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Die Autoren

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Dr. phil. Nicolas Arnaud, Dipl.-Psych., ist Wissenschaftler am Deutschen Zentrum für Suchtfragen des Kindes- und Jugendalters (DZSKJ) am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE).

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Prof. Dr. med. Rainer Thomasius ist Ärztlicher Leiter des DZSKJ sowie des Bereichs Suchtstörungen an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, -psychotherapie und -psychosomatik am UKE. Er ist Vorsitzender der Gemeinsamen Suchtkommission der kinder- und jugendpsychiatrischen Fachgesellschaft und Verbände (DGKJP, BAG KJPP, BKJPP) und Präsident der Deutschen Gesellschaft für Suchtforschung und Suchttherapie.

 

Die Forschungsschwerpunkte des DZSKJ reichen von der Untersuchung der grundlegenden Ursachen für Suchtgefährdung und -entstehung bis zur Entwicklung innovativer Methoden der Prävention, Früherkennung und Frühintervention bei Suchtmittelkonsum und -missbrauch einschließlich der Behandlung von Suchtgefährdung und Suchtstörung im Kindes- und Jugendalter.

Nicolas Arnaud Rainer Thomasius

Substanzmissbrauch und Abhängigkeit bei Kindern und Jugendlichen

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-032309-4

E-Book-Formate:

pdf:       ISBN 978-3-17-032310-0

epub:    ISBN 978-3-17-032311-7

mobi:    ISBN 978-3-17-032312-4

Geleitwort der Reihenherausgeber

 

 

Die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte im Suchtbereich sind beachtlich und erfreulich. Dies gilt für Prävention, Diagnostik und Therapie, aber auch für die Suchtforschung in den Bereichen Biologie, Medizin, Psychologie und den Sozialwissenschaften. Dabei wird vielfältig und interdisziplinär an den Themen der Abhängigkeit, des schädlichen Gebrauchs und der gesellschaftlichen, persönlichen und biologischen Risikofaktoren gearbeitet. In den unterschiedlichen Alters- und Entwicklungsphasen sowie in den unterschiedlichen familiären, beruflichen und sozialen Kontexten zeigen sich teils überlappende, teils sehr unterschiedliche Herausforderungen.

Um diesen vielen neuen Entwicklungen im Suchtbereich gerecht zu werden, wurde die Reihe »Sucht: Risiken – Formen – Interventionen« konzipiert. In jedem einzelnen Band wird von ausgewiesenen Expertinnen und Experten ein Schwerpunktthema bearbeitet.

Die Reihe gliedert sich konzeptionell in drei Hauptbereiche, sog. »tracks«:

Track 1:

Grundlagen und Interventionsansätze

Track 2:

Substanzabhängige Störungen und Verhaltenssüchte im Einzelnen

Track 3:

Gefährdete Personengruppen und Komorbiditäten

In jedem Band wird auf die interdisziplinären und praxisrelevanten Aspekte fokussiert, es werden aber auch die neuesten wissenschaftlichen Grundlagen des Themas umfassend und verständlich dargestellt. Die Leserinnen und Leser haben so die Möglichkeit, sich entweder Stück für Stück ihre »persönliche Suchtbibliothek« zusammenzustellen oder aber mit einzelnen Bänden Wissen und Können in einem bestimmten Bereich zu erweitern.

Unsere Reihe »Sucht« ist geeignet und besonders gedacht für Fachleute und Praktiker aus den unterschiedlichen Arbeitsfeldern der Suchtberatung, der ambulanten und stationären Therapie, der Rehabilitation und nicht zuletzt der Prävention. Sie ist aber auch gleichermaßen geeignet für Studierende der Psychologie, der Pädagogik, der Medizin, der Pflege und anderer Fachbereiche, die sich intensiver mit Suchtgefährdeten und Suchtkranken beschäftigen wollen.

Die Herausgeber möchten mit diesem interdisziplinären Konzept der Sucht-Reihe einen Beitrag in der Aus- und Weiterbildung in diesem anspruchsvollen Feld leisten. Wir bedanken uns beim Verlag für die Umsetzung dieses innovativen Konzepts und bei allen Autoren für die sehr anspruchsvollen, aber dennoch gut lesbaren und praxisrelevanten Werke.

Die beiden Autoren dieses Bandes stellen auf breiter Basis die entwicklungspsychologischen, phänomenologischen und auch therapeutischen Besonderheiten von Suchtentwicklungen im (späten) Kindes- und Jugendalter dar. Diese Altersphase gilt einerseits als Probier- und Experimentierzeit bei gesunden Jugendlichen, stellt andererseits für bereits vorerkrankte Patientinnen und Patienten – beispielsweise mit ADS, Sozialphobie oder Depression – einen besonderen Risikofaktor dar und ist drittens wegen der zentral wichtigen Entwicklungsaufgaben ohnehin eine Risikophase des menschlichen Lebens. Eine frühzeitige Erkennung schwer Suchtgefährdeter mit entsprechender Intervention, eine konsequente hochaufwendige Behandlung der wenigen chronisch Erkrankten und gleichzeitig eine unaufgeregte Grundhaltung zu den gesellschaftlichen Entwicklungen einer permissiven Kultur prägen den Charakter des vorliegenden Buches. Es wird deutlich, dass für diese Altersphase entwicklungspsychologische, psychopathologische, neurobiologische, soziale und pädagogische Herangehensweisen in Kombination den gewünschten Erfolg für die jungen Patientinnen und Patienten erbringen.

 

Oliver Bilke-Hentsch, Winterthur/Zürich
Euphrosyne Gouzoulis-Mayfrank, Köln
Michael Klein, Köln

Inhalt

 

  1. Geleitwort der Reihenherausgeber
  2. Danksagung
  3. 1 Einleitung
  4. 2 Fallvignetten
  5. 3 Allgemeine und klinische Epidemiologie
  6. 3.1 Prävalenz des Substanzkonsums
  7. 3.1.1 Tabak und Alkohol
  8. 3.1.2 Illegale Drogen
  9. 3.2 Klinische Epidemiologie
  10. 3.2.1 Prävalenz pathologischen Glücksspiels (»Spielsucht«) und pathologischer Internetnutzung (»Internetsucht«)
  11. 4 Klinik, Verlauf und Prognose
  12. 4.1 Begriffsbestimmung und klinische Symptomatik
  13. 4.2 Folgen des Substanzkonsums
  14. 4.3 Verlauf und Prognose
  15. 4.3.1 Jugendtypischer Substanzkonsum
  16. 4.3.2 Jugendtypischer Substanzkonsum vs. Substanzmissbrauch
  17. 4.3.3 Verlaufsprognose der substanzbezogenen Störungen
  18. 4.4 Komorbidität
  19. 5 Ätiologie und spezielle Suchtdynamik
  20. 5.1 Ursachen und Entstehung
  21. 5.1.1 Genetische Disposition
  22. 5.1.2 Neurobehaviorale Merkmale
  23. 5.1.3 Familiäre Einflüsse
  24. 5.1.4 Peers
  25. 6 Diagnostik und Differenzialdiagnose
  26. 6.1 Substanzbezogene Störungen
  27. 6.2 Substanzinduzierte Störungen
  28. 6.3 Diagnostisches Vorgehen im Kindes- und Jugendalter
  29. 6.4 Differenzialdiagnostik: Komorbide substanzbezogene und andere psychische Störungen
  30. 6.5 Passen die diagnostischen Klassifikationssysteme für das Kindes- und Jugendalter?
  31. 7 Interventionsplanung und interdisziplinäre Therapieansätze
  32. 7.1 Behandlungsformen und Interventionsplanung
  33. 7.2 Interdisziplinäre Therapieansätze
  34. 7.2.1 Frühintervention durch motivierende Gesprächsführung
  35. 7.2.2 Psychotherapie und Familientherapie
  36. 7.3 Qualifizierte Entzugsbehandlung
  37. 7.4 Pharmakologische Therapie
  38. 8 Präventive Ansätze
  39. 8.1 Präventionsprogrammatik bei Suchtstörungen
  40. 8.2 Verhaltenspräventive und verhältnispräventive Maßnahmen
  41. 8.3 Effektivität verhaltensbezogener Prävention
  42. 8.3.1 Handlungsfeld Schule
  43. 8.3.2 Handlungsfeld Familie
  44. 8.3.3 Handlungsfeld Gemeinde
  45. 8.3.4 Handlungsfeld Internet
  46. 8.3.5 Indizierte Prävention bei Personen mit Risikosymptomen
  47. 8.4 Umsetzung in Deutschland
  48. 8.4.1 Maßnahmen im Handlungsfeld Familie
  49. 8.4.2 Handlungsfeld Schule
  50. 8.4.3 Handlungsfeld Internet
  51. 8.4.4 Andere Handlungsfelder
  52. 8.5 Kosteneffektivität von Präventionsmaßnahmen
  53. 9 Ausblick
  54. Literatur
  55. Sachwortregister

Danksagung der Autoren

 

Wir bedanken uns bei Sarah Krivokapic für ihre Mithilfe bei der Erstellung des Manuskripts.

Dieses Buch ist im Rahmen des vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF 01GL1745A) geförderten Forschungsverbundes »IMAC-Mind: Verbesserung der psychischen Gesundheit und Verringerung von Suchtgefahr im Kindes- und Jugendalter durch Achtsamkeit: Mechanismen, Prävention und Behandlung (2017–2021)« entstanden. Mit der Förderung des Verbunds leistet das BMBF einen Beitrag, die Prävention und therapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit Suchtstörungen und weiteren damit verbundenen psychischen Störungen zu verbessern.

 

 

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Einleitung

 

Störungen im Zusammenhang mit dem Konsum legaler und illegaler psychoaktiver Substanzen beginnen sich in der Jugend oder im jungen Erwachsenenalter zu entwickeln (Wittchen et al. 2008) und gehören weltweit zu den psychischen Störungen mit hoher psychosozialer Krankheitslast (»burden of disease«) (GBD 2016 Alcohol Collaborators 2018; Whiteford et al. 2013). Schätzungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) gehen davon aus, dass mehr als 15 % der durch psychische und neurologische Erkrankungen verursachten verlorenen Lebensjahre (disability-adjusted life years, DALYs) auf Jugendliche und Heranwachsende unter 24 Jahren im Zusammenhang mit dem Konsum missbrauchsfähiger psychoaktiver Substanzen entfallen (Gore et al. 2011). Insbesondere der Konsum und Missbrauch von Alkohol als weitgehend gesellschaftlich akzeptiertem Rauschmittel ist weit verbreitet. Für Jugendliche, die in unserem Kulturraum typischerweise mit dem Konsum (legaler und illegaler) psychoaktiver Substanzen zu experimentieren beginnen, ist es daher besonders schwierig, Grenzen zwischen normalem Gebrauch und Missbrauch zu erlernen (vgl. Weichold 2008). Bei vulnerablen Personen etabliert sich dabei häufig bereits frühzeitig (in Kindheit und Jugend) ein missbräuchliches bzw. abhängiges Konsummuster, das sich über die Zeit zu einer chronischen psychischen Störung mit hohem Rückfallpotenzial und Komorbidität entwickeln kann. Erklärungsmodelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung einer Suchtdynamik inklusive ihrer multiplen bio-psycho-sozialen Symptom- und Risikokonstellationen und daraus abgeleitete Maßnahmen zur Prävention, Diagnostik und Behandlung im Kindes- und Jugendalter erfordern die Berücksichtigung von physiologischen und psychologischen Entwicklungsbesonderheiten. Dieses Buch soll einen wissenschaftlich fundierten, interdisziplinären und praxisorientierten Überblick über die relevanten Themenfelder bieten – vom (frühen) klinischen Erscheinungsbild über Ätiologie und Pathogenese, Diagnostik, Verlauf und Prognose von Suchterkrankungen bis hin zu entwicklungsorientierten Ansätzen der Suchtprävention und -therapie des Kindes- und Jugendalters, Versorgungssystemen und weiteren relevanten Fragestellungen.1

1     Zugunsten einer lesefreundlichen Darstellung wird in diesem Text bei personenbezogenen Bezeichnungen in der Regel die männliche Form verwendet. Diese schließt, wo nicht anders angegeben, alle Geschlechtsformen ein (weiblich, männlich, divers).

 

 

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Fallvignetten

 

Fallvignette 1

Die 18-jährige Larissa wurde mit einer Suchtstörung auf die Jugend-Suchtstation einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik aufgenommen. Larissa berichtete bei der Aufnahme, seit etwa einem Jahr regelmäßig Alkohol zu trinken und sich vom Alkohol abhängig zu fühlen. Der Alkohol sei an die Stelle von Cannabis getreten, welches sie im Alter von 14 bis 16 Jahren regelmäßig konsumiert habe. Sie trinke am Wochenende Alkohol in großen Mengen, erzählte sie, wache häufig an fremden Orten auf und könne sich an das Geschehene unter Alkoholeinfluss nicht erinnern. Ihren Konsum könne sie nicht selbst kontrollieren und trinke regelmäßig mehr als sie sich vorgenommen habe. Manchmal gelinge es ihr zwar zu Beginn der Woche nicht zu trinken, spätestens ab Donnerstag habe sie jedoch einen enormen Suchtdruck und trinke dann bis zum Rausch. Der Alkohol helfe ihr, mit schlechten Gefühlen und Sorgen umzugehen. Wenn sie nicht trinke, leide sie unter Stimmungseinbrüchen und könne schlecht schlafen. In der Vergangenheit habe sie sich bei Traurigkeit und Wut selbst verletzt und Essanfälle gehabt. Larissa sei sehr unzufrieden mit ihrem Äußeren und verbringe teilweise mehrere Stunden am Tag mit der Körperpflege, weil sie sich sonst hässlich und minderwertig fühle. Eine depressive Episode sei von ihren ambulanten Behandlern bereits vordiagnostiziert und mit Venlafaxin behandelt worden. Von der stationären kinder- und jugendpsychiatrischen und -psychotherapeutischen Suchtbehandlung erhoffe sie sich, einen adäquaten Umgang mit ihren Emotionen zu erlernen und auf Drogen und Alkohol verzichten zu können.

Zur weiteren Krankheitsgeschichte ist erwähnenswert, dass Larissa im Alter von 14 Jahren begann, Cannabis regelmäßig zu konsumieren. Etwas später konsumierte sie Ecstasy und Amphetamine und über einige Monate hinweg auch Kokain. Larissa wurde im Alter von 16 Jahren aufgrund einer Bulimie in einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik über zweieinhalb Monate stationär behandelt. Im selben Jahr erfolgte auch eine qualifizierte Entzugsbehandlung in einer Fachklinik wegen der Cannabisabhängigkeit. Dies geschah auf Nachdruck der Mutter. Larissa selbst hatte damals keinen Abstinenzwunsch. Gleich im Anschluss an die Behandlung konsumierte sie weiter. In den letzten Monaten vor der jetzigen Behandlung kam es zur erheblichen Steigerung des Alkoholkonsums. Nach einem Streit mit ihrem damaligen Partner versuchte sich Larissa unter Alkoholeinfluss das Leben zu nehmen. Sie intoxikierte sich mit verschiedenen Medikamenten und rief anschließend den Rettungswagen.

Larissas Vater ist alkoholabhängig. Zu ihm hat Larissa nur sporadischen Kontakt. Die Mutter trennte sich von ihm aufgrund seines intensiven Alkoholkonsums, als Larissa ein Jahr alt war. Aktuell befindet sich Larissas Mutter aufgrund psychosomatischer Beschwerden in psychotherapeutischer Behandlung. Larissas Onkel mütterlicherseits hat eine bipolare Störung. Zu den Großeltern mütterlicherseits besteht seit Larissas Pubertät kein Kontakt mehr, nachdem Larissa ihrer Mutter anvertraut hatte, vom Großvater sexuell belästigt worden zu sein. Aufgrund der langen psychiatrischen Krankheitsgeschichte gab es immer wieder Schwierigkeiten in der Schule durch Abwesenheitszeiten und Schulwechsel. Dennoch erreichte Larissa den Mittleren Schulabschluss. Aktuell besucht sie die 11. Klasse einer Stadtteilschule und strebt das Abitur an. Mit ihrem einige Jahre älteren Partner ist sie seit zwei Monaten zusammen. Er unterstützt sie in ihrem Abstinenzwunsch und konsumiert selbst keine Drogen. Zum Lebenspartner der Mutter hat Larissa ein gutes Verhältnis. Bis zu ihrem Abitur will Larissa bei ihrer Mutter wohnen.

Bei der Aufnahme wirkt die stark geschminkte, modisch gekleidete Jugendliche im Kontakt freundlich, dabei aufgesetzt fröhlich. Sie wirbt im Kontakt um die Gunst des Gegenübers, wirkt sehr reflektiert, pseudo-intellektualisierend bei zugleich deutlich wahrnehmbarer emotionaler Entwicklungsverzögerung mit Schwierigkeiten in der Emotions- und Nähe-Distanz-Regulation. Aus der Vorgeschichte sind Essanfälle, verzerrte Körperwahrnehmung, Selbstverletzungen (Schneiden), Stimmungsschwankungen, sozialer Rückzug bei Stimmungstiefs, Verzweiflung und innere Leere bekannt, auch ein Suizidversuch.

Larissas Behandlung erfolgte auf einer Jugend-Suchtstation, die im interdisziplinären Team nach einem multimodalen Konzept arbeitet. Die Behandlung unterteilt sich in einen zweiwöchigen qualifizierten Entzug und eine jugendpsychiatrische und -psychotherapeutische Weiterbehandlung der komorbiden psychischen Störung. Neben der jugend-, sucht- und sozialpsychiatrischen Diagnostik kommen verschiedene auf den Substanzkonsum bezogene Therapieformen zum Einsatz (u. a. soziales Kompetenztraining, Rückfallpräventions- und Motivationsgruppen). In der therapieschulenübergreifenden Einzeltherapie und in den Familiengesprächen werden die individuellen Hintergründe der Erkrankung beleuchtet und für Veränderungen zugänglich gemacht. In der bezugspädagogischen Arbeit bieten klare Regeln und Strukturen, eingebettet in unterstützende Beziehungsangebote, den Jugendlichen Halt und Rahmen.

Larissa zeigte hohe eigene Behandlungsmotivation, die jedoch mit Ungeduld, dem Wunsch nach schneller Veränderung und unrealistischen Ansprüchen an sich selbst und an das Therapiesetting verbunden waren. In einigen Tagen konnte die Entzugsbehandlung unter Gabe von Oxazepam in ausschleichender Dosierung sicher durchgeführt werden. Larissa beschrieb immer wieder Suchtdruck in Form von innerer Unruhe und höherer Irritierbarkeit. Im Kontakt mit Mitpatienten und dem Personal war Larissa zu Beginn der Behandlung umgänglich und zurückhaltend. Die Einhaltung von Regeln stellte für Larissa nur gelegentlich Probleme dar, der eng durchstrukturierte Rahmen wurde als hilfreich beschrieben. Durch Entzugssymptome und die emotional-instabile Grundstimmung kam es jedoch regelmäßig zu Craving nach Alkohol, Ein- und Durchschlafproblemen und Motivationstiefs. Da jederzeit Absprachefähigkeit vorhanden war, wurde Larissa angeleitet, durch ein emotionales Selbstmanagement und ein Spannung-abbauendes »Skills-Training« die krisenhaften Zustände zu bewältigen. Regelmäßige Motivationsgespräche unterstützten diesen Prozess.

Nach erfolgreicher Entgiftungsbehandlung und dem Wechsel auf die Weiterbehandlungsstation kam es häufiger zu Stimmungsschwankungen und zu einer dysphorischen, teilweise depressiven Stimmungslage. Mit Larissa wurde an emotionaler Stabilisierung und angemessenen Affektregulationsstrategien gearbeitet. Im Alltag wirkte Larissa phasenweise konfliktbehaftet im Kontakt mit anderen Jugendlichen. Andererseits stellte sie sich im Kontakt zu Betreuern und den Sorgeberechtigten als sehr fordernd dar und konnte Bedürfnisse kaum aufschieben. Sie zeigte insbesondere bei Begrenzung eine sehr geringe Frustrationstoleranz und war oft nicht in der Lage, die Stationsregeln zu akzeptieren, umzusetzen und diese als hilfreich für sich zu benennen.

Das durch Ambivalenzen geprägte Verhalten kennzeichnet die dysfunktionale Kontakt- und Beziehungsgestaltung. Beispielsweise fiel es Larissa schwer, eine adäquate Nähe-Distanz-Regulierung zu Betreuern und Mitpatienten umzusetzen. So verstrickte sich Larissa phasenweise in sehr enge Beziehungen. Sie entwickelte dann eine vielfältige Symptomatik mit internalisierenden und externalisierenden Anteilen und präsentierte das Bild einer Persönlichkeitsstörung vom emotional-instabilen Typ. Auch gelang es Larissa nur selten, eigene Bedürfnisse adäquat zu formulieren. Hier zeigte sich auch noch am Ende der Therapie eine Tendenz, Verantwortung zu meiden, Schuldzuschreibungen an andere vorzunehmen und nahezu unerfüllbare Versorgungswünsche zu äußern. Bei Frustrationserlebnissen kam es zu einem schnellen Wechsel zwischen den extremen Polen der Idealisierung und Entwertung anderer Personen. Hinzu kamen erhebliche Schwierigkeiten in der Differenzierung eigener Bedürfnisse sowie der Abgrenzung eigener Bedürfnisse von denen anderer. Dies schien mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden zu sein, sich in Sichtweisen anderer hineinzuversetzen oder deren Affekte zu interpretieren. Es ergaben sich Hinweise auf eine Mentalisierungs- und Empathiestörung. Insgesamt überwogen frühe Abwehrmechanismen wie Spaltung, Projektionen, Externalisierung und projektive Identifikation. Diese stellten sich verstärkt in Konfliktsituationen ein. In diesen Phasen schien Larissa nur wenig erreichbar, Ambivalenzen gegenüber der Behandlung traten in den Vordergrund. Darüber hinaus wurde ein instabiles oder fragmentiertes, wenig integriertes Selbstbild deutlich. Das Erleben von Identität (psychisch, sozial, sexuell, generationenbezogen) schien wenig ausgereift zu sein und führte zu häufig dysfunktionaler, schnell wechselnder Rollenübernahme oder einer Pseudoanpassung, phasenweise verbunden mit vordergründiger Stabilisierung und Tendenzen, die Therapie vorzeitig zu beenden.

Im Ausgang einer Belastungserprobung kam es während der stationären Behandlung zu einem Rückfall in den Substanzkonsum. Der Wunsch nach dauerhafter Abstinenz wirkte dabei nicht immer klar und eindeutig. Larissa erlebte den Rückfall als sehr schambesetzt und konnte ihn nicht aus eigenem Antrieb in den Kontakt mit Betreuern oder Therapeuten bringen. Eine Stabilisierungsphase und die Arbeit im Bereich Rückfallprävention waren im Anschluss essentiell für die weitere psychotherapeutische Arbeit.

Die Einzelgespräche fokussierten eine Verbesserung der Emotionsregulationsfähigkeit sowie die Förderung der Selbstwahrnehmung in Anlehnung an die dialektisch-behaviorale Therapie, um einen funktionalen Umgang mit Stimmungsschwankungen und Stimmungseinbrüchen zu unterstützen. Die sexuellen Übergriffe des Großvaters schienen Larissa deutlich zu belasten und eine positive Einstellung zum eigenen Körper und der eigenen Person zu verhindern. Zwar berichtet Larissa nicht von Intrusionen, die Vielzahl an dysfunktionalen Bewältigungsstrategien und die Probleme in der Interaktion dienten jedoch der Vermeidung einer emotionalen Auseinandersetzung mit dem traumatischen Erleben. Die Empfehlung einer weiterführenden traumafokussierten Behandlung bei ausreichender Abstinenz und gegebenen gesunden Bewältigungsstrategien wurde mit Larissa und ihrer Mutter besprochen.

Neben der Förderung und Sicherung der Abstinenzmotivation wurde die zugrundeliegende Identitäts- und Selbstwertproblematik bearbeitet. Die dysfunktionale Beziehungsgestaltung spiegelte sich auch in der Gestaltung der therapeutischen Beziehung wider und war von Phasen der Idealisierung und Entwertung geprägt. Die Schwierigkeiten in der Beziehungsgestaltung wurden von Larissa vor dem Hintergrund der frühen biografischen Frustration der Bedürfnisse nach Bindung, Selbstwert und Sicherheit beginnend reflektiert.

Larissa nahm bereits vor Aufnahme in die stationäre Behandlung das Medikament Venlafaxin, welches im Verlauf aufgrund fortbestehender depressiver Symptomatik (Schlafstörungen, Antriebslosigkeit, Stimmungstiefs) in der Dosis weiter erhöht wurde. Hierunter zeigte sich eine leichte Stimmungsaufhellung, wobei die Stimmungsschwankungen aufgrund der emotional-instabilen Persönlichkeit weiterhin prominent blieben.

Zusammenfassend ist bei Larissa in diagnostischer Hinsicht von einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung bei zeitgleich deutlicher Entwicklungsverzögerung im emotionalen und sozialen Bereich auszugehen. Die Alkohol- und Tabakabhängigkeit sowie der schädliche Gebrauch multipler anderer psychotroper Substanzen können als dysfunktionaler Bewältigungsversuch verstanden und als Nebendiagnosen verschlüsselt werden (image Tab. 2.1). Im stationären Behandlungsrahmen konnte Larissa wichtige Erfahrungen machen und lernen, über längere Phasen abstinent zu bleiben. Außerdem lernte sie, Stimmungsschwankungen zu bewältigen und auf selbstschädigendes Verhalten zu verzichten. Ohne ausreichende Stabilisierung und fortgesetzte Unterstützung besteht jedoch die erhebliche Gefahr eines Verhaltens- und Suchtmittelrückfalls sowie der Chronifizierung der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung. Ihr wurde daher bei der Entlassung aus stationärer Behandlung empfohlen, dass langfristig bei Verschlechterung und Rückfall in den Substanzkonsum eine stationäre Rehabilitationsbehandlung mit Schwerpunkt Sucht und gegebenenfalls traumafokussierter Therapie in Erwägung gezogen werden muss. Aufgrund der Schulsituation und Larissas Wunsch, die Schule regulär zu beenden, konnte sie sich aktuell nicht für eine erneute langfristige stationäre Therapie entscheiden. Sie zog es stattdessen vor, die ambulante Psychotherapie mit wöchentlichen Kontakten fortzusetzen.

DiagnosenICD-10-Code

Tab. 2.1: Diagnosen nach ICD-10/MAS

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Fallvignette 2

Der 16-jährige Boris konsumiert seit zwei Jahren Cannabis, massiv in den letzten Monaten. Der Konsum hat aus Sicht seiner Mutter zu einer »Wesensänderung« geführt. Boris sei in Folge des Konsums ausgelaugt, lethargisch, depressiv verstimmt und teilweise aggressiv gespannt, berichtet die Mutter im Erstgespräch in der Drogen- und Alkoholambulanz für Jugendliche. Häufig reagiere er aus nichtigem Anlass mit Wutausbrüchen. Dabei würden hin und wieder Sachschäden entstehen. Gelegentlich richte Boris die Wut aber auch gegen sich selbst. Die schulischen Leistungen seien stark zurückgegangen. Derzeit wiederhole Boris die 10. Klasse. Eine weitere Auswirkung des fortgesetzten Cannabisgebrauchs bestehe darin, dass Boris keine Ordnung mehr zu Hause halte. Sein Zimmer sei in einem verwahrlosten Zustand. Gelegentlich hätte sie Fressattacken bei Boris beobachtet. In Folge des Konsums hätten sich die Auseinandersetzungen zwischen Mutter und Sohn gemehrt. Zuletzt habe es täglich Streitszenen gegeben.

Angesprochen auf Boris Entwicklung in Kindheit und früher Jugend erwähnt seine Mutter die Trennung von ihrem damaligen Ehemann, dem leiblichen Vater von Boris, vor etwa 15 Jahren. Damals war Boris ein Jahr alt. Boris lebte anschließend über viele Jahre hinweg zeitweise bei seiner Mutter und zeitweise beim Vater. Boris und sein 5 Jahre älterer Bruder Claus hätten im Zusammenhang mit dem ständigen Wechsel des Wohnorts auch versucht die Eltern gegeneinander auszuspielen. Von der neuen Partnerin des Vaters sei Boris bereits im Kindesalter durch Schläge misshandelt worden, berichtet die Mutter. Seit dem 15. Lebensjahr sei Boris in Einrichtungen der stationären Jugendhilfe betreut worden, die letzte Wohngruppe habe er erst vor einem halben Jahr verlassen, um dann wieder bei der Mutter aufgenommen zu werden. Bis zu seinem 9. Lebensjahr habe Boris überwiegend bei der Mutter gewohnt. Es habe sich dann eine Periode angeschlossen, in der Boris überwiegend bei seinem Vater lebte. Im 14. Lebensjahr lebte Boris ein Jahr mit der Mutter und deren neuem Partner in Australien.

Die frühkindliche Entwicklung von Boris sei unauffällig gewesen. Eine pädagogische Betreuung durch die Jugendhilfe sei bereits im 2. Lebensjahr von Boris nach der Scheidung seiner Eltern eingerichtet worden. In der Grundschule sei Boris ein guter Schüler gewesen.

Zur Suchtanamnese berichtet Boris, vor etwa 2 Jahren das erste Mal Cannabisprodukte konsumiert zu haben. Täglicher Konsum bestehe seit einem Jahr. Seither konsumiere er etwa 1 Gramm Cannabisprodukte täglich. Den ersten Joint rauche er bereits kurze Zeit nach dem Aufstehen. Ein probatorischer Gebrauch bestehe bezüglich psilocybinhaltiger Pilze und verschiedener Stimulanzien. Opiate habe Boris nicht konsumiert. Er rauche etwa 10 Zigaretten täglich. Aufgrund des Cannabiskonsums gäbe es nicht nur konfliktreiche, häufige Auseinandersetzungen mit der Mutter, sondern auch zahlreiche Konflikte mit den Lehrern in der Schule. Boris fühle sich leicht reizbar und ungerecht behandelt. Dies habe zum Schluss dazu geführt, dass er die Schule überhaupt nicht mehr besucht habe. In Folge des regelmäßigen Cannabisgebrauchs hätten sich Antriebslosigkeit, Lustlosigkeit und Interessenverlust gemehrt. Er erlebe sich selbst als abhängig von der Droge.

Im Gespräch stellt sich der 16-jährige Boris als gut kontaktfähiger Jugendlicher dar, der durch eine Verzögerung in der altersgerechten emotionalen Entwicklung insbesondere in den Bereichen der Gefühlswahrnehmung, des Gefühlsausdrucks, der Gefühlsregulation, Introspektion sowie der sozialen Interaktion auffällt. Die Stimmungslage ist subdepressiv aber auflockerbar. Die Verzögerung der altersgerechten Entwicklung mit im Vordergrund stehender Depressivität ist psychodynamisch vor dem Hintergrund einer Trennung der Eltern im Kleinkindesalter zu bewerten. Die Trennungsproblematik scheint mitsamt dessen Versagensängsten und Schuld- und Schamkonflikten nicht auch nur im Ansatz bewältigt zu sein. Cannabisgebrauch hat sich in dieser Hinsicht als Abwehr der zugrundeliegenden Selbstwert- und Identitätskonflikte angeboten und inzwischen hat sich ein hohes Ausmaß an stofflicher Abhängigkeit entwickelt, inklusive Toleranzentwicklung, Einengung des Denkens und Handelns, Konsum trotz Wissens um die Schädlichkeit und ungünstiger Auswirkungen. Es bestehen Anzeichen einer körperlichen Abhängigkeit. Die Abstinenz- und Änderungsmotivation und die Einsicht in die Suchtentwicklung sind mittel- bis hochgradig ausgeprägt.

Aus suchtpsychiatrischer Sicht ist für Boris eine konfliktbearbeitende und entwicklungsfördernde kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Behandlung auf einer Jugend-Suchtstation indiziert. In Anbetracht der hohen Behandlungsmotivation, der Abstinenzzuversicht, der hinreichend realistischen Zukunftsperspektiven und der Therapiefähigkeit ist der Erfolg einer stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Suchttherapie prognostisch als günstig einzuschätzen. Ein ambulantes Therapiesetting ist nicht indiziert, da die Suchtentwicklung zu weit zurückreicht, das soziale Umfeld rückfallgefährdend ist und wiederholte eigenständige Reduktionsversuche in der Vergangenheit gescheitert sind. Inhalte der Behandlung wären die Förderung und Stabilisierung der Identitätsentwicklung, Stärkung der Suchtmittelabstinenz und Rückfallprophylaxe sowie Klärung und Förderung der Lebensbereiche Wohnen, Ausbildung und Freizeit.

 

 

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Allgemeine und klinische Epidemiologie

 

In Deutschland liegen epidemiologische Daten zum Substanzkonsum von Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus bundesweiten, repräsentativen Umfragen und Prävalenzstudien vor, die durch regionale, teilweise regelmäßige Studien und Monitorings (z. B. Monitoring Drogentrends [MoSysD], Frankfurt am Main, Brandenburger Jugendliche und Substanzkonsum, Brandenburg, Hamburger SCHULBUS, Hamburg) ergänzt werden. Verbreitung und Ausmaß des Konsums wird klassischerweise durch die Prävalenz angegeben, die den Konsum über verschiedene zurückliegende Zeiträume erfasst (bspw. in den letzten 12 Monaten; image Kasten: Definition).

Die wichtigste Datenquelle zur Einschätzung der Verbreitung und des Ausmaßes des Konsums von Tabak, Alkohol und illegalen Drogen im Jugendalter ist die DrogenaffinitätsstudieStudie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in DeutschlandEuropäischen Schülerstudie zu Alkohol und anderen Drogen