Estep, Jennifer Coldest Frost – Mythos Academy Colorado 3

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Lesen was ich will!
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Übersetzung aus dem Amerikanischen von Michaela Link

 

© Jennifer Estep 2018
Titel des amerikanischen Originalmanuskripts: »Coldest Frost«
© ivi, ein Imprint der Piper Verlag GmbH, München 2019
Umschlaggestaltung: zero-media.net, München
Umschlagabbildung: FinePic®, München

 

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1

»Das wird ein Kinderspiel.« Munter sprach mein Freund Mateo Solis diese schrecklichen Worte aus. Ich sah erst ihn, dann Zoe Wayland und Ian Hunter an.

Zoe schüttelte den Kopf, Ian stöhnte und ich seufzte, weil ich ganz ihrer Meinung war.

»Was?«, fragte Mateo. »Was ist?«

Zoe warf die Hände in die Luft. Hellblaue Magiefunken schossen ihr aus den Fingerspitzen und erloschen wieder. Walküren gaben immer Magie ab, wenn sie sich aufregten oder ihre Gefühle überkochten.

»Da fragst du noch?«, sagte sie. »So etwas zu sagen bringt Pech.«

»Ja, Alter«, bestätigte Ian. »Sag niemals – niemals –, dass etwas ein Kinderspiel wird. Denn dann geht es garantiert schief.«

»Restlos schief«, stimmte ich zu.

Mateo sah uns alle drei nacheinander an. »Ich wusste gar nicht, dass ihr so abergläubisch seid.«

»Ähm, hallo, wir sind an der Mythos Academy«, erklärte Zoe. »Wir haben es ständig mit mythologischen Monstern, gruseligen Artefakten und mordlustigen Schnittern zu tun. Aberglauben ist unser Spezialgebiet. Und nach all dem Mist, den wir in den letzten Monaten erlebt haben, wären wir einfach dumm, wenn wir nicht abergläubisch wären.«

»Total«, bestätigte Ian.

»Absolut«, stimmte ich zu.

Mateo rollte angesichts unserer düster-pessimistischen Einstellung nur mit den Augen. »Von mir aus. Aber jetzt haben wir erst einmal eine Mission, also lasst mich meine Arbeit machen.«

Er wartete auch keine weitere Wortmeldung von uns ab, sondern klappte umstandslos seinen Laptop auf. Das sanfte weiße Leuchten des Bildschirms betonte seine dunkelbraunen Haare und Augen und ließ seine Haut wie polierte Bronze schimmern. Mateo ließ die Knöchel knacken und streckte beide Arme aus wie ein Läufer, der sich auf ein Rennen vorbereitete. Dann beugte er sich über den Laptop und begann zu tippen. Seine Finger flogen nur so über die Tasten – dank seiner erstaunlichen Römerschnelligkeit fast zu schnell, um ihnen zu folgen.

Mateo, Zoe, Ian und ich gehörten zum Team Midgard, einer streng geheimen Gruppe, die versuchte, die bösen Schnitter des Chaos daran zu hindern, die Herrschaft über die mythologische Welt zu übernehmen. Für heute Nacht hatte Hiro Takeda, der erwachsene Anführer von Team Midgard, uns beauftragt, in ein Gebäude einzubrechen. Dort sollten wir über ein mythologisches Artefakt wachen, das Covington, der Anführer der Schnitter, vielleicht zu stehlen beabsichtigte.

Mateo saß im Schneidersitz auf dem Boden, den Laptop auf den Knien, und Zoe, Ian und ich hockten um ihn herum. Wir hatten uns im Schatten einiger dichter Büsche niedergelassen, die auch den böigen Wind abhielten. Es war kurz nach zehn Uhr an einem wirklich kalten Novemberabend. Raureif hatte bereits das Gras und die Sträucher überzogen und verlieh den immergrünen Blättern einen silbrigen Glanz.

Mateo trug seine üblichen Sachen: dunkelblaues, langärmliges Shirt mit der Aufschrift Bigtime Barracudas, Jacke, Kakihose und blaue Laufschuhe. Zoe, Ian und ich waren hingegen ganz in Schwarz gekleidet, von den Shirts und Jacken bis hin zu den Jeans und Stiefeln. Wir drei sahen aus wie Fassadenkletterer aus einem Gangsterfilm. Und in gewisser Weise waren wir das an diesem Abend auch.

»Und … fertig!« Mateo drückte eine letzte Taste und blickte dann von seinem Bildschirm auf. »Ich habe die Alarmanlage des Gebäudes gehackt und die Übertragung der Überwachungskameras auf Endlosschleife gestellt. Jetzt sieht jeder, der auf die Bilder schaut, nur Bücher, Artefakte und Möbel statt euch, wie ihr dort herumschleicht. Ich kann auch keine Wachleute oder Schnitter entdecken, weder außerhalb noch innerhalb des Gebäudes.«

Ich nickte ihm zu und sah dann Zoe und Ian an. »Seid ihr bereit?«

Sie nickten ebenfalls.

»Dann los«, sagte ich.

Mateo blieb in unserem Versteck zurück, um die Alarmanlage und die Bilder der Sicherheitskameras im Auge zu behalten, während Zoe, Ian und ich hinter den Büschen hervorschlichen, die entlang der Wand eines dunkelgrauen Steingebäudes wuchsen.

In mehr als hundert Meter Entfernung ragte jenseits einer Rasenfläche ein weiteres, größeres, ebenfalls dunkelgraues Gebäude auf. Das war unser Ziel. Ich spähte in die Dunkelheit, aber alles blieb ruhig. Keine Spur von einem Schnitter oder sonst jemandem. Es war totenstill – nicht einmal die leisen Rufe einer Eule waren zu hören. Ich nickte Zoe und Ian noch einmal zu. Zusammen traten wir von der Wand weg und liefen auf das andere Gebäude zu.

Wir bewegten uns schnell und leise, behielten den Kopf unten und mieden das goldene Licht der Straßenlaternen an den Gehwegen. Ich sah mich ständig um und erwartete jederzeit, dass Schnitter aus den Schatten gestürzt kamen und uns angriffen. Aber wir erreichten das Zielgebäude ohne Zwischenfälle und drückten uns dort an die Wand, verschmolzen wieder mit den Schatten.

»Okay, Leute.« Mateos Stimme knisterte in meinem Ohrhörer – die benutzten wir, um während einer Mission miteinander in Verbindung zu bleiben. »Immer noch keine Spur von Wachen oder Schnittern, ihr könnt also weitermachen.«

»Danke«, flüsterte ich zurück. »Zoe, dein Einsatz.«

Sie hockte sich hin, nahm den schwarzen Rucksack von den Schultern und öffnete dessen Reißverschluss. Dann zog sie eine Mini-Armbrust daraus hervor. Im Gegensatz zu den großen, schweren Waffen aus Holz, mit denen die Mythos-Schüler im Sportunterricht trainierten, bestand diese Armbrust aus schwarzem Kunststoff und war kaum größer als eine Hand. Runde blaue Kristalle verzierten den Lauf und verliehen der Waffe ein wenig Bling-Bling.

Zoe grinste und zeigte Ian und mir die Armbrust. »Ganz neu, eine Eigenentwicklung. Klein, aber oho, genau wie ich.«

Jeder im Team Midgard hatte seine spezifische Rolle, die seinen Interessen, Talenten, seiner Magie und seinen Fertigkeiten entsprach. Mateo war der Computer-Guru, Ian und ich waren die Kämpfer und Zoe unsere geniale Erfinderin. Sie warf sich noch einmal mit der Armbrust in Pose und gab ein bisschen damit an, bevor sie wieder in ihren Rucksack griff und einen kleinen silbernen Enterhaken mit einem langen Seil daran herausfischte. Zoe schob das hintere Ende des Enterhakens dort in die Armbrust, wo normalerweise ein Bolzen eingelegt wurde, und führte das Seil durch eine kleine Schlaufe seitlich an der Waffe entlang. Dann ließ sie den Rest des Seils auf den Boden fallen.

»Mateo«, flüsterte Zoe. »Immer noch alles klar?«

Seine Stimme erklang in meinem Ohr. »Alles klar. Los.«

Zoe stand auf, hob die kleine Armbrust, zielte und drückte ab. Der silberne Enterhaken schoss durch die Luft nach oben und zog das Seil hinter sich her.

Klirr!

Der Enterhaken landete auf einem Balkon im ersten Stock und blieb an dessen steinernem Geländer hängen. Zoe hakte das restliche Seil aus der Armbrust, schob die Waffe zurück in den Rucksack und warf sich diesen wieder über die Schultern. Sie zerrte kurz an dem Seil, um sicherzustellen, dass der Enterhaken gut festsaß, und deutete dann auf Ian.

»Wikinger vor«, sagte sie.

Ian grinste, griff nach dem Seil und zog sich daran hoch. Dank seiner Wikingerkraft war er schnell im ersten Stock, schwang sein Bein über das Geländer und stieg auf den Balkon.

»Spartaner als Nächstes«, sagte Zoe.

Ich war nicht so superstark wie Ian, hatte mich aber in Takedas Sportunterricht an mehr als nur einem Seil hinaufgehangelt. Also machte ich mich an den Aufstieg. Einige Sekunden später war ich im ersten Stock, und Ian half mir über das Geländer auf den Balkon. Anstatt loszulassen, legte er mir die Hände an die Taille und trat noch näher an mich heran. Seine Wärme vermischte sich mit meiner eigenen und vertrieb die kühle Nachtluft.

Mit seinen perfekten Wangenknochen, seiner geraden Nase und seinem kräftigen Kinn war Ian Hunter einer der schönsten Typen, die ich je gesehen hatte. Das Mondlicht unterstrich seine Gesichtszüge noch, als wäre er eine wunderschöne Statue, die irgendwie zum Leben erwacht war. Der weiche, silbrige Glanz ließ auch seine grauen Augen wie Sterne schimmern und betonte die honigfarbenen Strähnen in seinem dunkelblonden Haar, das wunderbarerweise immer ein wenig zerzaust war.

»Zu schade, dass wir gerade auf einer Mission sind«, murmelte Ian. »Das wäre der perfekte Ort für einen Kuss. Oder zwei. Oder drei.«

Er hatte recht. Der abgeschiedene, dunkle Balkon war der perfekte Ort für einen Kuss. Oder zwei. Oder drei. Doch Ian und ich waren ohnehin nicht gerade wählerisch, was unsere Umgebung betraf. Nach mehreren Fehlstarts waren wir vor ein paar Wochen endlich zusammengekommen und hatten uns seither immer und überall geküsst, sobald sich eine Gelegenheit ergab.

»Erst die Mission«, neckte ich ihn. »Dann der Kuss.«

»Wie wäre es mit nur einem Kuss?«, flüsterte Ian. »Damit er uns Glück bringt?«

»Wir brauchen kein Glück«, sagte ich, aber ich grinste und legte ihm trotzdem die Arme um den Hals.

Er grinste ebenfalls und senkte den Kopf. Mir stockte der Atem und ein schwindelerregendes Gefühl weitete mir die Brust. Ich öffnete die Lippen und stellte mich auf die Zehenspitzen …

»Ihr seid gerade mal fünf Sekunden allein und knutscht schon rum? Igitt.« Zoes Stimme kam gleichzeitig von unten und aus meinem Ohrhörer.

Ich seufzte, ließ meine Arme von Ians Hals fallen und trat zurück. »Aufgeschoben?«

Er grinste mich wieder an. »Aufgeschoben.«

Wir schauten über das Geländer zu Zoe hinunter. Sie hatte die Arme vor der Brust verschränkt und klopfte mit dem Fuß aufs Gras. Blaue Magiefunken strömten aus ihren Fingerspitzen, alles offensichtliche Zeichen ihres Ärgers.

»Könntet ihr zwei mal aufhören, euch gegenseitig anzuschmachten, und mich hochziehen?«, sagte sie schnippisch. »Wir sind auf einer Mission, schon vergessen?«

Ian bedeutete Zoe, nach dem Seil zu greifen. Sie nahm es und er benutzte seine Wikingerkraft, um das Seil mitsamt Zoe in den ersten Stock zu ziehen. Ich half Zoe über das Geländer. Dann liefen wir zusammen hinüber zu der Doppeltür auf der anderen Seite des Balkons.

Zoe nahm wieder ihren Rucksack von den Schultern und stellte ihn auf den Boden. Diesmal zog sie etwas heraus, das aussah wie eine kleine Pistole mit drei Metallzinken, die aus dem Lauf ragten.

»Mateo?«, fragte sie. »Sind wir immer noch im grünen Bereich?«

»Jepp.« Mateos Stimme drang durch meinen Ohrhörer. »Ich habe alle Alarmanlagen ausgeschaltet. Immer noch keine Spur von irgendwelchen Wachen oder Schnittern außerhalb oder innerhalb des Gebäudes. Ihr braucht nur die Tür aufzuschließen und ihr seid drin. Ein Kinderspiel.«

Zoe verdrehte die Augen, obwohl Mateo das natürlich nicht sehen konnte. »Du musstest das noch mal sagen, oder?«

»Ich lebe dafür, dich zu ärgern«, antwortete er selbstzufrieden.

Zoe schnaubte, aber der Ausdruck in ihren haselnussbraunen Augen wurde weicher und ihre Lippen formten ein Lächeln. Sie und Mateo waren schon lange befreundet und sie neckten und foppten sich ständig gegenseitig. In den letzten Wochen hatten sich die Schwingungen zwischen ihnen jedoch verändert. Ich vermutete, dass die beiden mehr als nur freundschaftliche Gefühle füreinander hegten. Außer mir schien das jedoch niemand bemerkt zu haben, nicht einmal die beiden selbst.

Ich wackelte mit den Augenbrauen und sah Zoe an, die finster die Stirn runzelte und sich zur Tür umdrehte. Obwohl ich versucht hatte, sie zu ermutigen, hatte sie ihre wie immer gearteten Gefühle für Mateo bisher nicht gestanden.

»Okay«, sagte sie. »Gebt mir nur ein paar Sekunden Zeit, die ganzen Schlösser zu öffnen.«

Drei einzelne Schlösser waren an der Doppeltür angebracht und verankerten deren beide Flügel miteinander. Zoe beugte sich vor und drückte ihre Dietrich-Pistole, eine weitere Eigenentwicklung, in das erste Schloss am unteren Rand der Tür. Mehrere Klicklaute waren zu hören, während die Waffe das Schloss für Zoe öffnete.

»Ist das nicht aufregend?«, erklang eine helle, melodische, weibliche Stimme. »Ich liebe verdeckte Missionen!«

Zoe hatte inzwischen das erste Schloss geöffnet und warf mir einen vielsagenden Blick zu.

Das Gleiche tat Ian, der das Gelände unter uns im Auge behielt und sicherstellte, dass sich niemand an uns heranschlich. Dann machte Zoe sich daran, das zweite Schloss in der Mitte der Tür zu öffnen, während Ian wieder die Umgebung absuchte.

Ich zuckte zusammen, beugte mich vor und zog ein Schwert aus der schwarzen, ledernen Scheide, die an meinem Gürtel befestigt war. Ich packte das Schwert an der Klinge und hob die Waffe in die Höhe, sodass ich sie sehen konnte.

In den silbernen Griff war die Hälfte eines Frauengesichts eingearbeitet: eine zarte, hochgezogene Braue, die runde Wölbung eines Auges, ein spitzer Wangenknochen, eine scharfe Hakennase, herzförmige Lippen und ein rundes Kinn. Das dunkle, smaragdgrüne Auge des Frauengesichts war jetzt auf mich gerichtet.

Babs, mein sprechendes Schwert, liebte es, nun ja, zu sprechen. Sie sprach viel. Vor allem zu den unpassendsten Gelegenheiten, so wie jetzt. Aber ich durfte wohl nicht zu hart zu ihr sein, da ich mich vor wenigen Minuten selbst hatte ablenken lassen und beinahe Ian geküsst hätte.

»Ähm, Babs?«

»Aye?«, fragte das Schwert mit seinem entzückenden irischen Akzent.

»Dir ist schon klar, dass verdeckte Missionen supergeheim sein sollten, oder?«

Babs schnaubte. »Natürlich ist mir klar, dass sie supergeheim sind. Ich habe im Laufe der Jahrhunderte an Unmengen von verdeckten Missionen teilgenommen. Du bist nicht meine erste Kriegerin, weißt du?«

»Dann solltest du wissen, dass verdeckte Missionen nicht nur supergeheim sind, sondern auch superleise vonstattengehen sollten.«

Babs öffnete den Mund, um zu widersprechen, aber ich zog die Augenbrauen hoch. Sie zuckte zusammen und eine verlegene Röte färbte ihre Metallwange.

»Richtig«, murmelte sie mit viel leiserer Stimme. »Tut mir leid. Betrachte meine Lippen von jetzt an als versiegelt.«

Demonstrativ öffnete sie weit den Mund, um ihn dann zuzuklappen. Ich stellte mir vor, dass sie, hätte sie eine Hand gehabt, sicher pantomimisch vorgeführt hätte, wie sie ihre Lippen verschloss und dann den Schlüssel wegwarf.

»Danke, Babs«, flüsterte ich.

Ihr grünes Auge leuchtete auf und sie lächelte, sagte aber nichts mehr. Ich ließ das Schwert sinken.

Zoe machte kurzen Prozess mit dem zweiten Schloss und dann mit dem dritten, das sich oben an der Tür befand. Sie schob die Dietrich-Pistole wieder in ihren Rucksack und zog zwei weitere Gegenstände heraus – einen silbernen Dolch mit einem blauen Edelstein im Griff und ein breites, blaues Lederband mit einer Lampe in der Mitte.

Zoe drückte auf den blauen Edelstein und ließ Elektrizität an der Klinge des Dolchs entlangzischeln. Zufrieden steckte sie ihren Elektrodolch – noch eine Erfindung von ihr – in eine schwarze Scheide an ihrem Gürtel. Dann streifte sie sich das blaue Lederband über ihr gewelltes, schwarzes Haar und schaltete die Lampe in der Mitte ein. Das sanfte, blaue Licht der Stirnlampe brachte den hübschen Ton ihrer mokkafarbenen Haut zur Geltung. Zu beiden Seiten der Lampe formten kleine weiße Kristallherzen die Worte Walküren-Power auf dem Lederband.

Ian warf ihr einen belustigten Blick zu. Ich tat das Gleiche.

»Was ist?«, fragte Zoe.

»Du weißt, dass Rory und ich das Kämpfen übernehmen und dass im Gebäude jede Menge Licht ist«, sagte Ian.

Zoe schnaubte. »Nun, es schadet nie, vorbereitet zu sein. Und ich habe vor, mich selbst gegen jeden Schnitter zu verteidigen, dem wir möglicherweise über den Weg laufen. Außerdem sehe ich wirklich gern, wohin ich gehe. Jetzt kommt.«

Sie öffnete eine der Türen und schlüpfte hindurch. Ian griff nach der Streitaxt an seinem Gürtel, ging hinter ihr her und ließ mich allein auf dem Balkon zurück.

Statt ihnen zu folgen, ließ ich den Blick noch einmal über das Gelände unter mir wandern. Ich sah hohe Bäume mit nackten, skelettartigen Ästen, die sich in der gleichmäßigen Brise berührten. Dazu dichtes immergrünes Gebüsch, das im Wind zitterte. Schwarze, schmiedeeiserne Bänke waren hier und da verteilt und Straßenlaternen säumten gepflasterte Gehwege, die sich durch das Gras schlängelten, und hier und da standen schwarze, schmiedeeiserne Bänke. In der Ferne ragten weitere Gebäude auf, jedes dunkel und für die Nacht verlassen. Alles war bedeckt von dickem Raureif, der selbst die Ränder der tiefsten und dunkelsten Schatten in ein weiches, unheimliches Silber tauchte.

Es war still und kalt und nichts regte sich, genau wie vor dreißig Minuten, als wir hier angekommen waren. Alles befand sich an seinem Platz und es gab nichts Ungewöhnliches zu entdecken. Trotzdem hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmte. Als stünde unsere Mission kurz vor dem Scheitern, weil wir etwas Offenkundiges nicht beachteten. Aber sosehr ich mich bemühte, ich kam nicht dahinter, was wir übersehen hatten …

Am Rand des Rasens bewegte sich etwas, nicht allzu weit entfernt von den Büschen, wo sich Mateo immer noch versteckte.

Ich kniff die Augen zusammen, spähte in diese Richtung und versuchte, mit meinen Blicken die schwarzen Schatten zu durchdringen, die über diesem Teil des Geländes lagen. Als Spartanerin war mein Bauchgefühl ziemlich gut, wenn es darum ging, potenzielle Gefahren zu erkennen, aber jetzt sah ich nur die gleichen Dinge wie zuvor – Bäume, Büsche, Bänke, Laternen, Wege, Gebäude, Raureif. Nichts Ungewöhnliches. Und absolut nichts, worüber ich mir Sorgen machen musste.

Babs räusperte sich und unterbrach meine Gedanken. »Ist das nicht aufregend?«, flüsterte sie.

Ich betrachtete weiter das Areal, sah aber immer noch nichts. »Ja. Aufregend.«

»Also«, sagte sie, »worauf wartest du?«

Sie hatte recht. Zoe und Ian waren bereits im Gebäude, und meine Aufgabe war es, ihnen Rückendeckung zu geben. Daher schob ich mein Unbehagen beiseite und umfasste Babs so, dass ich das Schwert am Griff hielt.

Ich ließ den Blick ein letztes Mal über das Gelände wandern, aber alles war genau wie vorher. Deshalb wandte ich dem Balkon den Rücken zu, hob Babs in Angriffsposition und betrat das Gebäude.

 

Zoe und Ian warteten schon auf mich. Die Balkontür führte in den ersten Stock, der die Form eines riesigen Quadrats hatte. Eine Galerie mit einem steinernen Geländer zog sich über das ganze Stockwerk und gab den Blick auf das Erdgeschoss unter uns frei.

Das Licht hier oben war gedämpft. Meine Freunde hockten am Ende eines großen Bücherregals im Schatten und nur durch das Glänzen ihrer Waffen konnte ich sie erkennen. Zoe hatte ihren Rucksack auf den Boden gestellt und umklammerte ihren Elektrodolch, während Ian immer noch mit seiner Streitaxt bewaffnet war. Die Nervosität stand ihnen ins Gesicht geschrieben.

»Weshalb hast du so lange gebraucht?«, fragte Zoe.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, flüsterte Ian.

Ich schüttelte den Kopf. »Alles in Ordnung. Ich bin nur paranoid wie immer. Lasst uns unsere Position beziehen und schauen, ob die Schnitter auftauchen. Mateo, wo ist Aphrodites Manschette?«

Das war das Artefakt, von dem wir vermuteten, dass die Schnitter es stehlen wollten.

Mateos Stimme erklang in meinem Ohr. »Sie befindet sich im Erdgeschoss, am Ende von Gang Neun, wo wir sie schon bei der Auskundschaftung vor ein paar Stunden gesehen haben. Ich kann die Manschette in den Bildern der Sicherheitskameras sehen. Sie liegt in ihrer Vitrine. Noch keine Spur von den Schnittern.«

»Alles klar.« Ich sah meine Freunde an. »Ihr geht runter ins Erdgeschoss und bezieht Position um das Artefakt herum. Ich werde hier oben im ersten Stock bleiben und alles, was unten passiert, im Auge behalten. Ich gebe euch Bescheid, wenn ich etwas Verdächtiges sehe. Wenn die Schnitter auftauchen und versuchen, die Manschette zu stehlen, umzingeln wir sie und zwingen sie zur Aufgabe.«

Zoe und Ian nickten, dann standen sie auf und gingen um das Bücherregal herum. Sie schoben sich an der Wand entlang, traten durch eine Tür ins Treppenhaus und verschwanden. Ich wartete, bis der schwache Widerhall ihrer Schritte verklungen war, bevor ich mich von dem Bücherregal entfernte, quer durch den Raum ging und mich ans Galeriegeländer hockte. Ich schaute mich um, aber in diesem Stockwerk regte sich nichts. Also spähte ich durch die Lücken im Geländer ins Erdgeschoss und hielt Wache, während Zoe und Ian sich die Treppe hinunterschlichen.

Das Licht im Gebäude war für die Nacht gedimmt worden, obwohl es im Erdgeschoss immer noch hell genug war, um alles sehen zu können. Dort befand sich ein langer Tresen, um den mehrere Tische und Stühle sowie ein silberner Kaffeewagen standen. Mehrere mit Kissen versehene Sessel und Sofas umgaben an einem Ende des Saals einen gewaltigen, frei stehenden Kamin, der aus dem gleichen schwärzlichen Stein bestand wie der Rest des Gebäudes. Bunte Teppiche bedeckten einen Großteil des Bodens und in die Wände waren dicke Balken eingelassen.

Rings um den zentralen Bereich und auch im restlichen Erdgeschoss verteilt standen hohe Bücherregale. Sie sahen aus wie Reihen von Soldaten in Habachtstellung, die die Möbel in ihrer Mitte bewachten. Zwischen den Regalen waren die Schatten besonders tief und unheilverkündend. In vielen Gängen herrschte Finsternis. Aber selbst in den dunkelsten Bereichen blitzte an manchen Stellen Glas wie aus halbgeöffneten Augen auf – eine Einladung, der Dunkelheit zu trotzen und die ausgestellten Artefakte zu bewundern.

Ich studierte jeden einzelnen Teil des Erdgeschosses, von den Möbeln in der Mitte über den Kamin am einen Ende bis zu den Bücherregalen am anderen. Dann kehrte mein Blick zur Raummitte zurück, aber ich sah niemanden. Keine Wachen, keine Schnitter, niemanden.

Vielleicht hatte Mateo recht. Vielleicht würde das hier ein Kinderspiel werden. So oder so, die Mission war ein wichtiger Test, einer, der zeigen sollte, wie weit das Team Midgard sich in den letzten zwei Monaten entwickelt hatte. Ich wollte diesen Test erfolgreich bestehen. Spartaner waren, was solche Sachen anging, ziemlich ehrgeizig.

Da im Erdgeschoss alles in Ordnung zu sein schien, sah ich mich wieder im ersten Stock um und überzeugte mich davon, dass ich nach wie vor allein hier oben war. Und ich war allein – wenn man von den Statuen absah.

Sie waren aus weißem Marmor und säumten die Galerie. Die meisten von ihnen ragten hoch auf und hielten alles Mögliche in den Händen, von steinernen Waffen über Speisen bis hin zu kleinen Tieren, die, genau wie ihre Träger, vollkommen reglos und stumm waren. Ich untersuchte jede einzelne der Statuen für den Fall, dass jemand sich dort versteckte, aber ich fand nichts außer kaltem, leblosem Stein.

Schließlich schaute ich zu der Statue auf, die mir am nächsten stand – eine Frau mit langem Haar, das ihr über die Schultern fiel. Sie war sehr schön, trotz des ernsten Ausdrucks auf ihrem Gesicht und der alten, verblassten Narben, die sich kreuz und quer über ihre Hände zogen und sich an ihren Armen emporschlängelten. Doch je länger ich sie betrachtete, umso spürbarer wurde das kühle Gefühl der Beunruhigung, das mir über den Rücken lief.

»Was siehst du, das ich nicht sehe?«, flüsterte ich.

Die Statue antwortete natürlich nicht, aber sie schien die Lippen zusammenzupressen, als sei sie jetzt noch beunruhigter als zuvor. Ich sah sie noch einen Moment lang an, aber sie würde mir keine Antwort geben, daher richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder auf das Erdgeschoss.

Eine Tür öffnete sich knarrend und Zoe und Ian kamen durch den Hauptgang, der von der Doppeltür zu der langen Theke führte. Sie hielten ihre Waffen bereit, blickten mal nach links, mal nach rechts und beobachteten alles um sich herum genau.

Ian sah zu mir nach oben und ich nickte, um ihm mitzuteilen, dass die Luft rein war. Er flüsterte Zoe etwas zu und die beiden liefen zu der Vitrine, die Aphrodites Manschette enthielt.

Während sie durch den Raum schlichen, stand ich auf und ging von einer Statue zur nächsten. Ich verfolgte die Bewegungen meiner Freunde und hielt Ausschau nach Wachen, Schnittern oder irgendetwas anderem, das Ian und Zoe vielleicht bedrohen würde …

Klack-klack-klack-klack.

Ich erstarrte. Für einen Moment fragte ich mich, ob ich mir das Geräusch nur eingebildet hatte, aber dann erklang es abermals, ein wenig lauter und näher als zuvor.

Klack-klack-klack-klack.

Ich runzelte die Stirn und versuchte, das vertraute Geräusch einzuordnen. Wenn es ein wenig lauter und fester gewesen wäre, hätte ich gedacht, dass es Schritte wären, aber dieses schwache Wispern klang wie … das leise Klacken von Fußnägeln auf dem Boden.

Klack-klack-klack-klack.

Ein drittes Mal war das Geräusch zu hören und mir wurde klar, dass es keine Fußnägel waren. Es war etwas viel, viel Schlimmeres.

Krallen.

Meiner Erfahrung nach waren die meisten Kreaturen, die Krallen hatten, mythologische Ungeheuer.

Seit ich dem Team Midgard beigetreten war, war ich mehr als genug Ungeheuern begegnet, darunter Typhon-Chimären und Selket-Basilisken. Sowohl die Chimären als auch die Basilisken waren schreckliche, tödliche Kreaturen und ich hatte keine Ahnung, welche anderen Ungeheuer die Schnitter vielleicht noch beschwören konnten.

Aber ich hatte das üble Gefühl, dass ich es gleich herausfinden würde.

Ich ließ meinen Blick über das Erdgeschoss schweifen, aber ich sah keine Ungeheuer oder sonst irgendetwas Verdächtiges. Trotzdem wusste ich, dass jemand – oder etwas – hier bei uns war.

Ich hockte mich hin und spähte abermals durch die Lücken im Geländer. Unten hatten meine Freunde am Ende eines Gangs die richtige Vitrine gefunden. Zoe zog ein kleines Vorhängeschloss aus der Tasche und befestigte es an der Vitrine. Genau wie ihr Dolch würde das Elektroschloss jedem, der es wagte, die Vitrine zu berühren, einen Stromstoß versetzen. So konnten wir Aphrodites Manschette, die hinter dem Glas lag, vor Dieben schützen.

Sobald das Schloss angebracht war, sahen Zoe und Ian sich um und überlegten, wo sie sich verstecken und gleichzeitig die Vitrine im Auge behalten konnten. Unsere Mission bestand darin, das Artefakt zu bewachen und die Schnitter zu umzingeln und zu fangen, wenn sie versuchten, es zu stehlen.

Ian sah mich an und reckte einen Daumen hoch, zum Zeichen, dass alles plangemäß verlief. Ich nickte zurück, obwohl meine Sorge sich immer weiter verstärkte. Ich hörte das Geräusch der Krallen auf dem Boden nicht mehr. Das bedeutete wahrscheinlich, dass das Ungeheuer, dem sie gehörten – was immer es sein mochte –, sich irgendwo hingehockt hatte.

Ian musste meine Sorge gespürt haben, denn er sah mich mit einem fragenden Gesichtsausdruck an. Ich hob eine geballte Faust, um ihm und Zoe zu bedeuten, dass sie ihre Positionen halten sollten. Ich sah noch immer nichts im Erdgeschoss, aber ich konnte das unbehagliche Grauen nicht abschütteln, das mir den Magen zusammenkrampfte. Daher beschloss ich, mit dem letzten Mitglied unseres Teams Rücksprache zu halten.

»Mateo«, flüsterte ich, »ist immer noch alles in Ordnung? Mateo?«

Rauschen knisterte in meinem Ohr, aber er antwortete mir nicht. Mateo hätte seine Position nie verlassen und schon gar nicht sein Funkgerät ausgeschaltet, es sei denn …

Etwas stimmte nicht.

Ian und Zoe runzelten gleichzeitig die Stirn. Sie hatten das knisternde Rauschen in ihren eigenen Ohrhörern gehört. Ian hob seine Axt ein wenig höher und Zoe tat das Gleiche mit ihrem Elektrodolch.

»Leute«, flüsterte ich, »kommt zurück zur Treppe, aber geht langsam, rennt nicht. Hier ist noch jemand außer uns und wir sollten ihm nicht verraten, dass wir von seiner Anwesenheit wissen.«

»Aber was ist mit dem Artefakt, das wir beschützen sollen?«, flüsterte Zoe zurück. »Das ist unsere Mission.«

»Ich weiß, aber wenn wir tot sind, können wir gar nichts mehr beschützen. Im Moment ist es das Wichtigste, dass wir lebend hier herauskommen«, antwortete ich.

Zoe und Ian nickten, dann gingen sie zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.

Wieder schlich ich über die Galerie im ersten Stock, verfolgte die Schritte meiner Freunde und behielt alles da unten im Auge. Ian und Zoe schafften es zurück zum Mittelgang. Sie schauten nach links und rechts, sahen jedoch nichts und ich sah auch nichts. Dann schauten sie sich ein letztes Mal um und traten in den Gang, der sie zur Treppe führen würde.

Das war der Moment, in dem sich die Schnitter endlich zeigten.

Ein Schatten löste sich vom Kamin und glitt auf den Boden. Ich blinzelte und fragte mich, woher er gekommen war, aber dann wurde mir klar, dass sich ein zweiter Schatten direkt hinter dem ersten befand – und dass sie beide einfach aus dem kalten Kamin gekrochen waren.

Deshalb hatte ich sie nicht bemerkt. Ich hatte an der falschen Stelle gesucht. Ich war davon ausgegangen, dass die Schnitter sich in den Schatten der Regale oder hinter dem langen Tresen verstecken würden. Nicht, dass sie sich im verflixten Kamin verschanzt hatten. Aber die Schnitter waren verschlagen und ich hätte das Unerwartete erwarten sollen. Das war mein Fehler gewesen und dafür würde ich zahlen müssen.

Und meine Freunde auch.

Die beiden Schatten richteten sich auf. Sie trugen beide lange schwarze Schnitterumhänge mit über den Kopf gezogenen Kapuzen und dazu unheimliche, schwarze Harlekinmasken mit einem roten Karomuster. Das Schlimmste war, dass sie beide Schwerter hatten, die sie zückten, sobald sie auf den Füßen standen.

Ian hörte das leise Zischen, als die Waffen aus ihren Scheiden glitten, und wirbelte herum. »Zoe!«, brüllte er. »Vorsicht!«

Zoe fuhr ebenfalls herum und schwang ihren Elektrodolch in Richtung der beiden Schnitter. Einen Moment lang musterten die vier einander und warteten darauf, dass jemand den ersten Schritt machte. Dann stieß einer der Schnitter einen lauten Schlachtruf aus, stürmte vor und der Kampf begann.

Ian trat auf einen der Schnitter zu, während Zoe mit dem zweiten rang.

»Rory!«, schrie Babs, deren Lippen sich unter meiner Hand bewegten. »Du musst ihnen helfen!«

»Ich weiß!«, schrie ich zurück. »Ich arbeite daran!«

Ich gab alle Versuche, unentdeckt zu bleiben, auf und sprang auf die Füße. Mein Blick flog durch den Raum, auf der Suche nach weiteren Feinden, aber ich sah sonst niemanden, daher lief ich zu dem Bücherregal, neben dem zuvor meine Freunde gesessen hatten. Ich wollte keine Zeit damit verschwenden, Türen zu öffnen und Treppen hinunterzurennen, daher beschloss ich, einen schnelleren und direkteren Weg ins Erdgeschoss zu nehmen.

Zoe hatte ihren Rucksack auf dem Boden liegen lassen. Ich riss ihn auf und durchsuchte ihn. Festes Klebeband, eine Schere, ein Plastikkasten voller zusätzlicher Ohrhörer. Die Walküre hatte allen möglichen Krimskrams in ihren Rucksack gestopft, aber ich fand schnell, wonach ich suchte.

Ein weiterer kleiner Enterhaken, der an einem langen Seil befestigt war.

Ich zog den Enterhaken heraus und rannte zurück zur Galerie. Babs legte ich auf den Boden, während ich den Haken und das Seil um das Geländer wickelte und daran zog, um mich davon zu überzeugen, dass sie gut gesichert waren. Dann griff ich mir wieder Babs, packte mit der anderen Hand das Seil und kletterte auf das Geländer.

Als Spartanerin besaß ich die angeborene Fähigkeit, beliebige Gegenstände nehmen zu können und automatisch zu wissen, wie ich damit jemanden töten konnte. Außerdem erlaubten mir meine Spartanerinstinkte, jede Bewegung eines Gegners vor meinem inneren Auge zu sehen, einen Sekundenbruchteil bevor sie ausgeführt wurde. Besonders bei Kämpfen wie dem, der unten tobte. Ich konzentrierte mich auf den Schnitter, der mit Zoe kämpfte, und studierte alles an ihm, angefangen von der Art, wie er sein Schwert hielt, über die Höhe, in die er die Waffe hob, bis zu der Weise, wie seine Stiefel über den Boden schlurften, unmittelbar bevor er zu einem weiteren Hieb ausholte.

Meine Spartanerinstinkte sprangen an und in den nächsten Sekunden offenbarte sich mir der Kampf, als sei er ein Film, in dem ich vorspulte, um zur nächsten Szene zu kommen. Zoe würde mit ihrem Dolch erneut in Richtung des Schnitters ausholen und er würde aus dem Weg wirbeln. Dann würde er sich ihr wieder zuwenden und diesmal an ihrer Abwehr vorbei sein Schwert in ihren Bauch rammen.

Es sei denn, ich hinderte ihn daran.

Und ich würde ihn daran hindern. Ich brauchte nur auf den richtigen Moment zu warten.

Der Kampf verlief genau so, wie ich es erwartet hatte. Zoe stieß mit ihrem Dolch zu und der Schnitter sprang aus dem Weg. Sobald er ihr den Rücken zuwandte, packte ich das Seil fester und sprang von der Galerie.

Das Seil verbrannte meine linke Handfläche, als ich daran herunterrutschte, aber der Schmerz spielte keine Rolle. Zoes Rettung war das Einzige, was mich jetzt interessierte.

Und ich rettete sie.

Ich rutschte an dem Seil herunter und hatte mein Aufkommen auf den Boden genau richtig berechnet, sodass ich zwischen Zoe und dem Schnitter landete. Noch bevor meine Stiefel den Boden berührten, schnappte ich mir Babs und blockte den Angriff des Schnitters ab.

»Hilf Ian!«, schrie ich Zoe zu.

Sie sprang zur Seite und rannte zu Ian, der immer noch mit dem zweiten Schnitter kämpfte.

Der Schnitter vor mir fuhr überrascht zurück, aber so leicht würde ich ihn nicht davonkommen lassen. Ich machte einen Satz nach vorn, schob mich unter der Abwehr des Schnitters hindurch und schlang ihm das Seil, das ich noch immer in der Hand hatte, um den Hals. Dann wirbelte ich wieder herum und zog das Seil stramm. Der Schnitter jaulte erschrocken auf. Er stieß mit seinem Schwert zu, aber es war ein unbeholfener Hieb. Ich ließ Babs auf seine Klinge niedergehen und schlug ihm das Schwert aus der Hand. Seine Waffe schlitterte über den Boden und blieb neben einem der Tische liegen.

Als der Schnitter versuchte, das Seil um seinen Hals abzustreifen, machte ich einen Schritt in seine Richtung und trat ihm das Bein weg. Der Schnitter stieß einen erschrockenen Schrei aus und packte das Seil, um zu verhindern, dass es ihm die Luft abschnürte, aber er hatte keinen Erfolg – er erschlaffte und fiel zu Boden. Er war ausgeschaltet, daher wandte ich mich dem zweiten Schnitter zu, der immer noch Ian und Zoe attackierte.

Der maskierte Mann schwang sein Schwert nach Ian und trieb den Wikinger zurück. Zugleich merkte er, dass Zoe sich von hinten an ihn heranschlich, und trat nach einem Stuhl, der jetzt in ihre Richtung schlitterte.

Zoe stolperte darüber und hob knurrend ihren Dolch, aber es war zu spät. Der Schnitter trat vor und schlitzte ihr mit seinem Schwert den Bauch auf. Zoe fiel ohne einen Laut zu Boden.

»Zoe!«, brüllte Ian.

Er hob seine Axt und rannte los, aber der Schnitter drehte sich gelassen zur Seite und zog sein Schwert über Ians Rücken. Auch Ian fiel lautlos zu Boden.

Der Schnitter wirbelte zu mir herum, da wir die beiden letzten Kämpfer waren, die noch standen. Er starrte mich an und seine blauen Augen glänzten hinter seiner unheimlichen Harlekinmaske. Er machte eine tiefe, spöttische Verbeugung, dann richtete er sich auf und winkte mich mit einem gekrümmten Finger zu sich, eine klare Herausforderung. Er hatte meine Freunde erledigt und jetzt wollte er das Gleiche mit mir machen.

Ich stieß einen archaischen Wutschrei aus, hob Babs hoch über meinen Kopf und stürmte auf den Schnitter zu.

2

Der Schnitter wich meinem Angriff mühelos aus – genau so, wie ich es erwartet hatte.

Er fuhr herum und hob sein Schwert in der Erwartung, mir die Klinge über den Rücken zu ziehen, so wie er es bei Ian getan hatte, aber ich riss Babs hoch und unsere Waffen schlugen gegeneinander. Ich sah dem Schnitter in die Augen. Überraschung flackerte in ihnen auf und gleichzeitig Respekt. Er beugte sich nach vorn und versuchte, seine Kraft einzusetzen, um mich zurückzutreiben, aber ich stemmte meine Stiefel fest in den Boden und wich keinen Zentimeter zurück.

»Ist das alles, was du kannst?«, fragte ich. »Da musst du schon Besseres aufbieten.«

Hinter seiner Harlekinmaske verzogen sich die Lippen des Schnitters zu einem verschlagenen Lächeln. »Keine Sorge, Spartanerin. Das werde ich.«

Er riss ruckartig den Kopf zurück. Meine Spartanerinstinkte sprangen an, daher wusste ich genau, was er tun würde, aber er war einen Sekundenbruchteil schneller als ich. Bevor ich reagieren, geschweige denn aus dem Weg gehen konnte, ließ er den Kopf vorschnellen und rammte ihn gegen meinen.

Der heftige Schlag ließ mich zurücktaumeln. Weiße Sterne explodierten in meinen Augen und der Schmerz donnerte in meinem Schädel wie ein Vorschlaghammer. Aber so schnell sie gekommen waren, erloschen die Sterne wieder, und eine kühle, tröstliche Kraft stieg stattdessen in mir auf – Heilmagie, die durch meinen Körper strömte. Meine Magie hatte bereits die hässliche Brandwunde geheilt, die das Seil in meiner Hand hinterlassen hatte, und jetzt linderte sie den hämmernden Schmerz in meinem Kopf.

Der Schnitter hob sein Schwert und stürmte auf mich zu, wollte mich überwältigen, solange ich noch benommen war, aber ich setzte seine Bewegungen gegen ihn ein. Ich wirbelte aus dem Weg, dann trat ich gegen einen Stuhl und ließ ihn in Richtung des Schnitters fliegen, genau wie dieser es bei Zoe gemacht hatte. Er stutzte und gab mir dadurch genug Zeit, den Rest meiner Benommenheit abzuschütteln.

Ich drehte das Schwert in meiner Hand und der Schnitter und ich umkreisten einander in dem offenen Raum vor dem Tresen. Zoe und Ian lagen stumm auf dem Boden, genau wie der erste Schnitter, den ich angegriffen hatte. Das Seil lag noch immer um seinen Hals, als sei er eine Marionette, deren Schnüre durchschnitten worden waren.

Mit meinen Spartanerinstinkten studierte ich den Schnitter, gegen den ich gerade kämpfte. Der Typ war ungefähr in meinem Alter und damit viel jünger, stärker und schneller als der erste Schnitter, der ein älterer Mann gewesen war. Dieser zweite Schnitter war zudem viel gefährlicher. Er ließ sein Schwert keine Sekunde lang sinken und wandte niemals den Blick von mir ab, nicht einmal für einen Moment. Ich würde ihn nicht überrumpeln können, daher versuchte ich das nicht einmal. Stattdessen hob ich Babs und stürmte erneut auf ihn zu.

Es ging vor und zurück. Wir kämpften in der Mitte des Raums, spurteten um Tische herum, sprangen über umgekippte Stühle und taten unser Bestes, uns mit unseren Schwertern in Stücke zu hauen. Je länger der Kampf sich hinzog, umso mehr bebte mein Herz vor Glück. Das war das etwas Beunruhigende daran, ein Spartaner zu sein. Zu kämpfen war für einen Spartaner natürlich, normal. Als sei das etwas, das ich regelmäßig tun sollte.

Mehr als das, es machte mich glücklich.

Und was diesen Kampf noch besser als die meisten machte, war die Tatsache, dass dieser Schnitter sich als ein würdiger Gegner erwies. Schlau, stark, geschickt und skrupellos, genau wie ich. Ich konnte keinen klaren Vorteil ihm gegenüber gewinnen, aber ihm erging es nicht besser, daher kämpften wir weiter und unsere Schwerter krachten immer wieder aneinander. Das scharfe Klirren von Metall auf Metall übertönte alles andere, angefangen von dem stetigen Knallen meiner Stiefel auf den Boden bis hin zu meinen schnellen, heiseren Atemzügen und dem hektischen Schlagen meines Herzens.

Der Kampf tobte weiter … und weiter … und weiter …

Bis der Schnitter endlich einen Fehler machte – oder besser gesagt: sein Umhang das für ihn erledigte.

Er war offensichtlich nicht daran gewöhnt, in einem Umhang zu kämpfen, denn als er versuchte, um den silbernen Kaffeewagen herumzulaufen, verfing sich das Ende des schwarzen Stoffs an dessen scharfen Metallkanten. Knurrend riss der Schnitter den Umhang los, aber die ruckartige Bewegung kostete ihn das Gleichgewicht. Bevor er sich wieder fangen konnte, sprang ich vor, duckte mich und trat ihm die Beine weg.

Der Schnitter landete mit dem Rücken flach auf dem Boden. Er hielt noch immer sein Schwert in der Hand, aber bevor er es heben oder sogar aufstehen konnte, preschte ich vor und drückte ihm meine eigene Klinge an die Kehle.

»Du bist erledigt.« Stolz und Befriedigung erfüllten meine Stimme.

Statt zornig zu sein, lächelte der Schnitter mich erneut an. »Genau wie du, Spartanerin.«

Ich runzelte die Stirn und fragte mich, wovon er sprach und warum seine Stimme so vertraut klang, aber dann entdeckte ich aus dem Augenwinkel einen Schatten – einen, der sich schnell näherte. Schlimmer noch, der Schatten wurde begleitet von dem seltsamen klackenden Geräusch, das ich zuvor gehört hatte.

Ich wirbelte zu dieser neuen Bedrohung herum, aber es war zu spät. Etwas Graues rammte in meine Brust und ich landete direkt neben dem Schnitter auf dem Boden. Ich hielt Babs fest in der Hand, aber bevor ich das Schwert heben konnte, sprang das graue Etwas auf mich drauf und ein Gewicht presste sich auf meine Brust und meinen Bauch. Ich erstarrte.

Ein Fenriswolf stand auf mir.

Aschgraues Fell. Spitze Ohren. Violette Augen. Und jede Menge Zähne und Krallen. Dieser Wolf war jung, kaum mehr als ein Welpe, aber er konnte mir trotzdem die Kehle aufreißen. Der Wolf stieß ein leises, finsteres Knurren aus, beugte sich vor und zeigte mir seine Zähne. Und dann … leckte er mir die Wange.

Ich lachte überrascht. Der Welpe wertete das als Ermutigung und schleckte mir abermals über das Gesicht. Es war ein Weibchen. Ich nahm sie und setzte sie sachte auf den Boden.

Dann richtete ich mich auf und der Schnitter neben mir tat das Gleiche. Er zog sich die Maske vom Gesicht, warf sie beiseite und fuhr sich dann mit der Hand durch sein schwarzes Haar. Seine blauen Augen wurden warm und ein Lächeln breitete sich auf seinen hübschen, vertrauten Zügen aus.

Ich blinzelte überrascht. Ich hatte nicht gewusst, mit wem ich kämpfte, aber eigentlich hätte ich kapieren müssen, dass er es war, wenn man bedachte, wie gut er gekämpft hatte. Schließlich war er einer der wenigen Menschen, der ein ebenso guter Krieger war wie ich.

»Glückwunsch, Rory«, sagte er. »Du hast mich besiegt.«

»Und dann hast du mich mit deiner Geheimwaffe bezwungen«, gab ich das Kompliment zurück. »Ihre Niedlichkeit allein genügt, um mich dahinzuraffen.«

Logan Quinn lächelte mich immer noch an, dann kraulte er den Kopf der jungen Wölfin, die jetzt zwischen uns saß. »Nyx! Du solltest Rory umbringen, nicht ihre Wange lecken, als sei sie deine beste Freundin. Was für ein Furcht einflößender Fenriswolf bist du?«

Nyx stieß ein kieksiges kurzes Heulen aus und wedelte mit dem Schwanz. Ich lachte und kraulte sie hinter den Ohren. Nyx gehörte Gwen Frost, meiner Cousine und Logans Freundin, aber ich hatte nicht gewusst, dass die Wölfin hier war. Ich freute mich darüber, Nyx zu sehen, selbst wenn sie gerade so getan hatte, als wollte sie mich töten.

»Dürfen wir uns jetzt hinsetzen?«, erklang eine andere Stimme. »Wenn ich noch länger auf diesem harten Boden liege, bekomme ich einen Krampf im Nacken.«

Der erste Schnitter, der immer noch verkrümmt auf dem Boden gelegen hatte, richtete sich auf und nahm das Seil von seinem Hals. Dann zog er seine Maske herunter und offenbarte ein weiteres unerwartetes, aber vertrautes Gesicht. Er hatte blondes Haar, aber seine blauen Augen waren die gleichen wie die Logans. Man konnte leicht erkennen, dass sie miteinander verwandt waren. Linus Quinn war Logans Dad und der Anführer des Protektorats, der Polizei der mythologischen Welt.

»Also schön, Leute«, rief Linus. »Die Trainingsmission ist offiziell beendet.«

»Endlich«, murmelte die erste Stimme wieder.

Zoe setzte sich hin, drehte den Kopf von einer Seite zur anderen und versuchte, den Hals knacken zu lassen. Neben ihr richtete sich auch Ian auf. Linus ging durch den Raum und drückte auf einen Schalter an der Wand, woraufhin das Licht aufflammte.

Wir befanden uns in der Bibliothek der Altertümer auf dem Campus der Mythos Academy in Snowline Ridge, Colorado. Die Bibliothek sah genauso aus wie immer, obwohl das Team Midgard heute Nacht das Licht heruntergedreht und so getan hatte, als sei sie ein Museum, in das Schnitter einbrachen. Das war Teil unserer Trainingsmission gewesen.

Takeda hatte uns vor einigen Tagen unsere Zielvorgaben gegeben – wir sollten das Artefakt, Aphrodites Manschette, vor Schnittern beschützen. Danach hatten meine Freunde und ich uns Pläne für die Mission zurechtgelegt, während Takedas Leute die Aufgabe hatten, diese zu durchkreuzen.

Ich war davon ausgegangen, dass er wahrscheinlich einige Protektoratswachen bitten würde, sich als Schnitter auszugeben, aber ich hatte keine Ahnung gehabt, dass er Linus, Logan Quinn und Nyx rekrutieren würde. Wahrscheinlich hätte ich etwas in der Art erwarten sollen. Takeda hatte uns aufgetragen, die heutige Nacht von Anfang bis Ende wie eine richtige Mission zu behandeln und auf Überraschungen gefasst zu sein. Und dass der Anführer des Protektorats und einer der besten Krieger in der gesamten mythologischen Welt einen Part bei unserem Training übernommen hatten, war definitiv eine Überraschung.

Ich war voll und ganz in das Training eingetaucht und hatte mich gezwungen, dem Ganzen mit kritischem, objektivem Blick zu begegnen. In meinem Kopf war die Bibliothek zu einem unbekannten, neuen Gebäude geworden, nicht einem Ort, den ich jeden Tag nach dem Unterricht besuchte. Die Schnitter aus dem Kamin kriechen zu lassen, war ein schlauer Trick gewesen und genau so eine unerwartete Aktion, wie sie die Schnitter im echten Leben oft durchzogen. Ich hatte genauso erbittert gegen Linus und Logan gekämpft, wie ich gegen echte Schnitter gekämpft hätte, die meinen Tod wollten.

Vielleicht lag es an meiner Spartanermagie, aber mich gedanklich in diese Art von Mission zu begeben, hatte alles extrem realistisch erscheinen lassen, bis hin zu dem Zorn, den ich verspürt hatte, als Ian und Zoe augenscheinlich im Kampf gefallen waren. Selbst jetzt hatte ich noch Mühe, das Bild der beiden auf dem Boden Liegenden aus dem Kopf zu bekommen. Oder vielleicht war das weniger auf meine Spartanermagie, sondern eher auf meine ständige Sorge zurückzuführen, dass ich einmal nicht in der Lage sein würde, meine Freunde vor den Schnittern zu beschützen.

Zoe ließ endlich ihren Hals knacken, dann stand sie auf, kam zu uns und streichelte Nyx, die sich glücklich auf den Boden fallen ließ, um sich den Bauch kraulen zu lassen. Linus zog sein Handy aus der Tasche und schickte irgendjemandem eine Nachricht. Ich hatte immer noch Babs in der Hand, aber nun schob ich das Schwert in seine Scheide zurück. Logan tat das Gleiche mit seinem Schwert, dann ging er zu Ian hinüber, der nach wie vor auf dem Boden saß.

»Du hast gut gekämpft.« Logan grinste. »Beinahe hättest du mich mit deiner verdammten Axt erwischt.«

Ian grinste zurück. »Nächstes Mal werde ich dich erwischen.«

Aus Logans Augen leuchtete leidenschaftlicher Ehrgeiz. »Das werden wir ja sehen.«

Er beugte sich vor und streckte die Hand aus. Ian fasste den Spartaner am Unterarm und ließ sich von Logan auf die Füße helfen. Dann steckten die beiden die Köpfe zusammen und redeten über ihren Kampf.

Ich beobachtete sie einen Moment lang, aber statt den zwei Typen hatte ich plötzlich ein anderes und viel beunruhigenderes Bild vor meinem inneren Auge: einen Mann und eine Frau, die tot auf dem Boden der Bibliothek lagen.

Obwohl es nur eine Erinnerung war, sah ich sie immer noch so deutlich vor mir, als lägen sie vor Logans und Ians Füßen. Der Mann und die Frau trugen schwarze Schnitterumhänge, ihre Münder waren zu stummen Schreien des Schmerzes und der Überraschung geöffnet, ihre geweiteten, blicklosen Augen auf die Decke gerichtet, und da war natürlich das Blut, das aus ihren tödlichen Wunden über den Stein lief. So viel Blut …

Die Trauer stach mir wie ein Messer in die Brust und zerfetzte mir das Herz. Tyson und Rebecca Forseti, meine Eltern, waren genau an der Stelle gestorben, an der Logan und Ian gerade standen. Wie immer, wenn ich mich in der Bibliothek aufhielt, stiegen die schrecklichen Erinnerungen daran, wie wir ihre Leichen gefunden hatten, in mir auf. Die Erinnerungen und die gleichermaßen schrecklichen Gefühle, die mit ihnen einhergingen, waren nicht mehr gar so scharf wie früher, aber sie trafen mich immer noch bis ins Mark. Meine Hände verkrampften sich zu Fäusten, meine Brust schnürte sich zu und der Atem stockte mir in der Kehle, sodass ich vor lauter Trauer und Herzschmerz kaum noch Luft bekam.

In dem Bemühen, meine Gefühle unter Kontrolle zu bringen, bevor die anderen meinen inneren Aufruhr bemerkten, wandte ich den Blick von dieser furchtbaren Stelle auf dem Boden ab und konzentrierte mich auf die Decke, die aus leuchtenden, farbigen Buntglassteinchen bestand, die mit glänzenden, silbernen Nähten verbunden waren.