»Der heiße Typ beobachtet dich.«
»Was?« Cadence warf einen Blick über ihre Schulter. Sie war damit beschäftigt, das altersschwache Ungetüm von Kaffeemaschine zur Arbeit zu überreden. »Mistding!« Mit der flachen Hand schlug sie frustriert gegen das Gehäuse. Das Mahlwerk kam daraufhin stotternd in Gang. »Na, geht doch.« Jetzt konnte sie ihrer Freundin die volle Aufmerksamkeit widmen. »Was war?«
»Nicht was, sondern wer.« Brenda deutete mit einer Augenbewegung zum einzigen besetzten Platz im Innenraum. Cadence grinste über die unbeabsichtigte Grimasse ihrer Freundin, dann folgte sie der angezeigten Richtung und ihr Herz hüpfte kurz.
»Nicht so offensichtlich!« Brenda runzelte die Stirn.
Doch zu spät. Der Gast hatte Cadies Blick bemerkt und lächelte sie an, bevor er sich wieder seinem Smartphone zuwandte. Sie konnte gar nicht anders als das Lächeln zu erwidern. Seit er sich die Haare vorhin zurückgestrichen hatte, fielen ihm einige Strähnen ungeordnet in die Stirn. Seine Haut hatte in den vergangenen Tagen Farbe bekommen, dazu trug er einen Dreitagebart und gab das perfekte Bild eines Lausbuben ab. Eines ausgesprochen attraktiven Lausbuben, wie Cadie seit beinahe einer Woche jeden Morgen feststellen musste.
»Los, bedien du ihn heute, sonst kommt ihr nie ins Gespräch.« Brenda drückte Cadence das Tablett in die Hand. Ein Croissant, ein Orangensaft. Wie jeden Morgen, bevor er zu einer Wanderung aufbrach. Nur der Kaffee fehlte ausnahmsweise. Ehe sie protestieren konnte, schob Brenda Cadence um den Tresen herum. Zuckten da etwa die Mundwinkel des Typen? Mehr als einen Seitenblick wagte Cadence nicht. Wie peinlich, falls er Brendas Manöver beobachtet hatte! Aber nun gab es kein Zurück, alles andere wäre noch blamabler.
Sie setzte ein professionell freundliches Gesicht auf, straffte die Schultern und steuerte auf den Tisch zu. Der Mann dahinter hob den Blick vom Smartphone. Blaue Augen, registrierte sie beim Näherkommen. Und Grübchen, sobald sich die Mundwinkel nach oben bogen.
»Vielen Dank.« Seine Stimme war volltönend tief. Aber nicht auf eine grummelnde Art, sondern warm. Er beobachtete, wie sie seine Bestellung servierte, und Cadence schaffte es zu ihrem eigenen Erstaunen trotzdem, nichts zu verschütten.
»Sehr gerne.« Hörte sie sich tatsächlich ein wenig atemlos an, oder klang sie nur in ihren Ohren so fremd? »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« Himmel, konnte man das noch steifer ausdrücken?
»Ja, ich hätte gerne einen großen Kaffee.« Sein Blick wanderte in Richtung Theke. »Sie haben die Maschine doch repariert, oder nicht?«
Deshalb also hatte er sie so interessiert beobachtet. Er hatte auf einen Kaffee gehofft.
»Vermutlich schon.« Sie zuckte mit den Schultern, seine fragende Miene forderte allerdings eine nähere Erklärung. »Seit Monaten wächst mein Verdacht, dass es sich bei diesem Monstrum um ein als Gastronomie-Kaffeemaschine getarntes, fehlgeschlagenes Genexperiment handelt. Irgendwer muss versucht haben, die Überbleibsel einer Apollo-Mission mit einem Esel zu kreuzen. Heraus kam ein altersschwacher Stahlkasten, der störrisch den Dienst verweigert.«
Ihr Gegenüber starrte sie einen Moment ungläubig an, dann lachte er laut los. Ein offenes, fröhliches Lachen.
»Würden Sie sich für mich der Herausforderung stellen, diesem bionischen Wunderwerk einen Kaffee abzuringen?«
»Ich kann mein Glück versuchen.« Cadence lächelte ihm auf eine Weise zu, die deutlich machte, wie wenig sie an einen Erfolg glaubte, und begab sich hinter die Theke, um den Kampf aufzunehmen.
»Na, war er aus der Nähe genauso attraktiv, wie du gedacht hast?« Brenda grinste sie an.
Cadence schnitt ihr eine Grimasse und kontrollierte die Wassertemperaturanzeige der Kaffeemaschine. Was immer da gleich herauskäme, wäre immerhin heiß. »Was du wieder denkst«, fertigte sie ihre Freundin kurz ab. Seit Cadence als Single aus Denver zurückgekehrt war, hatte Brenda es sich zu ihrer Aufgabe gemacht, sie zu verkuppeln.
»Ach komm, ich habe doch Augen im Kopf.« Brenda polierte ungerührt weiter Gläser. »Seit der Kerl das erste Mal das Plansprings Inn betreten hat, schmachtest du ihn von der Theke aus an.«
Cadence schoss die Hitze ins Gesicht. War das so deutlich gewesen? Hatte er es am Ende auch bemerkt? Sie kroch fast in das Display, während sie die Auswahl für einen schwarzen Kaffee eingab. Natürlich hatte sie immer mal wieder einen Blick riskiert. Wie hätte sie das auch nicht tun können? Er sah umwerfend aus. Groß, athletisch, dunkelhaarig. Markante Gesichtszüge, streng genug, um männlich zu sein, ohne roh zu wirken.
Brenda stieß sie leicht in die Seite. »Hast du ernsthaft gedacht, mir fällt das nicht auf? Ich bin seit Kindertagen deine beste Freundin!«
»Es macht mir mehr Sorge, dass es ihm aufgefallen sein könnte«, murmelte Cadence. »Wie peinlich wäre das denn?«
»Das wäre nicht peinlich, das wäre der erste Schritt. In Kennerkreisen auch bekannt unter ›Flirten‹. Mensch, Cadie, du bist wirklich eingerostet. Der Typ steht auf dich!«
»Oder auf seinen Kaffee. Vielleicht wollte er nur wissen, ob ich dieses Mistding zum Laufen kriege.«
Wie zum Protest gegen diese abwertende Titulierung gab das Mahlwerk nur ein kurzes Kreischen von sich und trat in den Streik. Mit einem Seufzen schlug Cadence gegen das Gehäuse und wartete auf das erlösende Stottern.
»Die letzten beiden Tage gab es Kaffee und er hat trotzdem ständig zu dir gesehen«, beharrte Brenda. »Er sitzt bestimmt nicht ohne Grund im Innenraum, obwohl es draußen auf der Terrasse warm und sonnig ist.«
Das Getöse der reanimierten Maschine beendete glücklicherweise das Gespräch. Cadence würde den Kaffee jetzt mit ihrem strahlendsten Lächeln servieren und Brenda ein für alle Mal beweisen, dass es dem Gast nur um das Getränk ging.
Der Typ lächelte ihr entgegen und der Glanz seiner Augen ließ Cadence einen Moment lang glauben, Brenda könnte recht haben. Ihr Puls beschleunigte sich.
Doch er nickte nur, als sie die Tasse vor ihm abstellte. Cadence fuhr das Strahlen zurück auf ein höfliches Niveau und wandte sich in Richtung Theke.
»Warten Sie bitte!«
»Ja?« Sie drehte sich zu ihm herum.
»Ich reise am Sonntag ab. Da ich nicht weiß, ob Sie am Wochenende arbeiten, ist heute meine letzte Chance zu fragen: Darf ich Sie zum Essen ausführen?«
Aus einer Ecke, in der Brenda angelegentlich Zuckerstreuer nachfüllte, erklang etwas, das sich verdächtig nach »na, endlich« anhörte. Die Mundwinkel des Gastes zuckten leicht. Cadence beeilte sich, die Einladung anzunehmen, bevor Brenda das am Ende für sie erledigte.
»Ich freue mich sehr.« Er hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Noel.«
»Cadence, aber so nennen mich nur meine Eltern, wenn sie schlecht auf mich zu sprechen sind. Sonst Cadie.« Sie ergriff seine Hand. Sie fühlte sich gut an. Warm und kräftig. Er hielt sie genau die richtige Zeitspanne lang fest, das hatte Stil. Sie fand einen waschlappenartigen Händedruck ebenso unattraktiv wie Männer, die diese erste Begrüßung zu einer Art Vorspiel machten.
»Meine Schicht endet am Nachmittag um fünf, dann habe ich frei bis Montag.«
»Bestens. Sagen wir heute Abend um sieben?«
Cadence hatte einen Moment gezögert, sich von Noel zuhause abholen zu lassen. Die Alternative wäre das Plansprings Inn gewesen. So oder so bekäme es der halbe Ort mit, dass sie ein Date hatte. Die andere Hälfte wüsste es spätestens morgen. Plansprings war eine winzige Gemeinde, da funktionierten die Buschtrommeln einwandfrei.
Doch warum sollte sie überhaupt ein Geheimnis daraus machen? Sie war Single und hatte seit Ewigkeiten kein Date mehr gehabt. In Denver war das nicht nötig gewesen, da gab es Laurent, und seit der sie still und heimlich hatte sitzen lassen, war ihr ohnehin nicht mehr nach Männerbekanntschaften zumute. Wenn Brenda nicht eine solche Nervensäge wäre, hätte sie sich wahrscheinlich noch immer nicht auf eine Verabredung eingelassen, doch Brenda hätte ihr die Hölle heiß gemacht. Und nun, da sie in einem knielangen Rock, einem figurbetonten Oberteil und neuen Booties auf ihn wartete, kribbelte mit einem Mal echte Vorfreude in ihr.
Pünktlich um sieben hielt ein dunkler Jeep Cherokee vor ihrem Haus und Cadence trat vor die Tür. Noel kam auf sie zu und sie sah ihn zum ersten Mal in etwas anderem als Wanderklamotten. Er trug eine tintenblaue, fast schwarze Jeans, die wie angegossen saß, dazu ein hellgraues Hemd und ein Sakko. Seine Haare waren akkurater frisiert als morgens, bevor er zu seinen Wanderungen aufbrach. Trotzdem hatte sich schon wieder eine Strähne dem Kamm widersetzt und fiel ihm in die Stirn.
Cadies Herz tat einen Extraschlag. Diese Strähne war es, die ihre Aufmerksamkeit sofort auf sich gezogen hatte, als er das Plansprings Inn zum ersten Mal betreten hatte. Sie lächelte bei der Erinnerung an den unsinnigen Drang, ihm die Strähne aus der Stirn zu streichen, den sie von diesem Moment an jedes Mal verspürte, wenn sie ihn ansah.
Noel lächelte zurück. Er beugte sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Die Ahnung eines exquisiten Aftershaves streifte ihre Nase. »Du siehst gut aus.«
»Danke, du auch.« Etwas unsicher schaute sie ihn an. Sein Dreitagebart war verschwunden. Er sah dadurch seriöser aus, aber kein bisschen weniger attraktiv. Sie lenkte ihren Blick verlegen an ihm vorbei. Brenda hatte recht. Sie war definitiv eingerostet. So befangen hatte sie sich das letzte Mal vor ihrem Highschool-Ball gefühlt. »Wenn du nicht morgen Stadtgespräch sein möchtest, fahren wir jetzt besser.« Cadie deutete mit dem Kopf in Richtung des gegenüberliegenden Hauses, wo der Schatten ihrer Nachbarin Mrs Whittley im Fenster erschien. »Man steht hier unter ständiger Beobachtung.«
Sie hatte das locker dahingesagt. Eigentlich nur, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Für sie war dieses enge Gefüge Normalität. Sie war so aufgewachsen und hatte sich die erste Zeit in der Anonymität Denvers sogar verloren gefühlt.
Noel hingegen reagierte bestürzt. »Bringe ich dich in Schwierigkeiten, weil ich dich ausführe?« Er rieb sich mit sichtlichem Unbehagen über den Nacken. »Ich vergesse immer, dass die Uhren hier draußen anders ticken.«
Cadence schmunzelte. »Hast du Sorge, wir gelten als verlobt, weil wir einmal zusammen Essen gehen?« Sie registrierte seine Miene. »Oh mein Gott – darüber machst du dir tatsächlich Gedanken?«
»Nein, Unsinn«, wehrte Noel ab, allerdings für Cadies Geschmack etwas zu hastig. Hielt er sie vielleicht für provinziell?
»Ich war in Denver auf dem College«, erklärte sie mit einem angedeuteten Grinsen. »Ich kenne also die große weite Welt.«
»In Denver?« Er sah sie überrascht an. »Da lebe ich. In welcher Ecke hast du gewohnt?«
Und bereits während er sie zum Auto geleitete, befanden sie sich in einem regen Gespräch über Collegezeiten, Partys und Treffpunkte. Nachdem ihre erste Anspannung abgefallen war, war es erstaunlich einfach, sich mit Noel zu unterhalten. So bekam Cadie kaum mit, wohin sie fuhren, bis Noel die Interstate verließ, weil sie Vail erreicht hatten.
»Ich finde es immer wieder bemerkenswert, dass man Vail einzig und allein über die I-70 erreichen kann.« Noel lenkte den Wagen sicher durch die Straßen. »Soweit ich weiß, ist das die einzige Stadt in den Staaten, bei der das so ist.«
»Du scheinst Vail gut zu kennen.«
»Ich war früher gelegentlich mit meinen Eltern hier in der Gegend. Zum Wandern oder Skilaufen. Von Denver aus ist man ja schnell hier.«
Er bog auf den Parkplatz eines Steakhauses. »Falls du kein Fleisch isst – sie haben auch vegetarische Gerichte auf der Karte.«
»Alles gut.« Cadie lachte. »Ich esse für mein Leben gern Steak. Ich bemühe mich, nicht zu häufig Fleisch auf dem Teller zu haben, aber einem guten Steak werde ich wohl nie widerstehen können.«
»Prima, dann weiß ich das Richtige für uns, wenn du dich von mir mit dem Essen überraschen lässt.«
Cadie nickte lächelnd und ließ sich von Noel in den Gastraum dirigieren, wo sie Eleganz in einer Art durchgestyltem Landhausstil empfing. Massives Holz mit klaren Linien dominierte. Schlichte, doch teuer wirkende Stoffe fanden als Vorhänge, Kissenbezüge und Tischläufer Verwendung. Edelstahlleuchter an den Wänden, die vermutlich einen Designpreis für Funktionalität und reduzierte Form gewonnen hatten, sorgten für eine indirekte Beleuchtung. Wenn das Essen ähnlich exquisit war, wie die Einrichtung versprach, würde es ein gelungener Abend werden.
Ein Kellner trat auf sie zu. »Noel, wie schön, Sie wieder einmal begrüßen zu dürfen. Bitte folgen Sie mir zu Ihrem üblichen Platz.«
Hoppla, Noel war hier so etwas wie ein Stammkunde?
»Bist du häufig hier?«, erkundigte sich Cadie, als sie saßen.
»Es geht. Mein Vater ist mit dem Seniorchef befreundet, deshalb kennt man mich.« Auf sein Zeichen hin eilte ein Angestellter herbei, der etwas abseits mit einer Flasche Rotwein gewartet hatte. »Du trinkst doch Wein?«, wandte Noel sich daraufhin an Cadie, die gespannt nickte. Wenn sie den Laden richtig einschätzte, würde sie gleich einen wirklich guten Tropfen kosten dürfen. Noel schnupperte kurz an dem Wein in seinem Glas und nahm einen Probeschluck, bevor er seine Zustimmung signalisierte. Cadie atmete innerlich auf. Sie hasste es, wenn jemand zu viel Aufhebens um die Verkostung machte. Manchmal geschah das sogar im Plansprings Inn, obwohl es dort ohnehin nur jeweils eine Sorte Rot-, Weiß- und Roséwein gab. Cadie wusste in solchen Momenten sofort, dass sich ein Gast aus dem schicken Resort zu ihnen ins Tal verirrt hatte.
Der Wein, der jetzt in ihren Gläsern im Kerzenlicht rot glühte, war ausgezeichnet, das erkannte selbst Cadies ungeübter Gaumen. Als dann auch noch das Fleisch auf den Punkt medium war – genau wie sie es mochte –, fühlte sie sich wie im Gourmethimmel.
»Black Angus Beef«, klärte Noel sie auf, der nur geheimnisvoll »wie immer« für sie beide bestellt hatte.
Während des Essens redeten sie wenig, doch danach wurde das Gespräch persönlicher.
»Nun erzähl doch mal, was dich von Denver wieder zurückgeführt hat in diese eher beschauliche Ecke des Landes.« Noel schenkte ihnen Wein nach. »Hat es dir in der Großstadt nicht gefallen?«
»Die Collegezeit war vorbei und ich wusste nicht, in welcher Richtung ich weitermachen sollte«, erwiderte Cadie. Von Laurent, der ohne ein Wort des Abschieds verschwunden war, würde sie natürlich nichts sagen. Dabei hatte er dafür gesorgt, dass sie Denver, die Stadt mit den vielen Erinnerungen an ihn, plötzlich unerträglich fand.
»Und jetzt weißt du es?« Noels Frage klang ehrlich interessiert. Keineswegs spöttisch, obwohl ihm klar sein musste, dass Bedienung im Plansprings Inn kaum ihr Traumjob sein konnte.
Sie zuckte mit den Schultern. »Noch immer nicht, offen gesagt. Ich überlege, an einer Universität weiter zu studieren. Die Entscheidung hat allerdings noch Zeit, denn vorher muss ich ohnehin mein Konto anfüttern. Auf absehbare Zeit werde ich also in Plansprings bleiben und kellnern.«
Noel nickte nachdenklich. »Wenn du dich für einen Studiengang entschieden hast, könntest du dich für ein Stipendium bewerben. Was kommt denn in die engere Wahl?«
»Früher wollte ich immer etwas mit Menschen machen. Medizin vielleicht. Oder Psychologie. Doch während der medizinischen Grundkurse auf dem College habe ich gemerkt, dass mich auch Dinge wie Management reizen. Ich hätte es nie gedacht, aber der wirtschaftliche Kram liegt mir. Und schon saß ich da mit einem BA-Abschluss in Klinikmanagement und konnte mich nicht entscheiden, wie es weitergehen soll. Deshalb ist es ganz gut, dass ich sowieso erstmal Geld verdienen muss. Ich kann mich ja nicht auf ein Stipendium verlassen.« Sie nahm einen weiteren Schluck Wein und ließ ihn genüsslich über die Zunge rinnen. Sie begann zu verstehen, warum einige Menschen so ein Theater bei einer Weinverkostung machten. »Was ist mit dir?«, fragte sie Noel. »Hast du studiert?«
»Ja.« Er nickte und schien seltsamerweise zu überlegen, was er antworten sollte. »Ich habe Jura und Wirtschaftswissenschaften studiert.«
»Echt?« Cadence glich das Bild, das sie sich von Noel gemacht hatte, mit dem Juristen ab, der jetzt vor ihr saß. Kleider machten eben doch Leute. Sie hatte ihn fast eine Woche lang nur in Wandersachen gesehen. Feste Trekkingschuhe, Wanderhosen im Cargostil, darüber ein Shirt oder an kalten Tagen ein Hoodie. Dazu diese eine Strähne, die immer frech in die Stirn fiel. Sie konnte sich ihn nicht im Anzug mit Krawatte vorstellen und eigentlich wollte sie das auch nicht. Ihr Bild von ihm gefiel ihr besser.
»Ja, echt.« Er legte den Kopf leicht zur Seite und sah sie prüfend an, als ob er ihre Überlegungen in ihr las.
Bevor er nachhaken konnte, fragte sie weiter: »Und was machst du heute beruflich?«
Schon wieder ein kurzes Zögern. »Ich arbeite in einer Art Investmentfirma.«
»Eine Art?«
»Nun, klassischerweise stellt man sich darunter vor, dass wir das Geld unserer Kunden gewinnbringend in Fonds und börsennotierten Unternehmen anlegen. Wir sind jedoch anders aufgestellt und suchen nach lohnenswerten Start-ups oder Firmen, die zwar akut eine Finanzspritze benötigen, aber langfristig wieder schwarze Zahlen schreiben werden. Dorthin fließt das Geld und kommt im Idealfall irgendwann vervielfacht zurück.«
»Klingt sinnvoller als Wertpapierhandel. Mir hat sich die Faszination nie erschlossen. Vermutlich habe ich es doch nicht so mit Wirtschaft, wie ich vorhin noch behauptet habe.«
»Ich glaube eher, man muss ein ganz bestimmter Typ Mensch sein, um daran wirklich Freude zu haben. Mich würde auch nichts an die Börse ziehen.«
Cadie stellte sich Noel in einem Kundengespräch vor. In steifer Businessgarderobe. Es gelang ihr immer noch nicht, obwohl er heute Abend ein Sakko trug. Das Hemd war allerdings zu lässig für ein Büro mit Kundenverkehr. Ob ihn eine Krawatte verändern würde? Von seinen schalkhaften Augen ablenken, die jetzt amüsiert aufblitzten, als er ihre verstohlene Musterung bemerkte? Ob er einen maßgeschneiderten Anzug besaß?
»Was denkst du?« Noel schmunzelte.
»Ich kenne dich nur in Outdoorkleidung.«
»Ja, und?«
»Du hast gefragt, was ich gerade denke. Das war meine Überlegung.«
Noel lachte auf. »Du warst so tief in dich gekehrt, dass ich erwartet hätte, du revolutionierst in diesem Augenblick die Elementarteilchenphysik durch die Entwicklung neuer Grundsätze zur Quantenfeldtheorie.«
»Was?« Cadie sah ihn einen Moment verblüfft an, dann stimmte sie in sein Lachen ein. »Nein, es ging nur um dich.«
Noel neigte den Kopf zur Seite. »Gefällt mir irgendwie besser.«
Seine Tonlage hatte sich verändert. Sie war sanfter, wärmer. Das Blau seiner Augen wirkte im Kerzenlicht dunkler und sehr intensiv. Nie hatte Cadie solche Iriden gesehen. Ihre eigenen waren ebenfalls blau, doch viel heller. Sie fand sie wässrig, interessant allenfalls dadurch, dass ein leicht grünlicher Ton in ihnen lag. Laurent hatte ihre Augenfarbe geliebt. Er hatte gesagt, sie hätte den Ton der französischen Riviera. Ob er dort jetzt am Strand hockte und beim Anblick des Meeres an ihre Augen dachte? Zum Teufel mit ihm! Sie saß hier mit dem attraktivsten Mann diesseits der Rocky Mountains und bekam noch immer nicht das Bild ihres Ex aus dem Kopf. Was stimmte nicht mit ihr? Brenda hatte recht. Es war Zeit, nach vorne zu blicken. Sie lächelte Noel an und mit einem Mal fiel es ihr erstaunlich leicht, in seinen Augen zu versinken.
Die Atmosphäre zwischen ihnen veränderte sich zunächst kaum merklich. Sie hatten sich vorher bereits angelächelt, doch wurde die Stimmung unvermittelt inniger. Je länger sich ihre Blicke verwoben, desto strahlender wurde die Wärme in Cadies Brust. Sie musste sich nicht fragen, ob Noel etwas Ähnliches empfand, sie las es in seinen Augen. Dieses Kribbeln in ihren Nervenbahnen hatte sie lange nicht mehr verspürt. Auch schon Monate, bevor sich Laurent von ihr getrennt hatte, nicht mehr, wurde ihr plötzlich bewusst. Jetzt war es wieder da, das Prickeln, das diese erste Zeit des Verliebtseins so spannend machte. Verliebtsein? Cadie biss sich auf die Lippe. Davon konnte doch überhaupt keine Rede sein und da Noel übermorgen abreisen musste, war zweifelhaft, ob sie diesen Zustand je erreichten. Denver war in vielerlei Hinsicht mehr als nur zwei Autostunden entfernt. Aber ihre körperliche Reaktion konnte sie nicht ignorieren. Dieses Vibrieren in jeder Zelle, nun da er behutsam über den Tisch langte, ihre Hand ergriff und mit seinem Daumen zärtlich über ihren Handrücken strich. Sie fuhr mit der Zungenspitze über ihre Lippen. Eine Handlung, die ihr erst bewusst wurde, als sie das Aufblitzen in Noels Augen sah. Die Stichflamme, die dieser Funke in ihr entfachte, überraschte sie selbst. Es war nicht zu leugnen – sie wollte mehr von seinen Berührungen.
Auf der Rückfahrt sprachen beide wenig. Cadies Gedanken rasten. Noel schien es zu spüren und ließ sie in Ruhe.
Sie hielt nicht viel von One-Night-Stands. Vor Laurent hatte sie es ein-, zweimal versucht, aber sie hatte bemerkt, dass sie mehr brauchte, als fähige Finger oder sein bestes Stück in ihr, um wirklich befriedigt zu sein. Um sich dem anderen vollständig hingeben zu können und ihm zu erlauben, sie bis zur Ekstase zu treiben, musste sie ihm völlig vertrauen.
Nach dieser Erkenntnis hatte sie auf schnellen Sex verzichtet und sich einen Vibrator bestellt. Der jedoch genauso wenig erfüllend war wie der routinierte Sex mit Laurent gegen Ende ihrer Beziehung. Wieso war ihr das nicht eher aufgefallen? Natürlich, sie hatte regelmäßig einen Orgasmus gehabt, ebenso wie er stets gekommen war. Doch wenn sie nun daran zurückdachte, hätte sie nicht sagen können, wann sie sich das letzte Mal an ihn gekrallt hatte, fast wahnsinnig vor Lust gestöhnt und ihn angefleht hatte, sie kommen zu lassen.
Ob sich das heute ändern würde? Wäre Noel der Mann, der sie in andere Sphären katapultieren konnte? Wollte sie das überhaupt? Ihr Schoß sagte ganz eindeutig ›Ja‹. Er forderte das vielmehr mit einem deutlichen Pochen ein, das sich sofort bei der Vorstellung gemeldet hatte, was Noel mit ihr anstellen würde. Oh Gott, sie hatte entschieden zu lange keinen Sex mehr gehabt!
Während ihr Unterleib somit bereits Position bezogen hatte, stritten Herz und Kopf um die richtige Entscheidung. Noel wäre übermorgen weg und ihr Herz auf dem besten Wege, sich an ihn zu hängen. Dabei hatte es nach Laurent wahrlich genug gelitten.
Sie hatte noch immer keine Entscheidung getroffen, als sie Plansprings erreichten. An der Abzweigung, die hoch zum Resort führte, fuhr Noel rechts ran.
»Hast du noch Lust auf einen Drink?«
»Das Plansprings Inn schließt gleich und mehr haben wir hier nicht.«
»Ich dachte eigentlich an das Resort. Die Hotelbar hat noch eine Weile geöffnet.« Er lächelte sie verführerisch an. »Sanfte Pianomusik, dazu einen Cocktail oder ein Glas Weißwein. Wie klingt das?«
So, als sollte sie schnellstens eine Entscheidung treffen. Denn natürlich hatte Noel auch sein Zimmer dort oben. Sie hatte sich in die Irre leiten lassen, weil er jeden Tag unten im Dorf aufgetaucht war. Normalerweise blieben die Gäste des Resorts unter sich. Unter Ihresgleichen, den Reichen und Schönen. Vereinzelt verirrte sich mal einer zu ihnen, um etwas ›Lokalkolorit‹ zu erleben und ›das ursprüngliche Colorado kennenzulernen‹. Aber niemals kam jemand täglich herunter.
»Du sagst gar nichts.«
»Ich bin etwas überrascht, dass du Gast dort oben bist.« Sie hätte es wissen können. Sein Jeep war neu. Sie wusste, was solche Autos kosteten. Von dem Geld hätte man das Haus, in dem sie wohnte, zweimal bezahlen können. Sie hatte auch die Kreditkarte gesehen, die er diskret in die kleine Schatulle geschoben hatte, in der vorhin die Rechnung zum Tisch gebracht wurde. Die Karte war schwarz gewesen. Er lebte nicht nur in Denver, sie trennten auch sonst Welten. Und das gab den Ausschlag. Sie wollte keine Urlaubserinnerung für eine Nacht sein.
»Es war ein wundervoller Abend, aber ich glaube, ich möchte jetzt nach Hause«, erwiderte sie und Noel nickte, als hätte er damit schon gerechnet.
Vor ihrem Haus hielt er sie am Arm fest, bevor sie aussteigen konnte. »Warte kurz.«
Er stieg aus, öffnete ihr galant die Tür und brachte sie bis zum Eingang. Dort drehte sich Cadie zu ihm um. »Noel, es ist …«
»Schon gut«, unterbrach er sie und legte seinen Zeigefinger sachte auf ihre Lippen. Die Berührung ließ Cadie erschauern. Wollte sie ihn wirklich wegschicken? Konnte sie sich das entgehen lassen? Noel beugte sich vor und platzierte einen hauchzarten Kuss auf ihrer Stirn. Dann wanderte sein Mund tiefer und landete auf ihrem. Kaum spürbar streifte er sanft darüber und Cadie sog scharf die Luft ein, als eine Welle der Erregung durch sie hindurch schoss. Viel zu schnell löste er seinen Mund und sah ihr tief in die Augen. Mit der Zungenspitze folgte sie den prickelnden Spuren, die er auf ihren Lippen hinterlassen hatte, und Noel lächelte sie auf eine beinahe wehmütige Art an.
»Schlaf gut, Cadie.« Er wandte sich zum Gehen, hielt jedoch nach einigen Schritten inne und drehte sich zu ihr um. Cadie hatte sich nicht gerührt, gefangen in dem Widerstreit der Emotionen, die seine zärtlichen Liebkosungen ausgelöst hatten. Sie konnte nicht einfach ›nur Sex‹ haben. Aber genau das wollte sie so gerne. Mit ihm.
»Gehen wir morgen gemeinsam wandern?«, fragte er und sie hörte sich »Ja« sagen, bevor ihr Kopf eine Chance hatte einzuschreiten.
»Prima. Kommst du hoch ins Resort? So um zehn vor dem Haupthaus?«
Cadie nickte wie in Trance. Ihr Herz klopfte vor Freude. Sie lächelte ihm glücklich hinterher. Sie würden sich wiedersehen – auch wenn das ihr Grundproblem nicht löste, sondern nur vertagte.