Im Text wurde nicht durchgängig die männliche und weibliche Sprachform verwendet, sondern vorwiegend das generische Maskulinum. Dies ist einzig und allein der besseren Lesbarkeit geschuldet und keinesfalls als mangelnde Wertschätzung der Leserinnen zu verstehen.

Vorwort

 

Wir alle wissen aus eigener Erfahrung, wie gut es sich anfühlt, wenn uns Anerkennung und Achtung entgegengebracht werden, wenn wir positive Zuwendung, Lob und Dankbarkeit erfahren. Dennoch hat Wertschätzung im Lauf der letzten Jahrzehnte einen Kurssturz erlitten. Der Umgang der Menschen miteinander ist unfreundlicher und rauer geworden. Beleidigungen und Bloßstellungen sind an der Tagesordnung. Toleranz und Solidarität sind keine prägenden gesellschaftlichen Werte mehr. Diese Entwicklung ist eine Folge der Vorherrschaft von Leistung und Profit sowie der Überbetonung von Individualität. Nicht zuletzt fördern die Digitalisierung fast aller Lebensbereiche und die Anonymität der Einzelnen im World Wide Web das schlechte Klima. Allerdings scheint es mir, dass der Wind sich gerade dreht, dass die Sehnsucht nach mehr Wertschätzung wächst.

Diese Tendenz möchte ich unterstützen, da ich aus meiner vieljährigen psychotherapeutischen und kriminalpsychiatrischen Erfahrung weiß, welch großen Schaden Kränkungen und mangelnde Wertschätzung anrichten können. Ich freue mich, wenn ich nach zahlreichen Publikationen über Krankes und Böses einen kleinen Beitrag dazu leisten kann, dass Wertschätzung wieder mehr wertgeschätzt wird. Dafür sind keine großartigen therapeutischen Maßnahmen und ausgefeilten theoretischen Konzepte nötig, denn schließlich wissen und spüren wir alle, worum es geht – um ein elementares menschliches Grundbedürfnis. Ich möchte Sie, liebe Leserinnen und Leser, mit diesem Buch bei der Entwicklung einer neuen Wertschätzungskultur begleiten. Das Besondere an der Sache ist: Sie selbst werden am meisten davon profitieren!

 

Reinhard Haller

Der Mensch – das empathiebedürftige Wesen

»Das Gefühl kann viel feinfühliger sein als der Verstand scharfsinnig.«

VIKTOR FRANKL

Der Mensch ist von Anfang an – seit es ihn auf der Erde gibt und bereits im Mutterleib – auf positive Zuwendung angewiesen. Sein Wesen wird ein Leben lang beherrscht von einem Urbedürfnis nach all dem, was in dem Begriff Liebe enthalten ist. Ohne die drei großen Z – Zuwendung, Zärtlichkeit, Zeit – ist eine gesunde psychische Entwicklung nicht möglich. Wenn Eltern ihren Kindern mit Fürsorge und Liebe begegnen, fördern sie deren Selbstwertgefühl. Je beschützter sich ein Kind fühlt, desto höher wird seine Selbstsicherheit sein, und je tiefer es seine Geborgenheit empfindet, desto empathischer fallen später die eigenen Gefühlsreaktionen aus.

Durch vorgelebte Zuwendung und Zärtlichkeit bieten die Bezugspersonen und Erzieher ein Vorbild für anteilnehmendes Verhalten. Diese Erfahrungen wurden wissenschaftlich durch die »Bindungstheorie« und durch das »Lernen am Modell« empathischer Eltern bestätigt. Beide Ansätze beruhen auf einer emotional getragenen Sichtweise auf die Eltern-Kind-Beziehung. Nach der für die Kinder- und Entwicklungspsychologie sehr befruchtenden Bindungshypothese ist jedem Menschen das Bedürfnis nach engen und emotional tief gehenden Beziehungen zu anderen angeboren.

Für das menschliche Individuum können positive Feedbacks, Anerkennung und Wertschätzung auch im Verlauf des weiteren Lebens von existenzieller Bedeutung sein. Wenn ihm diese emotionalen Zuwendungen vorenthalten werden, kommt es nahezu regelhaft zu Krisen. Auf Dauer leiden Selbstwert und Selbstsicherheit, das Vertrauen in sich und andere schwindet, Gefühle der Enttäuschung und des Zweifels nehmen überhand. Das zeigt eindrücklich das folgende Beispiel. Der Vorname ist – wie in allen anderen Geschichten auch – geändert.

Die 300-Euro-Katastrophe

Am Morgen eines jener Herbsttage, die man als golden bezeichnet, stürzte der etwa 50-jährige Martin unangemeldet in mein Büro, völlig aufgelöst und bis auf Brusthöhe durchnässt. Unten im Tal, wo noch Nebel lag, wollte er sich das Leben nehmen und ging – er war Nichtschwimmer – ins Wasser. Wie im Drehbuch eines kitschigen Films rissen im letzten Moment die Schwaden auf, und der Blick des weit im Fluss stehenden Mannes fiel auf unser von der Morgensonne bereits angestrahltes Krankenhaus, das auf halber Bergeshöhe steht. Dorthin wollte er vor dem Abschied noch gehen, um vielleicht doch einen Ausweg zu finden.

Martin litt an keinen Alkohol- oder Drogenproblemen, keiner Spielsucht und keinen sonstigen psychischen Erkrankungen, nicht einmal an Burn-out oder Angstzuständen. Er war körperlich kerngesund und hatte auch früher nie mit psychischen Problemen zu kämpfen. Seine Partnerschaft war intakt, mit den Kindern gab es keine Schwierigkeiten. Er lebte in wohlhabenden Verhältnissen, hatte eine schöne und sichere Stelle und blickte in eine sorgenfreie Zukunft. Martin fehlte es an nichts. In seinem Leben gab es nur ein einziges Problem: Am vergangenen Jahreswechsel wurden in seiner Firma Bonuszahlungen in der Größenordnung von 300 Euro an verdienstvolle Mitarbeiter verteilt. Nicht aber an ihn. Ohne Begründung. Er hätte das Geld gar nicht gebraucht, das Ganze war eine Kleinigkeit, kein Mensch machte sich deswegen Gedanken oder redete darüber. Er aber begann zu grübeln. Weshalb die anderen, wieso nicht auch ich? Ist die Führungsetage mit mir nicht zufrieden? Mag man mich nicht? Ist das nicht eine Ungerechtigkeit sondergleichen? Er wollte die Vorgesetzten zur Rede stellen, seine Enttäuschung allen kundtun, die »Sauerei« hinausschreien. Aber er traute sich nicht, es war ja eine Bagatelle, es war ja peinlich, mit so etwas nicht fertigzuwerden und seine Betroffenheit zu zeigen.

Niemandem erzählte Martin von seinem Frust, nicht einmal seiner Frau, er behielt die Kränkung ganz für sich. Er begann zu zweifeln, an der Welt und an sich, war unfähig, sich von den bedrückenden Gedanken zu lösen. Bald konnte er nicht mehr schlafen, er wurde grüblerisch und freudlos. So wollte er nicht mehr leben, der Zermürbungsprozess nahm seinen Lauf und führte Martin zunächst in den Fluss und schließlich in mein Büro.

In dieser Geschichte ist viel von dem enthalten, was fehlende Wertschätzung auslösen kann: Angst vor Liebesverlust, Verletzung des Gerechtigkeitsempfindens, Gefühl der mangelnden Anerkennung – und verheerende Folgen durch eine scheinbare Kleinigkeit. Als besonders kränkend empfand Martin, dass ihm niemand eine Erklärung gegeben und keiner seine Kränkungsreaktion bemerkt hatte. Und da er sich niemandem mitteilte, lief der ganze dramatische Prozess in seiner inneren Welt ab und blieb später ein Geheimnis zwischen Patient und Therapeut. Deshalb darf dieses eindrucksvolle Beispiel über die Folgen unterlassener Wertschätzung und die Macht der Kränkung mit Erlaubnis des Betroffenen überhaupt erzählt werden. Heute geht es Martin nach erfolgreicher Therapie wieder sehr gut. Seine Geschichte zeigt aber, welch lebensbedrohliche innerpsychische Vorgänge sich – unbemerkt von der heilen Welt – hinter der Fassade eines intakten bürgerlichen Lebens abspielen können.

Worauf können wir Menschen nun zurückgreifen, wenn wir uns wertschätzend verhalten wollen?

Unsere emotionale Grundausstattung

Die Fähigkeit, sich in andere einzufühlen, ihre Empfindungen und Gedanken zu erspüren sowie ihre Bedürfnisse und Motive nachzuvollziehen, also die Empathie, unterscheidet den Menschen von anderen Geschöpfen und von Maschinen.

Der Mensch ist nicht nur ein denkendes und handelndes, ein rationales und sprechendes, ein aggressives und spielendes, ein kommunikatives und transzendentales Wesen, er ist vor allem auch ein emotionales und empathisches Wesen.

Durch sein ganzes Leben bleibt der Mensch ein liebes- und liebensbedürftiges Wesen, das heißt, er will Zuwendung und Anerkennung nicht nur empfangen, sondern auch an andere weitergeben. Um diese spezifisch menschlichen Bedürfnisse erfüllen zu können, um aktive und passive Emotionalität zu vereinen, muss er in sich selbst hineinhorchen und sich in andere hineinfühlen können. Grundvoraussetzung der Empathie ist die Selbstempathie, denn die Bewertung fremder Innenwelten hängt ab von den eigenen Gefühlen, Einstellungen und Werten.

Zur Empathie gehört auch, das Innenleben anderer überhaupt wahrnehmen zu können. Erst damit gelingt es, Denken, Fühlen und Motivation anderer Personen sowie deren Wesensart zu erkennen, zu verstehen und darauf mitfühlend zu reagieren. Nach einer Definition der deutschen Psychologin Lena Funk1 umfasst Empathie »das nicht wertende Eingehen und echte Verständnis der Mitmenschen, egal welcher Herkunft oder Meinung«. Empathie sensibilisiert den Menschen für die Gefühlslage anderer, sodass er deren Überlegungen und Bedürfnisse zumindest ein Stück weit nachempfinden kann. Je differenzierter und tiefer dies möglich ist, desto empathischer ist ein Mensch. Ein Gefühlsaustausch zwischen Individuen setzt voraus, sich jeweils in die Haut des anderen versetzen zu können, sodass »ich fühle, wie du fühlst«.

Der Begriff der Empathie, der vom griechischen Wort für »Leidenschaft« oder »intensive Gefühlsregung« herrührt, tauchte in der Philosophie erstmals bei dem deutschen Philosophen Rudolph Hermann Lotze (1817–1881) auf. Später wurde Empathie im Sinne der »Einfühlung als innerpsychischer Prozess« verwendet.

Verschiedene Künstler beschäftigten sich mit der Empathie als Möglichkeit, die Bedeutung ästhetischer Objekte zu erfassen.

Eine besonders interessante Interpretation des Empathiebegriffs stammt von der britischen Schriftstellerin Violet Paget (1856–1935), welche vom Phänomen der Identifikation fasziniert war und sich auch mit der Besessenheit auseinandergesetzt hat. Bezeichnenderweise publizierte sie ihre fantastische Literatur unter einem Pseudonym, dem Namen Vernon Lee. Unter der Vorstellung, dass die Persönlichkeit durch die Identitäten Verstorbener geformt werden kann, beschrieb Paget Empathie als »Projektionen unserer Energien, Handlungen und Gefühle«.

Die heutige Bedeutung hat der Empathiebegriff im Wesentlichen durch Sigmund Freud (1856–1939) erhalten, der das Einfühlen in andere als Möglichkeit der Erkundung all dessen definierte, was dem eigenen Ich fremd ist. Aus der Kinderpsychologie stammt die Erkenntnis, dass der Mensch erst zwischen dem 5. und 9. Lebensjahr fähig ist, eine andere Perspektive zu übernehmen und dadurch empathisch zu werden.

Richtigen Aufschwung erhielt das Konzept der Empathie durch den amerikanischen Psychologen und Psychotherapeuten Carl Rogers (1902–1987), den Hauptvertreter der Humanistischen Psychologie. In der von ihm entwickelten klientenzentrierten Psychotherapie gilt die Einfühlung – neben bedingungsloser Wertschätzung und Echtheit des Verhaltens – als wichtigstes Element aller therapeutischen Prozesse. Der Therapeut soll Erlebensweise und Probleme seines Klienten aus dessen Sicht einfühlsam verstehen und seine Eindrücke mit ihm in wahrhaftiger Form kommunizieren. Dadurch kann sich der Hilfe suchende Mensch seiner eigenen Person wertschätzend zuwenden und an der Stärkung seiner Persönlichkeit arbeiten.

Voraussetzung für empathisches Verhalten, darin sind sich alle psychotherapeutischen Richtungen einig, ist die Selbstwahrnehmung. Ohne Kenntnis der eigenen Emotionen ist es gar nicht möglich, jene anderer Menschen zu erfühlen. Je besser wir die eigenen Gefühle und inneren Abläufe erspüren können, desto sensibler werden wir für Empfindungen, Emotionen und Gedanken anderer sein.

Spätestens seit der frühere amerikanische Präsident Barack Obama im Jahr 2006 in einer Rede an der Northwestern University von Chicago von einem »Empathiedefizit unserer heutigen Gesellschaft« gesprochen hat, wird das Thema ernst genommen und hat sich weit über die Psychotherapie und Pädagogik hinaus etabliert. Heute ist der Empathiebegriff aus psychologischen, theologischen und politischen Schriften und Reden nicht mehr wegzudenken. Darüber hinaus hat er sich in Bezug auf Kunden und Mitarbeiter auch in den Bereichen Marketing und Management etabliert.

Humanistische Psychologie

Unter Humanismus ist eine geistige Strömung zu verstehen, deren Kern darin besteht, den Menschen als lern- und entwicklungsfähig zum Besseren hin zu betrachten. Die Humanistische Psychologie, insbesondere die im Wesentlichen von Carl Rogers entwickelte klientenzentrierte Psychotherapie, baut auf dieser Grundhaltung auf. Rogers geht davon aus, dass der Mensch die Fähigkeit besitzt, sich selbst zu verstehen und sich ein Bild von sich selbst zu machen. Dieses »Selbstkonzept« kann er oder sie dann aber immer wieder verändern und vervollkommnen. Das wird vor allem dann nötig, wenn ein solches Konzept durch plötzliche Ereignisse (zum Beispiel Verlust des Arbeitsplatzes, Tod eines nahestehenden Menschen) oder äußere Veränderungsprozesse (Älterwerden, gesellschaftlicher Wandel) erschüttert wird. In solchen Fällen kommt dem Veränderungspotenzial des Menschen ein heilender Charakter zu, und an diesem Punkt setzen die Humanistische Psychologie und die auf ihr aufbauenden Therapieformen an. Sie unterstützen dabei, die eigenen psychischen Selbstheilungskräfte zu aktivieren und einzusetzen.

Mitleid – eine ganz besondere Form der Empathie

Empathie ist, obwohl die Begriffe oft gleichsinnig verwendet werden, nicht ganz dasselbe wie Mitleid, diesem in seiner positiven Ausrichtung aber sehr ähnlich. Während sich Mitleid auf traurige Schicksale, belastende Zustände und bedrückende Emotionen bezieht, umfasst der neutralere Oberbegriff der Empathie alle Arten der Emotionalität, also auch Freude und Euphorie oder Ärger und Neid. Mitleid drückt in erster Linie Sorge, Anteilnahme und Kummer aus und ist deshalb als empathische Reaktion auf entsprechende Situationen zu sehen. Empathie hingegen befähigt uns auch zur Mitfreude oder dazu, den Ärger von jemandem nachzuvollziehen.

Allerdings wird das Mitleid, welches im Zusammenhang mit Moral und Ethik in allen Religionen große Bedeutung hat, recht unterschiedlich beurteilt. Teilweise gilt es als ethisch neutrales Gefühl, manchmal als reine »Gefühlsansteckung«, für andere wiederum als Grundlage der Moral oder als einzige Form der Liebe. Teilweise wird Mitleid aber auch sehr kritisch betrachtet, insbesondere in manchen philosophischen Richtungen.

Viele kluge Köpfe haben sich Gedanken über das Mitleid gemacht. Im Zusammenhang mit dem Thema Wertschätzung ist sie als besondere und besonders wichtige Form der Empathie einzustufen.

Die stoische Philosophie etwa lehnt mit ihrer Distanzierung von allen Affekten (Gefühlsäußerungen) auch das Mitleid ab, da man jedem Unglück, dem eigenen wie dem fremden, emotionslos begegnen müsse. Die christlichen Philosophen des Mittelalters dagegen sehen im Mitleid die entscheidende Vorstufe der Barmherzigkeit und einen Hauptbestandteil der Nächstenliebe. Andere Philosophen beurteilen das Mitleid als eine Art der Trauer negativ. Der als großer Theoretiker des Mitleids geltende Arthur Schopenhauer (1788–1860) kommt dem psychologischen Verständnis von Mitleid sehr nahe, wenn er es als ursprüngliches menschliches Gefühl interpretiert. Da es ein Gegengewicht zum Egoismus darstelle und eine Identifikation mit allen leidensfähigen Wesen ermögliche, sei es als Grundlage der Moral geeignet. Schopenhauers Überlegungen haben heute übrigens Eingang in die Tierethik gefunden und bilden gewissermaßen ein theoretisches Gerüst für den Tierschutz beziehungsweise den wertschätzenden Umgang mit anderen Kreaturen.

Der bekannteste Mitleidsgegner ist wohl Friedrich Nietzsche (1844–1900), der Mitleid als »Bedürfnis der Unglücklichen« bezeichnet. Denn mitleidsvolle Menschen wollen nach seiner Ansicht ihre eigenen Schwächen überspielen und durch Demonstration ihres Leidens Macht über andere gewinnen.

Im Kontext der Wertschätzung hat der Mitleidsbegriff hohen Stellenwert. Hier ist er nicht neutral oder gar negativ zu betrachten, sondern in seiner mitfühlenden, seiner im wahrsten Sinn des Wortes mitleidenden, seiner eigentlich menschlichen Bedeutung zu verstehen. Es gilt das Wort des Kirchenlehrers Augustinus (354–430): »Was aber ist Mitleid anderes als das Mitempfinden fremden Elends in unserem Herzen, durch das wir jedenfalls angetrieben werden, zu helfen soweit wir können?«

Empathie kann übrigens auch nicht mit Sympathie gleichgestellt werden. Denn Sympathie setzt, wie der Name sagt (»sym« bedeutet »mit«), Gleichartigkeit im Fühlen und Empfinden, auch in der Einstellung und im Bewerten voraus. Empathie hingegen ist neutral, sie erfordert nicht von vornherein eine Übertragung eigener positiver Erwartungen oder Gefühle auf die andere Person.

Einfühlen, eindenken, einleben – Konzepte der Empathie

Wissenschaftlich wird die Empathie nicht als Emotion im eigentlichen Sinne, sondern als Reaktion auf die von uns wahrgenommenen Gefühle anderer Menschen interpretiert. Im Wesentlichen haben sich in der Forschung verschiedene Konzepte durchgesetzt, welche in einer gewissen Gegenposition zueinander stehen. Alle diese Ansätze, von denen ich drei im Folgenden vorstelle, enthalten im Kern jedoch einen Wertschätzungsaspekt.

  1. Emotionale Empathie oder emotionale Sensitivität bezieht sich auf das Mitgefühl, auf die Fähigkeit, in derselben Weise wie ein Gegenüber zu fühlen. Manche Forscher bezeichnen diese Form, die besonders in der Pädagogik und Psychotherapie im Zentrum steht, als authentische Empathie.
  2. Kognitive Empathie hingegen zielt auf Gedanken, Motive und Urteile anderer Menschen ab. Sie betrifft die Fähigkeit, sich in die Ideenwelt und geistige Perspektive des Gegenübers zu versetzen. Deshalb wird sie in Werbung und Verhandlungstechniken, in Mitarbeiterschulungen und im Management besonders vermittelt. Mit dem Forschungsansatz der kognitiven Empathie wurde das Modell der Identitätsbalance entwickelt, welches unter anderem in der Führungspsychologie von Bedeutung ist. Mit ihrer Hilfe soll es gelingen, ein Gleichgewicht zwischen der eigenen Identität und der anderer Individuen herzustellen. Kommunikation gelingt, wenn Bedürfnisse anderer berücksichtigt werden, ohne dass die eigenen zu kurz kommen. Um dies zu erreichen, ist Empathie erforderlich.
  3. Soziale Empathie soll es schließlich ermöglichen, Werte und Wesen von Menschen unterschiedlicher Kulturen zu erfassen, um einen toleranten und konstruktiven Umgang zu garantieren. Wenn im Zeitalter der großen Migrationsbewegungen, in dem wir leben, über den Empathiemangel der Politiker geklagt wird, ist diese Form der sozialen Kompetenz gemeint.

Da die Empathie mehr als eine Emotion ist und sich ein so komplexes und vielschichtiges Phänomen ohnehin nicht restlos erfassen lässt, ist die im Wissenschaftsbereich sinnvolle Abgrenzung in der Realität des psychischen Lebens nicht möglich. Die Übergänge zwischen emotionaler, kognitiver und sozialer Empathie sind fließend, und die Bereiche überschneiden sich. Echte Empathie wird alle drei Aspekte enthalten, wobei für die Wertschätzung der emotionale Teil am wichtigsten ist.

Zeigt sich Empathie in Genen und Gehirn?

In der etablierten Wissenschaft haben erst die Ergebnisse der Gen- und Hirnforschung dem Empathiethema zum Durchbruch verholfen. Letzterer ist es gelungen, im zentralen Nervensystem mehrere Regionen zu identifizieren, welche für das Einfühlungsvermögen zuständig sind. Das im Großhirn gelegene sogenannte Brodmann-Areal 44 sei für die emotionale Empathie maßgebend, die Areale 10 und 11 für die kognitive Empathie. Auch unterschiedliche Aktivitäten in der vorderen Hirnrinde und in den für die Emotionen zuständigen Amygdala-Kernen beeinflussen die Empathie.

Am populärsten geworden sind die Forschungen über die Spiegelneurone, also jene hochdifferenzierten Hirnzellen, welche uns vermitteln können, wie andere fühlen. Dazu passend ließ sich mithilfe der funktionellen Kernspintomografie nachweisen, dass Einfühlen in andere im Hirn dieselben Reaktionen auslöst wie das Wahrnehmen eigener Gefühle. Schon das Beobachten eines leidenden Gesichtsausdrucks aktiviert somit dieselben Hirnareale wie persönliches Leidensgefühl.

Vor Kurzem konnten amerikanische und chinesische Forscher einen Einfluss des für das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin zuständigen Gens auf empathisches Verhalten nachweisen. Dieses Hormon wird unter anderem beim Geburtsprozess ausgeschüttet und sorgt für die enge Beziehung zwischen Mutter und Kind. Damit lässt sich auch der geschlechtsspezifische Unterschied, wonach Frauen empathischer als Männer sind, nachvollziehbar erklären.

Kann man Empathie messen?

Von wissenschaftlicher Seite wurde ferner versucht, Art und Ausprägungsgrad der Empathie durch testpsychologische Messinstrumente beziehungsweise -methoden zu erheben. Wenngleich derartige Untersuchungen nur Teilaspekte der nicht wirklich messbaren Empathie liefern können, haben sie doch interessante Detailergebnisse erbracht. So konnte nachgewiesen werden, dass Empathie mit der Höhe der Intelligenz, der kognitiven Leistungsfähigkeit, mit den rhetorischen Fähigkeiten und mit der emotionalen Stabilität positiv korreliert, das heißt, je ausgeprägter eine dieser Eigenschaften, desto größer die Empathiefähigkeit. Empathische Menschen sind in vielen Bereichen intelligenter und in Stimmung sowie Verhalten ausgeglichener als gefühlsarme Personen, was auf die Bedeutung der Gelassenheit im Zusammenhang mit der Wertschätzung hindeutet.

Nach diesen Forschungsergebnissen sei – umgekehrt – fehlende Empathie oft mit Intoleranz, Vorurteilen und Stereotypenbildungen verbunden. Empathiedefizite konnten bei Menschen mit aggressiven Verhaltensweisen und antisozialen Persönlichkeitsstörungen nachgewiesen werden. Interessanterweise mangelt es sadistischen Sexualtätern an kognitiver Empathie, nicht aber an emotionaler Einfühlungsfähigkeit. Das erklärt denn auch die Grausamkeit eines nur scheinbar gefühllosen Sadisten, welcher ganz genau spürt, womit er seine Opfer besonders quälen und erniedrigen kann. Dies zeigt eindrücklich die folgende Fallgeschichte eines Mörders.

Maximaler Schmerz

Ein 47-jähriger Angestellter, nennen wir ihn Fridolin, mehrfach geschieden und zuletzt partnerlos lebend, hatte über das Internet die große Liebe gefunden und zog bald mit seiner neuen Lebensgefährtin und deren fünf Kindern zusammen. Nach zwei Jahren geriet die Beziehung in eine Krise, die Frau wollte sich trennen, er musste den gemeinsamen Wohnsitz verlassen. All seine Versuche, sie wieder zurückzugewinnen, schlugen fehl. Weder mit Bitten und Betteln noch mit Drohungen hatte er Erfolg. Wegen Stalkings wurde er angezeigt und zu einer bedingten Strafe (entspricht in Deutschland etwa der Bewährungsstrafe) verurteilt. An einem Mittag lauerte Fridolin der 16-jährigen Tochter seiner ehemaligen Lebensgefährtin auf, lockte das Mädchen in seinen Pkw und fuhr mit ihr in einen Steinbruch, wo er sie erschlug. Befragt nach seinem Motiv, antwortete er völlig ungerührt: »Es war ihr Lieblingskind, damit konnte ich ihr den maximalen Schmerz bereiten.«

Verschiedene psychische Störungen sind, dies ist eindeutig nachzuweisen, mit Empathiemangel oder -verlust verbunden. Bei psychopathischen Persönlichkeitsstörungen liegt ebenso wie beim krankhaften Narzissmus (siehe > und > bis >) ein Empathiedefizit vor. Delinquentes Verhalten resultiert oft aus fehlender Empathie, und fast alle Kriminalitätsarten werden durch niedrige Empathiefähigkeit der Täter begünstigt.

Auch viele wissenschaftliche Studien belegen die Bedeutung der Empathie für guten mitmenschlichen Umgang. Die am Beginn dieses Buches beklagte emotionale Kälte unserer Gesellschaft ist jedenfalls auf den auch empirisch belegten Rückgang der Empathie, vornehmlich bei der jüngeren Generation, zurückzuführen. Nach einer Untersuchung der Psychologin Sara Konrath von der University of Michigan (2011)2 sind die Empathiewerte innerhalb von 30 Jahren um 40 Prozent zurückgegangen. Dies erklärt die Autorin als Folge der digitalen Revolution und mit einem ersichtlichen Ziel- und Wertewandel, mit Wirtschaftsliberalismus und Ablehnung des Sozialstaates. Da die junge Generation mit gewalttätigen Computerspielen und der scharfen Konkurrenzatmosphäre von Realityshows aufgewachsen sei, habe sie sich gegenüber Gefühlen anderer abgestumpft. Die »Generation Me« sei »selbstzentriert, narzisstisch, konkurrierend und individualistisch« geworden. Die wachsende Selbstwertschätzung sei, so das resignative Resümee, von einer entsprechenden Abwertung der anderen begleitet.