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Science-Fiction-Fan Max

Inhaltsverzeichnis

1 Die Herausforderung

2 Spurensuche

3 Überzeugungsarbeit

4 Abschied

5 Eine fremde Technik

6 Die vierte Dimension

7 Der nützliche Schleim

8 Der Transfer

9 Die Nachricht

10 Die unbekannte Welt

11 Die letzte Hoffnung

12 Auf der Flucht

13 Die Gegenleistung

14 Ein gewagtes Spiel

15 Spielverderber

16 Der Angriff

17 Eine Irrfahrt im All

18 Zwischen zwei Welten

1

Die Herausforderung

Eine Feuerkugel brach aus den Wolken hervor. Taumelnd und torkelnd wie im Weinrausch raste sie herab, einen Schweif hinter sich herziehend. Näher und näher rückte der Augenblick des Aufpralls. Schon tanzten die Baumwipfel des Regenwalddaches im Sturm des vorbeirasenden Gebildes aus Glut und Rauch. Schliesslich wurde die Feuerkugel vom endlosen Grün des Waldes verschlungen, schlug donnernd eine Schneise und kam abrupt zum Stillstand. Niemand ausser einer Überwachungsmaschine des Geheimdienstes hatte den Absturz gesehen. Sie übermittelte ihren Rapport der Zentrale: «Absturz eines Flugkörpers. Meldung von Auge 13.»

* * *

Ein paar Kilometer weiter ahnen zwei Forscherinnen noch kaum, dass dieses Unglück ihr Leben von Grund auf verändern wird. «Sieh nur, Xima, wie die Sonnen herabsinken in den Dunst des Waldes. Ich könnte diesem wunderbaren Naturschauspiel jeden Tag beiwohnen, und jedesmal bin ich fasziniert, als wäre es der erste Sonnenuntergang, den ich erlebe», meinte Ipsa Psi, die Vorsteherin der Landwirtschaftsabteilung. Die hagere Dreissigjährige wandte sich ihrer acht Jahre jüngeren Assistentin Xima zu, die damit beschäftigt war, ein junges Cornodactylus-Weibchen beim Beutefang zu filmen. Xima schickte Ipsa einen abschätzigen Blick.

Ipsa und Xima waren beide sehr klein, massen knapp einen Meter und vierzig Zentimeter, hatten lange, gerade, schwarze Haare und sahen somit den meisten Jadonerinnen zum Verwechseln ähnlich. Xima war bloss etwas gedrungener gebaut als die zerbrechlich wirkende Ipsa. Beide hatten ihre Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie würden ihre Haartracht aber niemals so nennen, denn Pferde gab es auf Jado 2 nicht. Alles Getier auf diesem Planeten bestand einerseits aus fischähnlichen, amphibisch lebenden, halslosen Rundmaul-Schwimmern. Diese Wesen der Gruppe Cephalocorpus waren ausgestattet mit einem Ruderschwanz und sehr grossen, kräftigen Fangbeinen. Andererseits gab es wurmförmige, knochenlose Dickschwanz-Flügler. Diese insektenähnlichen Tiere der Gruppe Megacauda verbrachten ihren ersten Lebensabschnitt als flugunfähige Larven, die den Rundmaul-Schwimmern als Beute dienten. Erwachsene Dickschwanz-Flügler konnten fliegen und nutzten die kurze Zeit, die ihnen bis zum Tod blieb, zur Vermehrung. Darüber hinaus belebten unzählige Mikroorganismen, einzellige Kleinstlebewesen, in allen Formen und Lebensstrategien Wasser und Erdreich.

Wie zwei flackernde Feuer senkten sich die beiden Sonnen in die gespenstischen Nebelschleier, die den Horizont verdeckten. Die eine Sonne stand etwas höher am Himmel als die andere. Xima schaute nicht hin, sondern vertiefte sich wieder in ihre Arbeit. Das Cornodactylus-Weibchen, auch Hornkrallen-Rundmaul genannt, war eine Art aus der Gruppe der Rundmaul-Schwimmer und hatte besonders lange Krallen. Es robbte auf dem starren, farnähnlichen Blatt vorwärts, die krallenbewehrten Fangbeine über eine im Innern des Blattes versteckte Larve gelegt. Plötzlich bohrte es die Krallen ins Blatt, um die Beute herauszuholen. Mit dem nach unten geöffneten, runden und kieferlosen Maul wurde die Larve unter Schleimabsonderung dem Körper einverleibt.

«Genial! Einfach genial! Ich hoffe nur, die Kamera hat den Vorgang aufgenommen, Xima. Komm, wir gehen in mein Büro und sehen uns das an!», meinte eine aufgeregte Ipsa. – «Ich bin müde und gehe schlafen. Wir können uns das morgen anschauen», entgegnete Xima trocken. Sie gähnte und winkte ab. – «Wir schauen es uns jetzt an!», befahl Ipsa, doch Xima hörte nicht auf ihre Vorgesetzte. Ipsa seufzte – sie war nie eine Autoritätsperson gewesen, man überhörte sie oft. Xima kannte zudem Ipsas Ungeduld und ignorierte sie. Im Gegenzug hasste Ipsa die Gleichgültigkeit, mit der Xima durch ihr Leben ging. Allein gelassen im Treibhaus, ahnte Ipsa noch nicht, wie bald schon ihre Neugier und Ungeduld auf eine harte Probe gestellt würden.

Ipsa nahm die Kamera in ihr Büro mit. Dort verband sie das Gerät mit ihrem Computer. Gebannt starrte sie auf den Monitor. Dank optischem Analyseverfahren war die Kamera fähig, die Chemie von flüchtigen Stoffen zu identifizieren und als Bild wiederzugeben. «Die Fangbeine standen etwas im Weg, doch der Wert der Aufnahme ist bedeutend. Das Gelb-Rote könnte der Stoff sein, nach dem wir suchen. Wenn wir herausfinden, wie der Stoff synthetisiert werden kann, könnten wir die versteckten Larven in unseren Plantagen damit abtöten», sprach Ipsa zu sich selbst und fügte gedankenverloren hinzu: «Morgen können endlich die Versuche mit den Anti-Dickschwanz-Flügler-Implantaten ausgewertet werden. Wenn diese erfolgreich verlaufen sind, ist mir eine Auszeichnung sicher. Nach all den Schmähungen der letzten Jahre wünschte ich mir nichts sehnlicher als das. Aber jetzt muss ich schlafen gehen.»

* * *

Am andern Morgen war Ipsa die Erste im Labor. Wie üblich kam Xima sehr spät zur Arbeit und wirkte dennoch unausgeschlafen. Bevor Xima ihre Vorgesetzte auch nur grüssen konnte, piepste es wild aus dem stirnbandähnlichen Apparat, der Ipsas Kopf kränzte. Es war eine Art multifunktionales Aufnahme- und Wiedergabegerät für Bild und Ton. Eine Stimme raunte in Ipsas Ohr: «Doktor Psi, bitte nach E 11. Oberste Geheimhaltungsstufe.» Ipsa erschrak. Sie arbeitete erst seit kurzem auf der biologischen Station, erst seit sie vor zwei Jahren wegen eines Gerichtsbeschlusses versetzt worden war. Damals hatte sie es gewagt, die Evolutionstheorie von Elia Lepto zu kritisieren. Diese Theorie, auch als Katastrophentheorie bekannt, besagt, dass durch einen Vulkanausbruch alle höheren Tiere ausgestorben seien, die zur Entwicklung der Jadoner geführt hatten. Nur eine kleine Gruppe von Jadonern soll überlebt haben. Ipsas Theorie basierte auf der Widerlegung der Katastrophentheorie. Sie konnte Elia in argen Erklärungsnotstand bringen, aber leider keine Beweise für ihre eigene Theorie hervorbringen. Dies war ihr Verhängnis gewesen.

Die jähzornige Tochter von Elia Lepto hatte Ipsa mit dem Vorwurf der Unwissenschaftlichkeit vor Gericht gebracht. Für Ipsa stand Ehre und Doktortitel auf dem Spiel. Damals wurde Ipsa ausgelacht, man verspottete sie selbst in Fachkreisen. Der Prozess endete ohne Schuldspruch, da die höchsten Richterinnen von Jado 2 entschieden, dass der Nachweis der Unwissenschaftlichkeit nicht erbracht werden konnte. Doch eines hatte Lepto, die im Wissenschaftsrat sass, erreicht: Die Versetzung von Ipsa in die Landwirtschaftsabteilung, begründet mit der Auflösung eines unproduktiven Forschungszweiges, der Evolutionsforschung. Seitdem war Ipsa gefangen zwischen zwei Lagern: ihren Befürwortern und Gegnern.

Noch nie war Ipsa zu einer Sitzung der obersten Geheimhaltungsstufe berufen worden. Auf der Jula-Topas-Universität hatte man wilde Gerüchte verbreitet über solche Meldungen. Es sei der schlimmste Satz, den man auf Jado 2 aussprechen könne, sagte man. Dabei dachte man an die bevorstehende Explosion eines Vulkans oder die Besetzung des Planeten durch die gefürchteten Raumfahrer.

Ipsa sprang auf ein Ambulakrum, ein rollerartiges Gefährt, das schwebend durch die Gänge der Station surrte. Sie stellte die schnellste Gangart ein. «Bitte Ziel eingeben! Bitte Ziel eingeben!», war der Befehl des Vehikels. Ipsa tippte mit zittrigen Fingern E 11 ein. In kurzer Zeit hatte sie nach rasanter Fahrt den Raum erreicht und stieg ab.

Der Türwächter, ein in die Wand integrierter Computer, fragte trocken nach ihrer Identität. Die Biologin hielt die Karte mit ihrem Gencode in den Apparat und presste einen Finger auf den rot blinkenden Bereich der Schnittstelle Mensch-Maschine. Schmerzlos wurden ihr ein paar Hautzellen vom Finger geraspelt. Der Computer verglich eine willkürlich ausgesuchte Gencode-Sequenz von Ipsas Hautzellen mit den Informationen auf der Karte. «Zugangsberechtigung erteilt. Wünsche guten Tag», meldete das Gerät. Die Karte wurde wieder herausgespuckt, und die Türe ging auf.

Als Ipsa eintrat, hatte eine Rednerin bereits begonnen, die Fakten auf den Tisch zu legen: «Aus dem abgestürzten Raumschiff konnte der Computer noch funktionstüchtig geborgen werden. Mittels Transplantation der zerstörten Systeme durch Systeme aus unseren Maschinen konnten die Spezialistinnen Kil und Munda den Speicher noch so lange aktiv erhalten, bis fast die gesamte Information in unseren Hauptrechner eingespeist werden konnte. Leider versagte die Speichereinheit der Apparatur kurz bevor wir die letzten Flugdaten herunterladen konnten. Damit bleibt der Grund für den Absturz spekulativ. Wir vermuten eine Kollision des Raumfahrerschiffes mit einem unserer Satelliten.»

«Ha! Erstaunlich, dass wir überhaupt noch Satelliten im Umlauf haben», rief eine vorwitzige Stimme dazwischen, die Zila Sim gehörte, einer ehemaligen Studienkollegin von Ipsa. Unterdrücktes Lachen erklang. Was an diesem Satz wohl so belustigend war? Um das zu begreifen, muss man folgende Geschichte kennen: Schon seit Jahrzehnten hatten die Geheimdienstleute von Jado 2 nach einer Technik geforscht, die es ermöglicht, Maschinen vor den Raumfahrern zu verbergen. Bisher aber hatten sie mehr Spott als Lorbeeren geerntet. Niemand glaubte ernsthaft daran, dass es möglich wäre, ein solches System zu entwickeln, denn die intelligenten Raumfahrer waren in den Augen vieler Jadoner über alles erhabene Wesen. Man wusste nicht einmal, wie sie aussahen. Lediglich ihre Raumschiffe kreuzten plötzlich am Himmel auf und verschwanden so rasch, wie sie gekommen waren.

Das allerneuste Kapitel im jahrhundertelangen Seilziehen zweier Welten war der neuliche Abschuss eines als Satelliten getarnten Botschaftenempfängers. Mit diesem Gerät wollte der Geheimdienst von Jado 2 im All nach Zeichen weiterer intelligenter Zivilisationen fahnden. Aber auch dieser Versuch, das All zu erforschen, endete in Schutt und Asche. Es musste ein Geheimnis geben, da draussen im pechschwarzen All. Und die Raumfahrer waren die gnadenlosen Hüter dieses Geheimnisses.

Die in ihrer Rede unterbrochene Chefin vom Geheimdienst, Abteilung für ausserjadonische Bedrohungsfragen, setzte eine beleidigte Miene auf. Die Zuhörerinnen schwiegen belustigt, doch die vorwitzige Stimme erlaubte sich die Frage: «Hat der Raumfahrercomputer Geheimnisse enthalten? Ja oder nein? Wissen Sie jetzt, wie die Raumfahrer aussehen oder ob der Wind uns auf Jado 2 geweht hat?» Wieder erhob sich ein Gelächter, doch diesmal brach es aus allen heraus wie ein Erdbeben. Nur Ipsa lachte nicht, denn die Anspielung galt der Tatsache, dass die Herkunft der Jadoner immer noch nicht geklärt war. Die Katastrophentheorie hatte an Anhängern verloren. Doch Beweise für einen Ursprungsplaneten fernab des jadonischen Doppelsonnensystems waren keine vorhanden.

Besorgt sah Ipsa zur Geheimdienstchefin auf und sprach in ernstem Ton: «Frau Oberbefehlshaberin Katome, es muss doch herauszufinden sein, was die Raumfahrer anstellen, wenn sie durch das All fliegen. Der Bordcomputer des Raumschiffs sammelt Informationen über jeden Flug. Endlich haben wir Zugriff auf ihre Forschungsreisen quer durch die Galaxie! Wieso würden sie sonst jeden Versuch unsererseits, Raumschiffe zu bauen, so konsequent und systematisch vereiteln, wenn nicht irgendein Geheimnis vor uns verborgen werden sollte. Geben Sie doch zum Beispiel zu, dass der Abschuss eines unserer Satelliten vor genau einem Monat kein Zufall war. Die Raumfahrer hatten den getarnten Botschaftenempfänger vernichtet. Unsere Atmosphäre lässt keine Wellen aus dem All herein, weil die hochempfindlichen Jadokristalle alles schlucken. Ihre Abteilung hat deshalb den Empfänger konstruiert und in die Planetenumlaufbahn gebracht. Doch wie immer haben uns die Raumfahrer durchschaut. Nun ist der lang ersehnte Tag der Wahrheit gekommen. Rücken Sie endlich mit der Wahrheit heraus! Dazu sind wir doch hierher berufen worden! Ich bin mir der Brisanz der Informationen bewusst, aber wenn wir jetzt die Gunst der Stunde nicht nutzen, dann werden wir das Geheimnis unserer Wurzeln nie erfahren!»

Die Angesprochene schritt im Zimmer auf und ab, betrachtete die Bildschirme an der Wand. Die alte Frau wirkte drahtig. Ihre Haare waren kurz geschnitten und ebenmässig dunkelgrau. Ihr maskenartiges Gesicht war von Falten zerfurcht, doch Lachfalten waren bestimmt keine dabei, denn die humorlose Person war sich lediglich militärischen Drill gewohnt – früher als Ausführende, heute als Befehlende. Katome seufzte tief und sprach mit starrem Blick: «Es existiert Leben auf einem entfernten Planeten, und es sind nicht die Raumfahrer.» – «Oh…», raunten die anwesenden Frauen. Ein wildes Durcheinander von Fragen, Prophezeihungen und angsterfüllten Gemütsausbrüchen prasselte schliesslich auf die Agentin Katome. Diese aber wandte den strengen Blick nicht von der ihr gegenüberliegenden Wand ab. Sie beantwortete keine Frage, wandte den Blick ab und steuerte dann hastig dem Ausgang zu.

Kurz vor der Tür drehte sie sich um und meinte verächtlich: «Nun ist es an Ihnen, Wissenschafterinnen von Jado 2, die Daten des fremden Computers zu entziffern. Wir haben uns abgequält, haben die ganze Nacht am sterbenden Computer Wache gehalten, die Systeme in schweisstreibender Arbeit gewechselt, damit uns keine Daten verloren gehen. Nun ist es an Ihnen! Entziffern Sie die Botschaft und suchen Sie darin den Grashalm, an den wir uns klammern können, um unser Volk vor dem Untergang zu retten. Ein Versagen wird nicht geduldet!»

2

Spurensuche

«Zugriff nur mit Code. Mist!», fluchte Ipsa. «Ich hasse Computerarbeit! Na ja, vielleicht gehts mit dem allerneusten Codeknacker der alten Katome. Die hat auch mal wieder was in die Welt gesetzt. Raumfahrersprache entziffern. Bin doch Biologin. Ausserdem besitzt Jado 2 nur eine einzige Sprache. Niemandem wäre in den Sinn gekommen, ein Institut für Sprachwissenschaften einzurichten. Der Computer ist schlicht überfordert.»

«Negativ! Doktor Psi, die Geheimsprache der Verbrecher hat weniger komplexe Ausdrücke gehabt», tönte es aus der Maschine. Ipsa errötete. «Entschuldigung, Hirn 5, ich dachte, ich hätte deine Akustik abgeschaltet, damit du besser denken kannst», rechtfertigte sich Ipsa und tat, was sie angenommen hatte, getan zu haben. «Also nochmal, du blödes Ding! Knack den Code mit dem Programm Nummer 1064, oder ich jag dich in die Luft!» Ipsa war am Verzweifeln. Jetzt seid ihr dran, hatte die Agentin gesagt. Wie schmerzlich erinnerte sich Ipsa an die Worte. Nun hatte sie erfahren, was es heisst, gegen die Klugheit der Raumfahrer anzurennen. Seit Wochen drehten sich die Gedanken der Forscherin um die Raumfahrer-Sprache und den Code. Schon lange hatte sie ihrem Bruder im Pflegeheim keinen Besuch mehr abgestattet.

Müde war sie und hoffnungslos, kämpfte mit sich selber. Zwecklos, sie nickte auf ihrem Computertisch ein. Sie träumte von Zuhause. «Mami, Mami, Sio gehts nicht gut! Wird er sterben wie die andern Jungen in der Klasse?» – «Aber Ipsa, mein Ipsakind, er hat gute Pflegerinnen.» – «Mutter, er wird uns verlassen und in das fürchterliche Heim gesteckt.» – «Aber du weisst doch schon, was ich von dem Heim halte. Es ist das fortschrittlichste Pflegeheim auf Jado 2, und alle dort behandelten Männer leben gut und ziemlich lange!» – «Aber die andern sind … sind auch dort hineingekommen. Man wollten alle gesund machen. Und trotzdem ist niemand zurückgekehrt! Mami, Sio wird genau so werden wie die andern und an den Apparaten hängen!» – «Sio muss uns verlassen. Wenn er nicht ins Heim geht, wird er sterben. Kind, denk an die Schule, der Wille deines Vaters ist es, dass du an die Jula-Topas-Universität gehst. Dort kommen nur die Besten hin.»

«Doktor Psi, bitte kommen, Doktor Psi, bitte kommen!» Die Angesprochene fuhr aus ihrem Traum auf, musste sich zuerst zurechtfinden und sprach benommen: «Ja, ich höre, nun komm schon, Computer, Hirn 5! Was ist los? Red schon! Ach du meine Güte, der hört ja nichts!» Ipsa schaltete auf Akustik und wiederholte ihre Frage in freundlicherem Ton. Der Computer zeigte nun Bilder eines fremden Planeten, Bilder von Lebewesen, vielleicht sogar von intelligenten Lebewesen.

Ipsa lehnte sich ruckartig im Sessel zurück und starrte ungläubig auf den Bildschirm des eifrig übersetzenden Computers. Die Maschine hatte kein Verständnis für Ipsa, die mit offenem Mund dasass.

Tausend Dinge schwirrten durch ihren Kopf, tausend Grashalme, an die zu klammern sich lohnte. «Diese Wesen! Wie anders die sind und trotzdem so ähnlich, so viel grösser, so viel kräftiger! Hirn 5, vergleiche die Anatomie dieser Wesen mit der unsrigen!», befahl Ipsa. Die Maschine setzte sich in Gang. «Analyse beendet. Vergleich der Anatomie der inneren Organe unmöglich, gewisse Knochenmerkmale sind ähnlich: Fünffingrigkeit, Extremitätenausbildung, Wirbelzahl. Unterschiedlich sind Schädelausbildung, Körperproportionen …»

«Hirn 5, ist ein Unterschied in den Genen zu erwarten? Analysiere die Abfolge des Gencode!» – «Gencode-Abfrage nur mit Code erreichbar.» – «Geht das wieder von vorne los!» Ipsa sackte erschöpft in den Sessel. «Also, dann rechne aus, wie gross die Chance ist, dass diese Wesen uns Jadonern ähnlich sind. Anhand der Anatomie. Los!» Der Computer begann zu arbeiten, Ipsa fieberte zitternd mit. «Sehr ähnlich, sehr ähnlich – keine genauere Angabe möglich, Hirn 5 ist ratlos. Soll Hirn 5 den Code zur Genanalyse knacken? Geschätzte Dauer der Prozedur: 539 Stunden, 23 Minuten und 11 Sekunden.»

«Neiiiiiiiin!», schrie Ipsa und fuhr auf. «Tu es nicht. Ich würde das nicht überleben! Nochmals die vielen Wochen ohne Resultat. Und doch, es muss sein, wenn das stimmt, was ich vermute, dann sind wir vielleicht nahe dran, unsere Probleme zu lösen – Hirn 5, knacke selbständig den Code zur Genanalyse, ich gehe schlafen», seufzte Ipsa entkräftet, stand auf und schwankte ermattet zur Tür.

Als sie durch die leeren Gänge wandelte, traf sie unvermutet auf ihre Assistentin. Xima zeterte: «Endlich! Ich habe dich schon seit Wochen nicht mehr gesehen! Du nimmst keine Anrufe entgegen, du hast dich in deinem Büro eingeschlossen! Niemand weiss, was du machst! Was soll das! Wie soll ich meine Arbeit machen, wenn meine Chefin nie anwesend ist?», beschwerte sich die junge Frau. Ipsa schaute sie mit müden Augen an und murmelte: «Morgen Nachmittag um vier Uhr. Es tut mir leid.» Dann liess sie Xima zurück und verkroch sich in ihre Wohnung, die über dem Institut lag. Selbst die schöne Aussicht nahm sie jetzt schon nicht mehr wahr, so erschöpft war sie. Sie vergrub ihren schweren Kopf im Kissen und schlief sofort ein.

* * *

«Oje! Es ist bereits halb vier, und in einer halben Stunde muss ich unten sein! Schnell duschen, essen und dann weg», dachte Ipsa schlaftrunken und verschwand im Badezimmer. Im Spiegel sah sie eine bleiche Ipsa, die pechschwarzen Haare und die ebenso dunkle Iris ihrer Augen verschärften den Kontrast. Sie entfernte das Band, das ihre langen und geraden Haare zusammenhielt, legte das Nachtgewand ab und liess sich in einer Kabine von reinigendem Schaum verwöhnen.

Währenddessen brodelte schon das Wasser für den Queli, ein erfrischendes, vitaminreiches Getränk aus den Blättern einer besonders wohlriechenden Baumart, dem Quelilumpatschi-Baum. Frisch geduscht schlürfte Ipsa die Flüssigkeit und verschwand mit ungestilltem Hungergefühl.

«Wenigstens bin ich ausgeschlafen. Wenn Xima bloss nicht zu viel fragt», dachte sie, während der Lift sie direkt ins Institut brachte. Gedankenversunken schritt sie durch die Gänge. «Mist, wieder mal weit und breit kein Ambulakrum! Typisch, seit die Geheimdienstleute das Ruder übernommen haben, wird alles in Beschlag genommen!», murrte Ipsa leise und nahm den Weg unter die Füsse. Plötzlich rauschten Agentin Katome und ihre Mitarbeiterinnen Kil und Munda an Ipsa vorbei Richtung Sitzungszimmer – jede auf einem der begehrten Ambulakren. Ipsa seufzte: «Jetzt wissen wir, wer den Ambulakrum-Mangel verursacht! Die haben wohl noch nie was von Ambulakrum-Sharing gehört!»

«Wetten wir, in spätestens fünf Minuten kommt ein Befehl: Doktor Psi, bitte nach E 11. Oberste Geheimhaltungsstufe!», imitierte Ipsa die Computerstimme. Im Labor angekommen suchte sie nach Xima, doch sie war nirgends zu sehen. Nur die Bäume standen in Reih und Glied. «Wie die seit dem letzten Mal gewachsen sind!», entfuhr es Ipsa.

«Klar, du warst ja schon eine Ewigkeit nicht mehr hier!» Ipsa drehte sich nach der unwirschen Stimme um und erblickt Xima, die mit einer dampfenden Tasse Queli hereinkam. – «Doktor Psi, bitte nach E 11. Oberste Geheimhaltungsstufe!» Ipsa seufzte resigniert und klopfte Xima auf die linke Schulter, als sie an ihr vorbei ging Richtung Ausgang. «Bis später!»

Xima versuchte vergeblich, Ipsa am Wegeilen zu hindern. Ipsa riss sich von ihr los. Xima rief ihr entrüstet nach: «Ich will endlich wissen, was hier los ist! Zuerst bleibst du verschollen, und wenn du dann aufkreuzest, geht es gleich wieder los mit dem geheimnisvollen Getue!» – Doch Ipsa überhörte es und raste Richtung Sitzungszimmer. Auch dieses Mal stand ihr kein rollerartiges Ambulakrum zur Verfügung. Ipsa begann zu rennen. Es schien ihr eine Ewigkeit zu dauern, bis sie nur schon im richtigen Gang war. Als sie dann endlich vor dem Eingang zum Sitzungszimmer stand, war sie völlig ausser Atem.

«Hoffentlich haben die noch nicht begonnen! Oje, wo ist meine Codekarte?», fragt sich Ipsa erschrocken, als ihre Hand in der zerschlissenen Labormanteltasche gähnende Leere vorfand. Ihr Herz schien kurz stillzustehen. Nun stand sie vor der verschlossenen Tür. Die Sekunden verstrichen, und Ipsa wurde von Moment zu Moment unruhiger. «Wo könnte ich sie verloren haben?», grübelte sie.

«Ist die Karte im andern Mantel geblieben? Ich kann unmöglich zurück!» Im selben Moment spürte sie ein Kitzeln an der Taille und fuhr zusammen. «Hallo Ipsa!», tönte es von hinten. «Statt mich zu piesacken, hilf mir lieber rein!», entgegnete Ipsa unwirsch. «Spass muss sein! Hast du wieder mal deine Gene verloren!», witzelte Zila, die lebensfrohe, neckische Geologin. Ipsas Studienkollegin zückte ihre Gencodekarte und erlangte rasch die Zutrittserlaubnis. «Na dann, komm rein!», lachte Zila und forderte Ipsa mit einer Handbewegung auf, ihr zu folgen. Beide traten ein und suchten ihre Plätze auf.

Die Verspäteten ernteten einen vernichtenden Blick der Agentin Katome, die bereits zu reden begonnen hatte. «Nun, ich hoffe, wir hören von Ihnen einen Bericht, der umgekehrt proportional ist zu Ihrer Pünktlichkeit. Doktor Zila Sim!»

«Die Alte wird sich wundern», flüsterte Zila leise in Ipsas Ohr und schritt selbstsicher nach vorn. Ipsa musterte ihre Freundin und bemerkte,