Copyright: © Junfermann Verlag, Paderborn 2019

Coverfoto: © Tijana87 – www.istockphoto.com

Abbildungen: S. 141 ff. Peter Luttke

Covergestaltung / Reihenentwurf: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Satz, Layout & Digitalisierung: Junfermann Druck & Service GmbH & Co. KG, Paderborn

Alle Rechte vorbehalten.

Erscheinungsdatum dieser eBook-Ausgabe: 2019

ISBN der Printausgabe: 978-3-95571-805-3

ISBN dieses E-Books: 978-3-95571-806-0 (EPUB), 978-3-95571-808-4 (PDF), 978-3-95571-807-7 (MOBI).

Einleitung

„Man kann in Kinder nichts hineinprügeln, aber vieles herausstreicheln.“

(Astrid Lindgren)

Seit 17 Jahren begleite ich Schüler1, Lehrer und Eltern und erlebe, dass sich die Bedingungen an staatlichen Schulen in dieser Zeit stark verändert haben. Die Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen finden meist zu wenig Berücksichtigung. Das System Schule ist selten wirklich aus Sicht der Schülerinnen und Schüler gedacht und nicht ausreichend auf die Bedingungen und Anforderungen einer guten Lernumgebung ausgelegt. Anstatt die Stärken des Einzelnen zu sehen und zu fördern, wird der Fokus auf die Schwächen gelegt. Erfolgreich ist, wer die curricularen Ziele schnell und effizient erreicht und die vorgegebenen Anforderungen entlang einheitlicher Parameter erfüllt. Der gesellschaftliche Leistungsdruck macht auch vor den Schulen, Lehrkräften, Schülern und Eltern nicht halt!

Nicht zuletzt durch Qualitätsanalysen, Vergleichsarbeiten, Inklusion, Turbo-Abi und Pisa wird der Schwerpunkt zunehmend auf die überprüfbaren Ergebnisse und Standards gerichtet. Doch sehr viele Kinder haben immer wieder Probleme mit den Anforderungen des Bildungssystems. Das ist nicht nur an den Noten abzulesen, sondern auch an Verhaltensauffälligkeiten, Konzentrationsproblemen, Prüfungsängsten und anderen besorgniserregenden Phänomenen.

Bei der Frage, wer für die zunehmenden Schwierigkeiten verantwortlich ist, erlebt man ein regelrechtes Pingpongspiel. Jeder möchte den ungeliebten Pokal der Verantwortung schnell weiterreichen. Ein Schwerpunkt meiner Arbeit mit Schulen besteht darin, allen Beteiligten die eigenen Spiel- und Verantwortungsräume aufzuzeigen und sie zu animieren, diese aktiv zu gestalten. Dazu gehört mit Sicherheit eine Menge Mut vonseiten aller, bedeutet es doch nicht selten, entgegen allgemeiner Vorgaben und Vorstellungen anderer neue Wege einzuschlagen. Veränderungen benötigen ein starkes Team, das sich gegenseitig anspornt und beflügelt, und vor allem braucht es eine Vision davon, wie es sein könnte. In meiner Vision sehe ich Schulen, in denen sich Menschen begegnen und unterstützen. Menschen, die sich nicht hinter einer Rolle verstecken, sondern authentisch sind, sich Mut machen und spüren, dass sie Einfluss haben. Welche Vision verfolgen Sie? (Und haben Sie Ihre Vision überhaupt noch vor Augen?)

Die Sorge der Eltern um die Zukunft ihrer Kinder ist verständlich, Maßnahmen, die aus dieser Sorge heraus getroffen werden, sind jedoch ein weiterer Faktor, der Unsicherheit und Unruhe verbreitet. Speziellen „elitären“ Schulformen und guten Noten wird ungesund viel Bedeutung beigemessen, sodass viele Kinder bereits ab der zweiten Klasse Nachhilfe bekommen, um nur ja auf das Gymnasium zu kommen. Ein Kind ohne zusätzliche Förderung in irgendeinem Bereich ist heutzutage fast undenkbar. Lehrkräfte werden kritisiert und unter Druck gesetzt, den Schülern die von den Eltern erwarteten Noten zu geben. Dadurch sitzen viele Lehrer zwischen zwei Stühlen: Einerseits sollen sie den Anforderungen der Bildungspolitik gerecht werden und andererseits den Erwartungen der Eltern.

Was dabei vergessen wird: Eine unauffällige und erfolgreiche Schulkarriere ist noch lange nicht gleichzusetzen mit einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung. Häufig zeigen sich Stress- und Überforderungssymptome bei sehr angepassten Schülern nur zeitverzögert. Zudem findet oft auch eine negative Beeinflussung statt: Mit zunehmendem Stress der Erwachsenen werden wichtige resilienzfördernde Faktoren der Kinder und Jugendlichen wie z. B. Selbstwirksamkeit, Verantwortungsübernahme und Beziehungsgestaltung, um nur einige zu nennen, mehr und mehr in den Hintergrund gedrängt. Das Hauptaugenmerk wird auf Optimierung, Effizienz und Erfolg gesetzt. Doch Menschen sind keine Maschinen. Sie brauchen bereichernde und anregende Beziehungen, um ihre Potenziale entfalten zu können. Je jünger ein Mensch ist, desto mehr benötigt er ein wertschätzendes soziales Umfeld zum Lernen. Junge Menschen lernen nur von den Personen, die sie als Vorbild anerkennen und zu denen sie eine positive Beziehung aufbauen konnten. Dieser zwischenmenschliche Aspekt wird in all dem Optimierungswahn völlig vernachlässigt. „Ziele der Schule sind es, die Schülerinnen und Schüler dabei zu unterstützen, ihre Person zu entfalten, selbstständig Entscheidungen zu treffen, Verantwortung für das Gemeinwohl, die Natur und die Umwelt zu übernehmen“ (Homepage des Ministeriums für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen, Stand 2018). Haben wir diese Ziele nicht längst aus den Augen verloren?

Ein kritischer Blick auf unsere heutige in einem schnellen und offenbar beständigen Wandel begriffenen Gesellschaft offenbart die Notwendigkeit, eingefahrene Muster und überholte Strategien zur Wissensvermittlung und Persönlichkeitsentwicklung zu überdenken. Vor 40 Jahren garantierte ein guter Schulabschluss noch einen sicheren Job. In vielen Arbeitsfeldern war man darauf angewiesen, dass die Mitarbeiter in der Lage waren, vergleichsweise stupide und mechanische Tätigkeiten zuverlässig auszuführen. Persönlicher Elan und Begeisterung für die Sache waren unwichtig. Die heutige Berufswelt erfordert dagegen selbstständiges Denken, Vernetzungsfähigkeit, Eigenständigkeit und die Bereitschaft, ständig dazuzulernen und in wechselnden Teams immer neue Aufgaben zu übernehmen. Um zukünftige Generationen auf eine solche Arbeitswelt vorzubereiten, darf Schule nicht länger gehorsame und an den 45-Minuten-Takt angepasste Musterschüler als primäres Ziel anstreben, die jeden Tag mit sauberer Handschrift ihre Hausaufgaben verfassen. Für die neuen Herausforderungen braucht es kreative Querdenker, Menschen, die persönliche Verantwortung übernehmen und Visionen haben. Und vor allem braucht es resiliente Menschen!

Resilienz bedeutet

Diese neuen Qualifikationen zu wecken und zu fördern gehört nicht zu den Kernaufgaben von Lehrern in unserem bisherigen Schulsystem. Es ist für sie daher unerlässlich, alte Muster zu überdenken, die eigenen Ziele zu überprüfen und sich klarzumachen, welche Aufträge von außen gestellt werden und welche man selbst erfüllen möchte. Machen Sie sich bewusst: Als Lehrkraft darf man es sich zur Aufgabe machen, auf diesem Weg mit gutem Beispiel voranzugehen, um Schülern als Vorbild zu dienen.

Wichtig in diesem Zusammenhang sind ein fundiertes Wissen über neurobiologische Zusammenhänge, Lern- und Entwicklungsprozesse sowie eigene Erfahrungen, die dieses Wissen untermauern. Nur so können Vertrauen und Selbstwirksamkeit bei Ihnen und Ihren Schülern wachsen und Fachkräfte den Mut finden, die eigene Komfortzone zu verlassen.

Dieses Buch möchte Sie dazu anregen, sich von als falsch empfundenen Anforderungen abzugrenzen und die eigene mentale Widerstandsfähigkeit zu stärken. Außerdem soll es Sie dabei unterstützen, auch die Ihnen anvertrauten jungen Menschen bei der Stärkung ihrer Persönlichkeit zu fördern und ein besseres Schulklima zu entwickeln. Um schwierige Situationen und Herausforderungen im Leben bewältigen zu können, ist es wichtiger denn je, Kinder und Jugendliche in den sogenannten Soft Skills zu fördern, um soziales Miteinander, Selbstwirksamkeit und Eigenverantwortung zu unterstützen. Schüler müssen lernen, sich Herausforderungen zu stellen, aus einem Misserfolg zu lernen und sich nach einem Sturz wiederaufzurichten. Emo­tionaler Rückhalt von Pädagogen ist hierfür wichtiger als strenges und unnachgiebiges Einfordern von Regeln. Jungen Menschen beizustehen, wenn etwas schiefgeht, anstatt sie zu kritisieren, wenn sie Fehler machen, stärkt ihr Vertrauen in sich selbst und etabliert eine erfahrungsfreundliche Umgebung.

Die Neugestaltung einer wertschätzenden Beziehungskultur in Schulen kann nicht von oben nach unten angeordnet werden. Diese Veränderung kann nur durch die aktive Gestaltung der Menschen in diesen Systemen angeregt und kultiviert werden. Schule lebt durch die Menschen, die sich in ihr bewegen.

Zum Umgang mit diesem Buch

Ich möchte Sie inspirieren und Ihnen neue Impulse geben, damit Sie sich in Ihrer Arbeit, mit Ihrem Elan und Ihrer Leidenschaft für Ihre pädagogische Berufung wieder erfolgreich und wirkungsvoll fühlen und spüren, dass Sie einen Unterschied für die Kinder machen.

Theoretisches Hintergrundwissen, die Darstellung unterschiedlicher Blickwinkel sowie praktische Übungen sollen Sie darin unterstützen, Ihren eigenen Weg zu finden, um gelassener mit individuellen Verhaltensauffälligkeiten und klassendynamischen Prozessen umzugehen. Bekommen Sie einen anderen Blick auf Schule. Erklärungsmodelle, Anregungen und Ideen, die Sie in diesem Buch finden, helfen Ihnen, Ihre Rolle neu zu definieren. Entdecken Sie, wie Schule ein Ort des Miteinanders und der Zugehörigkeit werden kann, wenn wir Erwachsenen beginnen, Schule anders zu denken und zu leben.

Im ersten Teil des Buches geht es vor allem um eine Darstellung dessen, was unter Resilienz zu verstehen ist und wie Ihre innere Haltung im Umgang mit Kindern und Jugendlichen Ihre und deren Resilienz fördern kann. Sie haben die Möglichkeit, eigene Denk- und Verhaltensmuster zu erkennen, zu reflektieren und gegebenenfalls zu ändern. Die Kapitel sollen unbewusste Prozesse bewusst machen, denn nur im Erkennen unserer eigenen Strukturen besteht die Chance zur Veränderung.

Immer zum Ende eines Kapitels finden Sie Tipps für den Umgang mit Schülern oder Kollegen. Es handelt sich meist um konkrete Übungsbeispiele, die Sie direkt umsetzen können. Stellen Sie sich die Anregungen als Produkte in einem Supermarkt vor: Das eine oder andere Produkt packen Sie vielleicht direkt in Ihren Einkaufswagen. Bei manchen lesen Sie sich vielleicht erst mal nur die Zutatenliste durch. Einiges haben Sie vielleicht bereits zu Hause (setzen es also schon erfolgreich um). Und sicher gibt es Produkte, die Sie zunächst im Regal stehen lassen. Entscheiden Sie selbst, was in Ihren Einkaufswagen kommt. Sie können Anregungen nach Ihrem Geschmack ergänzen und kreativ mischen und so zu Ihrer ganz eigenen Rezeptur kommen. Die hier angebotenen „Produkte“ laufen nicht weg. Sie haben jederzeit die Möglichkeit, sich wieder neu inspirieren zu lassen.

Im zweiten Teil des Buches stehen die unterschiedlichen Ebenen zur Förderung von Resilienz im Vordergrund: Wie können Sie das eigene – körperliche, geistige und seelische – Wohlbefinden, aber auch das Ihrer Schülerinnen und Schüler positiv beeinflussen? Welche Möglichkeiten der Einflussnahme gibt es und wo sind Ihre Grenzen? Was hindert Sie daran, diese Optionen zu nutzen, und wie schaffen Sie langfristig Veränderungen?

Schließlich lernen Sie unterschiedliche Persönlichkeitstypen, wie sie grob in jeder Klasse vorkommen, kennen. Sie erhalten Erklärungen, was zu berücksichtigen ist, um den jeweiligen Typus gut zu begleiten.

Sie finden eine Vielzahl von Spielen und Übungen, die Sie direkt mit Ihrer Klasse ausprobieren können. Je nach Alter der Kinder und Jugendlichen können Sie die Übungen problemlos anpassen bzw. abwandeln. Durch regelmäßige Einheiten unterstützen Sie die Ausrichtung auf die resilienten Faktoren und stärken sich und Ihre Schüler gleichermaßen. So werden aus kleinen (und größeren) Kindern starke Kämpfer und Sie zu ihrem Vorbild.


1  Um den Lesefluss nicht zu stören, habe ich mich entschieden, ausschließlich das generische Maskulinum zu verwenden. Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass immer beide Geschlechter gemeint sind.

3. Das resiliente Gehirn

„Wir brauchen unsere Kinder nicht zu erziehen, sie machen sowieso alles nach.“

(Karl Valentin)

Wenn wir über Resilienz (im Allgemeinen und speziell im Schulkontext) sprechen, das haben Sie bereits im letzten Kapitel gesehen, kommen wir nicht umhin, uns auch das Gehirn des Menschen genauer anzusehen. Es wird nämlich angenommen, dass die Balance zwischen aktivierenden und hemmenden Gehirnfunktionen in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle einnimmt. Kurz gesagt: Gehirnphysiologisch betrachtet, geht es um eine bessere neurologische Kontrolle von Stresshormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortison (Congleton, Hölzel & Lazar, 2015).

Daher möchte ich Ihnen in diesem Kapitel die Funktionen der unterschiedlichen Hirnbereiche erläutern, ihren Einfluss auf unser Verhalten verdeutlichen und zudem noch ein kindgerechtes Modell präsentieren, mit dessen Hilfe Sie mit Ihren Schülern und Schülerinnen auffälliges Verhalten thematisieren können.

3.1 Die Subjektivität der Wahrnehmung

Meist gehen wir davon aus, dass jeder Mensch die Welt so sieht und interpretiert wie wir selbst. Das ist jedoch ein weit verbreiteter Irrglaube. Jeder von uns nimmt die Welt anders wahr. Keiner von uns kann die Wirklichkeit so, wie sie ist, erfassen. Wir registrieren lediglich Ausschnitte, die durch unterschiedliche Wahrnehmungsfilter bedingt sind.

Einer dieser Filter sind beispielsweise unsere Sinne, die Eindrücke je nach Sensibilität unterschiedlich verarbeiten. Ein weiterer Filter sind unsere Erwartungen, denn darauf richtet unser Gehirn die Aufmerksamkeit. Es werden vor allem die Informationen an unser Bewusstsein weitergeleitet, die wir erwarten und die somit unsere bereits bestehende Weltsicht bestätigen.

Paul Watzlawick hat in seinem Buch Anleitung zum Unglücklichsein (2009) eine ganze Reihe von Beispielen aufgelistet, wie selektiv unser Gehirn vorgeht. Sicher kennen Sie das: Wenn wir es besonders eilig haben, kommt es uns so vor, als würden alle Ampeln auf Rot stehen und überall langsame Autofahrer und andere Störquellen auf dem Weg vorhanden sein. Auch wenn unsere Erwartungshaltung stark von der Realität abweicht, haben wir Stress.

Diese Erwartungshaltung ist übrigens gerade für Lehrkräfte ein riesiger Stressfaktor. Machen Sie dazu doch kurz einmal eine kleine Übung.

 ÜBUNG

Schließen Sie einen Moment die Augen und stellen Sie sich vor, wie für Sie guter Unterricht aussähe:

Nehmen Sie sich zwei bis drei Minuten Zeit, sich das intensiv mit allen Sinnen vorzu­stellen.

Das Bild, das nun vor Ihrem geistigen Auge erscheint, ist Ihre innere Matrix, an der Sie unbewusst Ihren eigenen Unterricht messen. Auf Grundlage dieses Bildes prüfen Sie, ob Sie mit sich und Ihrer Leistung zufrieden sind (= sein können) oder nicht. Diese „Vorlage“ haben Sie sich anhand von (eigenen und Fremd-)Erwartungen sowie Meinungen für Sie wichtiger Personen selbst angelegt. Es ist Ihr persönlicher Maßstab.

Nun schließen Sie erneut die Augen und stellen Sie sich einen alltäglichen, typischen Unterricht vor. Auch hier nehmen Sie sich bitte zwei bis drei Minuten Zeit:

Vielleicht wird Ihnen durch diese Übung deutlich, dass Ihre innere Wunschvorstellung davon, wie Unterricht zu sein hätte und was bis heute als guter Unterricht im Referendariat verkauft wird, gar nicht der Realität entspricht. Ich kenne etliche Berichte über Unterrichtsbesuche, in denen den Schülern vorher regelrechte Verhaltenskodexe an die Hand gegeben wurden. Der vorgezeigte Unterricht hat meist nicht viel mit dem realen Unterricht zu tun. Trotz allem halten viele Lehrkräfte an dem idealisierten Bild fest, ist der Wunsch nach störungsfreiem Unterricht ungebrochen. Diese Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit fördert die innere Unzufriedenheit und häufig auch das Gefühl, nicht gut genug zu sein. Störungsfreier Unterricht so, wie die Bedingungen derzeit an Schulen sind – alle Schüler einer Klasse lernen zur gleichen Zeit die gleichen Inhalte –, ist in meinen Augen ein Unterfangen, das zum Scheitern verurteilt ist. Daher ist es sinnvoller, die realen Umstände zu akzeptieren. Es liegt nicht an der Fähigkeit der Lehrkraft allein, dass Störungen entstehen. Es sind Strukturen und Vorgaben, die Störungen fördern. Es treffen in der Schule Menschen mit ganz unterschiedlichen Bedürfnissen und Interessen aufeinander. Aufgabe von Lehrern kann es demnach nur sein, gute Beziehungen zwischen den Schülern zu fördern und strukturelle Abläufe und Rahmenbedingungen so zu gestalten, dass ein positives Lernklima entstehen kann.

Zurück zum Gehirn: Unser Gehirn bastelt also aus (selektiver) Wahrnehmung, Erinnerung und Erwartungen unsere subjektive Realität. Und diese unsere innere Vorstellung ist wiederum entscheidend dafür, wie wir das, was um uns herum geschieht, wahrnehmen und bewerten.

Die Aufgabe unseres Gehirns ist es, uns wohlbehalten durch die Welt zu bringen. Um das zu gewährleisten, wird alles, was wir je wahrgenommen haben, innerlich bewertet nach richtig und falsch, gut und schlecht, wichtig und unwichtig. Bedeutend hierfür sind vor allem starke Gefühle, angenehme wie unangenehme. Sicher können Sie sich noch an Ihren ersten Kuss oder eine Situation erinnern, in der Sie große Angst hatten. Dabei spielt es keine Rolle, wie lange diese Szenen schon her sind. Die Erfahrungen sind tief gespeichert und dienen als wichtige Interpretationsgrundlage für künftige Situationen.

Alles, was nach dieser emotionalen Beurteilungsmethode unter die Kategorie „unwichtig“ fällt, wird schnell ausgeblendet oder dringt gar nicht erst als Information in unser Bewusstsein durch. (Oder können Sie sich noch erinnern, welches Verkehrsschild Sie bei Ihrer letzten Autofahrt als drittes gesehen haben? Vermutlich nicht, denn es war nicht wichtig, darauf zu achten. Es hat keine Bedeutung für Ihr Gehirn.)

In der Kindheitsforschung konnte mittlerweile nachgewiesen werden, dass wir als altruistische und hilfsbereite Wesen auf die Welt kommen (Gilman & de Lestrade, 2016). Wir haben ein grundsätzliches Verständnis von moralischen Werten, nach denen wir uns anderen Menschen gegenüber verhalten. Wenn wir uns in bestimmten Situationen nicht kooperativ und hilfsbereit zeigen, deutet das darauf hin, dass wir im Laufe unserer Sozialisation neue Bewertungen für diese Anlässe vorgenommen haben. Diese Umbewertungen können unterschiedliche Ursachen haben. Es kann beispielsweise sein, dass wir uns als Kind nach Vorbildern gerichtet haben, die andere Werte vermittelten, oder dass unsere Bedürfnisse als Kind nicht angemessen wahrgenommen und berücksichtigt wurden. Das führt manchmal zu einer veränderten Sicht auf bestimmte Prozesse. Schauen wir uns das einmal auf der gehirnphysiologischen Ebene an.

3.1.1 Das dreigeteilte Gehirn

Vereinfacht ausgedrückt, lässt sich das Gehirn in drei Areale unterteilen, die für verschiedene Aufgaben zuständig sind und sich im Laufe der Evolution in drei großen Schritten entwickelt haben (vgl. Abbildung 3.1):

  1. der Hirnstamm oder das Reptiliengehirn,
  2. das Zwischenhirn oder Säugetiergehirn und
  3. das menschliche Großhirn.

Abbildung 3.1: Dreiteilung des Gehirns

Das Reptiliengehirn (Hirnstamm)

Das Reptiliengehirn ist der älteste und tiefliegendste Teil des Gehirns und kommt bei allen Wirbeltieren vor. Es ist verantwortlich für die Atmung, steuert die Körpertemperatur, die Verdauung und den Herzschlag und ist zudem auch für automatisierte Notfallreaktionen zuständig. Sicherlich haben Sie schon einmal erlebt, dass Sie eine Bewegung aus dem Augenwinkel wahrgenommen haben und erschrocken zur Seite gesprungen sind. Bei genauer Betrachtung war es vielleicht nur eine Wollfluse, aber Sie haben reagiert, bevor Sie bewusst überprüft hatten, ob da eine Gefahr droht oder nicht.

Wenn Sie nach einiger Zeit wieder an der gleichen Stelle stehen und die Wollfluse bewegt sich, dann würden Sie sich nicht wieder so erschrecken wie beim ersten Mal, denn nun haben Sie bereits erfasst, dass keine Gefahr droht. Es hat die Umbewertung stattgefunden, die uns zum nächsten Hirnbereich führt, dem Zwischenhirn.

Das Säugetiergehirn (Zwischenhirn)

Das Zwischenhirn, auch Säugetiergehirn genannt, ist mit dem Bereich des limbischen Systems der Hauptsitz für unsere Emotionen. Menschen haben nach Paul Ekman (2010) sieben angeborene Grundemotionen. Diese sind

  1. Freude,
  2. Überraschung,
  3. Angst,
  4. Traurigkeit,
  5. Ekel,
  6. Wut und
  7. Verachtung.

Weltweit sind sie in allen Kulturen zu finden und äußern sich immer über die gleiche unbewusste Mimik. Hinzu kommt eine ganze Reihe von Differenzierungen wie Scham, Schuld, Lust, Gier usw. Die Liste ist lang. Doch die Grundorientierung im Gehirn verläuft nach der Einteilung „mag ich gerne fühlen“, „mag ich ungern fühlen“, „fühlt sich neutral an“. Diese Aufteilung ist immer die Basis für Entscheidungen.

Das menschliche Großhirn

Über dem Säugetiergehirn befindet sich das Großhirn. Dieser jüngste Teil unseres Gehirns ist unter anderem zuständig für das Denken, die Sprache, das Vorstellungsvermögen und zielgerichtete Handlungen. Hier wägen wir ab und treffen bewusste Entscheidungen.

Das Gehirn im entspannten und im gestressten Zustand

Alle drei Bereiche arbeiten im entspannten Zustand harmonisch miteinander im Einklang. Während Sie diese Zeilen lesen und darüber nachdenken, können Sie ein Gefühl wahrnehmen und Ihr Herz-Kreislauf-System und Ihre Atmung funktionieren weiterhin. Wenn wir aber stark gestresst sind und Gefühle wie Wut, Angst oder Hilflosigkeit sich ausbreiten, dann werden unsere oberen Hirnschichten regelrecht blockiert. Es kommt zur Ausschüttung von Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol. Der Sympathikus, der Teil des vegetativen Nervensystems, der für Muskelaktivität und Leistungsbereitschaft steht, wird angeregt. Wenn wir in großer Alarmbereitschaft sind, kann es sein, dass automatische Mechanismen die Kontrolle über unsere Handlungen übernehmen. Genaues Abwägen der Folgen und klares Denken sind in diesen Momenten nicht mehr möglich. Wie schon beschrieben ist das evolutionär betrachtet eine Schutzfunktion, die über Leben und Tod entscheiden konnte.

Nun leben wir in Deutschland seit vielen Jahrzehnten in relativer Sicherheit. Lebensbedrohliche Situationen begegnen uns glücklicherweise höchst selten. Auch wenn Sie aufgrund von Medienberichten vielleicht zu einer anderen subjektiven Einschätzung kommen mögen, so ist es statistisch kaum nachweisbar, dass die Gefahren in Deutschland heute größer sind als vor zehn, 20 oder 30 Jahren (Fischer, 2017).

Die Funktionsweise unseres Gehirns hat sich allerdings nicht angepasst. Wurde früher vielleicht der Berglöwe als Auslöser für unser Notprogramm „Angriff, Flucht oder Totstellen“ identifiziert, so kann es heute auch ein Schüler sein, der in uns starke unangenehme Gefühle weckt und uns zu Handlungen verleitet, die uns im Nachhinein peinlich sind und von denen wir hoffen, dass sie niemand mitbekommen hat. Momente, in denen wir vielleicht unser Gegenüber anschreien oder am Arm vor die Tür ziehen. Grundsätzlich wissen wir, dass dieses Verhalten nicht angemessen ist. Deshalb fühlen wir uns danach – wenn überhaupt – nur kurzfristig besser. Sobald wir realisieren, was wir getan haben, folgen meist das schlechte Gewissen oder der Versuch, unser Verhalten zu rechtfertigen, um Schuldgefühle zu vermeiden.

Bedenken Sie bitte: Wären Sie Schüler, dann würde nach solch einer Aktion erwartet werden, dass Sie zu einem Klärungsgespräch antreten, Einsicht zeigen und auf jeden Fall eine Entschuldigung bzw. Wiedergutmachung leisten. Vielleicht hilft Ihnen also die Überlegung, dass es Ihnen in Bezug auf diese Gehirnmechanismen nicht anders ergeht als Ihren Schülern, dabei, in der nächsten kritischen Situation empathisch auf unerwünschtes Verhalten zu reagieren.

Ich habe bisher noch niemanden getroffen, dem Respekt und Wertschätzung nicht wichtig waren. „Ausraster“ liegen also weniger an der fehlenden Einsicht, sondern vielmehr an der fälschlicherweise als bedrohlich interpretierten Situation, den entsprechend automatisierten Handlungen – und inneren Rechtfertigungen, warum das eigene Verhalten in manchen Situation legitim erscheint, während wir es bei anderen verurteilen würden.

3.1.2 Hund, Eule und Krokodil – das Gehirn kindgerecht erklärt

Um mit Schülerinnen und Schülern über das eigene Verhalten sprechen zu können, ohne dass diese gleich in einen Verteidigungsmodus rutschen, führe ich ein kindgerechtes Beispiel an und erläutere die Zusammenhänge an einem „Gehirnmodell“ (vgl. Abbildung 3.2):

Abbildung 3.2: Gehirn und Verhalten kindgerecht erklärt

„Deine beste Freundin hat nur noch einen Keks und sie weiß, dass du Kekse liebst. Sie sagt zu dir: ‚Ich weiß, du liebst Kekse, deshalb schenke ich dir meinen letzten Keks.‘ Wie würdest du diese Geste bewerten? Vermutlich mit angenehmen Gefühlen. Übertragen auf unser Gehirn würde das heißen, es spielt eine liebliche Melodie und der innere Wachhund (= die Amygdala, ein Teil des Säugetiergehirns) würde in der Sonne liegen und schlafen. In diesem inneren Zustand hast du Zugriff auf deine weise Eule (Großhirn) und du würdest vermutlich wohlwollend und für alle Beteiligten zufriedenstellend reagieren. Vielleicht würdest du etwas anderes zum Tausch anbieten oder den Keks teilen – und alle wären glücklich. (Das ist der obere Teil der Zeichnung in Abbildung 3.2).

Stelle dir jetzt die Szene wie folgt vor: Deine beste Freundin hat nur noch einen Keks und sie weiß, dass du Kekse liebst. Sie sagt jedoch zu dir: ‚Das ist mein letzter Keks und ich weiß, du liebst Kekse, aber den bekommst du nicht, und außerdem bist du eh zu fett!‘

Ich vermute mal, deine Bewertung würde nicht so positiv ausfallen wie beim ersten Beispiel. Vielleicht wärst du sogar richtig empört und würdest deiner Freundin Entsprechendes antworten. In diesem Fall würde statt der lieblichen Melodie jetzt die Alarmglocke läuten und dein Wachhund würde laut bellen.

Was machen Eulen, wenn Sie von Hunden laut angebellt werden? Richtig, sie fliegen davon. An die klugen Entscheidungen kommst du dann also nicht ran. Da du dich gefühlt in einer Notsituation befindest, übernimmt nun dein Reptiliengehirn.

Vielleicht schubst du deine Freundin oder schlägst ihr den Keks aus der Hand und trittst drauf. Vielleicht setzt du aber auch eher auf Rückzug, drehst dich um und haust ab.

Alternativ könntest du auch so tun, als ob du den Kommentar gar nicht gehört hast. (Diese Szene wird im unteren Teil der Abbildung 3.2 dargestellt.)

Das Tiermodell des Gehirns hilft jungen Menschen, ihr Verhalten in Worte zu fassen und ihr Verhalten von ihrer Persönlichkeit zu trennen. Wenn die Eule wegfliegt, weil der Hund gebellt hat, ist grundsätzlich klar, dass es trotzdem weiterhin eine Eule (die „vernünftige“ Seite) gibt.

Die Bewertung, ob ein gezeigtes Verhalten nun gut oder schlecht, richtig oder falsch ist, ist abhängig vom Kontext und den eigenen Bewertungsstrukturen. Für uns Erwachsene, die junge Menschen in ihrer Persönlichkeitsentwicklung begleiten, ist es unerlässlich, sich dies immer wieder bewusst zu machen, um nicht vorschnell zu urteilen und keine Distanz zwischen uns und diesen (herausfordernden) Kindern entstehen zu lassen.

Zugleich ist das Modell hilfreich, um ein besseres Verständnis für mentale Übungen, Körperübungen und Achtsamkeitstrainings in der Schule zu schaffen. Denn solche Methoden haben direkten Einfluss auf unser Gehirn, unsere Gefühle und die Selbstregulation. Kurz, es sind wirkungsvolle Methoden, um einem nervösen Wachhund langfristig zu mehr Entspannung zu verhelfen.

3.2 Alarmanlage Gehirn

Ich stelle immer wieder fest, dass es Schüler gibt, die aufgrund ihrer Lebensgeschichte einen übernervösen inneren Wachhund entwickelt haben. Wenn sich ein Kind (gefühlt oder tatsächlich) ständig im Überlebensmodus befindet, führt das zu einer Überreizung seines Gehirns: Der Mandelkern (Amygdala) schüttet unablässig Botenstoffe aus, die es innerlich in Alarmbereitschaft versetzen. Das ist vergleichbar mit einem Wachhund, der alle möglichen Situationen als bedrohlich interpretiert, ständig aufspringt, bellt und nervös am Zaun entlangläuft.

Wächst ein junger Mensch in einem Umfeld ohne emotionale Wärme und Sicherheit auf, fühlt er sich unverstanden oder bekommt den Eindruck vermittelt, nicht richtig zu sein, dann ist sein inneres Warnsystem ständig gereizt.

Sicher kennen Sie Kinder, die sich bei jeder Kleinigkeit angegriffen, benachteiligt oder zurückgestellt fühlen, auch wenn nach Ihrem Ermessen dafür kein Grund erkennbar ist. Besonders verhaltensauffällige Kinder zeigen diesen übermäßig nervösen inneren Wachhund, indem sie auf Situationen, die wir als harmlos bewerten würden, mit Angriff oder Flucht reagieren.

Was könnten die genauen Ursachen dafür sein und wie kann die Schule hier intervenieren?

3.2.1 Wenn die Welt bedrohlich wirkt

Unsere Einschätzung der Welt hängt sehr stark davon ab, wie wir uns in ihr fühlen. In jungen Jahren orientieren wir uns daran, was uns erwachsene Vorbilder vorleben. Wenn Schüler das Gefühl haben, von den Erwachsenen nicht verstanden zu werden und nicht die Anerkennung zu bekommen, die sie brauchen, um sich zugehörig zu fühlen, dann werden sie sich andere Menschen suchen, die ihnen diese Zugehörigkeit vermitteln können. Häufig handelt es sich dabei um eine Peergroup, die ähnliche Verhaltensweisen und Interessen hat.

Dem kanadischen Entwicklungspsychologen und Bindungsforscher Gordon Neufeld zufolge erfolgt die zweite Bindungsstufe über das Prinzip Gleichheit (Neufeld & Maté, 2015). Nachdem die erste Bindung vor allem über Körperkontakt aufgebaut wird (sehen, hören, riechen und fühlen der Mutter und des Vaters), möchten Kinder auf der zweiten Bindungsstufe so sein wie die Menschen in ihrem Umfeld. Vielleicht haben Sie das schon mal bei Kleinkindern beobachtet, die das Verhalten der Eltern oder anderer Bezugspersonen imitieren.

Neufeld unterscheidet insgesamt sechs unterschiedliche Bindungsstufen, die abhängig sind von der persönlichen Reifeentwicklung eines Menschen. Grundsätzlich sind wir soziale Wesen und streben immer nach Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.

Unser Umfeld hat daher einen großen Einfluss darauf, wie wir die Welt bewerten. Wenn Sie viele Kollegen um sich haben, die darüber klagen, wie schlimm alles geworden sei, dann werden Sie sich früher oder später auch schlecht fühlen. Sie werden, auch wenn Sie noch so positiv in den Beruf gestartet sind, immer mehr von den negativen und belastenden Aspekten wahrnehmen. So funktioniert unser Gehirn.

Dies gilt natürlich auch im positiven Sinne. Und an dieser Stelle setzt die Förderung von Resilienz bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen an. Daher sind das zwischenmenschliche Klima und die Atmosphäre sehr entscheidend für die Förderung resilienter Eigenschaften. Wenn Kinder lernen, wie sie von sich aus mehr Einfluss auf ihre Gefühle nehmen können, dann fühlen sie sich diesen gegenüber nicht mehr so ausgeliefert. Das entspannt das Nervensystem. Kinder können lernen, dass die Schule ein friedlicher Raum ist, in dem sie gehört und gesehen werden. Selbstvertrauen, Freundlichkeit und Selbstwirksamkeit werden aktiv angeregt und mit dem Lernstoff, dem Lernort und dem Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten verknüpft.

In unserer stark leistungsgeprägten Gesellschaft geht es stets um die Optimierung von Prozessen und darum, in immer kürzerer Zeit mit immer weniger Ressourcen immer mehr zu erreichen. Die Zahlen für psychische Belastungen und psychosomatische Erkrankungen sind in den letzten Jahren zunehmend gestiegen. Immer jünger sind die Menschen, die unter Belastungssymptomen bis hin zum Burnout leiden. Höchste Zeit für Lehrkräfte, ein Umdenken zu initiieren und Verantwortung zu übernehmen – für die eigene psychische Gesunderhaltung und das Vorleben von Resilienz. Denn neben der Vermittlung von Wissen ist die Förderung einer resilienten Persönlichkeit von Schülern eine entscheidende Vorbereitung, um in einer Welt zu bestehen, die sich stetig und immer schneller verändert. Einer Studie der University of Oxford zufolge, könnten 47 Prozent der heutigen Arbeitsplätze in den nächsten 25 Jahren von künstlicher Intelligenz übernommen werden, ohne dass sich ausreichend neue Alternativen für die Menschen auftun (Schönhaar, 2017). Eine erschreckende Vision und sie zeigt, dass zwischenmenschliche Aspekte, die sozialen und emotionalen Fähigkeiten von Menschen, die nicht durch künstliche Intelligenz ersetzt werden können, immer wichtiger werden. Um diesen Veränderungen gestärkt begegnen zu können, wird Resilienzförderung in der Schule zunehmend an Bedeutung gewinnen.

3.2.2 Kindeswohlgefährdung?!

Auffälliges Verhalten eines Kindes kann häufig auch als Hinweis darauf verstanden werden, dass es ihm nicht gut geht. In diesem Fall ist es wichtig, den Ursachen nachzugehen. Manchmal handelt es sich bei diesen Kindern um Pflegekinder, die wegen der nicht vertretbaren Umstände zu Hause aus der Familie genommen wurden. Selbst wenn sich diese Kinder dann in Sicherheit befinden, sind die Erlebnisse aus der Vergangenheit häufig noch nicht verarbeitet. Ein Gespräch mit den Pflegeeltern hilft, gemeinsam Lösungen zu finden oder ein besseres Verständnis für das Kind und seine Bedürfnisse zu bekommen.

Immer wieder kommt es auch vor, dass Eltern nicht in der Lage sind, ihren Kindern einen geborgenen und sicheren Lebensraum zu schaffen. Die Unsicherheit und Hilflosigkeit, die die Kinder erleben, sind ebenfalls häufig Ursache für einen übernervösen Wachhund. In Fällen, in denen das körperliche, geistige oder seelische Wohl eines Kindes durch die Eltern oder andere Bezugspersonen bedroht ist, hat die Schule nach § 85 Abs. 3 S. 2 SchulG BW die Pflicht, eine vermutete Kindeswohlgefährdung beim Jugendamt zu melden (Kunkel, 2015).

Zuvor sind jedoch folgende Schritte einzuhalten: Der Klassenlehrer lädt die Eltern zu einem Gespräch ein, in dem über die Einschätzung und die Abwendung der Gefahr gesprochen wird. Dies ist sicher kein einfacher Schritt und die betroffenen Eltern reagieren sehr unterschiedlich auf diese Konfrontation. Denken Sie immer daran, dass Eltern sich ihren Kindern gegenüber so unzulänglich verhalten, weil sie es nicht besser können und Unterstützung benötigen.

Falls sich Ihre Bedenken nicht entkräften lassen und weiterhin eine vermutete Kindeswohlgefährdung besteht, geht kein Weg am Jugendamt vorbei.

Nehmen wir einmal an, die Eltern sind Ihrer Einladung zum Gespräch nicht gefolgt. Dann ist eine Klassenkonferenz unter Vorsitz des Schulleiters anzusetzen, in der eine erneute Prüfung der Sachlage erfolgt. Deuten die Anhaltspunkte auf eine Kindeswohlgefährdung hin, müssen die Eltern erneut zum Gespräch eingeladen werden. Können nach diesem Gespräch die Bedenken nicht ausgeräumt werden oder schlagen die Eltern die Einladung erneut aus, erfolgt eine Information an das Jugendamt. Um eine möglichst hohe Transparenz zu gewährleisten, empfehle ich, die bereits erfolgten Schritte schriftlich darzulegen. So können die Mitarbeiter beim Jugendamt schneller die Sachlage und die bisherigen Maßnahmen der Schule überblicken. Die endgültige Einschätzung und weitere Vorgehensweise in der Familie werden dann von dem zuständigen Jugendamt übernommen. Die Schule hat dabei das Recht, über die eingeleiteten Schritte informiert zu werden.

Doch auch wenn die direkte Gefahr abgewendet werden kann, sind diese Situationen für Schüler emotional sehr belastend. Das auffällige Verhalten wird sich daher meist nicht so schnell verändern wie gewünscht. Ein höchstmögliches Maß an Empathie von Ihrer Seite, um dem Schüler das Gefühl zu vermitteln, gemocht zu werden und wichtig zu sein, sowie ein sicherer Rahmen innerhalb der Schule mit verlässlichen Strukturen helfen, den inneren Wachhund nach und nach zu beruhigen. Unterstützend wirken auch kleine Übungen zur Körperwahrnehmung wie beispielsweise der Bodyscan, Meditationen und Atemübungen, die Sie auch im alltäglichen Unterricht für alle Schüler einbauen können (Gilman & de Lestrade, 2016).

Sind Verhaltensauffälligkeiten bei Schülern zu beobachten, dann berücksichtigen Sie bitte auch immer das Schulumfeld als möglichen Auslöser. Es kann vorkommen, dass Schüler von Klassenkameraden gemobbt, ausgegrenzt, bedroht oder körperlich angegangen werden. In diesem Fall ist sofortiger Handlungsbedarf zum Schutz des Schülers vonseiten der Schule erforderlich. Hier sollte eine Thematisierung mit der Klasse erfolgen, beispielsweise über soziale Trainingskurse (z. B. http://www.camp-stahl.de), Coolness-Training (CT®) (http://www.coolness-training.de) oder sogenannten No Blame Approaches (http://www.no-blame-approach.de), in denen die Schüler zur Verantwortung für ein friedfertiges Miteinander angeregt werden. Außerdem sollten schulrechtliche und strafrechtliche Konsequenzen geprüft werden. Seit 2007 sind Straftaten in der Schule und dem unmittelbaren Umfeld anzeigepflichtig. Neben der schulischen Maßnahme erfolgt in diesem Fall zudem eine Anzeige bei der Polizei durch die Schulleitung. Dies geschieht auch, wenn Schüler noch nicht strafmündig sind.

Anzeigepflichtig nach dem Erlass Polizei-Jugendhilfe-Schule für die Zusammen­arbeit bei der Verhütung und Bekämpfung der Jugendkriminalität sind beispielsweise:

(Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, 2014)

Der Ermittlungsauftrag obliegt dabei der Polizei und ist nicht vonseiten der Schule zu erfüllen. Die Aufklärung und letztliche Einschätzung der vorliegenden Sachlage übernimmt demnach ebenfalls die Polizei.

Eine klare Haltung gegenüber Straftaten ist ein wichtiges Signal für alle Beteiligten. Es verdeutlicht den Opfern, dass es nicht ihre Schuld ist, dass sie in eine solche Lage gekommen sind, und dass sie ernst genommen werden mit dem, was ihnen passiert ist. Den Tätern wird verdeutlicht, dass die Schule hinsieht, sich im Rahmen ihrer Möglichkeiten kümmert und jeden einzelnen Schüler schützt. Auch den unbeteiligten Schülern, die von dem Vorfall erfahren haben, wird dies verdeutlicht. Wenn Kinder und Jugendliche spüren, dass sie mit Anfeindungen, Ausgrenzungen und körperlichen Übergriffigkeiten nicht allein dastehen, kann sich der innere Wachhund nach und nach entspannen und ein friedfertigeres Miteinander gefördert werden.

Vielleicht fragen Sie sich gerade, was das jetzt mit Resilienzförderung zu tun hat? Ich würde behaupten: eine ganze Menge! Der wichtigste Aspekt ist für mich die Verantwortungsübernahme der Täter für ihr Fehlverhalten: Wenn mein Verhalten strafrechtlich relevant ist, sollte ich das möglichst früh lernen, um mir dem vollen Ausmaß meiner Tat bewusst zu sein. Es verdeutlicht, dass Schüler ernst genommen werden und für die Regulierung ihres Handelns verantwortlich sind – und somit auch für die Veränderung negativer Verhaltensmuster.

Opfer können hingegen die Tat eher akzeptieren, wenn ihnen deutlich wird, dass sie keine Schuld trifft. Es wird eine aktive Herangehensweise zur Lösungsfindung aufgezeigt: Wie gehe ich damit um, wenn mir derartige Ungerechtigkeiten passieren? Der emotionale Rückhalt von erwachsenen Bezugspersonen unterstützt die Selbstheilungskräfte des Opfers und helfen dabei, wieder zu vertrauen und sich sicher zu fühlen.