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Elke Ottensmann

Doppelt durchs Leben

Heitere und weitere Geschichten
aus dem Leben eines Zwillingspaares

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Anmerkungen:

ISBN 978-3-7751-7451-0 (E-Book)

Datenkonvertierung E-Book: CPI books GmbH, Leck

© 2019 SCM Hänssler in der SCM Verlagsgruppe GmbH

Die Bibelverse sind alle der folgenden Ausgabe entnommen:

Umschlaggestaltung: Jens Vogelsang,

Die brüderliche Liebe untereinander sei herzlich.

Römer 12,10

Inhalt

Über die Autorin

Von Herzen …

Vorwort

Glückliche Kindheit

Eine große Überraschung

Die Tauffeier

Nestwärme

Das kann doch einen Seemann nicht erschüttern

Die Zwillinge sehen Lungenflügel

Bommeln zum Nachtisch

Der erste Schultag

Werner bleibt stecken

Die Zwillinge bauen eine Falle

Reinhard und Werner finden eine Schlange

Günter wird Soldat

Russen im Garten

Werner und Reinhard hoch zu Ross

Ungebetene Gäste

O Tannenbaum

Haut ab, ihr madiges Zeug!

Reinhard und Werner fangen Mäuse

Werner singt Solo

Reinhard und Werner werden konfirmiert

Die Jugendzeit – Aufbruch und Neubeginn

Aufbruch ins Ungewisse

Der Neubeginn

Reinhard isst Vogelfuttersuppe und Werner radelt über den Blumenteppich

Die Lehrzeit

Werner zu Gast bei Nonnen

Zwei Brüder, ein Käfer und die Musik

Reinhard und Ulrike

Bei mir sind Sie richtig!

Abschiede

Auf den Spuren der Kindheit

Werner kehrt in die Heimat zurück

In Altwasser und Ober-Altwasser

Ein fröhlicher Abend

Eine unglaubliche Geschichte

Dem Himmel entgegen

Anmerkungen

Über die Autorin

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Elke Ottensmann wurde 1968 in Alpirsbach geboren und lebt heute mit ihrer Familie in der Nähe von Kaiserslautern. Sie schreibt am liebsten über das wahre Leben.

Von Herzen …

… danke ich Euch, lieber Papa und lieber Onkel Werner, dass Ihr dieses Buch ermöglicht habt. Bereitwillig und geduldig habt Ihr mir jederzeit meine Fragen beantwortet und aus Eurem Leben erzählt. Immer wieder habt Ihr mir gezeigt, dass wir nie aufgeben sollen, auch wenn es im Leben schwer wird oder anders läuft, als wir es uns wünschen. Rückblickend auf Euer Leben könnt Ihr heute sagen, dass Gott Euch nie in die Irre geführt hat, auch wenn Ihr manchmal nicht wusstet, wie es weitergehen sollte. Trotz mancher Fragen, die für Euch selbst ohne Antwort geblieben sind, habt Ihr Euer Leben stets der Führung und Gnade Gottes anvertraut, habt Euch Eure Dankbarkeit und Euren Humor bewahrt. Ihr werdet mir immer Vorbild sein. Ich habe Euch lieb!

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… auch Euch, liebe Gertrud und lieber Christoph, ein herzliches Dankeschön für Eure Unterstützung beim Recherchieren der Familiengeschichte. Es war eine tolle Idee, während der Reise nach Schlesien und auch an dem fröhlichen Foto-Abend danach das Tonband einzuschalten. Dadurch konnte ich die Zwillinge im Originalton wiedergeben, ohne etwas dazu zu dichten.

… danke, liebe Ulrike, für die wunderbare Zusammenarbeit mit Dir. Du hast mein Manuskript wie immer professionell lektoriert und mich liebevoll auf so manche Fehler hingewiesen. Und wo in meiner Begeisterung der »Gaul mit mir durchgegangen ist«, hast Du mich klug gezügelt und den Text in die richtige Bahn gelenkt.

… nicht zuletzt geht mein Dank an Gott selbst. Während Arthur und Johanna ihr drittes Kind erwarteten, hatte Gott andere Pläne und überraschte sie sehr, als sie bei der Geburt plötzlich doppelt sahen. Und das war gut so, denn sonst gäbe es meinen Papa nicht, und mich ja auch nicht. In seiner unendlich großen Weisheit schuf Gott zwei gleich aussehende Jungen, die seitdem nicht nur unzähligen Menschen Freude bereitet haben, sondern die auch immer füreinander da gewesen sind. In allen Höhen und Tiefen ihres Lebens hatten sie einen Kameraden, auf den sie sich bedingungslos verlassen konnten, und das können sie bis heute.

Vorwort

Geschätzte Leserin, werter Leser,

ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, dass in dem Wort »Zwillinge« zwei Namen stecken, nämlich »Willi« und »Inge«? Bei Willi und Inge bestünde jedoch keine Verwechslungsgefahr, da die beiden mit Sicherheit zweieiige Zwillinge wären. Ganz anders hingegen verhält es sich mit eineiigen Zwillingen, da diese sich häufig ähneln wie ein Ei dem anderen. Mein Vater Reinhard und mein Onkel Werner können ein Lied davon singen; Verwechslungen sind sozusagen ihr ständiger Begleiter. Nicht immer zu ihrer Freude wurden sie noch dazu als Kinder von ihrer Mutter gleich angezogen, was die Verwechslungsgefahr noch erhöhte. Oft gerieten sie dadurch in heitere oder auch merkwürdige Situationen. Obwohl sich ihre Gesichtszüge mittlerweile nicht mehr ganz so ähneln und sie die gleichen Kleider längst abgelegt haben, kommt es dennoch gelegentlich auch heute noch zu Verwechslungen, was immer wieder für neuen Lachstoff sorgt.

Doppelt durchs Leben zu gehen bedeutet für Werner und Reinhard aber viel mehr als verwechselt zu werden. Ihre Eltern und ihre großen Brüder umhüllten sie von Anfang an mit Liebe, Glauben und Musik. Die Geborgenheit ihres Elternhauses tragen die Zwillingsbrüder noch heute wie einen Schatz in ihrem Herzen, wie auch die Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse, wie nur Zwillinge sie haben können.

Liebe Leserin, lieber Leser, vielleicht kennen Sie Werner, Reinhard, ihre großen Brüder Günter und Walter sowie ihre Eltern Arthur und Johanna bereits von meinen Büchern »Aus Omas Nähkästchen und Opas Geigenkasten« und »Aus Opas Federhalter und Omas Handtasche«. Dann ist Ihnen die Familie Seidel ja wohlbekannt und vielleicht ein bisschen ans Herz gewachsen. Das würde mich sehr freuen. Genauso freue ich mich aber auch über alle Leserinnen und Leser, die der Familie nun zum ersten Mal begegnen.

Arthur und Johanna hatten stets offene Türen, und man ging gerne bei ihnen ein und aus. Die Tür steht nun auch Ihnen offen, kommen Sie herein und seien Sie herzlich willkommen im Kreise meiner Familie!

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Glückliche Kindheit

Eine große Überraschung

Warm und golden fielen die Sonnenstrahlen in die helle Küche. Johanna stand am geöffneten Fenster und sah zu, wie Günter und Walter Hand in Hand die Straße überquerten. Nach ein paar weiteren Schritten waren sie vor dem großen Ziegelsteingebäude angelangt, das sowohl die Schule als auch den Kindergarten beherbergte. Schmunzelnd beobachtete Johanna, wie ihr neunjähriger Sohn Günter die vier Stufen zum Eingang auf einem Bein nach oben hüpfte, während sein fünfjähriger Bruder Walter etwas unbeholfen versuchte, es ihm nachzumachen. Auf der obersten Treppenstufe angelangt, drehten sich die beiden noch einmal um und winkten ihr zu. Dann schlüpften sie durch die große schmiedeeiserne Tür. Johanna wusste, dass Günter seinen kleinen Bruder bis zum Eingang des Kindergartens im ersten Stockwerk begleiten würde, bevor er selbst eine Treppe weiter oben in seinen Klassensaal gehen würde, den er sich mit beinahe 50 Kindern teilte.

Nun war Johanna allein zu Hause. Ihr Mann Arthur war wie jeden Morgen um fünf Uhr mit der Straßenbahn zur Arbeit gefahren und würde erst nach Feierabend vom Büro der Bergwerksverwaltung zurückkommen. Johanna hatte zwar wie immer mit ihm zusammen gefrühstückt, doch heute setzte sie sich ausnahmsweise noch einmal an den Küchentisch, um in aller Ruhe eine Tasse Malzkaffee zu trinken. Sie lächelte bei dem Gedanken daran, wie ihre beiden Jungen noch vor wenigen Minuten am Tisch munter plaudernd ihren Haferbrei gelöffelt hatten. Nachdem Johanna ihren Kaffee getrunken hatte, räumte sie den Tisch ab und summte dabei leise vor sich hin. Sie wusch das Geschirr ab und ging in die Schlafstube, um die Betten zu machen. Auf dem Apfelbaum vor dem Schlafzimmerfenster saß eine Amsel und zwitscherte aus voller Kehle ein Lied. Johanna freute sich: »Bald sind die Äpfel reif, dieses Jahr gibt es viel zu ernten.« Während sie die Kopfkissen aufschüttelte, sang sie das altbekannte Morgenlied von Johannes Zwick:

All Morgen ist ganz frisch und neu
des Herren Gnad und große Treu;
sie hat kein End den langen Tag,
drauf jeder sich verlassen mag.

Sie hatte gerade die Bettdecken gefaltet und sorgfältig glatt gestrichen, als sie plötzlich einen ziehenden Schmerz im Lendenbereich verspürte. Johanna zuckte zusammen und setzte sich auf die Bettkante, um sich einen Moment auszuruhen. Die Hausarbeit fiel ihr seit einigen Wochen zunehmend schwerer, und immer öfter musste sie kleine Verschnaufpausen einlegen. Doch Schmerzen hatte sie bisher keine gehabt. Johanna überlegte: »Vermutlich habe ich gestern doch etwas zu viel im Garten gearbeitet. Ich werde heute etwas langsamer machen.« Allmählich ließ der Schmerz nach, und sie erhob sich schwerfällig. Johanna beschloss, sich keine weiteren Gedanken darüber zu machen. Langsam ging sie in die gemütliche Wohnstube, holte ihren Nähkorb aus dem Schrank und setzte sich aufs Sofa. Sie hatte gerade das Stopfgarn in die Nähnadel eingefädelt, da durchfuhr ein krampfartiger Schmerz ihren Unterleib. Dieser Schmerz war ihr wohlbekannt und sie wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Genau zweimal in ihrem Leben hatte sie bisher solche Krämpfe gehabt. Beunruhigt überlegte sie: »Sollte ich etwa schon Wehen haben? Das Baby soll doch erst in drei Wochen kommen.« Ihre beiden Söhne Günter und Walter waren beide zum errechneten Termin auf die Welt gekommen, und zu keinem Zeitpunkt hatte sie in den Wochen vor den Geburten solche Schmerzen gehabt. Sie legte ihr Nähzeug beiseite und atmete tief ein und aus. Dabei legte sie die Hände auf ihren dick gewölbten Bauch und stellte erleichtert fest, dass das Kind sich darin bewegte. Sie konnte sich nicht daran erinnern, bei ihren ersten beiden Schwangerschaften so dick und unbeweglich gewesen zu sein wie dieses Mal und wunderte sich wie schon öfter in letzter Zeit darüber. Sie vermutete, dass dieses Baby um einiges größer sein musste, als Günter und Walter es bei ihrer Geburt waren. Sanft sagte sie zu dem Baby: »Strample nur schön, mein kleiner Schatz. Wir freuen uns schon sehr auf dich. Einen Namen haben wir uns auch schon überlegt. Wenn du ein kleiner Junge bist, sollst du Werner heißen, und wenn du tatsächlich ein Mädchen bist, wie dein Vatel es vermutet, dann geben wir dir den Namen Helene.« Langsam beruhigte sich auch dieser Schmerz und Johanna entspannte sich wieder. Sie blickte auf die große Standuhr in der Ecke der Wohnstube, deren Pendel ruhig und in stetem Rhythmus hin und her schwang. Es war beinahe neun Uhr. Günter und Walter würden erst in drei Stunden von der Schule nach Hause kommen. Doch anstatt wie geplant im Garten zu arbeiten, wollte sie nun lieber noch etwas nähen und nahm sich vor, am Nachmittag ihre in voller Blüte stehenden Dahlien zusammenzubinden, damit sie nicht umknickten. Bis dahin würden sich die vorzeitigen Wehen schon beruhigt haben.

Doch kurz nach dem Mittagessen wusste Johanna, dass sie das heute nicht mehr schaffen würde. Sie spürte, dass die Geburt ihres dritten Kindes nun nicht mehr lange auf sich warten ließ.

Arthur blickte von seinem Schreibtisch auf die Uhr an der Wand seines Büros und war froh, bald Feierabend zu haben. Er freute sich darauf, nach Hause zu gehen und im Kreise seiner Familie einen gemütlichen Abend zu verbringen. Als er seinen Schreibtisch aufräumte, klingelte plötzlich das Telefon. Arthur wunderte sich: »Wer ruft denn um diese Zeit noch an, so kurz vor Feierabend?« Aus dem Hörer scholl ihm eine aufgeregte Frauenstimme entgegen: »Arthur, komm schnell heim, es geht los, deine Frau hat starke Wehen!« Die Anruferin hatte in ihrer Aufregung ganz vergessen, ihren Namen zu nennen, doch Arthur erkannte an der Stimme, dass es sich um Mathilde, die Frau des Hausmeisters, handelte. Kurt und seine Frau wohnten ein Stockwerk unter ihnen in der Hausmeisterwohnung im evangelischen Gemeindehaus in Ober-Altwasser1. Dort befand sich das einzige Telefon im Haus. Erschrocken überlegte Arthur: »Jetzt schon? Ist das nicht viel zu früh?« Kaum hatte er aufgelegt, griff er gleich wieder zum Hörer, um Else anzurufen. Die Hebamme hatte Johanna bereits während ihrer ersten beiden Schwangerschaften betreut und dafür gesorgt, dass sowohl Günter als auch Walter wohlbehalten das Licht der Welt erblickt hatten. Sie versprach, sich gleich auf den Weg zu machen, und Arthur eilte nach Hause. Else, die kurze Zeit später eintraf, legte ihr Hörrohr an Johannas dicken Bauch und stellte fest: »Die Herztöne des Babys sind laut und deutlich zu hören. In ein paar Stunden wirst du dein Baby in den Armen halten.« Sie sollte Recht behalten. Um 19.30 Uhr brachte Johanna einen kleinen Jungen zur Welt. Er war gesund, aber entgegen Johannas Erwartung mit einem Gewicht von 2300 Gramm um einiges leichter und kleiner als seine beiden großen Brüder bei ihrer Geburt. Nachdem Else das Neugeborene gewaschen und in ein warmes Tuch gewickelt hatte, brachte sie den kleinen Jungen zu Arthur, der im Wohnzimmer ausharrte. Behutsam legte sie ihn in seine Arme und sagte: »Herzlichen Glückwunsch zu eurem kleinen Werner! Ihr habt wieder einen kleinen Jungen bekommen, getreu dem Motto: Aller guten Dinge sind drei!« In diesem Moment rief Johanna laut nach Else. Die Hebamme eilte zurück ins Schlafzimmer und fragte besorgt: »Was ist denn mit dir?« Stöhnend presste Johanna hervor: »Ich habe wieder starke Schmerzen, so als ob ich Wehen habe, was kann das nur sein?« Hastig legte Else ihr Hörrohr noch einmal an Johannas Bauch und lauschte. Ihre Vermutung bestätigte sich schnell, und sie verkündete: »Da sind ja immer noch Herztöne zu hören, und deine eigenen sind es ganz gewiss nicht! Hannchen, du musst jetzt stark sein, es kommt noch ein Baby!« Aufgeregt schrie sie ins Wohnzimmer hinüber: »Es kommt noch eins!« Arthur, der mit Klein-Werner im Arm auf dem Sofa saß, wurde es heiß und kalt gleichzeitig, Schreck und Freude wechselten sich ab. Mit Zwillingen hatte keiner gerechnet, denn zu keinem Zeitpunkt der Schwangerschaft waren Else doppelte Herztöne aufgefallen. Arthur machte sich große Sorgen um Johanna, doch er konnte nichts weiter tun, als abzuwarten. Die nachfolgenden Minuten kamen ihm vor wie Stunden, und während er auf sein schlummerndes Söhnchen blickte, war er sich gewiss: »Unser viertes Kind ist bestimmt ein Mädel, und wir bekommen doch noch eine kleine Helene.« Endlich kam Else wieder in die Wohnstube. Als sie Arthur auch das zweite Baby in die Arme legte, schmunzelte sie: »Hier ist der kleine Doppelgänger eures dritten Söhnchens – herzlichen Glückwunsch zu eurem vierten Jungen! Er wiegt zwar nur 2 100 Gramm, doch er ist wie euer Wernerla ebenfalls bei bester Gesundheit, und auch Johanna ist wohlauf. Du kannst jetzt zu ihr gehen.« Mit weichen Knien und den Zwillingen im Arm ging Arthur zu Johanna. Doch während er die beiden winzigen Babys in die Arme seiner erschöpften, aber glücklichen Frau legte, hatte er seinen Humor bereits wieder gefunden und sagte: »Aus zwei mach vier, so schnell kann es gehen.« Dann falteten Johanna und Arthur die Hände, dankten Gott für den unerwarteten Zwillingssegen und baten um Bewahrung der Neugeborenen.

So begann das bewegte Leben meines Onkels und meines Vaters, geboren innerhalb von fünfzehn Minuten am 3. September 1936.

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Die Tauffeier

Am nächsten Morgen ging Arthur ein Stockwerk tiefer in die Wohnung des Hausmeisters, um zu telefonieren. Mathilde öffnete im Morgenrock und mit Lockenwicklern im Haar die Tür. Als sie hörte, dass Johanna Zwillinge entbunden hatte, geriet sie völlig aus dem Häuschen: »Was, Zwillinge? Zwei Babys auf einmal, das muss ich mir sofort anschauen!« Wie sie war, im Morgenrock und mit Lockenwicklern, stürmte sie zur Tür hinaus und rannte die Treppe hinauf zu Johanna, um dieses Wunder mit eigenen Augen zu sehen.

Pflichtbewusst rief Arthur zuerst seinen Chef an, um ihm die freudige Nachricht zu übermitteln und ihm mitzuteilen, dass er erst am Nachmittag ins Büro kommen würde. Danach telefonierte Arthur mit seiner Schwester Frieda und erzählte ihr, dass Johanna entbunden hatte. Freudig fragte Frieda: »Ist es ein Mädchen?«, woraufhin Arthur antwortete: »Nein.« Daraufhin Frieda: »Dann ist es ein Junge?« Arthur grinste still in sich hinein und antwortete spitzbübisch: »Nein!« Frieda konnte sich keinen Reim darauf machen und rief schrill ins Telefon: »Ja, was ist es denn dann?« Nun konnte Arthur sich das Lachen nicht mehr verkneifen und verkündete fröhlich: »Zwillinge, es sind zwei Jungen!« Am anderen Ende der Leitung herrschte Stille. Frieda hatte es offensichtlich die Sprache verschlagen.

Nach einigem Überlegen gaben Johanna und Arthur ihrem Überraschungsbaby den Namen Reinhard. Die beiden kleinen Menschlein sahen sich so ähnlich, dass selbst Johanna und Arthur zunächst befürchteten, sie könnten ihre Zwillinge verwechseln. Deshalb band Johanna ein blaues Bändchen um Werners Handgelenk.

Am Erntedankfest, dem 4. Oktober 1936, wurden die Zwillinge in ihrer Heimatkirche zu Altwasser getauft. Pastor Mündel, langjähriger Pfarrer der Gemeinde und guter Freund der Familie Seidel, vollzog die Taufe. Er hatte Arthur und Johanna bereits im Mai 1925 getraut und sowohl Günter als auch Walter getauft. Als Taufspruch wählte Pastor Mündel für Werner und Reinhard Psalm 127,3–5: Siehe, Kinder sind eine Gabe des Herrn, und Leibesfrucht ist ein Geschenk. Wie die Pfeile in der Hand des Starken, also geraten die jungen Knaben. Wohl dem, der seinen Köcher derselben voll hat! Die werden nicht zu Schanden, wenn sie mit ihren Feinden handeln im Tor.

Im Anschluss an den Gottesdienst hatten Johanna und Arthur zur Familienfeier in ihrer gemütlichen Wohnung eingeladen. Viele Verwandte aus der näheren Umgebung waren gekommen: Johannas Schwester Margarethe, ihre Mutter Pauline, Arthurs Mutter Anna, seine Halbschwester Frieda sowie sein Bruder Fritz mit Frau Friedel und ihren beiden Kindern Rudi und Christa. Selbstverständlich mit eingeladen waren Pastor Mündel und seine Frau, über deren Anwesenheit Johanna und Arthur sich von Herzen freuten.

Margarethe hatte das Kochen übernommen und tischte zur Feier des Tages ein wahres Festmahl auf: Rinderrouladen, Kartoffelklöße und Rotkohl. Nach einem ausgiebigen Spaziergang in der goldenen Oktobersonne versammelte sich die Runde wieder zum Kaffeetrinken in der Wohnstube. Zu frisch aufgebrühtem Bohnenkaffee ließen sich die Gäste Johannas Apfelkuchen aus frisch geernteten eigenen Äpfeln sowie Mohnschnitten mit Butterstreuseln schmecken. Anschließend setzte Onkel Fritz sich ans Klavier, um ein ganz besonderes Lied vorzusingen. Eigens zur Tauffeier hatte er ein Gedicht verfasst, das er auf die Melodie des Liedes »Eine Seefahrt, die ist lustig« vortrug: