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Tabea Steiner

Balg

Roman

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Inhalt

Balg

Die Fruchtblase platzt, Chris fährt Antonia ins Krankenhaus in der nahen Kleinstadt, vierundzwanzig Stunden später wird die Geburt eingeleitet. Danach geht es schnell.

Nach wenigen Tagen können die beiden ihren Bub nach Hause nehmen, in die Wohnung im Dorf, in die sie erst vor wenigen Monaten als Erstmieter eingezogen sind. Der Bub trinkt viel, wächst schnell, und wenn er schläft, streckt er alle Viere weit von sich. Aus seiner Rückenlage heraus erobert er innerhalb von kurzer Zeit ein Maximum an Platz in der Welt.

Mit nur wenigen Schritten erreicht man vom Dorfplatz her den Zaun, der Valentins Garten von der kleinen Straße abgrenzt. Das Haus wirkt, als wende es sich vom Dorf ab.

Valentin steht mitten in seinem Garten, betrachtet die Wildnis, gegen Ende der Sommerferien gibt es immer viel zu tun. In wenigen Wochen wird die Schulhausglocke die Zeit wieder in Stücke hacken, noch liegt das Dorf wie gelähmt in der flirrenden Hitze.

Wicken blühen in allen Farben; wie kann man diese Pflanze für ein Unkraut halten? Valentin schneidet nur jene Triebe ab, die den Rosen das Licht nehmen.

Der Bub wächst, beginnt zu lachen, und wenn er nachts schreit, erwacht auch Chris, schaut zu, wie Antonia das Kind stillt. Dann schlafen alle weiter.

Wenn Chris morgens aufsteht und im kleinen Zimmer, wo schon das Kinderbett steht, zu arbeiten beginnt, gibt Antonia dem Kind die Brust. Sie schläft weiter, bis das Kind wieder hungrig ist, und während es trinkt, schreibt sie Kurznachrichten an die Freunde in der Stadt. Manchmal macht sie Bilder mit ihrem neuen Telefon, einige ihrer Freunde können noch keine Fotos empfangen. Antonia lädt die Bilder auf den Computer und verschickt sie als Mail, ewig dauert das.

Seit das Kind da ist, ist sie zu müde für alles.

»Das kommt schon wieder«, sagt Chris jeweils und geht zurück ins Arbeitszimmer. Sie muss auch bald wieder arbeiten und fährt zum Arzt ins Nachbardorf, der verschreibt ihr Eisen, das hilft nicht. Antonia lässt sich von einem anderen Arzt ein anderes Präparat verschreiben. Das hilft, sie wird wacher, nach zwei Wochen liest sie die Packungsbeilage. Stillende Frauen sollen ihren Arzt konsultieren; der Arzt hat nicht einmal gefragt, ob sie ein Kind hat. Ein dritter Arzt verschreibt ihr ein drittes Präparat.

Am Dorfplatz steht das alte Posthäuschen, das erste Telefon im Dorf hatte hier gehangen. Valentin öffnet die Tür, leert den Postkasten. Ein großer Stapel Umschläge, alle mit der gleichen Handschrift adressiert. Ihm kommt die Schrift bekannt vor, mit diesen langen Bögen, Valentin wendet einen Umschlag, kein Absender. Dann sortiert er alle Umschläge aus, die nicht frankiert sind. Er seufzt; wann hat das eigentlich angefangen, dass die Leute Post, die im Dorf bleibt, nicht frankieren, und warum hat er nichts dagegen unternommen? Aber man kennt sich ja.

Am Nachmittag sticht er im Garten die Erde um, die Kartoffeln lagern im Keller im eigenen Dreck, so halten sie am längsten. Valentin reibt sich die Hände, es ist kühl, dann treibt er die Schaufel wieder in den Boden. Das muss Antonias Schrift sein, auf den Umschlägen. Vor wenigen Jahren hat er sie in der Dorfschule unterrichtet, und jetzt verteilt er als Postbote die Geburtsanzeige ihres ersten Kindes. Sie war hochschwanger, als er sie das erste Mal wieder im Dorf gesehen hat.

Das Wintergemüse muss er noch vor dem ersten Reif mit Stroh bedecken. Die langen Stängel der Sonnenblumen schneidet er nah am Boden ab, reißt die Wurzeln aus, die Blüten liegen bereits im Wohnzimmer zum Trocknen aus. Er prüft den Gartenzaun, rüttelt an den Brettern; der ist winterfest.

Das Gartenhaus ist überfüllt, Kunstdünger, Schneckenkorn, viel zu viel Sondermüll. An der Wand stehen die Geräte, dahinter hängen die beiden anderen Räder. Das Damenrad hat der Rost bald aufgefressen, samt Glocke, beim Kinderrad kleben die Pneus an den Felgen wie alte Ballone. Er sollte die beiden Räder endlich in die Mulde werfen, zum Alteisen. Im Frühling muss er hier Ordnung machen.

An Weihnachten bewegt sich der Bub schon alleine vorwärts, schiebt sich Richtung Weihnachtsbaum, darunter stapeln sich Geschenke. Antonia ist erleichtert, als der Kleine am Baum vorüberrutscht, sie hat sich vorgenommen, nicht immer gleich einzugreifen.

Sie macht eine Aufnahme vom Bub, wie er neben dem Tannenbaum bei den Pflanzen sitzt. Aus der Küche ruft Chris zum Essen, er hat den Braten stundenlang schmoren lassen. Antonia nimmt das Kind auf den Arm und zeigt Chris das Foto im Telefon.

»Was hat er denn im Mund?«, fragt er. Antonia stutzt und zoomt mit der freien Hand das Gesicht ihres Kindes näher. Da ist etwas Rundes, Helles, schnell legt sie das Telefon weg und drückt dem Kind Daumen und Zeigefinger zwischen Ober- und Unterkiefer. Es beginnt zu schreien, und jetzt sieht Antonia die zerquetschten Reste. »Sind das Pilze?«, fragt Chris, er beugt sich über das Bild auf dem Telefon. Dann eilt er ins Wohnzimmer, kommt gleich wieder zurück und starrt Antonia entsetzt an, »Da wachsen Pilze im Topf!«

Hektisch pult Antonia dem schreienden Kind den braunen Brei aus dem zahnlosen Mund.

»Du solltest besser auf das Kind aufpassen, anstatt jeden Schritt zu fotografieren«, sagt Chris. Antonia wirft die verdreckte Serviette auf den Tisch, schaut ihn an und sagt, »Er macht noch keine Schritte, und für die Pflanzen in dieser Wohnung bist du verantwortlich.«

Das Kind übergibt sich auf Antonias Bluse, braune Fetzchen bleiben im Stoff hängen. Antonia legt den Bub in die Wiege, säubert den Stoff mit einem Lappen. Chris hat im kleinen Zimmer den Computer hochgefahren und klopft mit den Fingern ungeduldig auf den Schreibtisch.

»Soll ich Tanja anrufen?«, fragt Antonia und stellt sich hinter Chris. »Lass uns besser gleich im Krankenhaus anrufen, Tanja hat bestimmt frei, und ob das giftig ist, kann sie durchs Telefon auch nicht sehen«, sagt Chris, ohne sich umzudrehen. »Dann ruf eben an«, sagt Antonia. »Wen soll ich denn jetzt anrufen?«, fragt er und dreht sich zu ihr. »Das Krankenhaus, denk doch selber.«

Antonia geht ins Schlafzimmer, wirft die säuerlich riechende Bluse aufs Bett, zieht etwas anderes an. Das Kind ist eingeschlafen, der Braten ausgekühlt.

Valentin wacht eine halbe Stunde später auf als gewöhnlich, setzt sich auf die Bettkante, schüttelt mit einer Hand das flachgelegene Kissen aus. Er betrachtet das zweite Kissen, steif und sauber liegt es da; diese Bettwäsche hat er ihr vor Jahren geschenkt, zu Weihnachten. Nicht einmal die wollte sie mitnehmen.

Valentin schaut auf den Boden, auf seine Knie. Er sitzt da in seinem Schlafanzug aus Flanell, sein Glied wehrt sich kraftlos gegen den weichen Stoff, verharrt wie ein müdes Tier, das sich nicht entscheiden kann, ist es jung, ist es alt.

»Steh auf«, sagt Valentin laut zu sich selbst, wäscht sich, zieht Sonntagskleider an. Über Nacht hat sich Schnee angehäuft, Hauben hocken auf den Büschen, Vogelspuren streifen die weiße Fläche. Weit hinten schimmert das Flussband metallen auf. Von hier aus kann er die Straße sehen, auf der die Autos neben der alten Eisenbahnbrücke über den Fluss rasen.

Valentin schaltet das Radio ein. An Heiligabend hat er einen Topf Kartoffeln gekocht, er stellt sie in den Kühlschrank. Im Radio wird gepredigt, er schaltet es wieder aus und öffnet das Küchenfenster, klopft den Kaffeekolben im Eimer aus, schwarz rieselt der Satz über Eierschalen und schrumpelige Spiralen. Er hat es sich zur Gewohnheit gemacht, Äpfel zu schälen, ohne das Messer ein einziges Mal abzusetzen. Eine dieser Schalenspiralen lässt er auf und ab federn, dann lässt er sie in den Eimer fallen, schließt den Deckel. Der Deckel klemmt, der Eimer rutscht ihm beinahe aus den Händen, schabt kalt auf dem Sims. Ansonsten ist es still rundherum.

Das Kind schreit gellend, dann zieht es schon wieder Luft ein. Antonia wiegt es hin und her, sie soll dem Bub dreimal am Tag die Temperatur messen. Die Ärztin hat ihr ein Serum mitgegeben, das den Magen beruhigt. Es könne mit dem Pilz zusammenhängen, müsse aber nicht; dass Chris dann im Auto gesagt hat, dass sie dafür nicht ins Krankenhaus hätten fahren müssen, das ärgert sie immer noch. Er wusste doch auch nicht, was sie tun sollten, als der Bub, nachdem er sich diesen Pilz in den Mund gestopft hatte, die Luft so einsog und ganz blau wurde. Der Kleine hat so lange geschrien, bis bei Frau Meierhofer nebenan das Licht angegangen ist.

Der Bub beruhigt sich ein wenig, endlich, sie gibt ihm die Brust, holt Kleider aus der Kommode im kleinen Zimmer und zieht ihn warm an. Sie bleibt kurz hinter Chris stehen, der sitzt am Rechner, schaut sich nicht um. Dann zieht sie die Jacke an, frische Luft kann nie schaden.

Draußen schläft das Kind rasch ein, die Luft ist kalt und feucht, Antonia schließt kurz die Augen, alles an ihr ist müde.

Sie schiebt den Kinderwagen hinunter zum Wald, hinaus aus dem Dorf. Einzelne Häuser und Höfe liegen verstreut in der Umgebung. Das neue Mehrfamilienhaus, in dem sie wohnen, steht da, wo früher ein grosser Hof stand. Antonia schaut nach, ob das Kind noch atmet, es schläft friedlich, mit rosa Wangen, sie versucht, sein Gesicht mit ihren kalten Händen nicht zu berühren. Sie bleibt stehen, ihr bricht plötzlich der Schweiß aus; dass sie das vergessen konnte. Gestern zum Braten hat sie ein Glas Wein getrunken, man muss vierundzwanzig Stunden warten, bis man ein Kind nach Alkoholgenuss wieder stillt. Sie geht schnell weiter.

Dann ist sie unten am Fluss, der in einer großen Schlaufe um das Dorf herumzieht, wie schwarze, dünne Tinte fließt das Wasser. Kalt sieht es aus, im Spätsommer hat sie sich vorgenommen, jeden Tag kurz hineinzuspringen, auch im Winter. Aber für dieses Jahr ist es zu spät, damit anzufangen, Antonia wendet, der Pfad steigt wieder an, die Räder bleiben im nassen Schnee stecken. Sie schwitzt immer noch.

Antonia öffnet die Tür, legt das schlafende Kind in die Wiege. Chris hockt vor der nackten Tanne, den Schmuck hat er bereits in den Schachteln verstaut und die Pflanzenecke mit ein paar groben Brettern vom Rest des Raumes abgetrennt.

»Sind wir jetzt ein Treibhaus?«, fragt Antonia, Chris hantiert weiter, schaut nicht auf. Antonia setzt sich an den Tisch, stützt das Kinn auf die Hände, wartet, bis der Kaffee kocht. Im leeren Weinglas spiegelt sich ihr Gesicht, große Augen und in die Breite gezogene Wangen; sie hat gestern nur ein Glas Wein getrunken, so schlimm kann das gar nicht sein. Mit einer Gabel kratzt sie Krusten von den Tellern und Platten, schaut zu Chris; der würde besser die Küche aufräumen.

Valentin geht über den verschneiten Pfad, nach wenigen Minuten sieht er das Dach des Betagtenheimes in der Senke. Er fährt sich mit der Hand nochmals übers Hemd und betritt das Foyer.

Auf den kleinen Salontischchen liegen Zweige, man hat weiße Kerzen in Mandarinen gesteckt. Auf einer Kommode steht eine Fotografie, schwarzweiß; portraitiert hier einer regelmäßig die Bewohner, damit man dann ein aktuelles letztes Bild zur Hand hat? Aber gibt es nicht dieses Alter, da der Mensch beginnt, sich auch der äußerlichen Veränderung zu widersetzen?

Valentin entdeckt seine Mutter zuhinterst an der Glasfront, zwischen seiner Schwester Maria und Robert, ihrem Mann. Wie in einem Gemälde sitzen die drei vor der Schneelandschaft.

Das Essen wird aufgetischt, die Mutter hat ein Menu vorbestellt, »Damit wir nicht so lange warten müssen«, sagt sie und beginnt zu essen.

»Hast du schön gefeiert?«, fragt Maria, Valentin kaut und nickt. Die Mutter antwortet, »Sie haben hier gesungen, aber wieder die gleichen Lieder.« »Wer hat gesungen?«, fragt Maria. Die Mutter sagt, »Diese Leute, von unten am Fluss, die kommen jedes Jahr. Aber den Braten haben die aus der Küche wieder dünn geschnitten, und für jeden gab es nur eine Scheibe, überall sparen sie.«

Die Mutter ist satt, schiebt den Teller von sich, wischt sich den Mund mit der Serviette ab, schaut in die Runde, »Wo sind die Kinder?« »Ich hab dir schon vor Wochen gesagt, dass sie nicht kommen, sie haben ihre eigenen Familien«, sagt Maria. Die Mutter hört nicht hin, dreht sich zu Valentin, »Und wo ist Tanja, die hat doch keine Familie, oder?«

»Mutter«, sagt Maria. Valentin stellt das Glas ab, heftiger als er wollte; Maria soll nicht auch noch für ihn antworten. Valentin schaut hinaus in die vergraute Kulisse, Robert sagt etwas von den Schafen, vom nassen Sommer und dem knappen Heu, Maria erzählt von diesem neuen Spiel, das sich Mona so gewünscht hat, »Jetzt kann sie gar nicht mehr aufhören damit.«

»Dieses neue Zeug«, unterbricht die Mutter und bestellt mit spitz in die Luft stechendem Finger Kaffee. Valentin hört alles wie von weit weg; wie lange ist das her, dass er als Kind gar nicht mehr aufhören konnte, nach Weihnachten mit den neuen Sachen zu spielen. Der Kaffee wird aufgetischt.

»Wie lange schläft er denn noch?«, Chris steht vor dem schlafenden Kind, Antonia stellt sich neben ihn, er legt ihr den Arm um die Schulter. Sie schaut ihn seitlich an; hoffentlich merkt er nicht, dass sie nicht lange genug gewartet hat mit Stillen. Chris sagt, »Vielleicht wirkt das Serum endlich.«

Antonia nickt, »Ja, das denke ich auch.« Chris beugt sich zum Kind hinab, zieht eine Feder aus der Decke und hält sie vor das kleine Näschen, die Feder bebt sacht.

Antonia setzt sich auf dem Bett auf; wie lange hat sie geschlafen? Sie geht ins Wohnzimmer; was ist das denn? Chris hat den ganzen Weihnachtsschmuck wieder an den Baum gehängt, sie umarmt ihn, zündet die Kerzen an. Chris wärmt die Essensreste vom Heiligen Abend auf, und als der Bub endlich erwacht, nehmen sie ihn in die Arme, er lacht, trinkt und schläft bald schon wieder ein.

Die Gläser klirren leise, draußen wirbelt Schnee, sie trinken beide ein zweites Glas Sekt.

Valentin breitet die Wollweste auf dem Bett aus; dass die Mutter immer noch so stricken kann. Nur spricht sie mit ihnen noch immer, als wären sie Kinder, dabei ist Maria in Rente, und er auch schon bald. Und wie sie sich geweigert hat, Maria das Geschenk für Mona mitzugeben. »Mona ist alt genug«, hat sie gesagt, »Mona muss es selber holen.«

Valentin schraubt die Flasche Selbstgebrannten auf, die ihm Robert zugeschoben hat. Er füllt ein kleines Glas, schaltet das Radio ein, ihm wird warm, er schenkt nochmals nach.

Antonia ist kaum eingeschlafen, da schreit schon wieder der Bub. Jede Nacht dasselbe, ihre Brüste sind hart, sie ist erschöpft, der Bub bald zufrieden. Antonia schläft sofort wieder ein. Mit einem Ruck setzt sich Chris auf, »Hast du jetzt das Kind gestillt?«

Antonia hebt leicht den Kopf, lässt ihn gleich wieder aufs Kissen fallen, sie will schlafen, endlich. Chris klammert sich mit einer Hand an ihren Arm, »Du hast gerade noch Alkohol getrunken!«

Jetzt ist Antonia hellwach, aber sie regt sich nicht, sie schaut auf das Gewebe des Kissens und lauscht, ihr Herz schlägt, der Kopf rauscht. Sie schließt die Augen, Chris rüttelt an ihrer Schulter, »Machst du das immer so?«

»Natürlich nicht«, Antonia will seine Hand wegwischen. Er hält sie nur noch fester, »Weißt du eigentlich, wie schädlich das ist?« Antonia setzt sich auf, da lässt er ihren Arm endlich los, »Ja, das weiß ich, und jetzt kann ich es auch nicht rückgängig machen. Ich war müde, okay?« Sie steht auf, in der Küche trinkt sie im Stehen ein Glas Wasser.

»Hast du nicht gehört, dass ich gefragt habe, ob du mir auch Wasser bringst?«, fragt Chris, als Antonia zurückkommt. Aber sie antwortet nicht, sie will jetzt schlafen, sie hat Kopfschmerzen, vom Schlafmangel, vom Alkohol. Vor dem Einschlafen haben sie noch gescherzt über ihre großen Brüste; soll doch Chris das Kind füttern, mitten in der Nacht. Chris macht Licht, dann steht er auf, stößt gegen einen Stuhl. Antonia kann hören, wie er direkt vom Hahn Wasser trinkt, wie er spült, da muckst das Kind auf, schläft gleich wieder, immerhin.

Valentin stellt den Besen in die Ecke und geht los, über den verschneiten Dorfplatz, hinüber zu Marias Hof. Sie hat angerufen, ob er Mona zu ihrer Großmutter begleiten könne. Seit seine Mutter alt geworden ist, gibt Maria den Tarif durch.

Valentin hatte Robert damals geholfen, den kleinen Anbau zu renovieren, in dem Mona wohnt, seit sie volljährig ist. Aus der Küche des Bauernhauses kann man über den Hofplatz hinweg sehen, ob im Anbau Licht brennt.

Valentin klopft ans Fenster und sieht Mona auf dem Bett sitzen. Sie hält etwas in den Händen, starrt es konzentriert an, stampft auf und wirft das Ding zu Boden. Valentin klopft noch einmal, Mona schaut ihn an, öffnet die Tür.

»Ich habe verloren!«, sagt sie und stampft dann erneut auf, »Diesen Blödsinn spiele ich nie mehr.« Valentin bückt sich nach dem Gerät am Boden, drückt auf einen Knopf, es passiert nichts. Mona nimmt es ihm aus der Hand, »So, schau, spiel«, sie reicht Valentin das Kästchen. Auf dem Bildschirm vor dem Bett hat das Spiel schon begonnen, Valentin schiebt die Hebel hin und her, bis eine verzerrte Melodie erklingt. Mona lacht laut, »Du hast verloren!« »Was ist denn passiert?« Valentin schaut auf dieses schwarze Kästchen in seinen Händen, Mona kugelt sich auf dem Bett, bis Valentin auch lachen muss.

»Komm, Mona, wir gehen raus, zu Großmutter, sie hat ein Geschenk für dich«, sagt er und Mona steigt in ihre Moonboots. Draußen nimmt sie den Hund von der Kette, Valentin geht den beiden hinterher, sie haben den Pfad nach dem Fluss hin eingeschlagen, das ist ein kleiner Umweg. Der Hund springt an Mona hoch und bellt, und Mona rennt durch den Schnee, sie lacht, der Hund bellt, vom Wald her schwappt das Echo über das verschneite Gelände.

Valentin geht an der neuen Siedlung vorüber, vorbei an der verfallenen Käserei und dem Moor, hinein in den Wald. Mona wartet, sie stützt sich schnaufend mit beiden Händen auf ihren Knien ab und ruft nach dem Hund. »Er darf nicht frei im Wald herumrennen«, erklärt sie Valentin und nimmt das Tier an die Leine.

Zu dritt gehen sie hangabwärts, der Hund steckt Pfote um Pfote in den Schnee. Eine Frau schiebt einen Kinderwagen aus dem Wald, kommt ihnen entgegen. Valentin bleibt kurz stehen, räuspert sich, es ist Antonia. Sie hebt nur kurz die Hand, als sie sich kreuzen, und geht weiter, auch Valentin watet weiter; anstrengend ist das in diesem hohen Schnee. Er bleibt stehen, dreht sich um, »Mona!«

Mona geht dem Wagen hinterher, erreicht ihn und hält sich daran fest. Antonia muss anhalten, sie schaut Mona empört an, dann schaut sie hinunter zu Valentin, sie sagt nichts, schaut nur zornig. »Mona, komm sofort!«, ruft Valentin, seine Stimme ist belegt, der Hund bellt. Mona beugt sich in den Kinderwagen, Antonia hält ihn fest und schiebt dann den Wagen weiter. Mona trottet einfach mit, den Kopf immer noch in den Wagen gesteckt, wie ein Kalb, das man an einem Strick davonzieht.

»Mona!«, ruft Valentin nochmals, lauter diesmal. Mona lässt endlich los, schaut zu Valentin und kommt langsam auf ihn zu, steht mit einem Schmollmund vor ihm. Aus dem Wagen hört man das Kind schreien, Antonia rennt beinah den Hang hinauf. Valentin will etwas rufen, sich entschuldigen, Mona brummelt, »Sie hat mir nicht einmal gesagt, wie das Kind heißt.«

Valentin schaut seine Nichte an. Wie sie da steht, mit ihrer Enttäuschung im Gesicht; dass sie ausgerechnet bei Antonia so etwas machen muss, Mona ist doch trotz allem auch erwachsen. Er legt ihr die Hand auf die Schulter, »Mona, hör mal, so etwas kannst du nicht machen.« Mona springt auf, »Der Hund!« Sie pfeift, reißt sich los und rennt dem Hund hinterher, der über das Feld jagt, »Du darfst nicht frei herumrennen, dummer Hund!«

Valentin geht in den Wald hinein, zertritt die Spuren des Kinderwagens, er erschrickt ein wenig, als eine kühle Schnauze seine Hand anstupst. »Ich habe nichts«, sagt Valentin und schaut auf den Hund hinunter. Der Hund setzt sich und blickt zu Valentin hoch, bis der seine Taschen nochmals abtastet, sie sind wirklich leer. Da steht der Hund auf, Valentin trottet ihm hinterher, bis Mona die beiden einholt und zu reden beginnt, über das neue Computerspiel, über den Hund, der immer in den Wald rennt. Valentin schaut Mona von der Seite her an; den Kinderwagen hat sie wohl längst vergessen.

Chris startet den Rechner, diese neuen Seiten, die es jetzt gibt, er klickt sich durch die Bilder, ein Kumpel hat eine neue Freundin; das kann man ja alles kommentieren. Chris schreibt etwas, löscht es gleich wieder. Ein neues Bild taucht auf, die Bar im Hintergrund kennt er. Chris lehnt sich zurück und schaut hinaus; wenigstens kann man so vom Dorf aus zuschauen, was in der Stadt abgeht.

Er steht auf, geht auf den Balkon, raucht, schaut hinaus auf die verschneiten Wiesen; die haben alle keine Kinder, können Nächte durchfeiern, Chris stutzt. Dass er das schon wieder vergessen hat, dass Antonia in der Nacht das Kind gestillt hat, nachdem sie gestern Abend getrunken hatte. Das kann doch nicht sein, war sie denn so besoffen?

Er raucht, bläst kalten Dunst aus, hustet, sein Kopf ist müde. Es ist still hier, auf dem Land, sowas hat er sich immer vorgestellt, deswegen hat er Antonia auch vorgeschlagen, hierherzuziehen, als sie schwanger geworden war. Er hört, wie die Tür der Nachbarwohnung geht, Frau Meierhofer kommt nach Hause, ihr Enkel begleitet sie. Den erkennt er an der Stimme.

Beim Bauernhof drüben rennt ein Hund über den Platz, hinterher ein großes Kind. Oder ist es eine Erwachsene? Ein Mann folgt, ist das nicht der Postbote? Das muss eine seltsame Geschichte sein, der war früher Lehrer und arbeitet jetzt im selben Dorf als Postbote. Chris hat Antonia einmal gefragt, was da eigentlich war, sie scheint den Mann gar nicht zu mögen. Dabei war sie doch im Internat, und ob sie zuvor noch im Dorf in die Schule gegangen war, weiß er gar nicht, Antonia gibt nicht viel von ihrer Kindheit preis.

Chris drückt die Zigarette aus, geht in die Wohnung, bevor Frau Meierhofer auf den Balkon kommt und wieder fragt, wie das Kind heißt. Er will aufgeräumt haben, bis Antonia zurück ist, geht in der Wohnung umher, öffnet die Fenster, rafft Kleider zusammen, die auf dem Kanapee liegen, räumt den Tisch ab.

Chris setzt sich nochmals an den Rechner. Da sind neue Kommentare, neue Fotos; dieses Ferngespräch läuft auch ohne ihn. Manchmal fehlen ihm all die Freunde, ob es die beste Idee war, hierherzuziehen, wer weiß das schon. Chris schaltet den Rechner aus und bleibt davor sitzen. Auf dem dunklen Bildschirm spiegelt sich sein Gesicht.

Antonia schiebt den Kinderwagen den Hang hinauf, sie rutscht, schwitzt. Jetzt heult der Bub wieder, sie hält das nicht mehr aus, diese Frequenz, jeden Tag diese Spaziergänge im grauen Wetter. Der Weg wird wieder flacher, Antonia bleibt stehen, wischt sich über die Stirn. Was sollte das vorhin, Mona ist fast in den Wagen gekrochen, hat den Bub aufgeweckt, und der Alte hat wieder nichts dazu gesagt, das gibt’s doch nicht.

Das letzte Licht legt sich auf den Schnee, der Bub hat sich beruhigt, endlich, er schläft, zuckt nur ab und zu. Antonia geht weiter; dass ausgerechnet sie wieder hier im Dorf gelandet ist, die Freundinnen von früher sind alle weg. Tanja ist die einzige, die sie noch ab und zu sieht, aber auch seltener, seit sie das Kind hat und Tanja ihre Oberarztstelle. Chris wollte unbedingt hierherziehen, »Das ist doch praktisch, wenn deine Mutter in der Nähe ist«, und die Natur, und ein Garten, all der Quatsch. Arbeit hat er ja doch keine, sie beide nicht, ihre Mutter hat ihr vorgeschlagen, sie solle sich um den Job im Dorfladen bewerben. Dafür hat sie wirklich nicht studiert.

Ihre Schritte knirschen, die oberste Schneeschicht, die am späten Nachmittag kurz davor war, zu schmelzen, ist wieder hart geworden. Es wird kalt, Antonia hat geschwitzt, sie muss aufpassen, dass sie sich keine Erkältung einfängt. Das Kind winselt wieder im Wagen; warum kann eigentlich Chris nicht mal mit ihm raus, frische Luft würde dem käsigen Arsch auch gut tun.

Sie steht vor der Hauseinfahrt, manchmal denkt sie noch immer daran, wie die große Scheune niedergebrannt ist, an der Stelle, wo jetzt die Neubausiedlung steht. Das ganze Dorf hatte hier gestanden, mitten in der Nacht, bis heute weiß man nicht, warum der Hof abgebrannt ist. Antonia fasst sich an den Hals; die Kette, die hat ihr Chris gerade zu Weihnachten geschenkt, hat sie sie etwa verloren, vorhin, als Mona am Kinderwagen gezogen hat? Es ist schon fast dunkel, morgen muss sie früh raus und die Kette suchen.

Soll sie jetzt wirklich nach Hause, aufräumen, kochen, füttern, schlafen? Antonia bleibt kurz stehen, dann schiebt sie den Kinderwagen weiter; nur kurz rüber zur Mutter, die freut sich auch, und dann ist der Abend weniger lang. Sie muss mal wieder mit Freundinnen ausgehen, Chris geht dauernd aus, »Du hast ja deine Mutter im Dorf.« Dass er es tatsächlich wagt, sowas laut zu sagen.

Chris schaut auf die Uhr; warum kommt Antonia nicht, sie müsste längst zurück sein. Ihr Telefon liegt auf dem Tisch; dass sie das nie bei sich hat. In der Küche steht noch schmutziges Geschirr, er räumt es in die Spülmaschine, bleibt vor der rauschenden Maschine stehen, schaut hinaus in die Nacht.

Sie war so leidenschaftlich, letzte Nacht, dafür am Morgen angepisst, vielleicht war er wirklich ein wenig schroff, weil sie gestillt hatte nach dem Alkohol. Er ist eben erschrocken, das weiß man doch, wie schädlich das ist für ein Kind. Im Treppenhaus sind Schritte zu hören, Chris guckt kurz hinaus, da ist niemand.

Keine Nachricht auf dem Telefon, Chris setzt sich wieder an den Rechner. Irgendwann muss ja ein Auftrag hereinkommen, die einzigen neuen Mails haben ihm entfernte Bekannte geschickt. Geschäftsgrüße kurz nach Weihnachten, von Leuten, von denen man sonst nie was hört, interessant. Chris stützt den Kopf in die Hand; auf Arbeit zu warten, ist noch anstrengender, als zu arbeiten, und das Leben auf dem Land ist teurer als erwartet. Wenn man hier leben will, müsste man ab und zu wegfahren können, in die Stadt, in den Urlaub, nur können sie sich das im Moment wirklich nicht leisten.

Chris legt sich aufs Kanapee; Antonia schaut bestimmt bei ihrer Mutter vorbei, ist ja super, dass die manchmal aufs Kind aufpasst. Er hat halt trotzdem niemanden hier, seine Leute sind in der Stadt. Vielleicht muss er einfach mal ins Dorf, die Leute ansprechen, nur, wer hat denn dafür Zeit, auf dem Dorf bestellt auch jeder seinen eigenen Acker.

Chris streckt sich aus, legt sich seitlich aufs Sofa, der Boden ist mit Brosamen übersät, das mag er jetzt nicht auch noch sauber machen. Er richtet sich halb auf; da liegt ja die Goldkette, die er Antonia zu Weihnachten geschenkt hat. Er hebt sie auf und legt sie auf das Tischchen.

Die Abende werden schon wieder länger. Valentin hat im Garten jede Menge Plastik ausgegraben, der Winter schwemmt alles Mögliche an, Tiere und Wind tun das ihre, er füllt alles in einen blauen Sack. Dann harkt er die Erde fein, schabt mit der hohlen Hand Gruben, pflanzt Setzlinge hinein, presst die Erde fest und gießt die Pflänzchen.

Schließlich streckt er seinen Rücken durch, sammelt die Werkzeuge ein und trägt sie zum Gartenhaus.

»Guten Abend.« Valentin fährt zusammen, ein grosser Mann steht am Zaun. Valentin nickt, verräumt das Werkzeug, riegelt ab. Der Mann steht mit einem Kinderwagen bereits in seinem Garten und versucht, das Tor von innen zu schließen. Er lächelt Valentin an, »Wie wird die Ernte?« Valentin kennt diesen Mann nicht, er wiegt den Kopf hin und her, dann sagt er, »Das wird der Herbst zeigen.«

Das Kind im Wagen beginnt zu wimmern, der junge Mann beugt sich darüber, das Kind schreit lauter. Er schiebt den Wagen vor und zurück, schaut immer wieder zu Valentin, lächelt, zieht die Schultern und die Augenbrauen hoch. Das Kind hört nicht auf zu schreien, bis es der junge Vater aus dem Wagen nimmt. Und da ist Valentin plötzlich klar, dass er diesen Wagen kennt. Das ist Antonias Mann, was will der hier?

»Schau, der schöne Garten«, sagt der Mann, aber das Kind schreit weiter, »und das Gartenhäuschen.« Valentin steht da, in seinem Garten, neben seinen unerwarteten Besuchern, und dann sagt er, »Sie müssen das Kind anders herum halten. Die Ärmchen überkreuzen und es bäuchlings auf ihren Arm legen, das Köpfchen muss dabei ein wenig nach unten geneigt sein.« Der junge Mann schaut Valentin überrascht an, befolgt die Anweisung. Als das Kind verstummt, lacht er verwirrt, »So einfach geht das.«

Valentin ist selber überrascht, dass er sich immer noch an diesen Trick erinnert. Er nickt dem jungen Mann nochmals zu und geht hinüber zu den Setzlingen, im Nacken spürt er den fremden Blick.

Valentin stellt den blauen Sack an die Straße, der junge Mann zeigt dem Kind den ganzen Garten, Sträucher und Büsche. Hier hat schon Antonia oft gespielt, als Kind, mit Tanja, nur hat Valentin die Schaukel längst abgebaut, auf der sie in die Lüfte geflogen sind; vielleicht sind die beiden ja immer noch befreundet, was weiß er schon. Zu dem jungen Mann sagt er, »Ich gehe mal rein.« Der junge Mann nickt, »Natürlich«, er hebt die Hand, und dann fügt er hinzu, »danke, dass wir den Garten sehen durften.«

Valentin bleibt nochmals kurz stehen, nickt, hebt die Hand und geht ins Haus.

Halb zehn, geht ja noch. Chris steht auf, duscht, Kaffee, Mails, Kaffee.

Er hat einen Anruf von Antonia verpasst; vielleicht hat sie was vergessen. Sie geht früh los, seit sie diese Arbeitsstelle angenommen hat, bringt vorher das Kind zu ihrer Mutter, damit er zu Hause ungestört arbeiten kann.

Chris steht auf, raucht auf dem Balkon. Antonia verdient ganz okay, nur bei ihm läuft es einfach nicht mehr, seit er von hier aus arbeitet, hie und da ein Auftrag, dazwischen an der Webseite basteln. Es klingelt, er drückt die Zigarette aus, der Lieferdienst bringt zwei Pakete, einen Untersatz für seinen Rechner, damit die Hitze abziehen kann, und Kinderkleider; hoffentlich gefallen sie Antonia, er hat die Kleider letzte Woche bestellt. Er raucht nochmals eine Zigarette, schaut hinaus auf die Felder, den Wald, den Frühsommer, diese Natur. Als sie hierhergezogen sind, hat er sich vorgenommen, immer früh aufzustehen und im Wald zu laufen, bevor er mit der Arbeit beginnt. Aber jetzt, mit dem Kind und mit Antonias neuer Arbeitsstelle, er kann ihr schlecht am Abend sagen, dass er nur im Wald war und sonst nichts.

In der Balkonecke stapeln sich Gartenerde und Eternitkisten. Hier auf dem Balkon könnte man Gemüse ziehen oder Kräuter, unten auf der großen Wiese darf man keine Beete anlegen, der Hausbesitzer will das nicht. Auf dem riesigen Rasen hält sich kaum einer auf, Federball und Fußball sind nur erlaubt, wenn der Rasen trocken ist, und die Bäume sind noch zu klein, um Schatten zu spenden.