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David Joy

Wo alle Lichter enden

Aus dem Amerikanischen von Sven Koch
Herausgegeben von Wolfgang Franßen

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All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.
This edition published by arrangement with G.P. Putnam's Sons, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC

Copyright 2016 by David Joy
Originaltitel: Where All Lights Tends To Go

Deutsche Erstausgabe, 1. Auflage 2019
Aus dem Amerikanischen von Sven Koch

©2019 Polar Verlag Stuttgart
www.polar-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) oder unter Verwendung elektronischer Systeme ohne schriftliche Genehmigung des Verlags verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Redaktion: Andrea Stumpf, Gabriele Werbeck

Umschlaggestaltung: Britta Kuhlmann, Robert Neth

Umschlagfoto: ©Siegfried Schnepf/fotolia

Autorenfoto: ©Ashley T. Evans

Satz/Layout: Martina Stolzmann

Gesetzt aus Adobe Garamond PostScript, InDesign

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck, Deutschland

ISBN: 978-3-945133-79-8
eISBN: 978-3-945133-80-4

Für die, die morgens mit mir Kaffee trinken:
Rudy, Cecil und Clyde

Only now is the child finally divested of all that he has been. His origins are become remote as is his destiny and not again in all the world’s turning will there be terrains so wild and barbarous to try whether the stuff of creation may be shaped to man’s will or whether his own heart is not another kind of clay.
Cormac McCarthy, Blood Meridian

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Danksagung

1.

Ich versteckte den Pick-up hinter einem zugewucherten Streifen Pampasgras, das schon vor einem guten Jahr abgebrannt gehört hätte. Das Auge des Gesetzes sah es überhaupt nicht gern, wenn jemand auf den Wasserturm stieg, aber fürs Gesetz und seine Vertreter hatte ich noch nie viel übrig. Ich war ein McNeely, und in diesem Teil der Appalachen hatte der Name eine gewisse Bedeutung. Outlaw zu sein lag einem genauso im Blut wie die Haarfarbe oder die Körpergröße. Außerdem bot der Turm den besten Blick auf die Schulabgänger, wenn sie mit schwarzem Umhang und rührseligem Lächeln zum letzten Mal aus der Walter Middleton School kamen und ihren komischen Hut in die Luft warfen.

Die früher einmal weißen Leitersprossen waren verrostet und hingen durch, weil darauf Generationen von Jugendlichen mit geweiteten Pupillen hinaufgestiegen waren, um sich dort für alle sichtbar zu verewigen. Nur dass Dinge, die einem für die Ewigkeit bestimmt vorkamen, es dann doch nicht waren. Ich hatte nicht mal die zehnte Klasse beendet, und vielleicht hatte ich auch deswegen nie das Bedürfnis gehabt, mit Spraydosen in allen Taschen einer Arbeitshose auf den Turm zu klettern. Es gab keinen Grund, meinen Namen zu hinterlassen. Ein Name wie Jacob McNeely sorgte nur für hochgezogene Augenbrauen und Fragen. In einem so kleinen Ort traf man sowieso überall auf neugierige Blicke. Wenn ich den Ärger und das Gerede vermeiden wollte, die meine Anwesenheit da unten hervorrufen würde, sollte ich mich dort nicht blicken lassen, aber ich wollte sehen, wie sie wegging.

Die Gitterrostplattform rings um den Wassertank hatte schon viele Schrauben eingebüßt und sich an den Rändern aufgeworfen wie ein zerlesenes Buch. Bei jedem Schritt gab das Metall nach, aber ich war schon oft oben auf der Plattform gewesen, high von jeder Droge, die ich je ausprobiert hatte, und darauf rumspaziert. Meinen Morgenjoint spürte ich nur noch leicht, da gab’s also kein Problem. Ich setzte mich vor dem Tank unter das grüne Geschmier von Buchstaben, die ein fast unleserliches FUCK U ergaben, zog ein Softpack Winston aus meiner Jeans, zündete mir die letzte Zigarette daraus an und wartete.

Die Schule, in der ich den Großteil meines Lebens verbracht hatte, kam mir jetzt kleiner vor als früher, obwohl sie, wenn ich’s mir recht überlege, nie groß genug gewesen war. Ich bin dreißig Kilometer südlich von Sylva aufgewachsen. Sylva ist so klein, dass es die Bezeichnung Stadt kaum verdient, aber in Jackson County ist es der einzige Ort, den man überhaupt so nennen kann. Wer auf der Durchreise in Sylva bloß einmal blinzelt, hat das meiste schon verpasst, aber das Kaff, aus dem ich komme, könnte man sogar mit offenen Augen übersehen. In einem so weitab vom Schuss gelegenen Bergnest wie meinem gab es nur eine Schule. Das hieß, die Kids aus der ganzen Gegend kamen mit fünf in die Walter Middleton und verließen sie erst dreizehn Jahre später, wenn sie den Abschluss machten. Solange ich da war, kam’s mir nie komisch vor, dass ich als Knirps mir diese Schulräume mit Jugendlichen geteilt habe, und umgekehrt auch nicht, aber als ich jetzt, nachdem ich vor zwei Jahren endgültig aus der Schule weg bin, das Ganze vor Augen hatte, war es doch etwas eigenartig.

Die weiße Kuppel der Sporthalle sah aus wie ein aus dem Kochwasser ploppendes Ei. Im Innenhof hatte der Rasenmäher ungleichmäßige Bahnen gezeichnet, und das mitten auf den Parkplatz gemalte Schulmaskottchen ähnelte eher einem Chupacabra als einem Rotluchs. Ehrlich gesagt gab es kaum etwas aus meiner Schulzeit, das der Erinnerung wert war, dennoch hatte ich zehn meiner achtzehn Lebensjahre dort verbracht – was ich an sich nicht schlimm fand. Das Schlimme an dieser Schule, an meinem Leben und an dem ganzen beschissenen Ort war, dass ich mich davon habe fertigmachen lassen. Ich habe zugelassen, dass das, in was ich hineingeboren wurde, auch bestimmt hat, was aus mir geworden ist. Mama schnupfte Crystal Meth, Daddy verkaufte es ihr, und ich hatte nicht den Mut wegzugehen. Das war mehr oder weniger mein Leben. Ich zog an meiner letzten Zigarette und sandte einen dicken Batzen Spucke über das Geländer.

Ich sah einer Schar kreisender Bussarde nach, die hinter einem Hügel verschwanden, als die Seitentür der Sporthalle gegen die Backsteinwand knallte. Sie strömten heraus, einer rannte voran, und noch bevor er auf die Motorhaube seines Autos gesprungen war, erkannte ich ihn. Blane Cowen gehörte zu denen, die schon nach einem Bier auf hackedicht machten. In der Mittelstufe hatte ich mich mal mit ihm abgegeben und ihn mit auf den Wasserturm genommen, um einen Joint zu rauchen, doch als ihm vor Höhenangst die Knie weich wurden, wollte er ganz schnell nichts mehr mit mir zu tun haben. In einer Schule voller Kids, die ihren Eltern Zeug aus den Medizinschränken klauten, war Blane die permanente Lachnummer. Trotzdem tat er mir leid, als er mit erhobenen Armen auf der Motorhaube seines schrottigen Civic herumsprang und sie einbeulte, aber keiner aus seiner Klasse ihm und seinem Geschrei die geringste Beachtung schenkte.

Auf dem Parkplatz, der eben noch trostlos gewirkt hatte, wimmelte es jetzt von Schulabgängern, die sich umarmten, einander Dinge versprachen, die sie nie halten konnten, und zu ihren Eltern rannten, die gar nicht begriffen, was aus ihren Kindern geworden war. Ich wusste es, weil ich mit ihnen aufgewachsen war. Jeder von uns wusste Dinge von den anderen, die er nie weitererzählen würde. Die meisten wussten sogar Dinge, die sie nicht mal sich selbst eingestehen würden, und diese Geheimnisse trugen wir mit uns herum wie Kondome in Geldbeuteln, die genauso wenig benutzt werden würden. Trotzdem wäre ich gern unten gewesen, wenn nicht als Mitschüler, so wenigstens als Freund, aber ich und meine Probleme waren da fehl am Platz.

Erst als sie diesen komischen Hut abnahm, entdeckte ich sie in der Menge. Maggie Jennings stand da, löste den Haarknoten, schüttelte ihre blonden Locken und ließ sie auf die Schultern fallen, dann schleuderte sie die High Heels von ihren Füßen. Der vordere Reißverschluss ihres Umhangs war schon aufgezogen und gab den Blick frei auf das enge weiße Sommerkleid darunter. Ich meinte sogar, aus diesem Lärm ihr Lachen herauszuhören, als ihr Freund Avery Hooper sie von hinten packte, hochhob und ausgelassen im Kreis wirbelte. Maggies Mutter beugte ihren Kopf und vergrub das Gesicht in den Händen, als müsste sie ihre Tränen verbergen. Darauf legte Maggies Vater den Arm um sie und zog sie an sich. Wer sie nicht besser kannte, musste sie für eine amerikanische Bilderbuchfamilie halten. Wenn man selbst fest genug die Lüge glaubte, dann glaubten sie alle anderen auch, aber ich kannte die Wahrheit.

Ich kannte Maggie schon mein ganzes Leben lang. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, lag nur einen Steinwurf von unserer Veranda entfernt, und deswegen haben wir als Kinder fast jeden Tag zusammen verbracht. Eine meiner ersten Erinnerungen ist, wie wir – da waren wir fünf oder sechs – mit hochgekrempelten Hosen im Bach stehen und Molche aus dem Schlamm graben. Wir hielten zusammen wie Pech und Schwefel, hat Daddy immer gesagt. Im Grunde haben Maggie und ich uns gegenseitig großgezogen.

Bevor ihr Vater zu Gott fand, verschwand er immer wieder für zwei, drei Wochen auf Sauftour und war in dieser Zeit wie vom Erdboden verschluckt. Ihre Mutter brauchte zwei Jobs, damit genug Essen auf den Tisch kam, und das hieß auch, dass keiner aufpasste, wenn Maggie und ich in den Wald gingen und ich sie zu allem möglichen Quatsch überredete, den die meisten Kinder sich nie getraut hätten. Wir waren ungefähr zwölf, als ihr Vater erlöst wurde und mit seiner Familie aus The Creek wegzog. Angeblich hat er damals so viel Schnaps in den westlichen Arm des Tuckasegee River gekippt, dass jeder Saibling zwischen Nimblewill und Fontana blau war, aber ich hab nie viel auf diese Erlösung gegeben. Einmal Säufer, immer Säufer, genau wie ein Süchtiger immer süchtig bleibt, daran ändert auch kein Gott irgendwas, ganz egal welchen man nimmt.

Aber Maggie war anders. Ich weiß noch, dass ich schon ganz früh über sie gestaunt habe. Sie hatte etwas Unbegreifliches an sich, das ich nie richtig zu fassen bekam, etwas tief in ihr sorgte dafür, dass nichts anderes als sie selbst darüber entschied, was aus ihr werden sollte. Dafür habe ich sie immer geliebt. Ich habe sie immer geliebt.

Wir waren in der Mittelstufe, als das wilde Mädchen, mit dem ich aufwuchs, allmählich zur Frau wurde. Nachdem wir immer beste Freunde gewesen waren, fragte ich Maggie in der achten Klasse, ob sie mit mir gehen wollte, und danach war alles genau wie im Film. Drei Jahre waren wir zusammen, und mir kam’s vor wie ein ganzes Leben. Am meisten bedeutete mir, dass Maggie wusste, woher ich kam und was aus mir werden würde, und sie trotzdem glaubte, ich könnte dem entkommen. Ich dachte, dass mein Leben vorgezeichnet war und ich nicht allzu viel mitreden konnte, aber Maggie träumte für mich. Sie sagte zu mir, ich könnte alles werden, was ich wollte, überallhin gehen, wo es mir gefiel, und es gab Zeiten, da glaubte ich ihr fast. Leute wie ich waren an diese Gegend gefesselt, aber Maggie hielt nichts hier. Sobald sie erkannt hatte, dass es noch etwas anderes gab als das Hier, war sie eigentlich schon weg. Wenn ich je einen Traum gehabt hatte, dann den, dass sie mich mitnehmen würde. Aber für Leute wie mich war Träumen Blödsinn. Irgendwann kommt der Zeitpunkt, an dem man aufwachen muss.

Ich war stolz, dass sie an einen Ort aufbrach, den ich nie erreichen würde, und zog mein Handy aus der Hosentasche, um ihr ein »Gratuliere« zu simsen.

Als Avery Maggie losließ, sprang sie ihrem Vater in die Arme und zog ihre Füße an, so dass die nackten Fußsohlen zum Himmel zeigten. Er vergrub das Gesicht in den Haaren seiner Tochter und tat für einen Augenblick so, als hätte er irgendwas damit zu tun gehabt, dass aus ihr die geworden war, die sie war. Dann setzte er sie ab und ließ ihre Mutter sie umarmen. Anschließend stand Maggie kurz da und wippte ein paarmal vor und zurück, bis sie sich umdrehte und davonlief. Auf dem Weg zu Averys Pick-up warf sie noch einen Blick zurück und rief etwas, aber ihre Eltern hatten sich schon verabschiedet. In gewisser Weise wussten sie wohl, dass sie längst weg war. Sie wussten es genauso wie ich. Jemand wie sie konnte nicht bleiben. Nicht für immer, und schon gar nicht für lang.

2.

Überall auf dem Grundstück standen Kiefern, nur ein schmaler Streifen war vor Jahren abgeholzt worden, um Platz für eine Hütte zu schaffen. Das alte Blockhaus aus Kiefernbohlen, in dem Mama lebte, war so platziert worden, dass es bei starkem Wind nicht gleich zusammenklappte. Eigentlich war es völlig ungeeignet, um auf Dauer darin zu leben, aber Mama wohnte dort, seit ich denken konnte. Die Bohlen waren im Laufe der Zeit grau geworden und hatten Regenwasser gezogen, so dass es im Haus immer klamm war. Die durchsichtigen Plastikfolien, die ich vor Jahren an die Fenster genagelt hatte, damit Mama im Winter nicht erfror, hingen zerfetzt und schimmelfleckig von den Rahmen herab.

Als Daddy sie dorthin fortschickte, war ich so jung gewesen, dass ich mich nicht daran erinnerte. Seine Version der Geschichte war, dass sie Crystal klaute und für jeden die Beine breit machte. Deshalb hatte er sie in diese Hütte verfrachtet. Er mochte sie zu gern, um ihr nichts zu geben, aber weil er ihr überhaupt etwas gab, waren sie quitt, und er musste sie nicht mehr mögen.

Ich kann mich nicht erinnern, dass ich als Kind oft bei ihr gewesen bin. Ich kann mich auch nicht erinnern, sie öfter als ein-, zweimal im Jahr in ihrer Ich-bring-das-alles-in-Ordnung-Phase gesehen zu haben. Es gab immer nur mich und Daddy, aber jetzt war ich kein Kind mehr, sondern alt genug, selbst zu entscheiden und mir nichts vormachen zu lassen. Außerdem brauchte ich einen Platz, wo ich ein bisschen Zeit totschlagen und kiffen konnte, ohne dass mich die Bullen dabei erwischten.

Ein Blecheimer, halb gefüllt mit dreckigem Sand und Kippen, hielt die Fliegentür offen, und ich konnte quer durchs Haus sehen. Aber bevor ich sie sah, hörte ich sie schon: wüst fluchend und stöhnend, schnaufend und schniefend. Es klang, als hätte sie eben was genommen und kam gerade drauf. Auch wenn es für Außenstehende krass klingt, ich wusste, dass ich Glück hatte, sie vorm High zu erwischen statt beim Abtörn.

Als ich ins Haus trat, rammte sie mit der Schulter gegen die Küchentür. Ihre weit aufgerissenen Augen schienen durch mich durchzusehen. Ihre Zähne malmten etwas Eingebildetes, das sie nie so weit zerkauen konnte, um es zu schlucken. Dann fokussierte sich ihr Blick und fiel auf mich. Sie fing an, sich die Arme zu kratzen. »Wo zum Teufel kommst du auf einmal her?« Sie meinte das ganz ernst, als wäre ich aus dem Nichts aufgetaucht.

»Bin erst seit ’ner Minute da. Ich brauch mal Tapetenwechsel.«

»Du kommst grad recht.«

»Wofür?«

»Mir helfen, diese gottverdammte Glühbirne zu suchen.« Ruckartig drehte sie den Kopf zur Seite und rannte in den hinteren Teil des Hauses.

Statt ihr zu folgen, ließ ich mich auf die abgewetzte Couch gleich neben der Eingangstür fallen. Schaumstoff quoll aus Rissen im Polster. Ich holte das Tütchen Gras aus meiner Hosentasche. Es waren nur noch Krümel darin, aber für einen kleinen Joint reichte das. Auf dem Beistelltisch lehnte ein halbleeres Päckchen Papers an einer angelaufenen Messinglampe. Ich zog ein Blättchen heraus, klappte es halb auf und ließ die zermahlenen Blütenreste hineinrieseln. Ich war fast fertig und wollte die Gummierung anlecken, als Mama ins Wohnzimmer getaumelt kam.

»Jacob! Jacob, hilf mir endlich suchen!«

»Was denn suchen?«

»Die Glühbirne. Ich hab doch gesagt, ich brauch diese gottverdammte Glühbirne.«

Ich lehnte mich zurück, zündete den Joint an, nahm einen tiefen Zug und bot ihn Mama an.

»Bist du noch ganz dicht, Jacob? Du weißt, dass ich solches Zeug nicht rauche, und du rauchst hier drinnen auch nicht. Geh raus, wenn du kiffen willst. Das Letzte, was ich hier brauchen kann, sind die Bullen.«

Meine Mutter war komplett auf den Hund gekommen: die Augen hervorgetreten, das Gesicht eingefallen, pergamentdünne Haut, die sich über die Knochen spannte. Die Haare, auf alten Fotos dicht und braun, hingen strähnig und fettig herunter. Nichts an ihr glich der Frau auf den alten Fotos, aber ich kannte sie nicht anders. Sie war in einem erbärmlichen Zustand. Bevor ich antworten konnte, machte sie schon wieder Jagd auf die Glühbirne. Ich blieb auf der Couch sitzen und rauchte meinen Joint. Als er an der Klebenaht zu schnell abbrannte, spuckte ich auf meine Fingerspitze und bremste die Glut damit, bis er wieder gleichmäßig brannte, und nahm den nächsten tiefen Zug.

Ich zog mein Handy raus, um zu sehen, ob Maggie geantwortet hatte. Hatte sie nicht. Ich wusste, dass sie früher oder später antworten würde, weil sie es immer tat, nur nie sofort. Ich war bei Maggie nicht ganz abgemeldet, aber anscheinend hatten wir uns nicht mehr viel zu sagen, oder das, was zu sagen wäre, kam keinem von uns über die Lippen. Sie mochte mich zu sehr, um mich loszulassen, und ich mochte sie zu sehr, um sie mit runterzuziehen. So eine Liebe funktioniert nicht. Vermutlich war mir das eher klar gewesen als ihr, und deshalb brach ich damals ihr Herz, statt ihr ein Leben lang wehzutun. Und jetzt war sie weg. Wahrscheinlich in einer anderen Welt, dachte ich und ließ mich tiefer in die Couch sinken und zog an meinem Joint auf der Suche nach einer Welt nur für mich.

Ich hörte, wie Mama nebenan fluchte, Schubladen herausriss und auf den Boden knallen ließ. Erst als sie nichts mehr zum Rumpfeffern fand, kam sie wieder rein. »Jacob, was zum Teufel hast du mit der gottverdammten Glühbirne gemacht?«

Ich musste lachen, dann husten und verschluckte mich an den Worten, die ich nicht schnell genug herausbrachte. »Was soll ich denn mit der Glühbirne gemacht haben?« Ich kriegte mich kaum ein, aber zugleich fühlte ich mich immer mies, wenn ich über meine Mutter lachte. Auch jetzt kroch mir während des Lachens ein ungutes Gefühl in die Magengrube. Sie hatte mich zur Welt gebracht. Durch unsere Adern floss dasselbe Blut. Das alles verdiente Liebe, und ich liebte sie auch. Seit meiner Kindheit trug ich die seltenen Momente, in denen sie nüchtern bei uns aufkreuzte, wie Schätze in mir. Ich hatte immer gehofft, dass aus ihr eine richtige Mutter würde. Aber mit der Zeit begriff ich, dass man nicht geben kann, was man nicht hat. Sie war, was sie war, eine Süchtige, und weder gute Worte noch Taten würden daran etwas ändern. Der Tod war ihre einzige Rettung.

Sie stierte so angestrengt vor sich hin, dass ihre ohnehin hervorquellenden Augen noch mehr vorzutreten schienen. Sie strich sich die Haare aus der Stirn, trottete zur Couch und ließ sich neben mich plumpsen. »Gib mir ’nen Zug von dem Dreckszeug.«

»Vorhin wolltest du mich rausschmeißen, wenn ich drinnen rauche, und jetzt willst du selbst?« Ich drehte mich von ihr weg und zog schnell ein paarmal an dem Stummel, der mir schon die Fingerspitzen versengte.

Ihr Kiefer arbeitete unablässig, als wollte sie mit stumpfen Zähnen eine dicke Bohle durchkauen, und ihr finsterer Blick hellte sich nie auf. »Was zum Teufel meinst du damit, ich würd dich rausschmeißen, wenn du drinnen rauchst?«

»Du hast vor ein paar Minuten gesagt, dass ich zum Kiffen rausgehen soll.«

»Quatsch, das hab ich nie gesagt.« Sie rutschte näher. »Gib her.«

Ich beugte mich zu ihr, stützte die Ellbogen auf die Knie und hielt ihr den Stummel hin. Mama pflückte ihn mir aus den Fingern wie ein zugedröhnter Schimpanse, der einen anderen laust. Ich stand auf, damit sie sich ausstrecken konnte. Sie saugte an dem bisschen, was von dem Joint übrig war, doch auf einmal rutschte ihr der Stummel in den Hals, und sie begann so zu würgen, dass ich glaubte, die Augen würden ihr aus dem Gesicht ploppen. Ich bekam einen Lachanfall und stolperte in Richtung Badezimmer. Sie hustete, würgte und versuchte zugleich, mir hinterherzufluchen, obwohl sie nicht mal genug Puste gehabt hätte, um ins Röhrchen zu blasen.

Als ich vor dem Badezimmerspiegel stand, liefen mir Tränen über die Wangen. Ich zog ein Fläschchen Augentropfen aus der Tasche, legte den Kopf nach hinten, träufelte einen Tropfen in jedes Auge und starrte mein Spiegelbild an. Das breite Grinsen auf meinem Gesicht machte das miese Gefühl in der Magengrube noch übler. Ich hätte über ihr Elend nicht auch noch lachen dürfen, aber wie sonst sollte man mit all den Enttäuschungen umgehen. Lächeln hilft gegen Tränen, Lachen gegen Schmerz.

Ich drehte den Wasserhahn auf und wusch mir das Gesicht. Daddy wollte mich in einer Stunde sehen, und Geschäftliches mit einem bekifften Sohn zu besprechen, mochte er überhaupt nicht. Meine grünen Augen wurden langsam klarer. Mit einer nassen Hand strich ich meine dichten braunen Haare aus dem Gesicht. Daddy war es egal, dass ich kiffte. Es war ihm egal, dass ich Pillen schluckte. Er trank und rauchte, und wenn er schlecht drauf war, nahm er auch Schmerzmittel. Die einzige Droge, die für ihn tabu war, war Crystal. Und nachdem ich mitbekommen hatte, was Crystal aus meiner Mutter gemacht hatte, ließ ich sowieso die Finger davon. Jedenfalls war bei dem, was mein Vater tat, ein klarer Kopf gefragt, also sollte ich wenigstens so aussehen.

Als ich aus dem Bad kam, stand Mama in der Küche auf einem Stuhl, ein Fuß auf der Sitzfläche, der andere auf der Lehne. Sie beugte sich über den Tisch zur Lampe, um nach der Birne zu greifen, und schüttelte sich dabei ständig die Haare aus dem Gesicht. Ihre Bluse war hochgerutscht und gab ihren Bauch frei: mager, schlaffe Haut und noch immer die Dehnungsstreifen aus der Zeit, als sie mit mir schwanger gewesen war. Gerade als ich etwas sagen wollte, wankte der Stuhl, und sie krachte auf den Boden. Ihr Kopf knallte auf die Dielen, aber das schien sie gar nicht zu merken. Sie kam sofort auf die Knie, ihr Blick schweifte suchend durch den Raum, ihr Unterkiefer malmte weiter, und ich sagte nichts. Ich ließ sie dort auf dem Boden wie einen schlechten Witz, einen richtig schlechten Witz, der so peinlich ist, dass man die ganze Zeit kichert, um die Peinlichkeit zu überspielen.

3.

Die Walker Coonhounds bellten und heulten furchterregend, als ich zum Haus fuhr. Offensichtlich spielte es keine Rolle, dass ich Morgen für Morgen ihre Fressnäpfe füllte. Jedes Mal wenn ich in der Einfahrt an ihnen vorbeikam, schnappten die Köter mit gefletschten Zähnen nach den Reifen. Alle im County wussten, dass Daddy weit und breit die schärfsten Hunde zur Bären- und Wildschweinjagd besaß. Er hatte sogar Anfragen von Züchtern aus Maine und Wisconsin bekommen, die ihre Tiere von seinen decken lassen wollten, aber Daddy hat so was nie interessiert.

Die Walkers waren strategisch über das gesamte Grundstück verteilt. Wer über den McNeely-Grund wollte, ohne zerfleischt zu werden, musste einen Tanz aus exakt vierunddreißig Two-Steps, vierzehn Kick-Ball-Changes und einem Chassé kennen. Früher war das Daddys Versicherung gewesen, dass nur Kunden, die sich auskannten, nachts bis zum Haus kamen, um was zu kaufen. Aber über zu Hause liefen schon lang keine Geschäfte mehr. Dafür war sein Unternehmen viel zu groß geworden. Die Hunde behielt er trotzdem, wahrscheinlich mehr aus Gewohnheit als aus einem anderen Grund.

Crystal begleitete mich schon mein ganzes Leben, aber nicht als Droge: Für mich bedeutete es immer nur Geld. Als ich klein war, tat Daddy immer so, als würden wir damit nur eine Familientradition fortsetzen und etwas Selbstverständliches tun, das mit Schmuggelfahrten in frisierten Autos begonnen hatte und nur dazu diente, im Winter über die Runden zu kommen. Das klang eigentlich nicht verkehrt. Outlaw zu sein war auch nur eine Art und Weise, ein paar Dollar zu machen. Mit neun oder zehn half ich ihm, ganze Beutel voll Crystal in Grammtütchen zu portionieren, und bekam meinen Anteil. Das war mein Taschengeld. Sagte er jedenfalls, behielt aber das Geld zur »sicheren Verwahrung«. In einem kleinen Notizbuch wurden die Beträge für den Tag, an dem ich ausgezahlt werden sollte, eingetragen. Jedes Jahr bekam ich neue Aufgaben, und in der zehnten Klasse arbeitete ich schon die halbe Nacht für ihn. Ich ging nur zur Schule, um ihm das Jugendamt vom Hals zu halten und um mich auszuschlafen. Mit sechzehn bin ich dann von der Walter Middleton abgegangen und wollte auch nie wieder zurück.

Von der Veranda aus hörte ich Conway Twittys »I’d Love to Lay You Down« und ein monotones mechanisches Summen wie von einer Elektrofliegenfalle. Ich ging hinein. Zigarettenqualm hing im Raum. Daddy hatte sich über einen Klappstuhl gebeugt, sein Rücken war nackt, und ein langhaariger Latino bearbeitete die Haut mit einer Tätowierpistole. Keiner von beiden sah auf. Nur die dürre Blondine, die mit Daddy zusammen war, musterte mich, bevor sie den Blick wieder auf das Tattoo richtete.

Wortlos ging ich zum Wohnzimmertisch und nahm mir das Päckchen Winston, das dort lag. Ich steckte mir eine Zigarette zwischen die Lippen und ließ mich neben der Blonden auf die Couch fallen. Jetzt erkannte ich, dass der Latino schon die Hälfte ihres Namens in Schreibschrift zwischen Daddys Schulterblätter tätowiert hatte. Daddy war über und über mit Tattoos bedeckt, und fast alle Teile dieses Patchworks hatten als Name einer Frau angefangen, nur um irgendwann von etwas Dauerhafterem überdeckt zu werden.

»Scheiße, Mann, warum lässt du dir denn ihren Namen auf den Rücken tätowieren?« Noch immer leicht bekifft, lehnte ich mich mit halbgeschlossenen Augen zurück und zündete die Zigarette an.

»Halt dein blödes Maul, Jacob!«, fauchte Josephine, aber die beiden anderen reagierten gar nicht.

Der Latino schaltete die Tätowierpistole aus und gab meinem Vater einen Klaps auf die Schulter. Daddy richtete sich auf und griff nach seinen Zigaretten. Der Latino hatte ihren Namen auf Jose verkürzt, und ich musste lachen, was aber vielleicht noch am Joint von vorhin lag. »Wer zum Teufel ist José?«

»Da steht Josie, du Trottel, weil mich dein Dad so nennt, aber du hast ja von nichts Ahnung. Kannst du überhaupt lesen, so ohne Schulabschluss?«

Daddy warf ihr einen scharfen Blick zu, und sie wusste, dass sie besser den Mund hielt. Immerhin hatte er sich diesen Mund einiges kosten lassen, deswegen konnte er vermutlich auch darüber bestimmen. Als Daddy sie kennenlernte, hatte sie völlig verfaulte Zähne gehabt, aber er musste etwas in ihr gesehen haben, denn er steckte fünfzehntausend Dollar in ihr Gebiss, nur um ein perlweißes Lächeln von ihr zu kriegen.

»Von hier sieht’s aus wie J-O-S-E.« Ich sah den Latino an, dessen Augen weiteten sich. Einerseits schien er gleich loslachen zu müssen, andererseits flackerte Furcht in seinem Gesicht auf, als würde er richtig Schiss bekommen.

»J-O-S-E?« Daddy drehte sich um und fixierte den Latino mit seinem Blick. Die leichte Belustigung des Latinos, die ich gesehen hatte, war wie weggewischt, plötzlich stand ihm die blanke Angst im Gesicht.

»Dieser Idiot! Dieser superdämliche Vollidiot hat das i vergessen«, plärrte Josephine. Kochend vor Wut sprang sie mit knallrotem Gesicht auf ihre ewig langen Beine in superkurzen Shorts. Sie und ihr bauchfreies Top enthüllten mehr, als sie verbargen, und für einen Sekundenbruchteil meinte ich zu verstehen, was Daddy in ihr gesehen hatte, aber dann machte sie den Mund wieder auf. »Das kann der nicht machen, Charlie! Lass kein so ’nen Latino-Idioten kaputtmachen, was zwischen uns ist.«

Die Augen des Latinos hatten sich zu Schlitzen verengt und starrten Josephine an. Ich wusste, wenn ich ihm jetzt ein Messer geben würde, würde er so lange auf die großmäulige Schlampe einstechen, bis nur noch ein Gurgeln aus ihr käme.

Daddy blieb wie üblich ganz ruhig, und dass ein Mann, der zu allem imstande war, was man sich erzählte, nie die Fassung verlor, machte ihn noch angsteinflößender. Weder wurde er laut, noch erhob er die Hand, vielmehr sah er nur den Latino an und fragte, ob er das in Ordnung bringen könne.

»Scheiße, nein, das kriegt der nie hin!«, zeterte Josephine und wollte wieder loslegen, aber mein Vater brachte sie mit einem einzigen Blick zum Verstummen.

»Ihr zwei verpisst euch jetzt nach draußen, damit ich mich in Ruhe mit Jacob unterhalten kann.« Daddy stand auf und zog behutsam sein T-Shirt runter. »Und du bringst das in Ordnung, wenn mein Junge und ich fertig sind.«

Der Latino sprang sofort auf, legte die Tätowierpistole auf ein Tischchen und verzog sich. Josephine ließ sich mehr Zeit, stand langsam auf und hängte sich meinem Vater an den Hals wie eine lose Krawatte mit perlweißen Zähnen als Knoten. Sie küsste seinen Hals, aber Daddy reagierte nicht. Josephine stolzierte zur Tür und starrte mich wütend an, als wäre ich für ihren falsch geschriebenen Namen verantwortlich. Ich grinste nur, da wär sie beinahe geplatzt.

Daddy ging zum Plattenspieler – »nichts klingt besser als Vinyl«, fand er, 2009 hin oder her – und drehte die Lautstärke hoch, bis Twitty den Raum erfüllte. Er stellte die Musik immer laut, wenn wir übers Geschäft sprachen, damit kein anderer was aufschnappen konnte, jedenfalls nicht ohne sein Ohr an unsere Lippen zu halten. Er zog den Klappstuhl vor mich und setzte sich verkehrt herum drauf.

Selbst auf mich machte Daddy den Eindruck, als hätte er Dinge gesehen und getan, die jeden Funken aus seinen Augen gelöscht hatten, den es einmal gegeben haben mochte. Übrig geblieben war nur dieser starre Blick ins Nichts wie bei traumatisierten Soldaten im Krieg. Doch obwohl er mein Vater war und mir nie was getan hatte, das mein ängstliches Ducken gerechtfertigt hätte, fürchtete ich mich immer ein wenig, wenn er mit mir sprach.

Er zündete sich an dem glimmenden Stummel eine neue Zigarette an und beugte sich vor, damit ich ihn ganz genau verstand. Seine gegelten dunklen Haare waren in der Mitte gescheitelt, Aknenarben aus der Jugend sprenkelten fast sein ganzes Gesicht. Die Nase war stark gebogen, aber vor allem die Hautkrater zogen Blicke auf sich. »Du fährst heut Nacht ins Camp.« Eine nachmittägliche Bierfahne umwehte seine Worte. »Sorg dafür, dass alles so läuft, wie’s soll.«

Weil ich wusste, wovon er sprach, nickte ich bloß. Beim Einstieg ins Geschäft hatte Daddy vermutlich keine andere Wahl gehabt, als sich selbst die Finger schmutzig zu machen, aber diese Zeiten waren längst vorbei. Richtig los ging’s bei ihm wohl, als er sich mit einem mittelschweren Crystal-Dealer drüben in Tennessee zusammentat. Damals hatten Motorradgangs den Vertrieb in der Hand. Sie schmuggelten den Stoff grammweise in ihren Kurbelgehäusen in die anderen Bundesstaaten. Daddy stand ziemlich lange weit unten in der Hackordnung, aber er knüpfte Kontakte und nutzte sie. Inzwischen musste er das Zeug nicht mal mehr anfassen. Er organisierte nur noch den Transport all dessen, was nach oder aus Jackson County kam, mit gedämpfter Stimme in musikerfüllten Zimmern. In den Appalachen hielt Methamphetamin ein ganzes System am Leben. Der Stoff kam zwar aus Mexiko, aber hier in der Region war Daddy so was wie das Herz von allem, das das Zeug durch den ganzen Organismus pumpte. Er brachte das Crystal in Umlauf, auch wenn es danach noch ein paar Runden über die Berge drehte und durch verschiedene Hände ging, ehe es bei den Usern landete.

Der springende Punkt war, wie Daddy das Problem mit dem Geld löste. Als es nicht mehr nur ein paar Scheine waren, sondern anfing mit dem großen Geld, musste er einen Weg finden, die vielen Dollar legal aussehen zu lassen. Da kam er auf die Idee mit McNeely’s Auto Repair. Über ein ausgeklügeltes System, in dem jede Wartung oder Reparatur das Vier- oder Fünffache des Üblichen kostete, wusch Daddy das Geld. Für jeden Dollar, der zu ihm zurückkam, gab’s einen Beleg. Jeder, der seinen Wagen zur Inspektion brachte, stand auf Daddys Gehaltsliste, und den Großteil der Autos, die in die Werkstatt kamen, hatte Vater selbst angeschafft. Sie bezahlten ihn mit seinem eigenen Geld.

Wenn normale Leute ihr Auto brachten, dampften sie aus Empörung über den hohen Kostenvoranschlag schnell wieder ab. Wollte ein neuer Deputy zeigen, was er draufhatte, und rausfinden, was vor sich ging, bekam er die gleichen überhöhten Preise geboten wie alle anderen. Einige Deputies legten sogar das Geld dafür auf den Tisch, aber es half nichts. Auf Daddys Gehaltsliste waren auch einige Bullen, und die Leute, die draufstanden, waren alle verschwiegen. Sie brachten ihre Autos, zahlten für die Inspektion, und im Gegenzug sorgte Daddy dafür, dass sie selbst in harten Zeiten was zu essen und ein Dach überm Kopf hatten. Nur eins war für ihn immer tabu: dass jemand auf Crystal irgendwas mit dem Geschäft zu tun hatte – das heißt bis jetzt. Jetzt brachte eine Person das ganze System in Gefahr.

»Du weißt, was ich will, Jacob?«

Ich nickte.

»Hör mit dem dämlichen Nicken auf! Nicken reicht nicht, ich will verflucht noch mal hören, dass du kapiert hast, was getan werden muss.«

»Du willst, dass ich mit den Jungs raus ins Camp fahre und mich um Ro–«

Daddy gab mir eine schallende Ohrfeige. »Nicht den Namen! Sprich seinen Scheißnamen nicht aus! Du kennst den Namen nicht, kapiert?«

»Ja, kapiert.«

»Gut.«

Mehr wurde nicht darüber gesprochen, das war schon immer so gewesen. Daddy sagte nur so viel, bis klar war, dass getan wurde, was getan werden musste. Zusätzliche Details hätten nur Verwirrung gestiftet. Und dafür war in einem Geschäft wie diesem kein Platz.

Daddy stemmte sich an der Stuhllehne hoch und ging zur Tür. Er öffnete sie, streckte sich und trat gähnend auf die Veranda. Die weiterjaulenden Hunde übertönten sogar das Gedudel von »She Thinks I Still Care« aus den Lautsprechern. Unten im Flachland gab es sicher noch eine gute Stunde Sonne, aber hier oben in The Creek zerfloss ihr Licht schon hinter den Gipfeln und sickerte als oranger Dunst durch die Tür. Ich nahm das Zigarettenpäckchen vom Couchtisch und zündete mir noch eine an. Die drei standen auf der Veranda, und Daddy beschwichtigte den Latino und Josephine, damit sie sich nicht gegenseitig an die Gurgel gingen. Ich hörte einfach die Platte zu Ende.

4.

Das Camp lag ab vom Schuss in einer dunklen, feuchten Senke zwischen Walnut Creek und Ellijay. Der Vollmond erleuchtete die Straße, so dass man fast ohne Scheinwerfer ausgekommen wäre, aber als sie zum staubigen Streifen Schotter im dichten Wald wurde, war vom Mondschein auch nichts mehr zu sehen. Die alte Forststraße wurde schon lange nicht mehr instand gehalten, aber hierher kam sowieso niemand ohne Geländewagen und Kettensäge.

Im Laufe der Jahre war ich zigmal hier gewesen, denn ehe reiche Fuzzis was weiß ich alles schützen wollten, hatten Daddy und ich auf Wildschwein- und Bärenjagd viele Nächte im Camp verbracht. Es sollte nie mehr als Schutz vor Regen und Erfrieren bieten, wenn das Wetter umschlug, aber mittlerweile taugte es nicht mal dafür. Die Hütte war am Zusammenfallen, nichts als ein Haufen verzogener grauer Bohlen und rostiges Blech.

Ich sah, dass die Jungs schon drinnen waren. Um die Tür zeichnete sich ein dünnes Rechteck aus Licht ab, und durch die Löcher im Dach drangen einzelne Lichtstrahlen. In das Berglorbeergestrüpp war ein Pfad gehauen worden, auf dem ich zur Hütte ging. Dahinter plätscherte ein Bach, aber ich konnte sie drinnen sprechen hören.

Robbie Douglas war an Armen und Beinen mit Draht, dünn wie Gitarrensaiten, an einen Metallklappstuhl gefesselt. Dort, wo ihn der Draht beim Versuch, sich loszureißen, ins Fleisch geschnitten hatte, lief ihm Blut über die Unterarme. Er saß da wie ein geprügelter Hund. Sein Hemd war aufgerissen, die Brust mit Brandwunden übersät, wo die Jungs ihre Zigaretten ausgedrückt hatten. Robbies Körper hatte aufgegeben, nur sein Mund bewegte sich unentwegt, als wollte er sich vom Unterkiefer losmachen. Sein Blick war so wild und bösartig, wie ich es nur einmal bei einem Waschbären gesehen hatte, der eine ganze Nacht in einer Falle gesessen hatte.

»Warum zum Teufel kommst du erst jetzt?«, fragte Jeremy. Nur er und sein Bruder Gerald waren mit Robbie in der Hütte. Die Brüder arbeiteten tagsüber in Daddys Werkstatt. Beide waren ausgebildete Automechaniker, was die Sache ziemlich ordnungsgemäß aussehen ließ. In Wahrheit war an Jeremy Cabe kaum was ordnungsgemäß, außer ein paar Polizeifotos. Er war ein dürrer, schmaler Kerl mit kalten blauen Augen und einem kümmerlichen Schnurrbart über der Oberlippe. Solche drahtigen Typen mit großen Augen waren oft die gefährlichsten, deswegen war ich vor ihm auf der Hut. In seinen Augen lag ein Funkeln, als würde er sofort ausflippen, wenn man nicht glaubte, was er sagte.

»Der Baum ist wahrscheinlich erst umgefallen, als ihr schon durch wart. Ich musste mir den Weg freisägen«, sagte ich.

»Der Pisser hat die ganze Zeit Stress gemacht! Hat mein Arbeitshemd versaut und Gerald fast das Auge rausgekratzt!« Jeremy blickte an seinem dunkelblauen Hemd runter und rubbelte über dem Aufnäher mit seinem Namen an einem weißen Fleck herum, der aussah wie Sperma.

Geralds Gesicht war kaum auszumachen, weil er am anderen Ende des Raums bei Robbie stand. Auf einem klapprigen Tisch neben Jeremy stand eine kleine Lampe, und ein Baustrahler war so auf dem Fußboden platziert, dass er Robbie mitten ins Gesicht leuchtete. Doch obwohl Robbies Schatten Gerald größtenteils verdeckte, erkannte ich die dunkelrote Linie, die sich von seinem Augenwinkel bis zum Bart zog. Er brachte kaum je den Mund auf, und abgesehen von den blauen Augen ähnelten sich die Brüder nicht im Geringsten. Gerald war ein Kerl wie ein Baum, er trug seine Arbeitshose immer mit Hosenträgern, und sein T-Shirt war meist so kurz, dass sein Bauch darunter herausquoll. Seine ungekämmte Mähne steckte unter einer Joy-Dog-Food-Truckermütze, und ein fusseliger Bart umrahmte sein Gesicht. Doch so furchteinflößend Gerald aussah, Jeremy war es, vor dem man sich in Acht nehmen musste.

»Reg dich ab, Jeremy. Sieht doch so aus, als wärt ihr klargekommen, ohne euch gegenseitig abzuschlachten.«

»Ich soll mich abregen? Leck mich! Ohne deinen Vater hätten wir den Pisser längst in ’ner alten Asbestgrube entsorgt! Einen Scheißdreck reg ich mich ab!«

»Wenn ich mir die Kippen am Boden und die Brandwunden auf seiner Brust anschau, würd ich sagen, ihr seid quitt.« Ich hatte versucht, ruhig und bestimmt zu klingen, und fand, dass mir das mit der Antwort auch gut gelungen war. Daddy wollte, dass ich ein Mann war, und genau solche Situationen machten einen dazu. Ehrlich gesagt war ich noch nie bei so was dabei gewesen, und derartige Sachen kamen auch nur selten vor. Meist liefen die Geschäfte reibungslos, denn die Leute hatten vor Daddy genug Respekt oder Angst oder was weiß ich, dass es nicht so weit kam. Ich jedenfalls hatte die Hosen voll. »Hat er schon was gesagt?«

»Er hat nur Bullshit erzählt, nichts sonst, nur einen Riesenhaufen Bullshit. Kein sinnvolles Wort dabei.«

Gerald hatte noch keinen Ton gesagt, aber jetzt trat er hinter Robbie. Er stand so nah bei ihm, dass sein Bauch fast auf Robbies Kopf zu liegen kam.

»Ich hab’s schon gesagt, ich hab nichts zu sagen, ich hab auch niemand was erzählt, also kann ich nichts sagen.« Robbie sprach hastig, es war fast unmöglich, die Worte zu entwirren, weil sein Kiefer genauso arbeitete wie Mamas und womöglich auf demselben unsichtbaren Ding rumkaute.

»Wenn du niemand was erzählt hast, dann ist ja alles gut«, entgegnete ich. »Alles gut, Robbie, bis auf das kleine Problem, dass wir was andres gehört haben. Und derjenige, mit dem du gesprochen hast, ist jemand, den mein Vater schon sehr, sehr lang kennt.«

Robbie war für Monate von der Bildfläche verschwunden gewesen. Er ließ sich sowieso selten blicken, und vielleicht hatte deswegen keiner von uns gemerkt, wie sehr ihn das Meth schon hatte. Hätte Daddy es gewusst, wäre es nicht so weit gekommen. Aber Daddy hatte es nicht gewusst, und erst als die Deputies bei Robbie auftauchten, weil er seiner eigenen Familie eine Stereoanlage und einen Fernseher klauen wollte, erfuhr Daddy davon. Robbie hatte nie viel mitbekommen. Er war nie als Kurier gelaufen oder dabei gewesen, wenn die Mexikaner lieferten. Aber er stand schon lang auf Daddys Gehaltsliste und hatte immer wieder Autos zu Luxusölwechseln und Ähnlichem in die Werkstatt kutschiert, um eine Vorstellung davon zu haben, wie alles funktionierte. Die Deputies hatten ihn aufs Revier gebracht, aber er war von einem Bullen – Daddy nannte sie »Freunde der Familie« – vernommen worden, der auch auf der Gehaltsliste stand. Obwohl er ihm gar nicht richtig auf den Zahn fühlte, fing Robbie an Dinge auszuplaudern, die er niemals hätte ausplaudern dürfen.

Robbie war an diesem Tag gerade von einem einwöchigen High runter. So ein Abtörn war immer das Schlimmste, und wenn man ins Loch fiel, griff man nach jedem Strohhalm, der sich einem bot. Genau das unterschied Methheads wie Robbie von allen anderen Süchtigen, die ich kannte. Leute auf Pillen, Koks, Methadon oder sonst was konnten sich zusammenreißen, wenn sie ins Loch fielen. Ich hatte schon alles Mögliche ausprobiert, ohne irgendwas ausplaudern zu müssen. Aber Crystal Meth schien die Leute komplett verrückt zu machen. Nach einer Woche oder mehr auf Crystal, in der man sich völlig aus der Welt schoss, verirrte sich der Verstand in Gegenden, in die er besser nicht kam. Und genau dann sprudelte alles aus ihnen heraus in der Hoffnung, durch das eigene Gequatsche einen Weg zurück in die Wirklichkeit zu finden. Deshalb war Robbie hier. Deshalb war das hier nötig. Wenn er bei einem geplaudert hatte, würde er es bei anderen tun, und man konnte nie wissen, wer das war. Manche Hunde musste man einfach einschläfern.