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Die Autorin

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Prof. Dr. Karin Flaake ist pensionierte Hochschullehrerin für Soziologie mit dem Schwerpunkt Frauen- und Geschlechterforschung an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Arbeitsschwerpunkte: Geschlecht und Sozialisation, Sozialpsychologie der Geschlechterverhältnisse, Arbeit mit psychoanalytisch-hermeneutischen Methoden der Textinterpretation.

Karin Flaake

Die Jugendlichen und ihr Verhältnis zum Körper

Verlag W. Kohlhammer

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1. Auflage 2019

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-029767-8

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-029768-5

epub:  ISBN 978-3-17-029769-2

mobi:  ISBN 978-3-17-029770-8

Inhaltsverzeichnis

 

Einführung: Jugendliche und ihr Verhältnis zum Körper – theoretische Perspektiven und empirische Zugänge

Teil I  Körperliche Veränderungen der Pubertät – Erlebensweisen und gesellschaftliche Deutungsangebote

1          Erinnertes Erleben – Pubertät als Zeit besonderer Verwundbarkeit, neuer Lustmöglichkeiten und der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktionen: Carolin Emckes autobiographisch geprägte Schilderungen »Wie wir begehren«

Bedeutung der körperlichen Veränderungen

Konfrontation mit der sozialen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit

Die normative Dominanz von Heterosexualität

Gesellschaftliche Spielräume für erweiterte Entwicklungsmöglichkeiten

Jugend, Körper und Geschlecht – Spezifika der Adoleszenz. Resümee und Perspektiven

2          Der Körper als Quelle von Ängsten und Verunsicherungen – zur Bedeutung von Online-Beratungsforen

3          Körperliche Veränderungen junger Frauen – empirische Studien und Beiträge in Online- Beratungsforen

Erste Regelblutung

Erlebensweisen und Bedeutungsfacetten

Gesellschaftliche und kulturelle Bedeutungszuschreibungen an die erste Regelblutung – die soziale Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit und normative Dominanz von Heterosexualität

Gesellschaftliche und kulturelle Bedeutungszuschreibungen an die Regelblutung – Menstruation als Hygieneproblem

Regelblutung und sexuelle Wünsche, Phantasien und Erregungen

Bedeutung der Brüste

4          Körperliche Veränderungen junger Männer – empirische Studien und Beiträge in Online- Beratungsforen

Wachsen der Barthaare, Stimmbruch, Erektionen und erste Samenergüsse – Erlebensweisen und Bedeutungsfacetten

Bedeutung des Penis – Befürchtungen und Ängste

Gesellschaftliche Bedeutungszuschreibungen an den Penis

5          Einschränkung von Entwicklungsmöglichkeiten durch gesellschaftliche Normalitätserwartungen: Bedeutung des binär organisierten Systems der Zweigeschlechtlichkeit und der sozialen Norm der Heterosexualität

Leiden an der sozialen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit

Das Fließende des Begehrens – Bedeutung der normativen Dominanz von Heterosexualität

Teil II Körpergestaltungen, Körperinszenierungen, Körperpräsentationen – aktive Bewältigungsstrategien im Umgang mit adoleszenten Verunsicherungen: Gesellschaftliche Vorgaben für körperliche Attraktivität und Suche nach eigenen Ausdrucksmöglichkeiten

1          Bedeutung gesellschaftlicher Schönheitsvorstellungen in der Adoleszenz

2          Gesellschaftliche Schönheitsvorstellungen und Körpererleben

3          Körperliche Attraktivität in gesellschaftlichen Weiblichkeits- und Männlichkeitskonstruktionen

4          Körpergestaltungen – Veränderungen an den Körpergrenzen

5          Körpergestaltungen zwischen normativen Vorgaben und der Suche nach eigenen Ausdrucksmöglichkeiten – das Stylen

6          Gesellschaftliche und kulturelle Einbindung von Körpergestaltungen – Bedeutung sozialer Milieus und migrationsbedingter familialer Herkunftskontexte

Körpergestaltungen im System sozialer Ungleichheiten – Bedeutung des erreichten oder erreichbaren schulischen Bildungsabschlusses

Bedeutung eines familialen Migrationshintergrundes

7          Prozesse der Anerkennung und Abwertung von Körperpräsentationen in Peergroups – Dynamiken in Face-to-Face- und virtuellen Interaktionen

Alltagsweltliche Erfahrungsräume – schulische und Freundschaftsbeziehungen

Virtuelle Resonanzräume – Körperpräsentationen in digitalen Medien

8          Gegenbewegungen – Formen des Widerstands gegen normative Schönheitsvorstellungen und einengende Geschlechterbilder

Teil III  Körper und adoleszente Konflikte

1          Bedeutung des Körpers in konflikthaften Entwicklungen und geschlechtsbezogene Unterschiede

2          Essstörungen

3          Selbstverletzendes Verhalten

4          Risikoverhalten

5          Körperliche Gewalt

Jugendliche und ihr Verhältnis zum Körper – Perspektiven

Literatur

Einführung: Jugendliche und ihr Verhältnis zum Körper – theoretische Perspektiven und empirische Zugänge

 

Ein zentrales Thema der Jugendphase ist die Auseinandersetzung mit den körperlichen Veränderungen dieser Zeit. Die durch hormonelle Impulse in Gang gesetzten körperlichen Wandlungen – in der Mehrzahl der Studien mit dem Begriff ›Pubertät‹ bezeichnet – sind Auslöser für all jene psychischen und sozialen Prozesse, die unter dem Begriff ›Adoleszenz‹ gefasst werden.1 Für Jugendliche sind die körperlichen Veränderungen zunächst etwas Fremdes, sie müssen sie sich psychisch erst aneignen (King 2002: 171). Zugleich ist der Körper Experimentierfeld für »die Entstehung des Neuen in der Adoleszenz« (King 2002). Er ist zentraler Ort und Bühne für die Suche nach einem neuen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein, über ihn vollziehen sich wichtige Prozesse der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Geschlechterbildern, der Abgrenzung von den bisher wichtigen Bezugspersonen und der Suche nach einem eigenen Weg ins Erwachsenenleben. Zudem kann er ein Ort sein, über den Konflikte und Probleme ausgetragen werden.

Sozialwissenschaftlich orientierte Studien gehen davon aus, dass die körperlichen Veränderungen der Pubertät keine rein biologisch oder physiologisch zu betrachtenden Prozesse sind, sondern eingebunden in eine Vielzahl gesellschaftlicher und kultureller Bedeutungszuschreibungen, die die Verarbeitung dieser körperlichen Veränderungen durch die jungen Frauen und Männer und damit ihr Körpererleben und die Körperwahrnehmung prägen (vgl. Göppel 2011).2 Angenommen wird eine unauflösbare Verbindung zwischen körperlichen Veränderungen und gesellschaftlichen bzw. kulturellen Bedeutungsgehalten, eine systematische Verflechtung von Körperlichkeit mit gesellschaftlichen bzw. kulturellen Bedingungen. Kontrovers diskutiert wird dabei die Frage, welche Bedeutung dem Körper zukommt: ob es eine qua Biologie gegebene Basis gibt, die dann gesellschaftlich überformt wird, oder ob körperliche Veränderungen, die als ›weiblich‹ oder ›männlich‹ konnotiert sind, selbst schon als soziale Konstruktion begriffen werden müssen. Konstruktivistische bzw. dekonstruktivistische Ansätze in der angloamerikanischen und deutschsprachigen Geschlechterforschung betonen – z. B. in Anknüpfung an Judith Butlers diskurstheoretische Analysen –, dass ›Geschlecht‹ und die als körperlich fundiert gedachte ›Zweigeschlechtlichkeit‹ das Ergebnis entsprechender Diskurse, d. h. vornehmlich sprachlich organisierter Formen des Wissens sind (vgl. z. B. Butler 1995). Diese Diskurse sind geprägt von Machtbeziehungen zwischen den Geschlechtern mit Dominanz des Männlichen und der Norm der Heterosexualität, erst durch sie erscheinen ›Körper‹ als geschlechtlich konnotierte und heterosexuell aufeinander bezogene.3Eine Leiblichkeit mit eigenen Bedeutungsgehalten wird nicht angenommen, Körper erscheinen als potentiell formbares Material, das mit den unterschiedlichsten sozialen Bedeutungsgehalten versehen werden kann.

Vera King weist auf Verkennungen hin, die in solchen Vorstellungen von der alleinigen Bedeutung der Diskurse, ihrer »Allmächtigkeit« (King 2002: 167) enthalten sind. Ausgespart bleiben »Begrenzungen, wie sie der Leiblichkeit, Natalität – Zeugung, Empfängnis, Geborenwerden – und Sterblichkeit inhärent sind« (King 2002: 167). Für die Adoleszenz entwirft sie eine differenziertere Perspektive auf das Verhältnis von Körperlichem und Sozialem. Von den körperlichen Veränderungen der Pubertät gehen danach »Verarbeitungsanforderungen« (King 2002: 172) aus, z. B. die der sexuellen und generativen Potenz, sie haben auf diese Weise einen ›Eigensinn‹, entsprechende Verarbeitungsprozesse sind jedoch unlösbar verknüpft mit gesellschaftlichen und kulturellen Bedingungen, durch die sich Körper- und Geschlechterbedeutungen herausbilden (King 2002: 163; vgl. auch Becker 2018: 200).

Die lebensgeschichtliche Phase der Adoleszenz und die damit verbundenen körperlichen Veränderungen der Pubertät sind im deutschsprachigen Raum insbesondere in den 1980er und 1990er Jahren zu Themen sozialwissenschaftlicher Forschung geworden (vgl. zusammenfassend King 2011b). Entsprechende Studien entstanden wesentlich im Kontext der Frauen- und Geschlechterforschung, für die Körperlichkeit und Sexualität von Frauen, deren Einbindung in männerdominierte Geschlechterverhältnisse und die Möglichkeiten einer eigenlogischen, d. h. den Wünschen und Interessen von Frauen entsprechenden Aneignung wichtige Themen waren. In diesem Zusammenhang wurde auch die Verarbeitung der körperlichen Veränderungen von Mädchen in der Pubertät bedeutsam. In vielen entsprechenden Studien gab es nicht nur ein wissenschaftliches Interesse am Thema, sondern zugleich ein praktisch-frauenpolitisches: Die Untersuchungsergebnisse wurden auch als Basis verstanden für die Gestaltung pädagogischer Räume für Mädchen und junge Frauen, in denen Möglichkeiten einer positiven Aneignung und Besetzung des eigenen weiblichen Körpers eröffnet werden sollten. Studien zur Adoleszenz junger Frauen und eine sich als feministisch verstehende Mädchenarbeit – sei es in Schulen oder Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit – waren eng miteinander verbunden und haben sich wechselseitig bereichert (zur Mädchenarbeit in Schulen vgl. z. B. Biermann/Schütte 1996; zur Mädchenarbeit in Einrichtungen der außerschulischen Jugendarbeit vgl. z. B. Fleßner 1996; Klees u. a. 1989).

Zusammenhängend mit der Thematisierung der körperlichen Veränderungen der Pubertät insbesondere durch die Frauen- und Geschlechterforschung sind entsprechende Prozesse bei Mädchen sehr viel differenzierter untersucht worden als bei Jungen. Die bis in die 1990er Jahre vorherrschende androzentrische Perspektive in den Sozialwissenschaften – eine Perspektive, die das Männliche zum Allgemeinen erhebt – hat zunächst verhindert, dass auch Entwicklungen von Jungen unter einer Geschlechterperspektive analysiert wurden.4 Entsprechende Untersuchungsinteressen haben erst seit Ende der 1990er Jahre eine breitere Basis gefunden, die Dimension des Körperlichen in Entwicklungsverläufen von Jungen und jungen Männern und ihre soziale und kulturelle Einbindung ist jedoch auch gegenwärtig noch nicht hinreichend untersucht.

Im Zentrum der folgenden Darstellungen steht eine Perspektive auf die Verarbeitung der körperlichen Veränderungen der Pubertät, die innerpsychische Prozesse ebenso berücksichtigt wie gesellschaftliche Bedingungen. Sie basiert auf der Verbindung psychoanalytischer und entwicklungspsychologischer mit sozialwissenschaftlichen Annahmen, der Verknüpfung innerpsychischer Prozesse – der Affekte, der Wünsche und Ängste, der Fantasien und des Erlebens, die ausgelöst werden durch die körperlichen Veränderungen – mit deren Einbindung in kulturelle und gesellschaftliche Zusammenhänge. Basis der Darstellungen sind vorliegende empirische Studien sowie Materialien, die die Sichtweisen der Jugendlichen und jungen Erwachsenen in wissenschaftlich ›unbearbeiteter‹ Form widergeben, z. B. autobiografische Schilderungen und insbesondere Beiträge in Online-Beratungsforen. Online-Beratungsforen haben in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen – insbesondere für Jugendliche werden sie als geeignetes Medium für die Unterstützung in als problematisch erlebten Lebenssituationen angesehen. Im Internet haben sich eine Reihe entsprechender Angebote etabliert. Die Möglichkeit, anonym bleiben zu können und die geringen Zugangsvorausetzungen – »es ist möglich, von zu Hause aus jede noch so vermeintlich peinliche Frage zu stellen und darauf nach kurzer Zeit eine Antwort zu erhalten« (Klein 2005: 1) – lassen Online-Beratungsangebote gerade für Jugendliche zu einem besonders geeigneten Medium werden, um über die häufig schambesetzten Themen der Adoleszenz zu kommunizieren. Dadurch ermöglichen sie einen Einblick in Problembereiche, die Jugendliche bezogen auf die körperlichen Veränderungen der Pubertät beschäftigen.

Soweit es die Materiallage ermöglicht, werden zu ausgewählten Themenbereichen auch Erfahrungen aus nicht westlich geprägten kulturellen Kontexten einbezogen, im Wesentlichen geht es jedoch um Jugendliche in der BRD und anderen westlich geprägten Gesellschaften. Zentrale Differenzierungskriterien für durch kulturelle und gesellschaftliche Kontexte geprägte Erfahrungen und Erlebensweisen von Jugendlichen, die auch ihr Verhältnis zum Körper beeinflussen, sind ihr Geschlecht, die soziale Lage, wie sie wesentlich bestimmt wird durch den schulischen bzw. formalen Bildungshintergrund, sowie die soziale Herkunft im Sinne einer familialen Migrationsgeschichte. Analysen, die mit dem Konzept der Intersektionalität, der Annahme einer Verwobenheit, wechselseitigen Verschränkung und Überlagerung unterschiedlicher sozialer Differenzlinien im Sinne sozial wirkmächtiger gesellschaftlicher Unterscheidungskategorien arbeiten – wie sie insbesondere das Geschlecht, die schulische bzw. formale Bildung und der ethnische bzw. migrationsbezogene Familienhintergrund darstellen5 –, sind bezogen auf das Verhältnis von Jugendlichen zu ihrem Körper bisher erst in Ansätzen vorhanden, sie geben jedoch eine Perspektive vor, die eine differenzierte Sicht auf das Verhältnis von Jugendlichen zu ihrem Körper eröffnet (vgl. Huxel 2014: 18ff.; Stauber 2012: 67f.; Terhart 2014: 11ff.; zum Konzept der Intersektionalität vgl. die zusammenfassende Darstellung in Meyer 2017; Walgenbach 2012).

1     Zur Definition und Abgrenzung der Begriffe »Jugend«, »Pubertät« und »Adoleszenz« vgl. King 2002: 19ff.; Liebsch 2012a: 11ff.; zum Jugendalter aus unterschiedlichen theoretischen Perspektiven vgl. Göppel 2005; Günther 2012. Vera King weist darauf hin, dass der Begriff ›Adoleszenz‹ gegenüber dem Begriff ›Jugend‹ den Vorzug hat, von einem »deskriptiven Alltagsverständnis über Altersgruppen deutlicher abgegrenzt zu sein« (King 2011a: 79). Zudem »wird in der Begriffstradition eines soziologischen Adoleszenzbegriffs die Vermittlung von Sozialem und Psychischem oftmals stärker akzentuiert und analysiert als in einigen Zweigen der Jugendforschung« (ebd.).

2     Rolf Göppel entwirft eine komplexe bio-psycho-soziale Perspektive auf die körperlichen Veränderungen von Jugendlichen in der Pubertät, in der »immer schon vorausgesetzt (ist), dass hier eine biologische, reifungsbedingte, somatische Komponente mit im Spiel ist. Die hochkomplexen … endokrinen Mechanismen, durch die jene körperlichen Veränderungsprozesse ausgelöst und gesteuert werden, können dabei für unseren Zusammenhang weitgehend ausgeklammert werden. Wichtig ist, dass jene körperlichen Veränderungsprozesse in Gang kommen und dass sie von den Betroffenen erlebt werden und psychisch verarbeitet werden müssen. … Wie schon im Wortbild ›bio-psycho-sozial‹ ist die psychische Seite des subjektiven Erlebens … stets eingespannt zwischen dem, was sich im Hinblick auf das ›Bios‹ des eigenen Körpers gewissermaßen als ›Naturgewalt‹ ereignet, und dem, was es von sozialer Seite an Bedeutungszumessungen, Normalitätserwartungen, Vergleichsgesichtspunkten, Beurteilungsmaßstäben und Schönheitsidealen zur Bewertung jener Veränderungen zugespielt und aufgedrängt bekommt« (Göppel 2011: 26).

3     So beschreibt Judith Butler den Prozess der »Subjektwerdung«: »Geschlechtsnormen wirken, indem sie die Verkörperung bestimmter Ideale von Weiblichkeit und Männlichkeit verlangen, und zwar solche, die fast immer mit der Idealisierung der heterosexuellen Bindung in Zusammenhang stehen. … In dem Maße, wie das Benennen des ›Mädchens‹ … den Prozess initiiert, mit dem ein bestimmtes ›Zum-Mädchen-Werden‹ erzwungen wird, regiert der Begriff oder vielmehr dessen symbolische Macht die Formierung einer körperlich gesetzten Weiblichkeit, die die Norm niemals ganz erreicht. Dabei handelt es sich jedoch um ein ›Mädchen‹, das gezwungen wird, die Norm zu ›zitieren‹, um sich als lebensfähiges Subjekt zu qualifizieren und ein solches zu bleiben« (Butler 1995: 306). Hier wird ein Modell des »lebensfähigen Subjekts« nahe gelegt, in dem Zwang und Formierung durch als homogen unterstellte »geschlechtliche Normen« (Butler 1995: 306) im Zentrum stehen. Widersprüchliches und Uneindeutiges in diesen Normen hat dabei ebenso wenig Raum wie eine differenzierte Perspektive auf innerpsychische Prozesse der Auseinandersetzung mit und Verarbeitung von »geschlechtlichen Normen«. Zur ausführlichen Kritik an Butlers Argumentationen vgl. z. B. Villa 2000.

4     Die implizite Gleichsetzung des Männlichen mit dem Allgemeinen, z. B. im Mainstream der Jugendsoziologie, ließ zugleich die Frage nach den besonderen Konstitutionsbedingungen von Maskulinität nicht zu. Die Ausblendung einer Geschlechterperspektive führte dazu, dass die spezifischen Entwicklungsbedingungen, insbesondere auch die Bedeutung der körperlichen Veränderungen der Pubertät für Jungen, nicht in den Blick geraten konnten (vgl. King/Flaake 2005).

5     In Studien aus dem anglo-amerikanischen Raum werden die zentralen sozialen Differenzlinien mit den Begriffen »race«, »class«, »gender« bezeichnet. Zur Bedeutung und Problematik, die mit der Übertragung dieser Kategorien auf andere gesellschaftliche und kulturelle Kontexte, etwa die bundesrepublikanische Gesellschaft, verbunden sind, vgl. Walgenbach 2012. Je nach Untersuchungsinteresse sind auch weitere wirkmächtige soziale Differenzlinien von Bedeutung, etwa die Region im Sinne einer Stadt-Land-Unterscheidung, das Alter, die sexuelle Orientierung und die körperliche Verfasstheit, z. B. durch gesundheitliche Gegebenheiten. Zur Problematik der Gewichtung unterschiedlicher sozialer Differenzlinien vgl. Walgenbach 2012.

Teil I    Körperliche Veränderungen der Pubertät – Erlebensweisen und gesellschaftliche Deutungsangebote

1          Erinnertes Erleben – Pubertät als Zeit besonderer Verwundbarkeit, neuer Lustmöglichkeiten und der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Geschlechterkonstruktionen: Carolin Emckes autobiographisch geprägte Schilderungen »Wie wir begehren«

Bedeutung der körperlichen Veränderungen

Carolin Emckes Erinnerungen an die Pubertät geben ein anschauliches Bild von den Herausforderungen dieser Zeit für Jugendliche in einer westlich geprägten Kultur: die Verarbeitung der mit den körperlichen Veränderungen verbundenen Verunsicherungen und psychischen Labilisierungen, die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Geschlechterbildern und die Suche nach einem eigenen neuen Selbstverständnis und Selbstbewusstsein. Deutlich wird, dass die körperlichen Veränderungen der Pubertät eine eigene Dynamik haben, entsprechende Verarbeitungsprozesse jedoch unlösbar verknüpft sind mit gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutungszuschreibungen, durch die die Bandbreite möglicher Entwicklungen beschnitten und adoleszentes Entfaltungspotenzial in gesellschaftlich als akzeptabel angesehene Bahnen gelenkt wird. Carolin Emcke betont dabei insbesondere die Auseinandersetzung mit der sozialen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit und der normativen Dominanz von Heterosexualität.

In den Schilderungen wird deutlich, wie einschneidend die Erfahrung der körperlichen Veränderungen der Pubertät für Jugendliche ist. Verunsicherung und Verletzlichkeit bestimmen das Lebensgefühl. Es ist eine Zeit der »Verwundbarkeit« (Emcke 2013: 120), eine Phase, in der die »eigene Welt« und »wir« (ebd.: 125) »aus den Fugen geraten« (ebd.: 124) sind:

»Wir wuchsen hinein in eine Zeit, in der die Körper ein Eigenleben entwickelten, in der wir Emotionen ausgeliefert waren, für die wir noch keine Begriffe hatten, in der uns die Lust richtungslos vor sich her trieb, … linkisch, verwirrt über die eigene Orientierungslosigkeit, wir entdeckten gerade unseren Körper, wir entdeckten vor allem, dass er sich auf einmal nicht mehr nach unserem eigenen Körper anfühlte, weil er anders aussah, weil er sich verwandelte, weil er einen anderen Rhythmus einführte, weil er überhaupt auf einmal auftauchte, sichtbar wurde, fühlbar, das waren wir selbst, und wir spürten zugleich, dass wir uns nicht mehr kannten« (ebd.: 40).

Ob sie es wollen oder nicht ›wachsen‹ die Jugendlichen – wie durch einen externen, von ihnen nicht beeinflussbaren Impuls ausgelöst – »hinein« in eine »Zeit«, die gekennzeichnet ist durch Kontrollverlust, Ohnmacht und Selbstentfremdung. Der Körper gerät ins Zentrum der Aufmerksamkeit – er wird »sichtbar« und »fühlbar« – und entwickelt zugleich ein »Eigenleben«: Er ›verwandelt‹ sich und hat einen eigenen »Rhythmus«. Es gibt zwar ein Bewusstsein von etwas Eigenem – »das waren wir selbst« –, aber dieses Eigene ist fremd geworden: Der Körper fühlte sich »nicht mehr« nach dem »eigenen Körper« an, »wir (kannten) uns nicht mehr«. Zugleich zeigen sich neue Empfindungen – »Emotionen« und »Lust« –, die als überwältigend erlebt werden: Die Jugendlichen sind ihnen »ausgeliefert«, werden von ihnen ›getrieben‹, ohne dass es schon »Begriffe« – die Möglichkeit einer reflektierenden Bezugsnahme und damit inneren Distanzierung – für das Erleben gäbe. »Linkisch, verwirrt«, ›orientierungslos‹ – so werden die vorherrschenden Gefühle dieser Zeit gekennzeichnet.

In einer weiteren Passage geht es noch einmal um die Eigendynamik der körperlichen Veränderungen – sie geben den »Takt« vor –, neben dem Erschrecken darüber gibt es jedoch auch ›Erleichterung‹ über die jetzt sicht- und spürbar werdende Sexualität, möglicherweise Widerspiegelung einer Phase des Erlebens, die dem ersten Erschrecken folgen und in der eine neue Lustmöglichkeit erahnt werden kann.

»Wir lebten … in Körpern, die uns den Takt vorgaben. … Wir beobachteten die blutigen oder milchigen Flüssigkeiten, Blut oder Vaginalsäfte, Sperma oder Schweiß, die zu passenden oder unpassenden Zeiten aus uns heraustraten, wir beäugten uns selbst argwöhnisch, als seien wir jemand anders, und hofften doch auf diese Zeichen der Verfremdung, waren erschrocken und erleichtert zugleich, erschrocken, weil Schamhaare zunächst alle Nacktheit zu entstellen schienen, erleichtert, weil mit der Scham endlich auch die Sexualität … nach außen drängte, wir … übten zu onanieren« (ebd.: 124f.).

Die neuen Körperflüssigkeiten – ›blutige‹ und ›milchige‹, »Blut« und »Vaginalsäfte«, »Sperma« – lassen sich in ihrem Auftreten zwar auch nicht kontrollieren – zu »passenden oder unpassenden Zeiten« treten sie »heraus« –, entsprechend »argwöhnisch« werden sie als »Zeichen« von »Verfremdung« ›beäugt‹, aber neben das ›Erschrecken‹ tritt ›Erleichterung‹: »Sexualität«, sexuelle Wünsche und Fantasien können ihren körperlichen Ausdruck finden, sexuelles Erleben, zunächst als Selbstbefriedigung, wird möglich und damit eine neue Dimension der Erfahrung und des Erlebens. »Ich wollte das Begehren entdecken und ausleben, aber es sollte meins sein« (ebd.: 125), fasst Carolin Emcke das Vorwärtsdrängende in ihrem damaligen Erleben zusammen. Für den weiteren Verlauf der Adoleszenz werden Bewegungen des Suchens nach dem Eigenen beschrieben – »es sollte meins sein« –, die oszillieren zwischen der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen und kulturellen Mustern, die bestimmte Entwicklungsrichtungen nahe legen, und dem Aufspüren eigener, die vorgegebenen Muster erweiternder und überschreitender Lebensmöglichkeiten. Carolin Emcke setzt sich dabei insbesondere mit der gesellschaftlichen Vorgabe auseinander, dass es zwei und nur zwei Geschlechter gibt, die als einander sich ausschließende, binär entgegengesetzte konzipiert sind, sowie mit der Norm der Heterosexualität, der als Abweichung – ebenfalls auf der Basis einer binären Kodierung – Homosexualität gegenübergestellt wird.

Konfrontation mit der sozialen Ordnung der Zweigeschlechtlichkeit

Die körperlichen Veränderungen der Pubertät sind gesellschaftlich zugleich mit einer klaren Zuordnung zu einem und nur einem der beiden Geschlechter verbunden: Sie werden gesehen als Indikator für ein Zur-Frau- oder Zum-Mann-Werden. Entsprechende Zuordnungen haben schon vor der Pubertät eine Rolle gespielt, mit den Veränderungen des Körpers in der Pubertät gewinnen sie jedoch eine neue Qualität: Sie werden im Leben bestimmender und schaffen eine neue Eindeutigkeit. Möglicherweise vorhandene Fantasien eines Sowohl-als-auch oder eines Dazwischen werden zerstört, körperliche Uneindeutigkeiten jenseits der vorgegebenen Binarität zum Problem. Carolin Emcke beschreibt am Beispiel einer intersexuellen Bekannten, die mit der Pubertät sowohl Brüste als auch einen Penis entwickelt hatte, die damit verbundene Ausgrenzung und soziale Ortlosigkeit.

»Ihre Pubertät … war eine Geschichte der fortlaufenden Ausgrenzung, weil die Ambivalenz ihres Geschlechts vor allem als soziale Bedrohung wahrgenommen worden war. Eine der qualvollsten Erfahrungen ihrer Schulzeit waren ausgerechnet die Umkleidekabinen beim Schulsport gewesen: Orte der Normierung, in die sie nicht eingelassen wurde, weil sie Eindeutigkeit verlangten. Sie hatte irgendwann die Schule aufgegeben … weil sie nicht passte in diese aufgeteilte Welt« (ebd.:20f.).

Die soziale Welt ist ›aufgeteilt‹ in zwei sich ausschließende Kategorien von Geschlecht, sie verlangt »Eindeutigkeit«. »Ambivalenz«, ein Dazwischen und fließende Übergänge werden als »Bedrohung« wahrgenommen, entsprechend ›normiert‹, und von der Vorstellung einer »Eindeutigkeit« und Ausschließlichkeit geprägt sind die sozialen Orte, die den Alltag prägen, etwa »Umkleidekabinen beim Schulsport«, ergänzen ließen sich zum Beispiel Toiletten. Für alle, die in die zwei Kategorien von Geschlecht passen, ist diese Zweiteilung selbstverständlich, sie erleben sie kaum als soziale Vorgabe. Für Personen, die in »diese aufgeteilte Welt« ›nicht passen‹, sind sie jedoch mit Ausgrenzung und Scheitern in gesellschaftlich relevanten Institutionen – zum Beispiel der »Schule« – verbunden: Sie werden in zentrale Orte, die diese Institutionen prägen, »nicht eingelassen«.

»Nicola führte vor, was für uns andere genauso galt: die Verordnung der Geschlechtlichkeit, die uns selbstverständlich erscheinen soll und die wir als Unhinterfragbares annehmen, weil es uns, in unseren Körpern, leichter fällt. So gleiten wir hinein in Normen wie in Kleidungsstücke, ziehen sie uns über, weil sie bereit liegen für uns« (ebd.: 21).

An einer Person, die nicht in die binären Vorgaben passt, wird die »Verordnung der Geschlechtlichkeit«, die Macht der sozialen Zuweisung, besonders deutlich, die für alle anderen »genauso« gilt. Für diejenigen, die in die Vorgaben passen, erscheint sie jedoch »selbstverständlich« und »unhinterfragbar«, sie ist wie ein »Kleidungsstück«, das bereit liegt und automatisch zu passen scheint, obwohl es »bereit« ›gelegt‹ wurde, also eine soziale Vorgabe ist.

Die normative Dominanz von Heterosexualität

Zugleich ist die Zuordnung zu einem und nur einem Pol der Dichotomie weiblich – männlich mit gesellschaftlichen Identitätszuweisungen – »Vorstellungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit« (ebd.: 208) – und Begehrensstrukturen verbunden: bestimmten Geschlechterbildern und einer heterosexuellen Bezogenheit der Geschlechter aufeinander. Die Vielfältigkeit des Begehrens und der Identifikationsmöglichkeiten, die in der Pubertät aufscheinen, wird damit in gesellschaftlich vorgegebene Bahnen gelenkt, Entwicklungsmöglichkeiten werden beschnitten. Entsprechende Kanalisierungen schildert Carolin Emcke anschaulich am Beispiel ihrer Suche nach einem ›eigenen Begehren‹ – »es sollte meins sein«.

Die soziale Norm der heterosexuellen Bezogenheit der Geschlechter aufeinander legt für Mädchen und junge Frauen zunächst Beziehungen zu Jungen und jungen Männern nahe, auch wenn unklar ist, ob es den eigenen Wünschen und Fantasien entspricht.

»Mein erster Freund war Ben. … Warum Ben mein erster Freund wurde war eigentlich unklar. … Er gefiel mir, und es war nun mal die Zeit, in der wir mit jemandem befreundet sein sollten, und diese Freundschaften sollten anders sein als es bisher die Freundschaften waren. Das hatte mehr von einem Beschluss als von einem Begehren« (ebd.: 25).

Es gibt ein ›Sollen‹, eine Norm, wohl auch vertreten durch die Peergroup, etwa die Gleichaltrigen in der Schulklasse, die nahelegt, einen Freund zu haben, mit dem etwas ›anderes als bisher‹, wohl erotisches, geschehen soll. Dieses ›andere‹ ereignet sich mehr als geplante Aktion – als »Beschluss« –, denn als Ausdruck eigener Wünsche, von »Begehren«. Die erotische Annäherung hat dann auch eher den Charakter eines Erfolgs auf dem Weg zum Erwachsenwerden denn einer erregenden Begegnung: »An meinem ersten Kuss war eigentlich das Aufregendste, dass es der erste Kuss war« (ebd.: 29).

Carolin Emcke beschreibt für sich zunächst weitere Beziehungen zu Jungen und Männern, die sie durchaus auch als befriedigend erlebt, dennoch fehlt ihr etwas und sie sucht weiter nach dem ›eigenen Begehren‹, ein Prozess, der erschwert wird durch die soziale Norm einer heterosexuellen Bezogenheit der Geschlechter aufeinander und die Klassifikation gleichgeschlechtlichen Begehrens als Abweichung, die gesellschaftlich nicht ebenso wie Heterosexualität positiv symbolisiert ist. Sie beschreibt für sich ein »sprachloses Suchen nach dem eigenen Sehnen« (ebd.: 33), ein »Wollen ohne Begriff« (ebd.: 33).

»Wie sollten wir ausdrücken, was wir wollten, wenn es für dieses Wollen keine Begriffe, keine Bilder, keine Vorlagen gab? Das Wollen … (kommt) in vorgefertigten Formen daher …, die sozialen, politischen, ästhetischen Grenzen der Welt um uns herum (beschrieben) … oft auch die Grenzen der eigenen Phantasie« (ebd.: 47f.).

Soziale »Grenzen«, ›vorgefertigte‹ »Formen«, begrenzen auch die Ausgestaltung der ›Fantasien‹ und Wünsche, des ›Wollens‹, es gibt für sie keine sozialen Angebote – »Begriffe«, »Bilder«, »Vorlagen« –, die ihren ›Ausdruck‹, ihre Artikulation und Umsetzung in Beziehungsgestaltungen erleichtern würden.

Carolin Emcke schildert Erinnerungen an ihre Jugend in den 1970er und 1980er Jahren, einer Zeit, in der Homosexualität öffentlich wenig sichtbar und als Lebens- und Liebesweise gesellschaftlich kaum akzeptiert war. Das hat sich seit den 1990er Jahren entscheidend verändert. Liebesbeziehungen unter Personen gleichen Geschlechts unterliegen kaum mehr gesellschaftlichen Tabus, homosexuell Lebende sind in der Öffentlichkeit präsent und stehen selbstbewusst zu ihrer sexuellen Orientierung und Lebensweise. Ähnliches gilt für Personen, die sich keinem der beiden Geschlechter zuordnen. Dennoch haben sich Vorbehalte gerade bei Jugendlichen erhalten, wenn es um die Möglichkeit eigener homosexueller Erfahrungen geht. Vorbehalte wirken – trotz verbaler Offenheit – weiter im Verborgenen, auf der Ebene oft kaum bewusster Schamgefühle, ausgelöst durch das Erleben einer Abweichung vom als normal Definierten – denn homosexuell orientierte Jugendliche sind weiterhin die »Anderen«, ihre Lebensweise ist nicht ebenso selbstverständlich wie die heterosexuelle. Dafür sprechen empirische Studien mit Jugendlichen (vgl. z. B. Krell/Oldemeier 2016 sowie Teil I, 5). So machen Carolin Emckes Schilderungen verborgene Prozesse der Strukturierung von Begehrensmustern durch gesellschaftliche und kulturelle Vorgaben deutlich, die für Jugendliche immer noch wirksam sind. Dabei hat die Pubertät eine besondere Bedeutung:

»Vielleicht ist das Besondere an der Pubertät, dass dort all diese Modulationen des Begehrens und der Individualität möglich scheinen, weil die Unsicherheit so groß ist, die Mehrdeutigkeit« (ebd.: 212).

Die Pubertät ist eine lebensgeschichtliche Phase, in der sich das Begehren in allen Facetten – allen »Modulationen« – zeigt und die Bandbreite des Möglichen – seine »Unsicherheit« und »Mehrdeutigkeit« – sichtbar wird. Eine Vielfalt von Begehrensweisen deutet sich an:

»Wie sich das Begehren entwickelt, … sich wandeln kann, wie sich verschiedene Formen parallel zueinander verhalten können, wie in einer Person einzelne Momente ganz unterschiedlicher Formen der Lust und des Verlangens möglich sind, wie manche davon sich auch erfüllen, wie andere nur angedeutet bleiben, wie jedenfalls nicht nur eine Norm den Klang des Lebens durchgängig begleitet und bestimmt, sondern wie eine Ausgangstonart eben genau das sein kann, eine Ausgangstonart, der Beginn, ein erstes Begehren, ein erster Klang, aus dem heraus etwas anderes wachsen kann« (ebd.: 209).

Eine solche Offenheit und Vielschichtigkeit von Erlebensmöglichkeiten – nicht nur »eine Norm« ist bestimmend, sondern es gibt ›Entwicklungen‹, ›Wandlungen‹, ›Unterschiedliches‹, das »parallel« zueinander besteht – wird begrenzt durch »unausgesprochene Codes und Konventionen« (ebd.: 51), »Innenräume passen sich den äußeren Linien an« (ebd.: 51). Solche Prozesse der ›Anpassung‹ von ›Innenräumen‹ an ›äußere‹ »Linien« bieten sich gerade für Jugendliche als Möglichkeit an, mit den Verunsicherungen dieser Zeit – der starken »Unsicherheit« und »Verwundbarkeit« (ebd.: 120) – zurechtzukommen, sich darüber innerpsychisch zu stabilisieren.

Am Beispiel eines Klassenkameraden, von dem vermutet wird, dass er homosexuell ist, zeigt Carolin Emcke, wie zerstörerisch Prozesse der Ausgrenzung und Demütigung in der Schulklasse für die auf diese Weise an den Rand Gedrängten sein können.

»Es war physisch erkennbar, wie die Demütigungen ihm zusetzten, ihn zersetzten und als anderen hervorbrachten. Er wurde noch ungelenker, noch stiller, und, was vielleicht das Schlimmste war, er wurde bedürftig. Er suchte Zuneigung. In dieser Abhängigkeit offenbarte sich die ganze Verwundbarkeit der Pubertät, und in dieser Verwundbarkeit lieferte sich Daniel der ganzen Grausamkeit der Klasse aus« (ebd.: 120).

Wenn es gesellschaftlich vorgegebene Normen des Richtigen und sozial Akzeptablen gibt, können die Spezifika der Pubertät – die »Verwundbarkeit« der Jugendlichen, ihr Wunsch nach »Zuneigung« und sozialer Bestätigung, der gerade in dieser Zeit psychischer Labilisierung groß ist – zu solchen Dynamiken in Gleichaltrigengruppen führen: In denjenigen, die von den Normen abweichen, wird das eigene potenziell Abweichende bekämpft, die eigene »Verwundbarkeit« und ›Bedürftigkeit‹ in ihr Gegenteil verkehrt und so im anderen bestraft: durch »sadistischen Spaß an der Demütigung« (ebd.: 153), durch Grausamkeiten gegenüber denjenigen, die das Andere repräsentieren – ein Bemühen um psychische Stabilisierung in einer lebensgeschichtlich stark verunsichernden Phase und unter gesellschaftlichen Bedingungen, die Unterschiedliches nicht gleich bewerten.

Gesellschaftliche Spielräume für erweiterte Entwicklungsmöglichkeiten

In den Schilderungen wird deutlich, dass gesellschaftliche und kulturelle Bedingungen bestimmte Entwicklungen in der Pubertät befördern, diese Bedingungen aber nicht nur Entfaltungsmöglichkeiten begrenzen und einschränken, sondern auch Räume bereitstellen, in denen eine umfassendere Entfaltung von Potenzialen möglich wird. Für Carolin Emcke waren solche Entfaltungsmöglichkeiten wesentlich gegeben durch ihre Teilnahme an Veranstaltungen im kulturellen Bereich – wie Konzerte, Theater und Ballett – und durch öffentliche Orte, an denen Homosexualität selbstverständlich gelebt werden kann.

Durch Musik, Theater und Ballett erlebt sie, dass sich Polaritäten auflösen können, sowohl solche zwischen weiblich und männlich als auch Homo-und Heterosexualität. So eröffnet die Stimme eines Countertenors neue Welten:

»Sie schien alles zu überschreiten, was ich kannte und was galt. Sie schien körperlos zu sein, nicht dingfest zu machen, schwebend, jenseits aller Geschlechter« (ebd.: 207).

»Schwebend, jenseits aller Geschlechter« – ein Lebensgefühl, das als befreiend, weil gesellschaftliche Polaritäten auflösend erlebt wird: »Ich ging wie verwandelt nach Haus« (ebd.: 208), beschreibt Carolin Emcke die Wirkung der Musik auf sie. Eine ähnlich befreiende Wirkung hatte das Spiel einer Schauspielerin.

»Alle Identifikationen, alles Begehren (gerieten) durcheinander, alles schien auf, in der Ambivalenz der weiblichen Schauspielerin in einer männlichen Figur, wie in einem Vexierbild. … Sie setzte ihre ganze Körperlichkeit, ihre Sinnlichkeit ein, um die Vorstellungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit aufzubrechen. Sie schien sie miteinander zu verweben, bis sie ununterscheidbar wurden« (ebd.: 208).

Alles scheint möglich – alle Formen des Begehrens, alle Möglichkeiten zu sein außerhalb der »Vorstellungen von Männlichkeit oder Weiblichkeit«. Klare Zuordnungen – »Identifikationen« und »Begehren« – gerieten »durcheinander«, brachen auf. Diese Erfahrung wird als »Erschütterung« erlebt, als ›künstlerischer Augenblick‹, der »das Leben verändern« (ebd.: 208f.) kann.

Durch den Tanz eines Balletttänzers eröffnet sich ein weiterer Erfahrungsraum: das Zwischen allen gesellschaftlichen Kategorien wird zu einer lebbaren Perspektive.

»Diese fragile und doch athletische Körperlichkeit, die sich den Zuordnungen zu männlichen und weiblichen Rollen zu entziehen schien, zerbrach die heterosexuelle Welt mit ihren klar markierten Zonen, in denen Männer und Frauen sich zu bewegen und zu lieben hatten. … Seine Art zu tanzen …, seine Figuren (hatten) … für mich Räume eröffnet …: Dass es sich in dem ›Dazwischen‹ auch leben lässt, dass es diese Figuren, die nicht recht passen, auch braucht, dass sie eine eigene Funktion erfüllen können, das verschob die ganze soziale Ordnung, die ich bis dahin kannte, das brach etwas auf, einen Freiraum, in den hinein ich wachsen würde« (ebd.: 164).

Die Art des Tänzers zu tanzen löst klare »Zuordnungen« auf: »Körperlichkeit«, die entweder ›männlich‹ oder ›weiblich‹ zu sein hat, die »heterosexuelle Welt« mit ihren klaren Lebens- und Liebesvorstellungen. Zugleich vermittelt diese körperliche Ausdrucksweise eines als Mann Klassifizierten, dass es einen sozialen Ort gibt für all jene, die nicht in die klaren »Zuordnungen« passen, dass es sich in »dem ›Dazwischen‹ auch leben lässt«, und dass auch die im »Dazwischen« eine soziale Bedeutung haben, »dass sie eine eigene Funktion erfüllen können«. Die bisher selbstverständliche soziale Ordnung verflüssigt sich damit – es »brach etwas auf« –, und es entsteht ein »Freiraum«, der für eigene Entwicklungen – ein »Wachsen« – genutzt werden kann.

In Carolin Emckes Schilderungen wird zugleich die psychische Dynamik und Kraft deutlich, die mit den adoleszenten Entwicklungen verbunden sein kann. Es gibt eine innere Triebkraft, die es ermöglicht, Angebote im sozialen Umfeld auf eine Weise zu nutzen, die der zunächst noch diffusen Suche nach einem eigenen Weg Kontur verleiht. Die beschriebenen Angebote entsprechen dabei einem bildungsbürgerlich geprägten großstädtischen Mittelschichtmilieu. Aber auch für Jugendliche aus anderen sozialen Kontexten sind entsprechende, starre gesellschaftliche Zuordnungen aufbrechende Erfahrungen möglich: zum Beispiel in der Schule über vermittelte Inhalte wie auch das Verhalten von Lehrenden.

Öffentliche Orte, an denen Homosexualität und Transgender selbstverständlich gelebt werden können, werden als ebenso befreiend erlebt wie die beschriebenen kulturellen Angebote. Carolin Emcke schildert die Bedeutung eines für sie wichtigen Cafés, das »im Zentrum der Stadt« (ebd.: 188) lag und schon damit signalisierte, dass sich gesellschaftlichen Geschlechter- und Begehrenskategorien entziehende Menschen nicht »am Rand« stehen, sondern offen und öffentlich »im Zentrum« verortet sind. Einen Club, den sie regelmäßig besuchte, schildert sie als

»Ort, an dem alle, die sonst irgendwie nicht passten, nicht dazugehörten, sein konnten. … Die Schwere des Einzelgängers (fiel) ab. … Um mich herum schmalgliedrige Transgender, halbnackte Leder-Schwule, anfangs gab es sogar noch ein paar Popper, alles mischte sich, all die Unterschiede, die sonst, draußen, tagsüber, bei Licht, in der anderen Welt zählten, waren hier irrelevant. Es war unendlich befreiend. … Eine Welt, in der die Ordnung der Dinge außer Kraft gesetzt war« (ebd.: 202f.).

Alle im Alltag wichtigen sozialen Kategorien werden »irrelevant« – männlich und weiblich, homo- und heterosexuell –, »alles mischte sich«, eine Erfahrung, die als »unendlich befreiend« beschrieben wird. Die, die sonst erlebten, dass sie nicht den sozialen Normen entsprechen – »nicht dazu gehörten« –, konnten an diesem Ort einfach »sein«, eine Erfahrung die das Lebensgefühl verändert.

»Die Erleichterung, sein zu dürfen, einfach nur das, niemand anderes sein zu müssen, nicht Anstoß zu erregen. … Das Gefühl, einen Ort zu haben, ein Zuhause, wo jeder Ausländer sein durfte und gleichzeitig das ewige Exil zu Ende ging« (ebd.: 203).

Carolin Emckes Schilderungen spiegeln das Gefühl der »Erleichterung« und Befreiung wider, das mit dem Erleben verbunden ist, durch einen öffentlichen gesellschaftlichen Ort aus dem sozialen Abseits – einem »Exil« –, »Zuhause«, bei sich selbst, angekommen zu sein. Verstellungen sind nicht mehr notwendig – »niemand anderes sein zu müssen« –, es ist möglich, »einfach« »sein zu dürfen«, so leben zu können, wie es eigenen Wünschen entspricht. Damit ist die Suche nach einem ›eigenen Begehren‹ und einer eigenen geschlechtsbezogenen Verortung bzw. Nichtverortung zunächst an ein Ziel gekommen – ein »Zuhause« gefunden zu haben – und damit einen in der Adoleszenz begonnenen Suchprozess zunächst beendet zu haben.

Jugend, Körper und Geschlecht – Spezifika der Adoleszenz. Resümee und Perspektiven

In Carolin Emckes Schilderungen werden Spezifika der Adoleszenz deutlich, wie sie auch bezogen auf westliche Gesellschaften in sozialwissenschaftlichen Studien zum Ausdruck kommen:6 die