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Vollständige eBook-Ausgabe der Hardcoverausgabe

Text-Copyright © 2016 Roman Mysteries Ltd

Originaltitel: The Roman Quest – The Archers of Isca

Die Originalausgabe ist 2016 im Verlag Hodder and Stoughton, Großbritannien, erschienen.

© 2019 arsEdition GmbH, Friedrichstraße 9, 80801 München

Alle Rechte vorbehalten

Text: Caroline Lawrence

Cover: Maximilian Meinzold

Landkarte: Richard Russell Lawrence

Übersetzung: A. M. Grünewald

ISBN Printausgabe 978-3-8458-2781-0

ISBN eBook 978-3-8458-3525-9

www.arsedition.de

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Widmung

Vorwort

I

Kapitel eins

DRUIDES

Kapitel zwei

LARVA

Kapitel drei

VICUS

Kapitel vier

FOCUS

Kapitel fünf

GEMMAE

Kapitel sechs

AQUAE SULIS

Kapitel sieben

LORICA SQUAMATA

Kapitel acht

APODYTERIUM

Kapitel neun

FONS SACER

Kapitel zehn

FRICATIO

Kapitel elf

AUXILIA

Kapitel zwölf

INCENDIUM

Kapitel dreizehn

SAMHAIN

II

Kapitel vierzehn

FLUMEN SABRINA

Kapitel fünfzehn

ISCA AUGUSTA

Kapitel sechszehn

OPTIO

Kapitel siebzehn

CENTURIO

Kapitel achtzehn

SIGNACULUM

Kapitel neunzehn

NOMINA

Kapitel zwanzig

SAGITTARII

Kapitel einundzwanzig

BARDUS

Kapitel zweiundzwanzig

NARCISSI

Kapitel dreiundzwanzig

PAX ROMANA

Kapitel vierundzwanzig

VIOLARIA

Kapitel fünfundzwanzig

CORNICEN

Kapitel sechsundzwanzig

VITIS

Kapitel siebenundzwanzig

TESSERA

III

Kapitel achtundzwanzig

DEFECTIO

Kapitel neunundzwanzig

SOCII

Kapitel dreißig

TINTINNABULA

Kapitel einunddreißig

VISCUM ALBUM

Kapitel zweiunddreißig

QUERCUS

Kapitel dreiunddreißig

PO TIO

Kapitel vierunddreißig

TRIBUS

Kapitel fünfunddreißig

FASCINATIO

Kapitel sechsunddreißig

BELLATORES

Kapitel siebenunddreißig

APOLOGIA

Kapitel achtunddreißig

GEMINI

Kapitel neunddreißig

CONSILIUM

Kapitel vierzig

LUNA

Kapitel einundvierzig

BOUDICCA

Kapitel zweiundvierzig

GENII CUCULLATI

Kapitel dreiundvierzig

ESSEDUM

Kapitel vierundvierzig

BELTANE

Kapitel fünfundvierzig

SIMULACRUM

Kapitel sechsundvierzig

MALEDICTA

Kapitel siebenundvierzig

PHALERAE

WAS DIE LATEINISCHEN KAPITELÜBERSCHRIFTEN BEDEUTEN

Die Autorin

Leseprobe zu "Roman Quest - Flucht aus Rom"

Weitere Titel

Für die Leiter, die Angestellten und ehrenamtlichen Helfer der

Butser Ancient Farm in Hampshire als Dank dafür, dass sie mir dabei geholfen haben, mir das Britannien der Eisenzeit vorzustellen

Salve! (Hallo!)

Willkommen zum zweiten Römischen Abenteuer. Diese Geschichte spielt in der römischen Provinz Britannien im Jahr 96 nach Christus, während der Herrschaft von Kaiser Domitian.

Einige der Orte, die in dieser Geschichte vorkommen, könnt ihr auch heute noch besuchen.

Die Hauptschauplätze des Buches sind ein Eisenzeitdorf (wie die Butser Ancient Farm in Hampshire), Aquae Sulis (das heutige Bath) und die Isca Augusta (die Festung von Caerleon).

Die Kapitelüberschriften sind lateinisch und beziehen sich immer auf etwas, das im Kapitel vorkommt. Versucht doch mal herauszufinden, was die Wörter bedeuten, und schlagt dann am Ende des Buches nach, um zu sehen, ob ihr richtiggelegen habt.

Vale! (Leb wohl!)

Caroline

I

Kapitel eins

Druides

Fronto aß Fladenbrot mit Honig und starrte in die Flammen des Herdfeuers, als ihn ein lautes Rufen plötzlich aus seinen Gedanken riss.

»Kätzchen im Totenwald!«

Auch die vier drahtigen Jagdhunde, die leise ums Feuer schlichen und hofften, einen Bissen abzubekommen, hoben die Köpfe.

Drei Jungen drängten sich durch die enge Tür ins Rundhaus und rannten auf Fronto zu.

»Das Kätzchen ist im Totenwald!«, keuchte ein Junge, der Vindex hieß. Genau wie Fronto war er vierzehn Jahre alt. Im Gegensatz zu Fronto war er jedoch ein Britanne, hatte blasse Haut, blondes Haar und freundliche blaue Augen.

Fronto schaute die Jungen blinzelnd an. Machten sie Witze? Manchmal war es schwer, in der schummrigen Beleuchtung des Rundhauses zu erkennen, was sich auf den Gesichtern der anderen abspielte.

Vindex’ älterer Bruder Bruvix trat einen der Hunde beiseite und redete betont langsam und laut auf Fronto ein, als wäre er schwer von Begriff: »Das Kätzchen deiner Schwester ist in den Totenwald gelaufen!«

Fronto war verwirrt. Seit der Nacht ihrer Flucht aus Rom waren seine Schwester und ihr Kätzchen unzertrennlich gewesen. Wohin Ursula auch ging, meistens hockte das Kätzchen auf ihrer Schulter.

»Ist es nicht bei Ursula?«, fragte er.

»Nein«, erklärte Vindex. »Deine Schwester ist auf dem Feld und hilft bei der Gerstenernte. Zusammen mit deinem Bruder Juba und deiner Freundin Bouda und allen anderen aus dem Dorf.«

»Wir waren gerade auf dem Weg zurück, weil wir noch mehr Getreidesäcke holen wollten«, sagte Bruvix, »und da hat Bellator gesehen, wie das Kätzchen deiner Schwester in den Totenwald gelaufen ist. Du kannst es noch retten, wenn du dich beeilst.«

Aber Fronto beeilte sich nie. Er nahm noch einen weiteren Bissen von dem Brot mit Honig und kaute gedankenverloren darauf herum. »Warum nennt ihr ihn eigentlich den Totenwald?«, fragte er.

»Weil die Geister unserer Vorfahren in ihm umgehen«, erklärte Bellator, der schmächtigste der drei Jungen.

»Mein Großvater hat dort mal einen Wolf gesehen«, fügte Vindex aufgekratzt hinzu.

»Außerdem«, sagte Bruvix, »behaupten manche, dass sich Druiden in dem Wald verstecken, um ahnungslose Reisende für ihre Menschenopfer zu fangen.«

»Ich dachte, Paulinus hätte schon vor vielen Jahren alle Druiden in dieser Provinz getötet«, sagte Fronto.

Bruvix zuckte mit den Schultern. »Es heißt, einige wenige wären entkommen. Und alle wissen, dass sich die Druiden ihre schrecklichsten Foltermethoden für euch Römer aufsparen.«

Fronto warf einem der wartenden Hunde sein letztes Stück Brot mit Honig zu. Plötzlich hatte er keinen Hunger mehr.

»Warum sucht ihr denn nicht nach dem Kätzchen?«, fragte er.

»Der Wald ist ein Heiligtum unserer Vorfahren«, erwiderte Bruvix. »Wir dürfen ihn nur an ganz besonderen Tagen betreten. Aber dich werden die Dorfältesten nicht bestrafen, wenn du in den Wald gehst. Deine Geschwister und Bouda und du seid schließlich unsere Ehrengäste.«

»Weil ihr uns unsere verschleppten Brüder und Schwestern zurückgebracht habt«, fügte Vindex hinzu.

»Na los doch, Fronto!«, drängte Bellator. »Du bist einer der drei Kapuzenhelden, über die unser Barde jetzt seit zwei Wochen seine Lieder singt. Also, stell dich dem Abenteuer und rette das Kätzchen!«

»Unsere Aufgabe ist es, nach verschwundenen Kindern zu suchen«, wandte Fronto ein, »und nicht nach entlaufenen Haustieren.«

»Was ist los mit dir?«, fragte Bruvix und zog die Augenbrauen hoch. »Hast du Angst?«

Fronto schaute zu den Jungen auf. Er würde noch einige weitere Wochen in diesem Dorf bleiben, vielleicht sogar den gesamten Winter über, und er wollte nicht, dass sie den Respekt vor ihm verloren.

Sorgfältig schüttelte er die Brotkrumen von seinem dunkelbraunen Umhang und erhob sich. »Na schön«, sagte er. »Ich gehe in den Totenwald und suche nach dem Kätzchen. Habt ihr irgendwelche Waffen für mich?«

»Die Römer erlauben uns keine Waffen«, sagte Bruvix. »Wir dürfen nur Jagdwerkzeuge besitzen. Kannst du mit Pfeil und Bogen umgehen?«

Fronto nickte. »Mein Vater ist manchmal mit mir jagen gegangen, wenn wir in unserer Villa in der Nähe von Neapel waren.«

»Dann kannst du dir meine Ausrüstung leihen.« Bruvix eilte zu einer dunklen Stelle des Rundhauses, wo Bögen und Jagdspeere an der gebogenen Wand lehnten. Er kehrte mit einem Bogen zurück, der so groß war wie er selbst, und einem Köcher voller Pfeile.

»Das ist mein bester Bogen«, sagte er. »Und das sind all meine Pfeile. Gib gut darauf acht.«

Fronto schlang sich den Köcher um die Schulter und nahm den Bogen in die linke Hand. Er war lang und unhandlich, nicht wie der kleine Bogen, den er früher in Italien benutzt hatte.

Die Hunde und die Jungen folgten ihm, als er das Rundhaus verließ und dabei kurz innehielt, um auf Schulterhöhe drei Mal gegen den Türrahmen zu tippen: rechts, links, rechts. Dann trat er ins Freie, wobei er sorgsam darauf achtete, den ersten Schritt mit dem rechten Fuß zu machen.

Als Fronto in das helle graue Licht des bewölkten britannischen Morgens trat, erinnerte er sich an das, was Julius Caesar über die Druiden geschrieben hatte: Sie errichten große Statuen aus Korbgeflecht, in die sie Menschen sperren und die sie anschließend in Brand setzen, um ihre Gefangenen so zu lebenden Opfergaben zu machen.

Als Fronto einen schmalen Pfad zwischen den Rundhäusern und den Schafgattern einschlug, fielen ihm außerdem die Worte eines griechischen Historikers ein: Druiden sagen die Zukunft voraus, indem sie ihre Opfer mit dem Messer schneiden und dann sorgsam beobachten, wie das Blut fließt, wie der Körper zuckt und wie die Eingeweide aussehen.

Und als Fronto neben einem grasbewachsenen Hügel am Rand des Dorfes den kleinen Bach erreicht hatte, kam ihm eine weitere Stelle aus den Schriften des Strabon in den Sinn: Druiden töten ihre Opfer oft, indem sie so viele Pfeile auf sie abfeuern, bis sie aussehen wie Igel.

Fronto umklammerte den großen Bogen fest mit der Linken und berührte mit der rechten Hand die kleine Bronze-Figur des Jupiter, die er stets zum Schutz in den Falten seiner Tunika bei sich trug.

Der Totenwald ragte dunkel auf der anderen Seite des Baches vor ihm auf. Uralte Eichen streckten ihm ihre knorrigen Äste entgegen, die wie die verdrehten Arme verkohlter Menschen aussahen. Fronto musste nur noch ein paar Schritte über einen moosbedeckten Baumstamm balancieren und dann in den düsteren Wald treten.

Er schaute die Jungen an.

»Hier?«, fragte er und deutete auf den moosigen Stamm, der quer über dem Bach lag. »Ihr habt das Kätzchen hier hinüberlaufen sehen?«

»Ja«, sagte der dünne Bellator. »Ich habe gesehen, dass es genau hier in den Totenwald gelaufen ist. Weit kann es noch nicht gekommen sein.« Er sah aus, als versuche er, ein Grinsen zu unterdrücken.

Fronto zögerte. Irgendetwas fühlte sich hier nicht richtig an.

»Du hast doch keine Angst, oder?«, fragte Bruvix.

Fronto trat auf den Baumstamm und hielt den Bogen waagerecht, um sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. »Ich habe keine Angst«, sagte er. »Ich freue mich!«

Sein Vater hatte ihm beigebracht, genau das zu sagen, wenn ihm der Mut abhandenkam. Er wiederholte den Satz, versuchte sogar, ihn diesmal mit noch mehr Selbstbewusstsein zu sagen. »Ich habe keine Angst, ich freue mich!«

Aber als er seinen ersten schwankenden Schritt auf den Stamm setzte, murmelte er leise: »Ich habe wirklich keine Angst – ich fürchte mich zu Tode!«

Kapitel zwei

Larva

Solange er denken konnte, hatte sich Fronto nach Ordnung und Symmetrie gesehnt.

Er war in einem wunderschönen Stadthaus in Rom aufgewachsen, und das Erste, woran er sich erinnern konnte, war, wie er dabei geholfen hatte, die Edelsteine seines Vaters nach Größen und Farben zu sortieren. In seiner zweiten Erinnerung hatte er die Schriftrollen seiner Eltern aufgerollt und studiert. Nicht zu verstehen, was die schwarzen Krakel bedeuteten, war unerträglich für ihn gewesen – und deshalb hatte Fronto lesen gelernt, bevor er laufen konnte.

Mit fünf Jahren kannte er den Wert jeder einzelnen römischen Münze. Ein kurzer Blick auf die Kopfseite genügte, und schon wusste er, welcher Kaiser sie hatte prägen lassen. Und drehte er sie um, konnte er sofort angeben, in welchem Monat und welchem Jahr. Mit sechs las Fronto Griechisch, und mit sieben hatte er die ersten vier Bände von Virgils großem Heldengedicht, der Aeneis, auswendig gelernt. Mit acht konnte er das gesamte Werk aufsagen und mit neun die Hälfte von Homers Ilias, und zwar auf Griechisch.

Es fiel Fronto leicht, gelernte Verse zu rezitieren, neue Ideen dagegen ließen seine Zunge oft erstarren. Im Leben war es genauso. Er hasste alles, was unerwartet kam oder ungewohnt war. Am meisten aber hasste er Dinge, die er nicht kontrollieren konnte.

Als Fronto fünf war, hatte sich sein älterer Bruder Lucius ein schweres Fieber zugezogen. Frontos Eltern hatten Lucius auf einer Liege im Winter-Triclinium untergebracht, ihn in Felle gewickelt und seinen Oberkörper mit Kissen aufgerichtet, sodass er in den Obstgarten in einem der vier Innenhöfe der Villa sehen konnte. Der Arzt, der gekommen war, um Lucius täglich zur Ader zu lassen, erzählte Fronto, dass man die Schwelle eines Raumes immer zuerst mit dem rechten Fuß betreten müsse. Und wenn er noch mehr Glück beschwören wolle, müsse er zudem noch den Türrahmen drei Mal mit den Fingern berühren: rechts, links, rechts.

Fronto befolgte diese Regeln gewissenhaft. Doch einmal hatte er vergessen, sich daran zu halten.

Er war ins Krankenzimmer seines Bruders gelaufen, um ihm etwas zu erzählen. Vor lauter Eile hatte er nicht daran gedacht, den Rahmen der Tür drei Mal zu berühren. Nicht einmal mit dem rechten Fuß zuerst war er über die Schwelle getreten.

An diesem Nachmittag starb Lucius, zwei Tage vor seinem siebten Geburtstag.

Damals hatte Frontos Besessenheit begonnen. Einen Raum oder einen Ort zu betreten oder zu verlassen, bedeutete für ihn, dass er sich streng an diese Regeln halten musste.

Er sprang am anderen Ufer des Kaltbaches von dem Baumstamm und schaute sich nach einer guten Stelle um, an der er den Totenwald auf die richtige Weise betreten konnte.

Fronto entdeckte zwei gekrümmte Bäume, deren schwarze Stämme eine Art Eingangstor bildeten, also ging er dorthin. Er streckte seine Hand aus, berührte einen der Stämme – rechts, links, rechts – und erschauderte. Die Rinde fühlte sich nass an, beinahe schleimig. Er trat zwischen die Bäume, wobei er genau darauf achtete, mit dem rechten Fuß voranzugehen. Es war kalt hier und ziemlich feucht, also setzte er sich die Kapuze seines dunkelbraunen Umhangs auf.

»Mia?«, rief er. »Wo bist du, Mia?«

Fronto kam sich albern vor, den Namen Mia in den Wald zu rufen. Es war nicht einmal ein lateinischer Name. Auf diesen Einwand hin hatte Ursula jedoch bloß gelacht. »Mia spricht kein Latein. Sie spricht die Katzensprache und sie hat mir ihren Namen selbst gesagt: Miaaa!«

»Mia?«, wiederholte er. »Hic, hic, hic!«

Fronto hielt inne und ging in die Hocke. Er stützte sich mit dem Bogen auf dem sumpfigen Boden ab, während er nach Pfotenabdrücken Ausschau hielt. Doch das Einzige, was er fand, waren schleimige Blätter. Immerhin war auf der Erde eine Art Pfad zu erkennen. Seine Knie knackten, als er sich wieder erhob und widerstrebend weiterging.

Fronto nahm seinen ganzen Mut zusammen, während er dem verschlungenen Pfad tiefer in den Wald hinein folgte. Er dachte an all die furchteinflößenden Erfahrungen, die er in den vergangenen zwei Monaten bereits überstanden hatte.

Auf den Friedhöfen Roms war er zusammen mit seinen Geschwistern während ihrer mitternächtlichen Flucht von Banditen ausgeraubt worden. Noch immer trug er eine Narbe an seinem Hals, wo ihn die Spitze des Messers angeritzt hatte – aber er hatte es überstanden.

Genau wie die sechswöchige Seereise von Ostia nach Britannien – trotz des wilden Sturms, der sogar die Schiffsziege über Bord gespült hatte. Einmal war Fronto selbst durch die Luft geflogen – nur noch mit einer Hand hatte er sich am Mast festhalten können, wie eine Flagge –, aber dann hatte er die Stimme eines Gottes in seinem Kopf vernommen, die zu ihm gesagt hatte: Deine Zeit ist noch nicht gekommen.

Hier in Britannien hatte Fronto eine nächtliche Flucht durch die Marschen an der Südküste überlebt, bei der sie von der hereinbrechenden Flut überrascht worden waren. Dabei hatten er und seine Geschwister ein Dutzend blauäugiger, blonder Kinder davor gerettet, als Sklaven nach Rom verschifft zu werden.

Deswegen waren sie jetzt auch Ehrengäste in dem Belger-Dorf, aus dem die Kinder stammten, und sie waren eingeladen, so lange zu bleiben, wie sie wollten.

Deswegen brachten ihm die Dorfbewohner jeden Tag Speisen und Geschenke. Deswegen musste er nicht auf den Feldern arbeiten, wenn er lieber am Feuer sitzen und Brot mit Honig essen wollte. Und deshalb konnte er sich nun auch in diesen furchterregenden Wald hineinwagen, ohne mit einer Rüge rechnen zu müssen: Schließlich hatten er und seine Geschwister die Kinder gerettet.

Er und seine Geschwister und das Mädchen namens Bouda.

Kaum dachte er an ihr kupferfarbenes Haar und ihre grasgrünen Augen, fühlte sich Fronto etwas tapferer.

Er blieb stehen. Während er an Bouda gedacht hatte, war der Pfad verschwunden und nun stand er knietief im Farnkraut. Nicht die zarten grünen Farne des Frühlings, sondern die sterbenden Pflanzen des Herbstes: Gelb und braun waren die Wedel, manche sogar schon schwarz. Sie stanken verrottet und nach Verwesung.

Fronto hatte seine Mission vergessen: nach dem Kätzchen zu suchen. Mia war winzig und hätte es niemals so weit geschafft. Es wunderte ihn sowieso, dass sie über den moosbewachsenen Baumstamm gelaufen war. Bellator musste sich getäuscht haben.

Er drehte den Kopf und wollte gerade den Rückweg einschlagen, als sich ihm der Magen umdrehte. Der Wald sah plötzlich anders aus. Dunkler. Dichter. Näher. Als wären alle Bäume einen Schritt weiter an ihn herangetreten, während er ihnen den Rücken zugekehrt hatte.

»Mia?« Die Stimme blieb ihm in der Kehle stecken und hörte sich fremd an. »Mia? Wo bist du?«

Keine Reaktion. Nur der Wind heulte in den Zweigen.

»Ich habe keine Angst«, schärfte Fronto sich selbst ein. »Ich freue mich. Jupiter Ammon«, flüsterte er, »schenk mir Mut.«

Als er sich an den Rückweg machte, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Er spürte, dass ihn irgendjemand beobachtete.

Irgendjemand oder irgendetwas!

Fronto blieb stehen und schob die Kapuze seines Umhangs zurück. Langsam griff er über seine Schulter und zog einen der Pfeile aus dem Köcher. Die Spitze des Pfeils bestand aus Feuerstein, war aber so scharf wie Eisen, also legte er sie an der Hirschsehne des Bogens an.

Damit fühlte er sich ein wenig sicherer.

Bis er wieder das Prickeln im Nacken spürte.

»Da ist nichts«, sagte er zu sich selbst, während er langsam den Blick über den Wald um sich herum schweifen ließ. »Keine Vögel, keine Eichhörnchen, keine Insekten. Und nichts, was mir etwas zuleide tun könnte. Ich habe keine Angst, ich freue mich.«

Dann sah er es.

Hinter dichten Brombeerbüschen, vielleicht zwanzig Schritte entfernt, starrte ihn ein schreckenerregendes Gesicht an. Die Haare des Mannes waren zu steifen weißen Spitzen aufgetürmt und sein Bart hatte die Form von drei blauen Schlangen. Noch beängstigender aber als das abstehende Haar und der Schlangenbart waren seine stechenden schwarzen Augen.

Mit einem Aufschrei ließ Fronto Pfeil und Bogen fallen.

Und dann rannte er davon.

Kapitel drei

Vicus

Ursula liebte das Dorf am Fuße des Hügels.

Aus der Entfernung erinnerten sie die sieben Rundhäuser an aus dem Boden geschossene Pilze. Der Rauch der Feuerstellen schlängelte sich aus den spitz zulaufenden strohgedeckten Dächern. In fünf der Rundhäuser wohnte jeweils eine Großfamilie, die zwei anderen waren einmal den Frauen und einmal den Männern vorbehalten. Es gab außerdem noch einige Getreidespeicher, Hühner- und Viehställe und am Dorfrand sogar Bienenstöcke mit kleinen Spitzdächern.

Das Dorf schmiegte sich zwischen zwei Wälder, hatte einen Hügel im Rücken und einen Bach zu seinen Füßen. Vor ihm erstreckte sich ein Flickenteppich aus Gerstenfeldern und Weideland. Die Belger nannten ihr Zuhause Grünberg, nach dem grünen Hügel, auf dem verstreut die Schafe weideten und der als Windbrecher über der Siedlung aufragte und sie zu bewachen schien.

Ursula erinnerte sich genau an den Moment, als sie in der Morgendämmerung mit ihren Brüdern und dem britannischen Mädchen namens Bouda in ihrer von Ochsen gezogenen Carruca ins Dorf gekommen war. Die Eltern der verschleppten Kinder waren aus den Häusern gerannt und ihnen entgegengelaufen. Sie hatten geweint und gelacht und ihre Kinder umarmt, genau wie es römische Eltern getan hätten.

Als Retter der Kinder hatte man sie gemeinsam mit ihren Brüdern und Bouda in das größte Rundhaus geführt. Es gehörte Velvinnus, dem Dorfältesten.

In ihrer Villa, damals in Rom, hatte Ursula allein in einem kleinen rechteckigen Raum geschlafen.

Hier schliefen alle gemeinsam in einem einzigen großen Raum. Wenn in der Nacht ein Baby aufwachte und weinte und die Mutter zu müde war, um es in den Schlaf zu singen, kümmerte sich eine der Tanten oder der älteren Schwestern darum.

Zu Hause in Rom hatte ihre Mutter Ursula keine Haustiere erlaubt, abgesehen von ihrem sprechenden Vogel.

Hier gingen die großen Jagdhunde ein und aus, wie es ihnen gefiel. Manche der Leute benutzten sie sogar als Kissen.

In Rom sang ihre Mutter Lieder am Webstuhl.

Hier sang ein Mann, den sie Bardus nannten, jeden Abend von ihren Abenteuern. Von den drei Kapuzenhelden sang er, die über den namenlosen Ozean nach Britannien gekommen waren. Und während er seine Harfe anschlug, berichtete der Barde davon, wie sie mit dem Maultierwagen und zu Fuß von Londinium zur Südküste gereist waren, gerade noch rechtzeitig, um die Kinder des Dorfes davor zu bewahren, auf ein Schiff nach Rom gebracht zu werden.

Sogar von ihr sang er und erzählte, wie die jüngste Abenteurerin ein Kätzchen auf der einen Schulter trug und einen sprechenden Vogel auf der anderen.

Nun, da sie schon die dritte Woche hier im Dorf verbrachten, war Ursula zusammen mit den anderen Dorfbewohnern, Bouda und ihrem Bruder auf die Felder gegangen, um die letzte Gerste zu ernten, bevor der Winterfrost einsetzen würde. Begleitet von einigen der kleineren Kinder, kehrten sie und Bouda gerade mit Säcken voller Gerste zum Dorf zurück, als sie lautes Gelächter hörten, das vom Kaltbach herüberschallte.

Die anderen Kinder stellten ihre Säcke ab und rannten los, also schloss Ursula sich ihnen an.

»Miaaa, protestierte ihr Kätzchen und krallte sich an ihrer Schulter fest.

»Oh, Pollux!«, krächzte Loquax, ihr sprechender Vogel, und flatterte von ihrer anderen Schulter hinunter. Auch er hatte sich an der Ernte beteiligt – allerdings war keines der Körner, die er aufgepickt hatte, in einem Sack gelandet.

Als sie den Bach erreichten, sah Ursula einige Jungen, die mit dem Rücken zu ihr standen.

»Was ist los?«, fragte sie auf Britannisch. »Was ist denn passiert?«

»Der älteste Römerjunge«, antwortete Bellator lachend, ohne sich umzudrehen. »Er ist in den Bach gefallen!«

»Wir haben ihm einen Streich gespielt und ihn dazu gebracht, in den Totenwald zu gehen!«, kicherte Bruvix. »Wir haben ihm gesagt, das Kätzchen seiner Schwester wäre …« Er drehte sich um und erstarrte, als er Ursula erblickte. Sie sah, wie sein Blick zu Mia auf ihrer Schulter wanderte.

»Oh, da ist es ja!«, rief er mit unnatürlich lauter Stimme. »Schau, Fronto! Das Kätzchen war doch die ganze Zeit bei deiner Schwester. Bellator muss sich getäuscht haben.«

Die Jungen fingen erneut an zu lachen.

Wütend schob sich Ursula zwischen ihnen hindurch und sah, dass ihr ältester Bruder knietief im Bach stand. Sein lockiges Haar war triefend nass und auch sein langer brauner Umhang hatte sich voll Wasser gesogen. Neben ihm lag der moosige Baumstamm schief im Wasser. Fronto musste abgerutscht sein.

Die Augen ihres Bruders waren weit aufgerissen, und Ursula sah, wie sich seine Brust hob und senkte, während er nach Luft schnappte. Er sah nicht wütend, sondern ängstlich aus.

»Druide!«, rief er aus. »Ich habe im Totenwald einen Druiden gesehen!«

»Was hast du gesehen?« Bruvix klang eher spöttisch als beunruhigt.

»Einen Druiden!«, keuchte Fronto erneut. »Ich habe einen Druiden im Totenwald gesehen!«

»Druide im Totenwald!«, wiederholte Loquax und ließ sich flatternd auf Ursulas freier Schulter nieder. »Druide im Totenwald!«

Auch darüber mussten die britannischen Jungen lachen. Einige begannen, im Chor zu singen: »Druide im Totenwald!«

»Es gibt keine Druiden mehr!«, rief Bruvix. »Das haben wir uns bloß ausgedacht!« Er lachte noch lauter und schlug sich auf die Oberschenkel.

»Dann muss es ein Geist gewesen sein!«, entgegnete Fronto. »Ich habe einen Mann mit spitz abstehenden Haaren und einem Bart aus Schlangen gesehen …« Seine Stimme verlor sich, und Ursula sah, wie seine dunkle Haut noch dunkler wurde. Er ließ die Schultern hängen, als er bemerkte, dass die anderen sich über ihn lustig machten. Obwohl sie fünf Jahre jünger war als Fronto, hatte Ursula das Gefühl, ihn beschützen zu müssen.

»Fronto«, sagte sie und trat einen Schritt vor. »Jetzt komm erst mal aus dem kalten Wasser raus, sonst bekommst du noch Fieber.«

Sie ging ans Ufer des Baches und streckte ihre Hand aus. Einer der britannischen Jungen schloss sich ihr an und hielt Fronto ebenfalls eine Hand entgegen. »Bruvix macht immer solche Sachen«, murmelte Vindex leise. »Mich hat er auch schon mal so reingelegt.«

Fronto watete auf sie zu und reichte ihnen seine triefend nassen Hände. Zusammen halfen Ursula und Vindex ihm, ans Ufer zu treten.

»Komm mit zurück zum Rundhaus, Fronto.« Ursula drückte die zitternde Hand ihres Bruders. »Wir setzen dich ans Feuer und trocknen deine Sachen.«

»Nicht so schnell.« Bruvix versperrte ihnen den Weg. »Wo ist mein Bogen? Und wo sind meine Pfeile?«

Fronto ließ den Kopf hängen. »Ich habe den Bogen im Totenwald fallen lassen. Und die meisten Pfeile liegen im Wasser.«

Bruvix trat vor. »Dann angelst du sie mal besser wieder raus!«, rief er und stieß Fronto zurück in den Bach.

Alle brachen in erneutes Gelächter aus, nur Bouda, Ursula und Vindex nicht. Bruvix lachte von allen am lautesten.

Heiße Wut stieg in Ursula hoch. »Du gemeines Scheusal!«, rief sie und versetzte Bruvix mit voller Wucht einen Schlag vor die Brust. Er taumelte rückwärts und stürzte mit einem lauten Platsch neben Fronto ins kalte Wasser des Flusses.

Kapitel vier

focuS

Fronto hatte sich trockene Tuniken übergezogen und war in weiche Fellschuhe geschlüpft. An der Feuerstelle im Rundhaus des Dorfältesten rieb er sich gerade mit einem Leinentuch die Haare trocken, als Vindex eilig auf ihn zutrat.

»Dallara will dich sehen!«

»Dallara, die weise Frau des Dorfes?«, fragte Ursula. Sie saß neben ihrem Bruder und trocknete Mia das Fell. Die kleine Katze hatte einen gehörigen Schwall Wasser abbekommen, als Bruvix im Bach gelandet war.

Vindex nickte. Seine Miene war ernst, aber in seinen Augen funkelte ein Lächeln.

Fronto legte das Leinentuch ab und sagte: »Du bist einer der Jungen, die mich reingelegt haben.«

»Ich wusste nicht, dass sie dich auf den Arm nehmen wollten!«, beteuerte Vindex. »Bruvix und Bellator haben uns andere genauso zum Narren gehalten.«

»Warum funkeln deine Augen dann so?«

Vindex zuckte mit den Schultern. »So sind meine Augen nun mal!«

»Er sagt die Wahrheit«, warf Ursula ein. »Er war der Einzige, der nicht gelacht hat, als Bruvix dich ins Wasser gestoßen hat.«

Vindex senkte seine Stimme. »Bruvix hasst dich, weil er und Bellator damals auf die Kinder aufpassen sollten, als sie verschleppt worden sind. Und weil du herumsitzt und Brot und Honig isst, während der Rest von uns arbeiten muss.«

»Aber dein Großvater hat gesagt, ich könne im Haus bleiben, wenn ich das möchte«, protestierte Fronto.

»Ich weiß«, sagte Vindex. »Jetzt komm. Ich zeige euch den Weg zu Dallara.« Er zog Fronto auf die Füße und streckte die Hand nach Ursula aus.

»Mich will sie auch sehen?«, fragte sie verblüfft.

»Ja«, erwiderte Vindex. »Euer Bruder und Bouda sind bereits bei ihr.«

Fronto und Ursula tauschten einen Blick. Sie lebten seit zweieinhalb Wochen im Dorf, aber die geheimnisvolle weise Frau, die im merkwürdig geschmückten Haus der Frauen lebte, hatten sie bislang noch nicht zu Gesicht bekommen.

»Wird sie uns fortschicken?«, fragte Fronto. Er wusste, dass selbst der Dorfälteste Dallara gehorchen musste.

»Das glaube ich nicht«, antwortete Vindex. »Hast du wirklich jemanden im Totenwald gesehen?«, fügte er leise hinzu.

»Ja«, erwiderte Fronto und tippte, bevor er hinaustrat, gegen die Tür.

»Sah er aus wie eine riesige Figur aus geflochtenen Haselnussästen?«

»Nein«, sagte Fronto. »Es war ein echter Mann, mit weißen, spitz abstehenden Haaren und …« Er unterbrach sich. Hatte er wirklich blaue Schlangen dort gesehen, wo eigentlich der Bart sein müsste?

Draußen hatte es zu regnen begonnen, aber der Überhang des Strohdaches gewährte den Kindern Schutz. Als sie das Haus etwa zu einem Drittel umrundet hatten, folgten Ursula und Fronto Vindex über ein Stück nassen Rasen zu einem der kleineren Häuser hinüber. Auf dessen Wand waren schwarze Ranken gemalt worden, als wäre eine Art magischer Wein daran hinaufgewachsen.

Der Schädel eines Schafbockes mit vier Hörnern stierte über der Eingangstür düster auf sie herab. Fronto schlug das Zeichen gegen alles Böse und berührte beim Eintreten gewissenhaft den Türrahmen: rechts, links, rechts.

Das Feuer in der Mitte des kleinen Rundhauses warf seinen flackernden Schein auf mehrere Frauen, die links an der Wand saßen und etwas in einem Mörser zerrieben, das einen stechenden Geruch absonderte. Auf der rechten Seite erhaschte Fronto einen Blick auf ein Mädchen, das mit Fellen zugedeckt war und schlief. Und erhöht vor der Wand direkt gegenüber saß eine uralte Frau. Sie hob ihren Kopf und winkte Fronto und Ursula mit einer klauenartigen Hand zu sich.

Beim Näherkommen sah Fronto, dass sie in eine blau, gelb und grün karierte Decke eingewickelt war – die Farben der Belger. Neben ihr saßen bereits sein Bruder Juba und die hübsche Bouda. Juba stand auf. Er hatte dasselbe schwarze Haar, dieselbe braune Haut und dieselben grüngrauen Augen wie Fronto, aber er war dünner und jünger.

Bouda schaute Fronto mit ihren katzenartigen grünen Augen an. Er erinnerte sich an ihren abschätzigen Blick, als er in dem Bach gestanden und erzählt hatte, dass im Totenwald ein Druide gewesen war. Sein Gesicht begann zu glühen.

»Fronto, Ursula, kommt und setzt euch an meine Seite«, sagte die alte Frau auf Britannisch. Sie deutete auf ein Schafsfell rechts von ihr. »Vindex? Du bleibst auch. Ich habe von fünfen geträumt.«

Die drei setzten sich rechts neben die alte Frau. Da Fronto ihr am nächsten war, konnte er erkennen, dass ein seltsamer grauer Film ihre blauen Augen bedeckte. Ihr Blick ging starr geradeaus, und er begriff, dass sie blind war.

»Leg dir diesen Biberpelzmantel um, Fronto.« Die Stimme der alten Frau war brüchig, aber stark. »Ich höre, wie du mit den Zähnen klapperst.«

Fronto fand den zusammengefalteten Biberfellumhang und legte ihn sich über die Schultern. Es war der weichste Pelz, den er je berührt hatte, und er war herrlich warm.

»Ich habe gerade mit eurem Bruder Juba gesprochen«, sagte Dallara. »Der Barde hat mir eure Geschichte vorgesungen, wie ihr aus dem Land der Römer in unser Dorf gekommen seid. Dann habe ich in der vergangenen Nacht von fünf Fremden geträumt. Wart ihr zu fünft?« Sie griff nach Boudas Hand und hielt sie hoch. »Ich weiß nur von dieser hier und euch dreien. Aber wer ist der fünfte?«

Fronto schaute seinen Bruder und seine Schwester an. Wovon redete die alte Frau?

»Vielleicht meint Ihr Castor«, sagte Ursula. »Er ist ein reicher römischer Junge, der ein wenig älter ist als Juba. Ihm gehörte das Schiff, das uns hierher nach Britannien gebracht hat.«

Bouda fügte hinzu: »Er sucht seinen Bruder, der als Säugling entführt wurde.«

»Vielleicht ist er der fünfte«, sagte die alte Frau. »Wenn es so ist, werden sich eure Pfade wieder kreuzen.« Sie legte den Kopf schief in Ursulas Richtung. »Bist du das Mädchen, das mit einem Kätzchen auf der einen und einem sprechenden Raben auf der anderen Schulter herumläuft?«

»Er ist kein Rabe«, entgegnete Ursula höflich. »Aber er spricht. Nicht wahr, Loquax?«

»Ave, Domitian!«, krächzte Loquax.

»Darf ich dein Kätzchen halten?« Die alte Frau streckte ihre knochigen Hände aus und Ursula setzte Mia hinein.

»Miaaa«, maunzte Mia.

Die alte Dallara streichelte das Kätzchen. »Ursula, du hast die Gabe von Fell und Federn.«

Ursula schaute Dallara stirnrunzelnd an und öffnete den Mund, doch bevor sie etwas erwidern konnte, fuhr die alte Frau fort: »Fronto, bist du der Junge, der in den Totenwald gegangen ist?«

»Ja. Einige Jungen hatten mir gesagt, das Kätzchen meiner Schwester wäre hineingelaufen. Sie haben gelogen.«

»Wie kommt es, dass ihr drei unsere Sprache sprecht?«

»Castor – der Junge, dem das Schiff gehört hat, auf dem wir hergekommen sind – hat uns gezwungen, auf der Reise nur Britannisch zu sprechen«, antwortete Fronto. »Die Besatzung stammte aus Britannien«, fügte er hinzu.

Die alte Frau gab Mia an Ursula zurück und umfasste Frontos Hand. Die Haut über ihren Knochen war weich und kühl und übersät mit blassbraunen Flecken.

»Ah!«, sagte sie. »Die Hornhaut der Seeleute auf einer weichen Hand. Und ich erkenne auch, dass du ein Mensch des Wassers bist. Du brauchst das Feuer der Disziplin, um dich zu veredeln.«

»Ja«, seufzte Fronto. »Mein Vater hat mir immer gesagt, ich wäre …« Er zögerte und sagte schließlich auf Latein: »Phlegmatisch.«

»Das Wort kenne ich nicht.«

»Es heißt, dass das Wasser mein Element ist. Es heißt, ich nehme alles leicht und bin manchmal faul. Ich kann gut folgen, aber nicht führen.«

»Und doch bist du der Älteste?«

Fronto warf seinem Bruder einen Seitenblick zu. Juba hockte mit verschränkten Beinen auf Dallaras anderer Seite und hörte aufmerksam zu. »Jetzt bin ich der Älteste«, sagte er. »Früher hatten wir noch einen älteren Bruder. Er ist aber mit sechs Jahren an einem Fieber gestorben.«

»Ah! Das erklärt, warum du nicht den Geist des Ältesten in dir trägst. Sag mir noch einmal, was euch hierher geführt hat. Der Bericht deines Bruders reichte nur bis zu einem Hafen namens Ostia.«

In holprigem Britannisch erzählte ihr Fronto, wie sie sechs Wochen auf einem Handelsschiff verbracht hatten, das von Ostia nach Britannien gesegelt war, um den Soldaten zu entkommen, die ihnen der Kaiser Domitian auf die Fersen gesetzt hatte.

»Wollt ihr mir sagen, dass der mächtigste Mann der bekannten Welt euer Feind ist?«