Eingeschneit

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Ein Santa zum Verlieben

Cara Lay

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Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Lust auf mehr?

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1

Cadie

»Der heiße Typ beobachtet dich.«

»Was?« Cadence warf einen Blick über ihre Schulter. Sie war damit beschäftigt, das altersschwache Ungetüm von Kaffeemaschine zur Arbeit zu überreden. »Mistding!« Mit der flachen Hand schlug sie frustriert gegen das Gehäuse. Das Mahlwerk kam daraufhin stotternd in Gang. »Na, geht doch.« Jetzt konnte sie ihrer Freundin die volle Aufmerksamkeit widmen. »Was war?«

»Nicht was, sondern wer.« Brenda deutete mit einer Augenbewegung zum einzigen besetzten Platz im Innenraum. Cadence grinste über die unbeabsichtigte Grimasse ihrer Freundin, dann folgte sie der angezeigten Richtung und ihr Herz hüpfte kurz.

»Nicht so offensichtlich!« Brenda runzelte die Stirn.

Doch zu spät. Der Gast hatte Cadies Blick bemerkt und lächelte sie an, bevor er sich wieder seinem Smartphone zuwandte. Sie konnte gar nicht anders als das Lächeln zu erwidern. Seit er sich die Haare vorhin zurückgestrichen hatte, fielen ihm einige Strähnen ungeordnet in die Stirn. Seine Haut hatte in den vergangenen Tagen Farbe bekommen, dazu trug er einen Dreitagebart und gab das perfekte Bild eines Lausbuben ab. Eines ausgesprochen attraktiven Lausbuben, wie Cadie seit beinahe einer Woche jeden Morgen feststellen musste.

»Los, bedien du ihn heute, sonst kommt ihr nie ins Gespräch.« Brenda drückte Cadence das Tablett in die Hand. Ein Croissant, ein Orangensaft. Wie jeden Morgen, bevor er zu einer Wanderung aufbrach. Nur der Kaffee fehlte ausnahmsweise. Ehe sie protestieren konnte, schob Brenda Cadence um den Tresen herum. Zuckten da etwa die Mundwinkel des Typen? Mehr als einen Seitenblick wagte Cadence nicht. Wie peinlich, falls er Brendas Manöver beobachtet hatte! Aber nun gab es kein Zurück, alles andere wäre noch blamabler.

Sie setzte ein professionell freundliches Gesicht auf, straffte die Schultern und steuerte auf den Tisch zu. Der Mann dahinter hob den Blick vom Smartphone. Blaue Augen, registrierte sie beim Näherkommen. Und Grübchen, sobald sich die Mundwinkel nach oben bogen.

»Vielen Dank.« Seine Stimme war volltönend tief. Aber nicht auf eine grummelnde Art, sondern warm. Er beobachtete, wie sie seine Bestellung servierte, und Cadence schaffte es zu ihrem eigenen Erstaunen trotzdem, nichts zu verschütten.

»Sehr gerne.« Hörte sie sich tatsächlich ein wenig atemlos an, oder klang sie nur in ihren Ohren so fremd? »Haben Sie sonst noch einen Wunsch?« Himmel, konnte man das noch steifer ausdrücken?

»Ja, ich hätte gerne einen großen Kaffee.« Sein Blick wanderte in Richtung Theke. »Sie haben die Maschine doch repariert, oder nicht?«

Deshalb also hatte er sie so interessiert beobachtet. Er hatte auf einen Kaffee gehofft.

»Vermutlich schon.« Sie zuckte mit den Schultern, seine fragende Miene forderte allerdings eine nähere Erklärung. »Seit Monaten wächst mein Verdacht, dass es sich bei diesem Monstrum um ein als Gastronomie-Kaffeemaschine getarntes, fehlgeschlagenes Genexperiment handelt. Irgendwer muss versucht haben, die Überbleibsel einer Apollo-Mission mit einem Esel zu kreuzen. Heraus kam ein altersschwacher Stahlkasten, der störrisch den Dienst verweigert.«

Ihr Gegenüber starrte sie einen Moment ungläubig an, dann lachte er laut los. Ein offenes, fröhliches Lachen.

»Würden Sie sich für mich der Herausforderung stellen, diesem bionischen Wunderwerk einen Kaffee abzuringen?«

»Ich kann mein Glück versuchen.« Cadence lächelte ihm auf eine Weise zu, die deutlich machte, wie wenig sie an einen Erfolg glaubte, und begab sich hinter die Theke, um den Kampf aufzunehmen.

»Na, war er aus der Nähe genauso attraktiv, wie du gedacht hast?« Brenda grinste sie an.

Cadence schnitt ihr eine Grimasse und kontrollierte die Wassertemperaturanzeige der Kaffeemaschine. Was immer da gleich herauskäme, wäre immerhin heiß. »Was du wieder denkst«, fertigte sie ihre Freundin kurz ab. Seit Cadence als Single aus Denver zurückgekehrt war, hatte Brenda es sich zu ihrer Aufgabe gemacht, sie zu verkuppeln.

»Ach komm, ich habe doch Augen im Kopf.« Brenda polierte ungerührt weiter Gläser. »Seit der Kerl das erste Mal das Plansprings Inn betreten hat, schmachtest du ihn von der Theke aus an.«

Cadence schoss die Hitze ins Gesicht. War das so deutlich gewesen? Hatte er es am Ende auch bemerkt? Sie kroch fast in das Display, während sie die Auswahl für einen schwarzen Kaffee eingab. Natürlich hatte sie immer mal wieder einen Blick riskiert. Wie hätte sie das auch nicht tun können? Er sah umwerfend aus. Groß, athletisch, dunkelhaarig. Markante Gesichtszüge, streng genug, um männlich zu sein, ohne roh zu wirken.

Brenda stieß sie leicht in die Seite. »Hast du ernsthaft gedacht, mir fällt das nicht auf? Ich bin seit Kindertagen deine beste Freundin!«

»Es macht mir mehr Sorge, dass es ihm aufgefallen sein könnte«, murmelte Cadence. »Wie peinlich wäre das denn?«

»Das wäre nicht peinlich, das wäre der erste Schritt. In Kennerkreisen auch bekannt unter ›Flirten‹. Mensch, Cadie, du bist wirklich eingerostet. Der Typ steht auf dich!«

»Oder auf seinen Kaffee. Vielleicht wollte er nur wissen, ob ich dieses Mistding zum Laufen kriege.«

Wie zum Protest gegen diese abwertende Titulierung gab das Mahlwerk nur ein kurzes Kreischen von sich und trat in den Streik. Mit einem Seufzen schlug Cadence gegen das Gehäuse und wartete auf das erlösende Stottern.

»Die letzten beiden Tage gab es Kaffee und er hat trotzdem ständig zu dir gesehen«, beharrte Brenda. »Er sitzt bestimmt nicht ohne Grund im Innenraum, obwohl es draußen auf der Terrasse warm und sonnig ist.«

Das Getöse der reanimierten Maschine beendete glücklicherweise das Gespräch. Cadence würde den Kaffee jetzt mit ihrem strahlendsten Lächeln servieren und Brenda ein für alle Mal beweisen, dass es dem Gast nur um das Getränk ging.

Der Typ lächelte ihr entgegen und der Glanz seiner Augen ließ Cadence einen Moment lang glauben, Brenda könnte recht haben. Ihr Puls beschleunigte sich.

Doch er nickte nur, als sie die Tasse vor ihm abstellte. Cadence fuhr das Strahlen zurück auf ein höfliches Niveau und wandte sich in Richtung Theke.

»Warten Sie bitte!«

»Ja?« Sie drehte sich zu ihm herum.

»Ich reise am Sonntag ab. Da ich nicht weiß, ob Sie am Wochenende arbeiten, ist heute meine letzte Chance zu fragen: Darf ich Sie zum Essen ausführen?«

Aus einer Ecke, in der Brenda angelegentlich Zuckerstreuer nachfüllte, erklang etwas, das sich verdächtig nach »na, endlich« anhörte. Die Mundwinkel des Gastes zuckten leicht. Cadence beeilte sich, die Einladung anzunehmen, bevor Brenda das am Ende für sie erledigte.

»Ich freue mich sehr.« Er hielt ihr die Hand hin. »Ich bin Noel.«

»Cadence, aber so nennen mich nur meine Eltern, wenn sie schlecht auf mich zu sprechen sind. Sonst Cadie.« Sie ergriff seine Hand. Sie fühlte sich gut an. Warm und kräftig. Er hielt sie genau die richtige Zeitspanne lang fest, das hatte Stil. Sie fand einen waschlappenartigen Händedruck ebenso unattraktiv wie Männer, die diese erste Begrüßung zu einer Art Vorspiel machten.

»Meine Schicht endet am Nachmittag um fünf, dann habe ich frei bis Montag.«

»Bestens. Sagen wir heute Abend um sieben?«


Cadence hatte einen Moment gezögert, sich von Noel zuhause abholen zu lassen. Die Alternative wäre das Plansprings Inn gewesen. So oder so bekäme es der halbe Ort mit, dass sie ein Date hatte. Die andere Hälfte wüsste es spätestens morgen. Plansprings war eine winzige Gemeinde, da funktionierten die Buschtrommeln einwandfrei.

Doch warum sollte sie überhaupt ein Geheimnis daraus machen? Sie war Single und hatte seit Ewigkeiten kein Date mehr gehabt. In Denver war das nicht nötig gewesen, da gab es Laurent, und seit der sie still und heimlich hatte sitzen lassen, war ihr ohnehin nicht mehr nach Männerbekanntschaften zumute. Wenn Brenda nicht eine solche Nervensäge wäre, hätte sie sich wahrscheinlich noch immer nicht auf eine Verabredung eingelassen, doch Brenda hätte ihr die Hölle heiß gemacht. Und nun, da sie in einem knielangen Rock, einem figurbetonten Oberteil und neuen Booties auf ihn wartete, kribbelte mit einem Mal echte Vorfreude in ihr.

Pünktlich um sieben hielt ein dunkler Jeep Cherokee vor ihrem Haus und Cadence trat vor die Tür. Noel kam auf sie zu und sie sah ihn zum ersten Mal in etwas anderem als Wanderklamotten. Er trug eine tintenblaue, fast schwarze Jeans, die wie angegossen saß, dazu ein hellgraues Hemd und ein Sakko. Seine Haare waren akkurater frisiert als morgens, bevor er zu seinen Wanderungen aufbrach. Trotzdem hatte sich schon wieder eine Strähne dem Kamm widersetzt und fiel ihm in die Stirn.

Cadies Herz tat einen Extraschlag. Diese Strähne war es, die ihre Aufmerksamkeit sofort auf sich gezogen hatte, als er das Plansprings Inn zum ersten Mal betreten hatte. Sie lächelte bei der Erinnerung an den unsinnigen Drang, ihm die Strähne aus der Stirn zu streichen, den sie von diesem Moment an jedes Mal verspürte, wenn sie ihn ansah.

Noel lächelte zurück. Er beugte sich vor und hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. Die Ahnung eines exquisiten Aftershaves streifte ihre Nase. »Du siehst gut aus.«

»Danke, du auch.« Etwas unsicher schaute sie ihn an. Sein Dreitagebart war verschwunden. Er sah dadurch seriöser aus, aber kein bisschen weniger attraktiv. Sie lenkte ihren Blick verlegen an ihm vorbei. Brenda hatte recht. Sie war definitiv eingerostet. So befangen hatte sie sich das letzte Mal vor ihrem Highschool-Ball gefühlt. »Wenn du nicht morgen Stadtgespräch sein möchtest, fahren wir jetzt besser.« Cadie deutete mit dem Kopf in Richtung des gegenüberliegenden Hauses, wo der Schatten ihrer Nachbarin Mrs Whittley im Fenster erschien. »Man steht hier unter ständiger Beobachtung.«

Sie hatte das locker dahingesagt. Eigentlich nur, um ihre Verlegenheit zu überspielen. Für sie war dieses enge Gefüge Normalität. Sie war so aufgewachsen und hatte sich die erste Zeit in der Anonymität Denvers sogar verloren gefühlt.

Noel hingegen reagierte bestürzt. »Bringe ich dich in Schwierigkeiten, weil ich dich ausführe?« Er rieb sich mit sichtlichem Unbehagen über den Nacken. »Ich vergesse immer, dass die Uhren hier draußen anders ticken.«

Cadence schmunzelte. »Hast du Sorge, wir gelten als verlobt, weil wir einmal zusammen Essen gehen?« Sie registrierte seine Miene. »Oh mein Gott – darüber machst du dir tatsächlich Gedanken?«

»Nein, Unsinn«, wehrte Noel ab, allerdings für Cadies Geschmack etwas zu hastig. Hielt er sie vielleicht für provinziell?

»Ich war in Denver auf dem College«, erklärte sie mit einem angedeuteten Grinsen. »Ich kenne also die große weite Welt.«

»In Denver?« Er sah sie überrascht an. »Da lebe ich. In welcher Ecke hast du gewohnt?«

Und bereits während er sie zum Auto geleitete, befanden sie sich in einem regen Gespräch über Collegezeiten, Partys und Treffpunkte. Nachdem ihre erste Anspannung abgefallen war, war es erstaunlich einfach, sich mit Noel zu unterhalten. So bekam Cadie kaum mit, wohin sie fuhren, bis Noel die Interstate verließ, weil sie Vail erreicht hatten.

»Ich finde es immer wieder bemerkenswert, dass man Vail einzig und allein über die I-70 erreichen kann.« Noel lenkte den Wagen sicher durch die Straßen. »Soweit ich weiß, ist das die einzige Stadt in den Staaten, bei der das so ist.«

»Du scheinst Vail gut zu kennen.«

»Ich war früher gelegentlich mit meinen Eltern hier in der Gegend. Zum Wandern oder Skilaufen. Von Denver aus ist man ja schnell hier.«

Er bog auf den Parkplatz eines Steakhauses. »Falls du kein Fleisch isst – sie haben auch vegetarische Gerichte auf der Karte.«

»Alles gut.« Cadie lachte. »Ich esse für mein Leben gern Steak. Ich bemühe mich, nicht zu häufig Fleisch auf dem Teller zu haben, aber einem guten Steak werde ich wohl nie widerstehen können.«

»Prima, dann weiß ich das Richtige für uns, wenn du dich von mir mit dem Essen überraschen lässt.«

Cadie nickte lächelnd und ließ sich von Noel in den Gastraum dirigieren, wo sie Eleganz in einer Art durchgestyltem Landhausstil empfing. Massives Holz mit klaren Linien dominierte. Schlichte, doch teuer wirkende Stoffe fanden als Vorhänge, Kissenbezüge und Tischläufer Verwendung. Edelstahlleuchter an den Wänden, die vermutlich einen Designpreis für Funktionalität und reduzierte Form gewonnen hatten, sorgten für eine indirekte Beleuchtung. Wenn das Essen ähnlich exquisit war, wie die Einrichtung versprach, würde es ein gelungener Abend werden.

Ein Kellner trat auf sie zu. »Noel, wie schön, Sie wieder einmal begrüßen zu dürfen. Bitte folgen Sie mir zu Ihrem üblichen Platz.«

Hoppla, Noel war hier so etwas wie ein Stammkunde?

»Bist du häufig hier?«, erkundigte sich Cadie, als sie saßen.

»Es geht. Mein Vater ist mit dem Seniorchef befreundet, deshalb kennt man mich.« Auf sein Zeichen hin eilte ein Angestellter herbei, der etwas abseits mit einer Flasche Rotwein gewartet hatte. »Du trinkst doch Wein?«, wandte Noel sich daraufhin an Cadie, die gespannt nickte. Wenn sie den Laden richtig einschätzte, würde sie gleich einen wirklich guten Tropfen kosten dürfen. Noel schnupperte kurz an dem Wein in seinem Glas und nahm einen Probeschluck, bevor er seine Zustimmung signalisierte. Cadie atmete innerlich auf. Sie hasste es, wenn jemand zu viel Aufhebens um die Verkostung machte. Manchmal geschah das sogar im Plansprings Inn, obwohl es dort ohnehin nur jeweils eine Sorte Rot-, Weiß- und Roséwein gab. Cadie wusste in solchen Momenten sofort, dass sich ein Gast aus dem schicken Resort zu ihnen ins Tal verirrt hatte.

Der Wein, der jetzt in ihren Gläsern im Kerzenlicht rot glühte, war ausgezeichnet, das erkannte selbst Cadies ungeübter Gaumen. Als dann auch noch das Fleisch auf den Punkt medium war – genau wie sie es mochte –, fühlte sie sich wie im Gourmethimmel.

»Black Angus Beef«, klärte Noel sie auf, der nur geheimnisvoll »wie immer« für sie beide bestellt hatte.

Während des Essens redeten sie wenig, doch danach wurde das Gespräch persönlicher.

»Nun erzähl doch mal, was dich von Denver wieder zurückgeführt hat in diese eher beschauliche Ecke des Landes.« Noel schenkte ihnen Wein nach. »Hat es dir in der Großstadt nicht gefallen?«

»Die Collegezeit war vorbei und ich wusste nicht, in welcher Richtung ich weitermachen sollte«, erwiderte Cadie. Von Laurent, der ohne ein Wort des Abschieds verschwunden war, würde sie natürlich nichts sagen. Dabei hatte er dafür gesorgt, dass sie Denver, die Stadt mit den vielen Erinnerungen an ihn, plötzlich unerträglich fand.

»Und jetzt weißt du es?« Noels Frage klang ehrlich interessiert. Keineswegs spöttisch, obwohl ihm klar sein musste, dass Bedienung im Plansprings Inn kaum ihr Traumjob sein konnte.

Sie zuckte mit den Schultern. »Noch immer nicht, offen gesagt. Ich überlege, an einer Universität weiter zu studieren. Die Entscheidung hat allerdings noch Zeit, denn vorher muss ich ohnehin mein Konto anfüttern. Auf absehbare Zeit werde ich also in Plansprings bleiben und kellnern.«

Noel nickte nachdenklich. »Wenn du dich für einen Studiengang entschieden hast, könntest du dich für ein Stipendium bewerben. Was kommt denn in die engere Wahl?«

»Früher wollte ich immer etwas mit Menschen machen. Medizin vielleicht. Oder Psychologie. Doch während der medizinischen Grundkurse auf dem College habe ich gemerkt, dass mich auch Dinge wie Management reizen. Ich hätte es nie gedacht, aber der wirtschaftliche Kram liegt mir. Und schon saß ich da mit einem BA-Abschluss in Klinikmanagement und konnte mich nicht entscheiden, wie es weitergehen soll. Deshalb ist es ganz gut, dass ich sowieso erstmal Geld verdienen muss. Ich kann mich ja nicht auf ein Stipendium verlassen.« Sie nahm einen weiteren Schluck Wein und ließ ihn genüsslich über die Zunge rinnen. Sie begann zu verstehen, warum einige Menschen so ein Theater bei einer Weinverkostung machten. »Was ist mit dir?«, fragte sie Noel. »Hast du studiert?«

»Ja.« Er nickte und schien seltsamerweise zu überlegen, was er antworten sollte. »Ich habe Jura und Wirtschaftswissenschaften studiert.«

»Echt?« Cadence glich das Bild, das sie sich von Noel gemacht hatte, mit dem Juristen ab, der jetzt vor ihr saß. Kleider machten eben doch Leute. Sie hatte ihn fast eine Woche lang nur in Wandersachen gesehen. Feste Trekkingschuhe, Wanderhosen im Cargostil, darüber ein Shirt oder an kalten Tagen ein Hoodie. Dazu diese eine Strähne, die immer frech in die Stirn fiel. Sie konnte sich ihn nicht im Anzug mit Krawatte vorstellen und eigentlich wollte sie das auch nicht. Ihr Bild von ihm gefiel ihr besser.

»Ja, echt.« Er legte den Kopf leicht zur Seite und sah sie prüfend an, als ob er ihre Überlegungen in ihr las.

Bevor er nachhaken konnte, fragte sie weiter: »Und was machst du heute beruflich?«

Schon wieder ein kurzes Zögern. »Ich arbeite in einer Art Investmentfirma.«

»Eine Art?«

»Nun, klassischerweise stellt man sich darunter vor, dass wir das Geld unserer Kunden gewinnbringend in Fonds und börsennotierten Unternehmen anlegen. Wir sind jedoch anders aufgestellt und suchen nach lohnenswerten Start-ups oder Firmen, die zwar akut eine Finanzspritze benötigen, aber langfristig wieder schwarze Zahlen schreiben werden. Dorthin fließt das Geld und kommt im Idealfall irgendwann vervielfacht zurück.«

»Klingt sinnvoller als Wertpapierhandel. Mir hat sich die Faszination nie erschlossen. Vermutlich habe ich es doch nicht so mit Wirtschaft, wie ich vorhin noch behauptet habe.«

»Ich glaube eher, man muss ein ganz bestimmter Typ Mensch sein, um daran wirklich Freude zu haben. Mich würde auch nichts an die Börse ziehen.«

Cadie stellte sich Noel in einem Kundengespräch vor. In steifer Businessgarderobe. Es gelang ihr immer noch nicht, obwohl er heute Abend ein Sakko trug. Das Hemd war allerdings zu lässig für ein Büro mit Kundenverkehr. Ob ihn eine Krawatte verändern würde? Von seinen schalkhaften Augen ablenken, die jetzt amüsiert aufblitzten, als er ihre verstohlene Musterung bemerkte? Ob er einen maßgeschneiderten Anzug besaß?

»Was denkst du?« Noel schmunzelte.

»Ich kenne dich nur in Outdoorkleidung.«

»Ja, und?«

»Du hast gefragt, was ich gerade denke. Das war meine Überlegung.«

Noel lachte auf. »Du warst so tief in dich gekehrt, dass ich erwartet hätte, du revolutionierst in diesem Augenblick die Elementarteilchenphysik durch die Entwicklung neuer Grundsätze zur Quantenfeldtheorie.«

»Was?« Cadie sah ihn einen Moment verblüfft an, dann stimmte sie in sein Lachen ein. »Nein, es ging nur um dich.«

Noel neigte den Kopf zur Seite. »Gefällt mir irgendwie besser.«

Seine Tonlage hatte sich verändert. Sie war sanfter, wärmer. Das Blau seiner Augen wirkte im Kerzenlicht dunkler und sehr intensiv. Nie hatte Cadie solche Iriden gesehen. Ihre eigenen waren ebenfalls blau, doch viel heller. Sie fand sie wässrig, interessant allenfalls dadurch, dass ein leicht grünlicher Ton in ihnen lag. Laurent hatte ihre Augenfarbe geliebt. Er hatte gesagt, sie hätte den Ton der französischen Riviera. Ob er dort jetzt am Strand hockte und beim Anblick des Meeres an ihre Augen dachte? Zum Teufel mit ihm! Sie saß hier mit dem attraktivsten Mann diesseits der Rocky Mountains und bekam noch immer nicht das Bild ihres Ex aus dem Kopf. Was stimmte nicht mit ihr? Brenda hatte recht. Es war Zeit, nach vorne zu blicken. Sie lächelte Noel an und mit einem Mal fiel es ihr erstaunlich leicht, in seinen Augen zu versinken.

Die Atmosphäre zwischen ihnen veränderte sich zunächst kaum merklich. Sie hatten sich vorher bereits angelächelt, doch wurde die Stimmung unvermittelt inniger. Je länger sich ihre Blicke verwoben, desto strahlender wurde die Wärme in Cadies Brust. Sie musste sich nicht fragen, ob Noel etwas Ähnliches empfand, sie las es in seinen Augen. Dieses Kribbeln in ihren Nervenbahnen hatte sie lange nicht mehr verspürt. Auch schon Monate, bevor sich Laurent von ihr getrennt hatte, nicht mehr, wurde ihr plötzlich bewusst. Jetzt war es wieder da, das Prickeln, das diese erste Zeit des Verliebtseins so spannend machte. Verliebtsein? Cadie biss sich auf die Lippe. Davon konnte doch überhaupt keine Rede sein und da Noel übermorgen abreisen musste, war zweifelhaft, ob sie diesen Zustand je erreichten. Denver war in vielerlei Hinsicht mehr als nur zwei Autostunden entfernt. Aber ihre körperliche Reaktion konnte sie nicht ignorieren. Dieses Vibrieren in jeder Zelle, nun da er behutsam über den Tisch langte, ihre Hand ergriff und mit seinem Daumen zärtlich über ihren Handrücken strich. Sie fuhr mit der Zungenspitze über ihre Lippen. Eine Handlung, die ihr erst bewusst wurde, als sie das Aufblitzen in Noels Augen sah. Die Stichflamme, die dieser Funke in ihr entfachte, überraschte sie selbst. Es war nicht zu leugnen – sie wollte mehr von seinen Berührungen.


Auf der Rückfahrt sprachen beide wenig. Cadies Gedanken rasten. Noel schien es zu spüren und ließ sie in Ruhe.

Sie hielt nicht viel von One-Night-Stands. Vor Laurent hatte sie es ein-, zweimal versucht, aber sie hatte bemerkt, dass sie mehr brauchte, als fähige Finger oder sein bestes Stück in ihr, um wirklich befriedigt zu sein. Um sich dem anderen vollständig hingeben zu können und ihm zu erlauben, sie bis zur Ekstase zu treiben, musste sie ihm völlig vertrauen.

Nach dieser Erkenntnis hatte sie auf schnellen Sex verzichtet und sich einen Vibrator bestellt. Der jedoch genauso wenig erfüllend war wie der routinierte Sex mit Laurent gegen Ende ihrer Beziehung. Wieso war ihr das nicht eher aufgefallen? Natürlich, sie hatte regelmäßig einen Orgasmus gehabt, ebenso wie er stets gekommen war. Doch wenn sie nun daran zurückdachte, hätte sie nicht sagen können, wann sie sich das letzte Mal an ihn gekrallt hatte, fast wahnsinnig vor Lust gestöhnt und ihn angefleht hatte, sie kommen zu lassen.

Ob sich das heute ändern würde? Wäre Noel der Mann, der sie in andere Sphären katapultieren konnte? Wollte sie das überhaupt? Ihr Schoß sagte ganz eindeutig ›Ja‹. Er forderte das vielmehr mit einem deutlichen Pochen ein, das sich sofort bei der Vorstellung gemeldet hatte, was Noel mit ihr anstellen würde. Oh Gott, sie hatte entschieden zu lange keinen Sex mehr gehabt!

Während ihr Unterleib somit bereits Position bezogen hatte, stritten Herz und Kopf um die richtige Entscheidung. Noel wäre übermorgen weg und ihr Herz auf dem besten Wege, sich an ihn zu hängen. Dabei hatte es nach Laurent wahrlich genug gelitten.

Sie hatte noch immer keine Entscheidung getroffen, als sie Plansprings erreichten. An der Abzweigung, die hoch zum Resort führte, fuhr Noel rechts ran.

»Hast du noch Lust auf einen Drink?«

»Das Plansprings Inn schließt gleich und mehr haben wir hier nicht.«

»Ich dachte eigentlich an das Resort. Die Hotelbar hat noch eine Weile geöffnet.« Er lächelte sie verführerisch an. »Sanfte Pianomusik, dazu einen Cocktail oder ein Glas Weißwein. Wie klingt das?«

So, als sollte sie schnellstens eine Entscheidung treffen. Denn natürlich hatte Noel auch sein Zimmer dort oben. Sie hatte sich in die Irre leiten lassen, weil er jeden Tag unten im Dorf aufgetaucht war. Normalerweise blieben die Gäste des Resorts unter sich. Unter Ihresgleichen, den Reichen und Schönen. Vereinzelt verirrte sich mal einer zu ihnen, um etwas ›Lokalkolorit‹ zu erleben und ›das ursprüngliche Colorado kennenzulernen‹. Aber niemals kam jemand täglich herunter.

»Du sagst gar nichts.«

»Ich bin etwas überrascht, dass du Gast dort oben bist.« Sie hätte es wissen können. Sein Jeep war neu. Sie wusste, was solche Autos kosteten. Von dem Geld hätte man das Haus, in dem sie wohnte, zweimal bezahlen können. Sie hatte auch die Kreditkarte gesehen, die er diskret in die kleine Schatulle geschoben hatte, in der vorhin die Rechnung zum Tisch gebracht wurde. Die Karte war schwarz gewesen. Er lebte nicht nur in Denver, sie trennten auch sonst Welten. Und das gab den Ausschlag. Sie wollte keine Urlaubserinnerung für eine Nacht sein.

»Es war ein wundervoller Abend, aber ich glaube, ich möchte jetzt nach Hause«, erwiderte sie und Noel nickte, als hätte er damit schon gerechnet.

Vor ihrem Haus hielt er sie am Arm fest, bevor sie aussteigen konnte. »Warte kurz.«

Er stieg aus, öffnete ihr galant die Tür und brachte sie bis zum Eingang. Dort drehte sich Cadie zu ihm um. »Noel, es ist …«

»Schon gut«, unterbrach er sie und legte seinen Zeigefinger sachte auf ihre Lippen. Die Berührung ließ Cadie erschauern. Wollte sie ihn wirklich wegschicken? Konnte sie sich das entgehen lassen? Noel beugte sich vor und platzierte einen hauchzarten Kuss auf ihrer Stirn. Dann wanderte sein Mund tiefer und landete auf ihrem. Kaum spürbar streifte er sanft darüber und Cadie sog scharf die Luft ein, als eine Welle der Erregung durch sie hindurch schoss. Viel zu schnell löste er seinen Mund und sah ihr tief in die Augen. Mit der Zungenspitze folgte sie den prickelnden Spuren, die er auf ihren Lippen hinterlassen hatte, und Noel lächelte sie auf eine beinahe wehmütige Art an.

»Schlaf gut, Cadie.« Er wandte sich zum Gehen, hielt jedoch nach einigen Schritten inne und drehte sich zu ihr um. Cadie hatte sich nicht gerührt, gefangen in dem Widerstreit der Emotionen, die seine zärtlichen Liebkosungen ausgelöst hatten. Sie konnte nicht einfach ›nur Sex‹ haben. Aber genau das wollte sie so gerne. Mit ihm.

»Gehen wir morgen gemeinsam wandern?«, fragte er und sie hörte sich »Ja« sagen, bevor ihr Kopf eine Chance hatte einzuschreiten.

»Prima. Kommst du hoch ins Resort? So um zehn vor dem Haupthaus?«

Cadie nickte wie in Trance. Ihr Herz klopfte vor Freude. Sie lächelte ihm glücklich hinterher. Sie würden sich wiedersehen – auch wenn das ihr Grundproblem nicht löste, sondern nur vertagte.

2

Noel

Sie stand noch immer im Türrahmen und lächelte, ihre Hand leicht angehoben– als wäre sie unschlüssig, ob sie ihm winken sollte. „Unschlüssig“ beschrieb ihr Verhalten in der letzten Stunde überhaupt ganz gut.

Er startete den Wagen, sah bewusst nicht mehr zu ihr hinüber und fuhr los.

Ihm war nicht entgangen, wie sie ihn angesehen hatte. Sie gehörte nicht zu den Frauen, die sich verstellten. Sie verbarg nichts. Er hatte das Verlangen in ihren Augen gesehen, als sich die Stimmung zwischen ihnen sinnlich aufgeladen hatte. Verdammt, als sie sich im Restaurant über die Lippen geleckt hatte, konnte er kaum widerstehen, sie sofort an sich zu reißen und ungestüm ihren Mund und danach ihren gesamten Körper zu erobern. Wann hatte eine Frau das letzte Mal eine solche Begierde in ihm ausgelöst?

Die Antwort war einfach – noch nie. Seine Gespielinnen waren alle nichtssagend und austauschbar. Natürlich waren alle ausgesprochen schön. Und ausgesprochen geldgeil. Entweder hatten sie selbst Vermögen und suchten sich ihr Spielzeug in den eigenen Reihen. Oder sie jagten dem Geld nach und er war deshalb begehrt. In beiden Fällen lief es auf dasselbe hinaus. Beide Seiten bekamen, was sie wollten: etwas Spaß und oberflächlichen Sex. Er war kein Egoist. Stets sorgte er dafür, die Wünsche der Frauen zu erfüllen. Er führte diejenigen im großen Stil aus, denen es um Geld und Glamour ging, und machte ihnen teure Geschenke. Die anderen, die selbst vermögend waren und ihn nur als nette Abwechslung sahen, verwöhnte er im Bett. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass es sich in jeder Hinsicht auszahlte, die Bedürfnisse seiner jeweiligen Begleiterin an die erste Stelle zu setzen – denn eine zufriedene Frau garantierte bombastischen Sex. Danach waren beide glücklich und ihre Wege trennten sich unkompliziert. So war der Plan, doch er hatte sofort gemerkt, dass Cadence anders war. Bei ihr musste er es langsamer angehen lassen. Er hatte ihren Kampf im Auto bemerkt. Sie wollte ihn zweifelsohne. Aber sie hatte Bedenken und er ahnte und verstand, welche das waren.

Längst bevor er sie zur Tür gebracht hatte, war seine Entscheidung gefallen, sie nicht wiederzusehen. Dann hatte sie sich zu ihm umgedreht, im Schein der Außenbeleuchtung hatten ihre Augen türkisfarben geschimmert und er musste einfach diese zarten Lippen kosten. Verdammt, er war auch nur ein Mann und Cadie war heiß! Sie war schlank, ihr Hintern perfekt geformt und ihre Brüste würden vermutlich genau in seine Hände passen. Bei diesem Gedanken stellte sich ein begehrliches Ziehen in seinem Unterleib ein.

Nach dem Kuss hatte er vernünftig sein und gehen wollen, doch dann hatte sie sich wieder über die verflixten Lippen geleckt und er hätte beinahe alle seine guten Vorsätze über Bord geworfen und versucht, sie zu verführen. Wahrscheinlich hätte sie nachgegeben. Und er hätte sich anschließend wie ein Dreckskerl gefühlt. Denn trotz aller Spielchen im Bett und trotz der Oberflächlichkeit seiner zahlreichen Frauenbekanntschaften hatte er sich ausnahmslos an zwei Regeln gehalten: immer safe und immer willig. Er hatte es sich geradezu zur Herausforderung gemacht, seinen Schwanz erst dann einzusetzen, wenn die Frau ihn darum anflehte. So konnte er sicherstellen, dass beide auf ihre Kosten kamen, und er musste niemals einen Gedanken daran verschwenden, ob er Frauen ausnutzte.

Nur deshalb – weil diese Prinzipien wirklich eisern waren – hatte er es geschafft zu gehen. Doch hatte ihn dieser Grundsatz nicht daran hindern können, sie für morgen erneut einzuladen. Und das kleine Teufelchen in ihm wusste, dass er nur darauf wartete, dass Cadie ihre Bedenken bis zum nächsten Abend über Bord werfen würde. Er musste diese Frau haben.

3

Cadie

Müde und doch voll unruhiger Spannung blickte Cadie auf die Straße, die sich vor ihr in Kurven den Berg hinaufwand.

Sie hatte die halbe Nacht nicht geschlafen. Noel ging ihr nicht aus dem Kopf. Oder besser das, was seine wenigen Berührungen mit ihr gemacht hatten. Was würde es erst mit ihrem Körper anstellen, wenn er sie vollständig in Besitz nahm? Wenn seine nackte Haut an ihrer läge? Die athletische Art seiner Bewegungen verriet Sportlichkeit. Im Geiste fuhr sie mit ihren Fingerspitzen über seine Brustmuskeln bis hinab zu seinem Sixpack und darüber hinaus weiter nach unten, dort wo…

Sie bremste scharf. Beinahe hätte sie das Kaninchen überfahren, das sich von ihr erschreckt mit einem Sprung in den Graben rettete. Verdammt, der Fahrersitz war kein guter Ort für Tagträume! Zum Glück tauchten vor ihr die ersten Ausläufer des Plansprings Mountain Ski Resorts auf. Die weißgetünchten Mauern strahlten in der Morgensonne, vereinzelt rankten Rosen an Spalieren empor und setzten knallrote Farbakzente. Eingerahmt durch die majestätischen Gipfel der Sawatchkette wirkte die Anlage wie ein Bild aus einem Reiseprospekt. Malerisch, exquisit – und sehr, sehr teuer.

Ihr Subaru Impreza war für sein Alter noch gut in Schuss und doch fiel er zwischen all den Luxuskarossen auf dem Parkplatz sofort auf wie zerrissene Jeans auf dem Opernball. Sie war lange nicht mehr hier oben gewesen. Das würde sich bald ändern, wenn sie Ende Oktober ihren neuen Job antrat. Das »Bewerbungsgespräch« hatten sie unten im Plansprings Inn geführt. Matt hatte einfach auf einen Kaffee angehalten und sie hatten sich zwischen Donut und Cappuccino auf ihre Anstellung verständigt. Was gab es auch groß zu klären? Matt kam aus Plansprings, also kannte man sich schon ewig. Und auch wenn er es geschafft hatte, in Harvard zu studieren und anschließend seinen großen Traum vom Plansprings Mountain Ski Resort umzusetzen, war er doch einer von ihnen geblieben. Für die lebhaften Wintermonate stellte das Resort immer Aushilfen ein und so würde Cadie bald täglich hier oben sein. Aktuell existierte aber nur der eine Grund für sie, diesen Ort zu besuchen, und der hatte sie bereits gesehen und schlenderte ihr entgegen.

Cadie erblickte Noels strahlende Augen, sein breites Lächeln, eine Strähne in seiner Stirn und ihr Herz tat einen Satz.

»Schön, dass du hier bist.« Er beugte sich vor und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. »Bist du startklar? Wollen wir sofort los?«

Cadie nickte, angelte ihren Rucksack aus dem Kofferraum und sah Noel fragend an. »Hast du einen bestimmten Weg im Kopf, oder wandern wir einfach drauflos?«

Noel rieb sich nachdenklich über das Kinn. »Eigentlich bestimme ich gerne, wo es langgeht.« Er zwinkerte ihr zu. »Aber vielleicht lasse ich mich heute mal überraschen. Du kennst dich hier besser aus. Zeig mir etwas Schönes.«

»Warst du schon an den Plansprings Falls?«, erkundigte sich Cadie.

»Du meinst oben am See?« Er schüttelte den Kopf. »Den See kenne ich zwar, aber ich bin von der anderen Seite gekommen, dort, wo diese kleine Hütte für Wanderer steht. Am Wasserfall selbst war ich noch nicht.«

»Dann hätten wir ja ein Ziel«, freute sich Cadie, schulterte den Rucksack und lief los. Sie schlug ein flottes Tempo an, doch Noel folgte ihr mühelos. Es ging stetig bergauf, sodass sie schweigend nebeneinander oder hintereinander herliefen. An einigen Stellen blieben sie stehen, um die Aussicht zu genießen. Nadelbäume, meist Fichten, dominierten die Wälder. Dort, wo es vereinzelte Laubbäume geschafft hatten, den Herausforderungen der Berge zu trotzen, leuchteten bereits gelbe, orangefarbene und rote Punkte im dunklen Grün. Der Herbst stand unverkennbar vor der Tür.

Heute stemmte sich jedoch der Sommer gegen die vorrückende Kälte, die bald schon die Rocky Mountains fest im Griff haben würde. Die Sonne schien von einem fast wolkenlosen Himmel, nur hier und da schwebte bauschiges Weiß vor dem tiefen Blau. Das Sonnenlicht wärmte noch überraschend kraftvoll, und Cadie zog ihre Wanderjacke aus und verknotete sie um ihre Hüften. Unter der Jacke trug sie nur ein leichtes, eng anliegendes Shirt, und ihr entging Noels interessierter Blick nicht. Er selbst hatte ein lässiges Wandershirt an, sodass Cadie noch immer nicht wusste, ob ihre Fantasien von seinen Muskeln der Realität entsprachen.

Noel grinste, und Cadie bemerkte etwas verlegen, dass sie ihn einen Moment zu lange angestarrt hatte. Schnell drehte sie sich um und stapfte weiter. Gute zwei Stunden später traten sie schnaufend zwischen den Bäumen oberhalb des Sees hervor, wo sich ihnen ein atemberaubendes Bild bot.

Cadie kannte den See von Kindheit an, doch war sie jedes Mal aufs Neue fasziniert von dem intensiven hellblauen Farbton des Wassers, das so kristallklar war, dass man bis weit hinein den felsigen Untergrund erkennen konnte.

»Wow«, flüsterte sie, »der Anblick haut mich immer wieder um.«

Auch Noel sah mit einer beinahe ehrfürchtigen Miene auf das vor ihm liegende Blau. Dann drehte er seinen Kopf mit einem leichten Lächeln zu Cadie. »Weißt du, dass das Wasser genau die Farbe deiner Augen hat?«

Cadie runzelte unwillig die Stirn. Zum einen glaubte sie das nicht, ihre Augen waren viel wässriger. Zum anderen wollte sie nicht daran erinnert werden, wer zuletzt ihre Augenfarbe mit der des Wassers verglichen hatte. Laurents Verrat schmerzte noch immer. Natürlich hatte sie gewusst, dass das Studentenvisum des Franzosen irgendwann ablaufen würde, doch sie hatten stets davon gesprochen, dass er sich um ein neues Visum bemühen würde. Selbst von Heirat war die Rede, damit Laurent eine Greencard bekäme. Stattdessen hatte er sich davongemacht. Als er sich tagelang nicht bei ihr gemeldet hatte und ihre Anrufe nicht annahm, war sie zu seiner WG gelaufen und hatte dort den wohl peinlichsten Moment ihres gesamten Lebens überstehen müssen. Laurents Mitbewohner Frederic hatte ihr in einer schwer zu ertragenden Mischung aus Mitgefühl und Verlegenheit erklärt, Laurent sei nach Frankreich zurückgekehrt. Nein, er habe nichts für sie hinterlassen. Wie betäubt war Cadie daraufhin in ihre kleine Studentenbude zurückgetaumelt. Sie hatte nicht gewusst, ob sie die Geschichte glauben sollte, hatte geweint, verzweifelt und wütend zugleich. Wenige Tage später war ein Brief von Laurent angekommen. Abgestempelt in Nizza, ohne Absenderangaben. Er hatte ihr darin schlicht erklärt, dass er keine gemeinsame Zukunft sehe, dass er sein Leben in Frankreich aufbauen wolle und dass ihm Abschiedsszenen ein Gräuel wären, sodass er diesen Weg gewählt hätte.

Sie registrierte Noels irritierten Gesichtsausdruck über ihre unerwartete Reaktion, drehte sich brüsk um und lief weiter. Ihre Schritte wurden vor Wut immer schneller, ohne dass sie es merkte. Erst als Noel hinter ihr schnaufte: »Willst du einen Preis gewinnen oder hast du Angst, das Panorama verschwindet in wenigen Minuten wie eine Fata Morgana?«, wurde ihr bewusst, welchen Einfluss Laurent nach wie vor auf ihr Leben hatte. Das musste unbedingt ein Ende haben!

Sie verlangsamte ihre Schritte und lächelte Noel entschuldigend an. »Ich war wohl so kurz vor dem Ziel etwas beflügelt. Es ist nicht mehr weit. Nur noch dort hinten um die Ecke, dann können wir den Wasserfall schon hören.«

Und wirklich – kurz darauf drang ein leises Rauschen an ihr Ohr, das mit jedem Meter, den sie näherkamen, zu einem ohrenbetäubenden Tosen anschwoll.

»Unglaublich. Einen derart eindrucksvollen Wasserfall hätte ich hier nicht erwartet.« Noel starrte mit großen Augen die Kaskade hinauf und erinnerte mit seinem staunenden Gesichtsausdruck und den erneut widerspenstig in die Stirn fallenden Strähnen mehr denn je an einen Lausbuben.

Cadies Herz zog sich zusammen, so attraktiv fand sie ihn in diesem Augenblick. Nur schwer konnte sie den Impuls unterdrücken, näher an ihn zu rücken, die Strähne zärtlich aus seiner Stirn zu streichen und vielleicht dabei ihre Fingerspitzen beiläufig über die Konturen seines Gesichts wandern zu lassen. Noel hatte indes seinen Blick von den Wassermassen abgewendet und auf Cadie gerichtet. Ein amüsiertes Blitzen in seinen Augen ließ Cadie kurz überlegen, ob sie sich mit irgendeiner Geste oder Mimik verraten hatte.

»Einen Penny für deine Gedanken«, sagte Noel prompt.

Auf gar keinen Fall, dachte Cadie, auch nicht für eine Million Pennies. »Ich überlege gerade, dass dir unser Picknickplatz bestimmt gefallen wird.«

»Aha.« Weder sein undurchdringlicher Gesichtsausdruck noch sein Tonfall ließen erkennen, ob Noel ihr glaubte. Er zückte sein Handy, schoss einige Fotos, unter anderem auch von ihr, bevor sie protestieren konnte, und legte dann seinen Kopf in den Nacken. »Die Sicht von dort oben muss gigantisch sein.«

»Das werden wir gleich sehen, denn dort liegt unser Picknickplatz.« Cadie drehte sich zu den Felsen. »Ich hoffe, du hast noch ausreichend Kraft aufgespart, denn nun kommt der anstrengendste Teil der Tour. Aber ich verspreche dir, dass es sich lohnt.« Sie machte eine auffordernde Kopfbewegung und lenkte ihre Schritte zu der Felswand, die auf den ersten Blick nahezu senkrecht in den Himmel stieg. Doch schnell fand sie den kleinen, durch eine Felsnase verborgenen Pfad, der in die Höhe führte. Er war steil und zweimal mussten sie die Hände zu Hilfe nehmen, um weiter zu kommen. Sobald sie jedoch die Stelle erreicht hatten, an der Cadie rasten wollte, wusste sie, dass sie Recht behalten hatte. Noel strahlte über das ganze Gesicht und schien sich an dem vor ihm liegenden Naturschauspiel nicht sattsehen zu können.