre Eltern möchte sie Abenteuer erleben, Schätze heben und Monster bekämpfen. Ihr Lieblingssport: Schwertkampf.

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Finnegan McGuffin (10) tüftelt gerne an seinen selbst konstruierten Robotern und sieht auf einen Blick, ob seine Schwester Charlotte mehr Erbsen auf dem Teller hat.

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Bruce McGuffin (2) hat immer Hunger. Der Rotschopf spricht erst wenige Worte, aber er klettert geschickt an Möbeln hoch und baut Türmchen aus allem, was ihm in die Finger gerät.

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Vor der Geburt ihrer drei Kinder waren Charles und Amanda McGuffin als Abenteurer auf der ganzen Welt unterwegs. Mittlerweile haben sie ihre Schatzsucherfirma gegen ein weniger gefährliches Unterfangen eingetauscht: Bienenzucht.

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H2Ox ist Finns neueste Erfindung. Eigentlich als Wasserspender-Roboter konstruiert, mag H2vor allem eines: Bücher.

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Lester McGuffin (13) ist der Cousin von Charlotte & Co. Der gut aussehende Sohn von Kaleb gibt sich gerne cool und unerschrocken.

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Amandas Bruder Kaleb McGuffin stellte sich schon früher häufig quer. Den Tod seiner Frau Ophelia hat Lesters Vater bis heute nicht verkraftet.

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Ophelia McGuffin verunglückte tödlich, als Lester noch ein Baby war. Auch sie war Teil der Schatzsucherfirma und eine exzellente Sprachenexpertin.

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Als Butler und treuer Freund der Familie kann Archibald »Archy« Black alles: Rinderbraten mit Kräutersoße zubereiten, Tee servieren und ein Flugzeug fliegen. Nur sprechen kann er nicht.

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Mr Grimsby, der Hauslehrer von Charlotte und Finn, ist alt, mag alte Sprachen und trägt Klamotten, die vor 200 Jahren modern waren.

Inhalt

Der Heilige Gral

Der Dieb der Kekse

Das Amulett

Schatten der Vergangenheit

Die Akte M

Kein schwedisches Winterfest

Von kalten Knochen und nassen Büchern

Unter Gras und Stein

Drachengeschichten

Kenobi

Ein Bootshaus ohne Boot

Ich kann alles fliegen

Flugschule

Scharfe Schuppen und lodernde Lichter

Von Berggeistern und Banditen

Irgendwo in Tibet

Lancelots Fall

Geister unter dem Schnee

All you can eat

Spiel’s noch einmal, Finn

Shangri-La hat ein Problem

Die Nacht des langen Messers

Tod im Eis

Ein Teil von großer Kraft

Merlins Vermächtnis

Das letzte Lagerfeuer

Zurück nach Schottland

»Steht zusammen!«

Operation Family Quest

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Der Heilige Gral

Wie der Atem eines Drachen kroch der Nebel unaufhörlich von den Bergen herab.

»Das ist gut«, murmelte die junge Kriegerin und zurrte den Lederriemen ihres Helmes fest. Die dichten schottischen Nebelschwaden würden das Heer verbergen.

Mit einer leichten Berührung der Ferse wendete sie ihr Streitross. Die Männer und Frauen richteten die Blicke erwartungsvoll auf ihre Anführerin. Die Ritter folgten ihr treu in jede Gefahr. Nicht alle würden nach diesem Morgen zu ihren Familien zurückkehren.

Schwungvoll zog die Kriegerin das Schwert des gefallenen Königs aus der Scheide. Die Klinge verströmte ein sanftblaues Licht und sogleich dünnte sich der Nebel vor der Kriegerin aus. Die Umrisse einer Burg, eingekeilt zwischen die tiefgrünen Hänge der Highlands, erhoben sich aus den Schleiern. Dort also wartete er: der Heilige Gral – der Kelch, für den König Artus und seine Ritter der Tafelrunde ferne Länder bereist, für den sie Meere und Berge überwunden hatten. Jetzt war es an der jungen Kriegerin, ihn zu ergreifen.

Schweigend setzte sich das Heer in Bewegung. Kaum hatte die Kriegerin die Engstelle des Taleingangs passiert, ließ sie ihr Pferd in Galopp fallen. Der tausendfache Donner der Hufe hinter ihr zerschnitt die Stille des Morgens. Rüstungen funkelten im fahlen Licht wie ein Meer aus flüssigem Silber.

Da mischten sich andere Geräusche in den Angriff. Ein mächtiges Stöhnen rollte durch das Tal, gefolgt von einem Reißen, als durchtrenne jemand gewaltige Bahnen Stoff.

Die Kriegerin stellte sich in die Steigbügel und spähte durch den Dunst. Die grünen Flanken der nahen Berge erbebten, Geröll löste sich. Jetzt donnerten auch größere Felsbrocken herab. Lawinen aus Stein rollten auf das Heer zu. Das angsterfüllte Wiehern der Pferde mischte sich in die Rufe der Ritter.

Als die ersten Finger aus dem Erdreich hervorbrachen, wusste die Kriegerin, dass der Hexenmeister seine Drohung wahr gemacht hatte.

»Riesen!«, brüllte sie und stieß die Hacken in die Flanken des Streitrosses. Sie musste die Gralsburg erreichen, musste dem finsteren Nekromanten den göttlichen Kelch entreißen, bevor er noch mehr Unholde ins Leben zurückrief. Die Kriegerin zählte drei Riesinnen – jene drei Schwestern, die den Bergen von Glen Coe ihren Namen vermacht hatten.

Eine der Gigantinnen hievte bereits ihren gewaltigen Leib aus der Erde, während ihre warzige Schwester noch bis zum Bauch im Fels steckte. Stöhnend reckte und streckte sie sich und drosch dann ihre Faust, groß wie ein Haus, in die Reihen der Ritter. Kurz herrschte Panik, dann schlossen die erfahrenen Streiter die Reihen und wehrten sich. Speere spickten das Genick der dritten Riesin, bevor sie ihren hässlichen Kopf aus dem steinernen Bett heben konnte.

Währenddessen trieb die Kriegerin ihr Pferd den schmalen Pfad zur Burg hoch. Ohne auf Widerstand zu treffen, schaffte sie es über die Zugbrücke bis in den Innenhof und sprang vom Pferd. Obgleich sie ahnte, dass es eine Falle war, stürmte sie in den höchsten Turm der Burg. Sie war dem Gral so nah wie nie zuvor.

Erst hier traten ihr die Schergen des Nekromanten entgegen. Sie fegte sie mit dem strahlenden Schwert beiseite, zurück in die Schatten.

Der Gral war noch prachtvoller, als sie ihn sich in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatte. Und doch spürte die Kriegerin einen unheilvollen Schauder. Sie war nicht allein in dem Turmzimmer.

Erneut zog sie ihr gleißendes Schwert und brachte Licht in die Dunkelheit. Eine Gestalt in einer schwarzen Robe schälte sich aus dem Zwielicht.

»Charlotte?«

Die Stimme des Hexenmeisters zischte ihr schlangenhaft entgegen.

»Charlotte McGuffin!«

Grüne Augen flammten aus dem Schatten der Kapuze auf. Sie sprühten vor Falschheit.

»Miss McGuffin, wäret Ihr so freundlich, den nächsten Absatz zu übersetzen?«

Charlotte blinzelte. Der Gral, der ganze Turm zerstoben um sie herum in nichts als Rauch. »Ähm, was?«

»Der nächste Absatz, Mylady! Wenn es Euch beliebt, aus Eurem Tagtraum aufzutauchen.«

Stöhnend setzte sich Charlotte in ihrem Stuhl auf und wandte den Blick von den schottischen Highlands ab, die man durch die Fenster der Familienbibliothek sehen konnte.

»Natürlich, Mister Grimsby.« Sie vertrieb die letzten Nebelschleier aus ihren Gedanken. Mylady – sie hasste es, wenn er sie so nannte. Sie war zwölf, keine alte Schachtel. Hilfe suchend schielte sie zu ihrem Bruder.

Finn sah sie mitleidig durch seine dicken Brillengläser an und zeigte auf das Buch vor sich. »Vierter Absatz«, raunte er.

Charlottes Augen flogen über den lateinischen Text. Historia regum Britanniae, die Geschichte der Könige Britanniens. Vor knapp 900 Jahren hatte irgendein Geoffrey das geschrieben. Von den Prophezeiungen Merlins war die Rede gewesen, wie er Stonehenge erbaut hatte und wie Artus geboren wurde. Nun, in Buch 9 der Chronik, ging es um die Schlachten und glorreiche Herrschaft von König Artus. Statt den trockenen Text zu übersetzen, träumte Charlotte lieber davon, selbst eine Schlacht zu bestreiten.

Seufzend strich sich Charlotte eine widerspenstige kastanienbraune Haarsträhne aus den Augen. »Also gut: Artus … zog Excalibur … und rief … nomen sanctae Mariae

»Den Namen der heiligen Maria«, fiel Finn ihr ins Wort.

»Exakt, Master Finnegan«, lobte der Lehrer ihren zwei Jahre jüngeren Bruder und wandte sich mit funkelnden Augen wieder Charlotte zu. »Non scholae, sed vitae discimus. – Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir.«

Charlotte hörte nicht zu und schielte zur Standuhr. 11 Uhr – noch ganze fünf Stunden Unterricht. »War Excalibur eigentlich ein Claymore-Schwert?«, fragte sie. Warum standen die wirklich spannenden Sachen nie in diesen Texten?

Mr Grimsby hob die struppigen Augenbrauen. »Junge Dame, ich wurde beauftragt, Sie beide in die Schönheit der lateinischen …«

»Claymore-Schwerter gibt es erst seit dem 15. Jahrhundert«, mischte sich Finn erneut ein. »Also 900 Jahre nach Artus. Zweihänder sind im Kampf auch total unpraktisch. Sie dienten nur zeremoniellen Zwecken.«

»Konzentration, McGuffins!« Mr Grimsbys Augen blitzten auf. Er schien mit der Hand auf den Tisch schlagen zu wollen, legte sie dann aber besonnen auf das Buch. »Well, ich werde nach Tee läuten. Zehn Minuten Pause.«

»Ich kann ihn einfach nicht leiden«, murrte Charlotte, als sie mit ihrem Bruder draußen vor dem Eingangsportal des Herrenhauses stand.

Eine kühle Brise strich durch die Weißdornhecken, die McGuffin-Manor säumten. Charlottes Mutter liebte die dornigen Büsche mit den knallroten Früchten. In ihren Gutenachtgeschichten hatte sie den Kindern oft erzählt, Weißdorn besäße die Kraft, böse Geister abzuwehren und böte Schutz vor Hexen.

»Dieser Grimsby ist der Furchtbarste aller Lehrer, die wir bisher hatten. Wie der mich immer ansieht: Mylady, benutzt zur Abwechslung mal Euren Kopf!« Charlotte ahmte die Stimme des Lehrers nach und riss dabei die Augen auf, wie er es für gewöhnlich tat. »Ich schwöre es dir, Finn, wenn wir nicht aufpassen, verhext er uns noch und macht uns zu willenlosen Zombies, die ihm auf ewig zuhören müssen.«

»Schwester, du hast zu viel Fantasie.« Finn schlürfte seinen Tee. »Keine Sorge, den Übersetzungskram haben wir für heute hinter uns. Nach 11 Uhr wechselt er zu Algebra. Der alte Grimsby unterrichtet immer nach demselben Ablauf. Er ist eher eine Maschine als ein finsterer Zauberer.«

Charlotte nahm einen tiefen Atemzug. »Wie stehst du diesen sterbenslangweiligen Unterricht nur durch?«

Finn grinste. »Ich baue währenddessen weiter.« Er tippte gegen seinen Lockenkopf. »Hier drin.«

»Darum ist der so groß.« Charlotte knuffte ihren Bruder in die Seite. »Um was geht es diesmal? Nicht noch ein Schuhputzroboter, oder? Der letzte hat meine Sneakers zerfetzt.«

Finn wirkte für einen Moment beleidigt. »Nein, diese Maschine hat ausnahmsweise nichts mit Ordnung zu tun. Wobei du zugeben musst, dass mein Briefsortierer noch immer gut funktioniert.«

Charlotte stürzte ihren Pausentee herunter. Finns Kopf schien nur aus Zahnrädern, Schrauben und Löt-Zinn zu bestehen. Jeden Nachmittag verdrückte ihr Bruder sich in seine Werkstatt und tüftelte bis spät in die Nacht an irgendwelchen Robotern. Er war auf der Suche nach der perfekten Maschine. Aber nicht mal die Hälfte seiner Kreationen überlebte die erste Woche.

»Ich arbeite schon länger an einem Hausdiener.« Finn reckte stolz das Kinn. »Er ist fast fertig.«

»Willst du ihn etwa ersetzen?« Charlotte zeigte mit dem leeren Teeglas auf ihren Butler, der mit einem Tablett über den Kiesweg davonstapfte.

»Quatsch. Niemand kann Archibald das Wasser reichen. Aber vielleicht nimmt ihm der Roboter etwas Arbeit ab.«

»Und was soll dein neuer Butler alles draufhaben?«

»Es wird ein Aqua-Diener, quasi ein Wasserspender.«

Charlotte verkniff sich ein Lachen. »Ein Wasserspender?«

Finn nickte. »Dad beschwert sich doch immer, dass wir zu wenig trinken. Ein laufender Roboter, mit hydropneumatischen Gelenkkupplungen und Wassertank, könnte uns immer mit Nachschub versorgen.«

Nun musste Charlotte grinsen. »Dad fände es bestimmt besser, wenn ihm dein mechanischer Butler Whisky einschenkt.«

Finn zog die Nase kraus. »Grimsby läutet. Wir müssen wieder rein.«

»Ich haue ab«, sagte Charlotte mit Nachdruck.

»Nicht schon wieder!« Finn verdrehte die Augen.

»Ich habe keine Lust mehr, drinnen zu hocken.« Charlotte stemmte die Fäuste in die Hüften. »Es hat seit gestern nicht mehr geregnet. Die Mauern sind bestimmt wieder trocken. Vielleicht schaffe ich es endlich, auf den Burgturm zu klettern, ohne abzurutschen.«

»Du willst zur Ruine? Beim letzten Mal hast du dir im Gewölbekeller fast in die Hose gemacht.« Finn schien abzuwägen, ob er sich dem wiederholten Läuten des Hauslehrers auch widersetzen sollte.

Charlotte winkte ab. »Dort unten ist es eben verflucht eng. Du weißt, dass mich solche Räume stressen. Immerhin habe ich keine Angst vor irgendwelchen Monsterspinnen.« Sie stieg auf die Steinbank vor der Weißdornhecke. »Das Abenteuer ruft! Sag Grimsby, ich musste mich hinlegen. Kopfschmerzen, Pollenallergie – lass dir in deinem Schraubenhirn was einfallen.« Damit sprang sie über die schützende Hecke.

Den Rest des Tages verbrachte Charlotte damit, durch das Wäldchen oberhalb des Herrenhauses zu streifen. Hier störte sie keiner in ihren Träumen und niemand riss missbilligend die Augen auf, wenn sie mit Stöcken Bergriesen nachjagte.

»Alte Texte übersetzen. Wofür braucht man das überhaupt?« Mit ihrem improvisierten Schwert führte sie ein paar Attacken gegen eine betagte Eiche. »Eine Dame kriecht nicht durch den Dreck. Eine Dame spielt nicht mit Ästen.« Charlotte konnte innerlich ausrasten, wenn Mr Grimsby solche Weisheiten von sich gab. Er wusste wohl nicht, dass sogar ihre Eltern vor etwas mehr als zehn Jahren noch durch den Dreck gekrochen waren; freiwillig und mit Begeisterung. Leider lag dieses Leben mittlerweile hinter ihnen.

Charlotte kletterte auf den Baum. Das knorrige Eichenholz fühlte sich rau an. In der ausladenden Krone bot sich ein atemberaubender Blick über die Ländereien ihrer Eltern: von dem Wäldchen bis zum fischreichen Loch Fyne im Osten und der Steilküste mit der Burgruine im Westen. All dies verdankte ihre Familie einer ganz besonderen Frau: Lady MarySue McGuffin.

Charlottes viel zu früh verstorbene Oma entstammte einer Familie, die bis auf den berühmten Erfinder MacIntosh zurückzuführen war. Der war durch die Entwicklung eines wasserdichten Regenmantels zu Geld gekommen – kein dummer Gedanke in einem Land, in dem es fast täglich regnete. MarySue, die reiche wie gleichermaßen rebellische Urenkelin, hatte ihr Herz an einen Heringsfischer verschenkt. Einem mittellosen Mann, dessen magere Fänge kaum zum Leben reichten. Kurz nachdem sie geheiratet hatten, blühte das Geschäft mit den Heringen jedoch auf wundersame Weise auf. Bald bezog das junge Paar die Villa am Loch Fyne. MarySue und Alistair waren die ersten McGuffins in dem Herrenhaus.

Charlotte seufzte. Manchmal stellte sie sich vor, es gäbe einen Zauber, der die alte Lady McGuffin zurück ins Leben bringen würde. Sie hatte ihre Oma stets bewundert: ihren Pioniergeist, ihren Charme und wie sie die Familie trotz aller Gegensätze zusammengehalten hatte. MarySue hatte sich immer gegen den Wind gestemmt, so hart er auch geweht hatte. Diese Stärke hatte sie an ihre Tochter weitergegeben. Und auch an mich, dachte Charlotte stolz.

Erst zwei Stunden später, als sich dunkle Wolken vor die Sonne schoben, warf Charlotte ihr behelfsmäßiges Schwert weg, sprang von der Eiche und machte sich auf nach Hause. Sie ahnte, dass sie dort bereits ein Donnerwetter erwartete.

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Der Dieb der Kekse

»Erneut Kopfschmerzen, so, so.« Charles McGuffin bot seiner Tochter eine helfende Hand, als sie sich über das steinerne Balkongeländer zog.

Über dem Loch Fyne türmten sich bereits schwarze Wolken auf.

»Ich musste einfach mal raus«, antwortete Charlotte, nachdem sie den Schreck überwunden hatte, ihren Vater hier oben in ihrem Zimmer zu treffen. »Mr Grimsby ist der langweiligste von allen Lehrern, die wir bisher hatten.«

»Meine Kinder haben ja erst vier vergrault«, murmelte Charles. »Du schwänzst ständig den Unterricht und Finn vermittelt den Lehrern das Gefühl, er wisse sowieso mehr als sie.« Er kratzte sich über die rotblonden Bartstoppeln, während er einen Blick auf das aufziehende Gewitter warf.

»Wenn du uns was über Bienen erzählst, ist das nie langweilig«, wagte Charlotte einen nicht ganz aufrichtigen Vorstoß. Sie hoffte, durch das Thema ihren Vater abzulenken. Die geliebten Tiere ihrer Eltern waren in diesem Sommer besonders zahlreich über das Gelände gesummt. Charles und Amanda McGuffin hatten viele Gläser ihres berühmten Honigs verkauft.

»Wir sind spät dran«, sagte Charles lächelnd und strich sich erneut über die stoppelige Wange. »Ich muss mich noch rasieren. Deiner Mutter gefällt das zwar, aber auf dem Ball …«

»Schon wieder ein Wohltätigkeitsball?« Charlotte atmete auf, dass ihr die Predigt über die Vorteile von Privatunterricht erspart blieb. Erleichtert folgte sie ihrem Vater ins Haus. Die ersten Regentropfen eilten hinterher.

»Es ist wichtig«, antwortete Charles. »Wenn ich die Herren Abrahams und McArthur noch ein wenig bearbeite, funktioniert es vielleicht mit der Insel und Apis mellifera mellifera.« Seit Jahren kämpfte ihr Vater darum, seine dunkelfarbigen Wildbienen auf einer Insel vor der schottischen Küste auszusetzen, ungestört von der menschlichen Zivilisation.

»Mach dir keine Sorgen, Dad«, kam Charlotte dem nächsten Satz ihres Vaters zuvor. »Ich passe wie immer gut auf meine Brüder auf. So eine Sache wie damals mit den Bienen und Finns Kopf passiert nicht noch mal. Schläft Bruce denn schon?«

»Mum bringt ihn gerade ins Bett. Sieh bitte später noch mal nach ihm. Nicht dass er die halbe Nacht wieder die Stäbe seines Kinderbetts ankaut.« Charles hatte bereits die Türklinke in der Hand. »Ach ja, und dein Cousin wollte heute Abend auch noch vorbeikommen. Vertragt euch und macht keinen Unsinn. Am besten, du lässt die Jungs sich in Finns Keller verziehen und kümmerst dich um Grimsbys Hausaufgaben. Schließlich musst du etwas nachholen.« Er drehte sich nochmals zu ihr um und lächelte. »Du bist die Älteste, Charlotte. Du trägst die Verantwortung. Also dann, gute Nacht.«

Kaum hatte der Wagen der Eltern das Anwesen verlassen, läutete es an der Tür. Zunächst wollte Charlotte nicht öffnen. Weil ihr Butler aber Feierabend hatte, schlurfte sie dennoch zur Eingangstür.

Durch das gewölbte Glas konnte sie die Umrisse ihres Cousins erkennen. Er war nur vier Monate älter als sie und vermutlich hätten die Dorf-Mädchen ihn mit seinen eisblauen Augen, den perfekt sitzenden hellblonden Haaren und den weißen Zähnen als gut aussehend bezeichnet. Charlotte mochte ihn nicht sonderlich. Lester zuerst, das war sein Motto.

»’n Abend, Les«, murmelte sie, als sie die Tür aufschob.

Feuchte Abendluft schlug ihr entgegen. Obwohl das Gewitter das Herrenhaus nur kurz gestreift hatte, schwitzten die beigen Steine noch immer den Regenguss aus.

Lester McGuffin lehnte im Türeingang und machte auf cool. »Hi, Lottchen.« Er entblößte die weißen Zähne und drückte seiner Cousine den nassen Motorradhelm in die Arme.

Wie ein Hai. Charlotte zwang sich zu einem Lächeln und machte Lester Platz. Dann roch sie den stinkenden Rauch und erschauderte. Im Schatten der Buchsbaumsäulen stand noch ein Besucher.

Lesters Vater war optisch das genaue Gegenteil seines Sohnes. Die Haare wirkten immer ein wenig ungewaschen und die Zähne hatten durch unzählige Zigarren die Farbe alter Knochen angenommen. Einzig die wasserblauen Augen hatte er mit seinem Sohn gemeinsam.

»Sind sie schon weg?«, begrüßte Kaleb seine Nichte, einen Zigarrenstummel im Mundwinkel. Lauernd schob er den Kopf in die Eingangshalle.

»Mum und Dad? Die sind eben los. Du müsstest sie noch am Tor getroffen haben.«

»Glücklicherweise nicht.« Forsch schob Kaleb seinen Sohn durch die Tür. »Aha, Amanda hat den Teppich ausgetauscht.« Er knirschte mit den Zähnen. »Das alte Zeug ist meiner Schwester wohl nicht mehr gut genug.«

Charlotte stöhnte innerlich auf. Immer ließ ihr Onkel irgendwelche giftigen Bemerkungen über ihre Mutter fallen. Reibereien zwischen den Geschwistern hatte es schon vor dem Tod von Charlottes Oma gegeben. Aber seit MarySue in ihrem Testament Amanda statt den älteren Kaleb zum Besitzer des Anwesens erklärt hatte, war die Stimmung eisig. Lester hatte Finn einmal anvertraut, dass kein Tag verging, an dem sein Vater nicht über die stattdessen geerbte Heringsfangflotte fluchte.

»Finn ist unten, Les. Du kennst ja den Weg«, nuschelte Charlotte und wollte die Tür schließen.

»Ophelia mochte den Teppich.« Onkel Kaleb blies den schmutziggrünen Rauch seiner Zigarre ins Haus, trat herein und trampelte prompt in die Maschine neben der Tür. »Was zur Hölle ist das?« Er klemmte mit dem Fuß in dem schuhkartongroßen Apparat aus Eisenstängchen und Schnürsenkelspulen.

Charlotte unterdrückte ein Grinsen und befreite den Onkel aus Finns Erfindung. Auch ihr Vater stolperte regelmäßig über PedesIV.

Kaleb quittierte das mit einem fiesen Lachen, gab dem Schuhbindeapparat noch einen Tritt und stiefelte wieder nach draußen. »Champ, ich hole dich am Montagmorgen ab.« Er legte den Kopf schief, als müsse er nachdenken. »Punkt 7 Uhr 15 stehst du unten am Tor. Keine Minute später. Sonst schaffen wir es nicht pünktlich zur Schule.« Er sah Charlotte an. »Nicht jeder kann sich einen Hauslehrer leisten.«

»Kannst du nicht einfach anklingeln, Dad?«, fragte Lester, schon auf der Kellertreppe.

»7:15, unten am Tor«, blaffte Onkel Kaleb zurück.

»Wie du willst, Dad.« Lester zog die Schultern ein und verschwand im Keller. Charlotte hörte noch, wie er irgendwas von Familienzoff murmelte.

»Und nehmt die Bude ordentlich auseinander.« Kaleb schnippte den Zigarrenstummel in den Buchsbaum.

Charlotte warf die Tür zu und sah ihrem Onkel durch die Scheibe nach, wie dieser auf sein Motorrad stieg. Die sündhaft teure Royal Enfield ließ den geharkten Kies auseinanderspritzen, als Kaleb davonbretterte. Wie immer ohne Helm. Sie atmete durch und starrte den Teppich an, den ihre Mutter letzte Woche gekauft hatte. Ophelia mochte den Teppich. Charlottes Tante Ophelia war schon vor Charlottes Geburt mit dem Auto verunglückt. Selbst Lester besaß keine Erinnerung an seine Mutter. Sie vertrieb die düsteren Gedanken aus ihrem Kopf. Von ihrem Onkel wollte sie sich nicht den Abend verderben lassen. Ihre Eltern waren nicht da. Kampftraining!

»Selbstverständlich habe ich die Dinger nicht angerührt«, murmelte Charlotte verschmitzt, als sie eines der japanischen Schwerter von der Halterung fischte.

Die hohen Wände der Eingangshalle wurden von einer Vielzahl historischer und exotischer Klingenwaffen geziert, die Charlottes Eltern von ihren Reisen mitgebracht hatten. Mongolische Säbel, ein römischer Gladius, Ritualdolche der Tuareg und ein Katana hingen geradezu verführerisch in Reichweite. Nachdem Charlotte sich vor Jahren mit dem Samurai-Schwert über der rechten Augenbraue verletzt hatte, mied sie allerdings die scharfen Klingen und trainierte hauptsächlich mit dem Kendō-Schwert; einer aus Bambusholz gefertigten, stockähnlichen Waffe. Ihre Mutter hatte die Kunst des Schwertkampfes während des Archäologie-Studiums erlernt und Charlotte einige Schläge und Fußstellungen gezeigt – gegen den Willen ihres Vaters.

Manchmal fragte Charlotte sich, was ihre Eltern eigentlich früher genau gemacht hatten, als sie noch ein Abenteurerleben führten. Leider drangen aus dieser Zeit nur wenige Geschichten bis zu Charlotte und ihrem Bruder vor. Es gab da die Erzählung von den insektenverseuchten Ruinen im peruanischen Hochland, bei deren Schilderung Finn jedes Mal kreischend unter die Bettdecke flüchtete. Charlotte mochte vor allem die Story vom Tauchgang nach dem Wrack des spanischen Silberschiffes. Mit Schaudern fuhr sie dabei immer mit dem Finger die Haifischnarbe am Arm ihrer Mutter nach. Am liebsten jedoch hörten die Geschwister die Geschichte von der verschollenen Grabkammer in der Cheops-Pyramide und die rasante Flucht der Eltern durch die nächtliche Wüste.

Charles mochte es nicht, dass seine Frau diese Gutenachtgeschichten erzählte. Er schien die Vergangenheit am liebsten ausradieren zu wollen. Dass sein Traum von einer Schatzsucher-Firma früh zerplatzt war, hatte er bis heute nicht überwunden. Nur ein paar Fotos und Forscherakten im Arbeitszimmer der Eltern zeugten noch von McGuffin-Treasures.

Charlotte verbeugte sich vor dem Ölgemälde, das ihre Großeltern zeigte, strich sich die Haare hinters Ohr und ging in die Grundstellung eines Kenjutsu-Kämpfers: rechter Fuß nach vorne, der linke mit dem großen Zeh knapp dahinter, die Ferse leicht angehoben. Nach kurzem Innehalten tänzelte sie mit gezielten und schnellen Schwertschlägen durch den Korridor.

»Ichi.« Der erste Schlag richtete sich gegen die Beine der Māori-Figur neben dem Kellereingang. Von dort unten hörte Charlotte ihren Bruder schimpfen und Lester lachen.

»Ni.« Der zweite Streich wischte über die Kehle von Sir Shackleton. Die Büste des britischen Polarforschers wackelte.

»San.« Eine weitere Attacke sollte die spanische Ritterrüstung am Ende des Ganges das Fürchten lehren. Doch auch heute verfing sich das Schwert zwischen den Rüstungsteilen.

Charlotte fluchte. Nie kam sie zu Shi, dem vierten und letzten Schlag der Angriffskombination.

»Nein, das passt nicht, Lester. Lass los, du zerstörst ihn noch!«

Finns verärgerte Rufe brachten Charlottes Konzentration zum Einsturz. Hektisch riss sie das Schwert heraus und die Rüstung des Konquistadors fiel scheppernd auseinander. Der Helm kreiselte lange auf dem Parkettboden.

»Charlotte, alles in Ordnung?«, erkundigte sich Finn aus dem Keller.

»Nichts passiert.« Charlotte unterdrückte einen Fluch und versuchte, die Eisenbleche zurück auf das Gestell zu hängen. Das dauerte. Ständig krachten Rüstungsteile zu Boden.

»Zerlegst du wieder die Bude deiner Eltern?« Lester stand auf einmal hinter ihr. »Also, wenn Dad und ich hier wohnen würden …«

»Jetzt fang du nicht auch noch damit an!« Charlotte sortierte die Rüstungsteile zurück. »Hilf mir lieber.«

Doch Lester war keine Hilfe. Den Helm auf dem Kopf marschierte er pfeifend durch den Korridor, als wäre er der Eroberer des Hauses.

»Was ist denn hier los?«, fragte Finn von der Kellertreppe.

»Oh, ein Eindringling!« Lester nahm eine Angriffsposition ein. »Hier, fang!« Er schleuderte den Helm auf Finn.

Der schrie auf, streckte die Hände aus – und griff daneben. Der Helm prallte ihm ins Gesicht, Finn stolperte zurück und stieß gegen den Sockel mit der Shackleton-Büste. Mehr neugierig als entsetzt, beobachtete Finn die taumelnde Skulptur.

Charlotte sprang herbei und fing den Kopf auf, bevor er auf dem Boden zerschellte.

Lester lachte. »Immerhin kann einer von euch fangen. Der Radau hätte den kleinen Stinker hundertpro geweckt.«

»Bruce!« Charlotte fuhr zusammen. Sie hatte bisher nicht nach ihrem kleinen Bruder gesehen.

Als sie die Stufen zum Kinderzimmer hochjagte, betete Charlotte, dass der Zweijährige nicht aufgewacht war. Anderenfalls würde sie ihn kaum wieder zum Schlafen überreden können und müsste den Abend stattdessen mit ihm verbringen – mit Hirsekringeln und Apfelsaft.

Langsam stahl sie sich in das dämmrige Kinderzimmer. Das Mobile mit den Holzdrachen drehte sich sanft. Loch Lomond, Bruces Einschlafmelodie, dudelte noch immer auf Dauerschleife. Das Bett war leer.

Obwohl ihr Bruder kaum auf Ameisengröße geschrumpft sein konnte, zerwühlte Charlotte den Schlafsack. Dabei stieß sie gegen die Gitter des Bettchens. Zwei der Stäbe rutschten aus der Verankerung: Der kleine Drache war entkommen.

»Du solltest doch auf ihn aufpassen!«, schalt Finn seine Schwester, als sie in seinem Werkzeugkeller Lagebesprechung hielten. Rasch, aber ziemlich planlos hatten sie zunächst die gesamte obere Etage des Herrenhauses, immerhin elf Zimmer, durchkämmt. Ohne Erfolg.

»Er ist genauso dein Bruder«, fuhr Charlotte zurück. Sie hatte zumindest die leise Hoffnung, dass Bruce im Hinterhaus war, auf Archys Knien. Schon oft hatte der Butler nachts ausgeholfen, wenn der kleine McGuffin nicht schlafen konnte, weil ein Zahn unterwegs war. Sie musterte den metallicblauen Roboter, dem Lester gerade in aller Seelenruhe eine rote Heringsdose als zweites Auge anlötete. »Ihr hättet auch mal nach Bruce sehen können. Aber ihr habt nur diesen blöden Roboter im Kopf.«

»Er heißt H2Ox. Und er ist nicht blöd.« Finn drückte einen Schalter auf dem Rücken des Blechmanns. Ein leises Summen ertönte, die Stelzenbeine zuckten. »Schau, er kann schon laufen.«

Gegen ihren Willen war Charlotte beeindruckt, wie weit Finns neueste Arbeit fortgeschritten war. Sogar der Kopf mit dem Wasserhahn wirkte fertig. Die zwei zangenartigen Hände allerdings baumelten noch etwas unbeholfen umher. »Vielleicht solltest du zur Abwechslung mal einen Babysitter-Roboter erfinden!«

Finn rieb mit den Fingerkuppen über die Bügel seiner moosgrünen Brille – wie immer, wenn er nachdachte. »Keine schlechte Idee. Man könnte eine Kamera … wie bei einem Babyfon … dann noch eine Halterung für Ersatzschnuller … und alle Materialien müssten …«

»Herrje, Finn. Jetzt hilf mir, Bruce zu finden!« Charlotte schlug Lester den Lötkolben aus der Hand. »Du auch!«

Die Kinder fahndeten nochmals in ihren Zimmern nach dem Verschollenen. Charlotte verdrehte die Augen, als Lester auch den Roboter mit auf die Suche nahm. Er ließ H2Ox wie eine Marionette durch das Haus stolzieren. Immer wieder setzte der Motor aus und die dünnen Metallbeine knickten ein.

»Bruce, Piep, Brucilein, wo Tuttut bist du, Piediliep?«, rief der Cousin mit Roboterstimme. »Hier ist Ha-Zwo, komm zu Ha-Zwo!«

Bruce war nicht in den Kinderzimmern, Bruce war nicht im Esszimmer, in keinem der fünf Badezimmer, nicht in der Küche, der Speisekammer und im Whisky-Keller glücklicherweise auch nicht. Schon wollte Charlotte ins Hinterhaus gehen, um in der Wohnung des Butlers nachzusehen. Da entdeckte Finn den Ausreißer. Er hockte im Arbeitszimmer der Eltern. Der rothaarige kleine Kerl schraubte gerade eifrig an einer Gebäckdose herum.

Charlotte wusste, dass ihr Vater darin seine heiß geliebten, mit Whisky gebackenen Kekse aufbewahrte. Aber das war nicht das Hauptproblem. Charles hatte die Blechdose wohlweislich in das oberste Fach des Aktenregals gestellt. Und in diesem saß Bruce nun, die Dose in den kleinen Händen. Ein Turm aus dicken Büchern, wenig sorgsam aufeinander-gestapelt, hatte als Leiter gedient.

»Bruce, komm sofort da runter!«, befahl Finn.

»Baun, Turm baun«, gluckste Bruce. »Gekse, mmh!«

Lester bog sich vor Lachen. »Ja, Sir Bruce, hast ’nen feinen Turm gebaut.«

»Echt hilfreich, Jungs!« Charlotte schnaubte. »Rühr dich nicht vom Fleck, mein Großer, ich komme dich holen.«

Als sie den Fuß auf das unterste Brett setzte, wackelte das Aktenregal. Bruce gluckste noch immer fröhlich und mühte sich weiter am Deckel ab.

»So wird das nichts«, sagte Lester. »Wir brauchen eine Leiter.« Etwas unsanft ließ er den Roboter in den Schreibtischstuhl plumpsen. »Brav sitzen bleiben, H2!« Sein Blick fiel auf die alten Fotografien an der Wand über dem Aquarium. »Sieh an, Dad hatte früher tatsächlich lange Haare.« Er nahm einen der Fotorahmen vom Nagel.

»Häng das Bild zurück, Les. Niemand darf erfahren, dass wir hier drin waren.« Charlotte klopfte auf den Schreibtisch ihrer Eltern. »Fasst mal mit an, wir nehmen den als Leiter!«

Gemeinsam wuchteten sie das Ungetüm von einem Tisch vor das Regal. Klagend schabten die Eichenfüße über die Bodenbretter und der alte Globus auf dem Tisch erzitterte.

Mit einem Ruck öffnete Bruce seinen Schatz. »Gekse!« Ein paar Akten rutschten aus dem Regal und klatschten auf den Boden.

Vom Tisch aus konnte Charlotte Bruce endlich erreichen. »Komm, Großer. Ich hole was anderes zum Knabbern.«

Bruce breitete die Arme aus und dabei stieß er die Keksdose nach unten.

Charlotte entschied, besser ihren Bruder als die Dose aufzufangen. Das Whisky-Gebäck regnete herab, die Blechdose knallte auf die Holzdielen, drehte sich scheppernd und blieb dann liegen.

»Gekse«, sagte Bruce, wohlbehalten im Arm seiner Schwester.

»Nein, die sind nichts für dich.« Charlotte stieg mit Bruce vom Tisch. »Und wir dürfen hier nicht rein.« Sie wandte sich an Lester: »Kein Wort zu meinen Eltern!«

Lester hob die Hände. »Ich war nie hier, LottyLove.«

»Ich heiße Charlotte«, gab sie zurück. »Also dann, Finn, fegen wir die Krümel weg. Finn?«

Finn hielt den Kopf schief. Wieder schien er seine Gedanken dadurch anzukurbeln, dass er mit den Fingern rasch über seine Brillenbügel rieb. Wortlos fischte er die leere Dose vom Boden und ließ sie sofort wieder fallen. Dann hob er sie erneut auf, ging zwei Schritte Richtung Fenster und ließ die Dose ein zweites Mal auf den Boden scheppern.

Bruce klatschte in die Hände. Lester murmelte etwas von »verrückt«.

»Finn? Was machst du da?«, sprach Charlotte ihren Bruder leise an. Sie kannte seine eigenwilligen Aktionen. Finn war anders als die meisten Kinder. Eigentlich war es für einen Zehnjährigen normal, sich allein die Schuhe zu binden. Finn jedoch war zu »klug« für solch einfache Handgriffe. Er hatte das Problem auf seine Art gelöst. Seit seinem vierten Lebensjahr kümmerte sich PedesIV, die von Finn eigens konstruierte Schuhanziehmaschine, um solche Nebensächlichkeiten wie Schnürsenkel.

»Hier!«, sagte Finn unverhofft, als er die Blechdose zum dritten Mal fallen gelassen hatte. Er deutete auf eine Stelle, an der vorher der Schreibtisch gestanden hatte. »Jetzt seht mich nicht so an. Das ist keiner meiner Ticks. Habt ihr es denn nicht gehört?«

»Was gehört, Lord Kabelkopf?« Lester kam näher.

Auch Charlotte wurde neugierig.

»Das hier.« Finn klopfte auf den Boden. Es klang hohl.

»Das nennt man Keller«, sagte Lester bissig.

Finn befeuchtete seine Unterlippe mit der Zunge. »Vielleicht solltest du die Drähte in deinem Kopf mal benutzen, Lester. Das Arbeitszimmer liegt im angebauten Flügel des Hauses. Unter dem Neubau existiert kein Keller.«

»Dieses Dielenbrett sieht ein bisschen heller als die anderen aus«, sagte Charlotte auf Knien.

»Na und? Erwartet ihr, im Arbeitszimmer eurer Eltern das Gold von El Dorado zu finden?« Lester gackerte.

Charlotte krallte ihre Fingernägel in die Fuge zwischen den Dielen. Mit einem Ruck klappte sie das Brett um.

Der Boden darunter war wirklich hohl.

Hohl, aber nicht leer.

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Das Amulett

Das untertassengroße Amulett füllte das staubige Versteck komplett aus. Fünf trapezförmige Steine, lang und dick wie ein Daumen und jeder in einem anderen goldenen Farbton, waren über filigrane Scharniere zu einem Ring verbunden.

Charlotte zögerte. Das Ding sah nicht nur uralt aus, sondern auch wie etwas, das Kinder keinesfalls anfassen sollten.

»Wir sollten das besser nicht berühren«, sprach Finn ihre Gedanken aus und wich ein wenig zurück.

»Ach was. Zeigt mal her!« Lester drängte Finn zur Seite.

»Nein!« Charlotte kam ihrem Cousin zuvor und griff sich das Amulett. Fühlt sich warm an. Sie blies den Staub von den Steinen. Silbrige Linien kamen zum Vorschein. »Was sind das für Zeichen?«

»Lass sehen.« Finn nahm seiner Schwester das Amulett weg. Mit dem Daumennagel fuhr er über eines der Zeichen: ein Viereck, das von außen etwas eingedrückt wurde. Abschätzend musterte er den Dreck, der sich daraufhin unter seinem Nagel angesammelt hatte. »Dieser Anhänger liegt da wohl schon länger.«