cover

STEPHAN PHIN SPIELHOFF

DER HIMMEL IST FÜR VERRÄTER

VERLAGSTEXT

Mit Joni Mitchell fängt es an: einer Katze, der Fitz das Leben rettet, als er mit seinem Freund Marek Urlaub auf Kreta macht. Die minimale Heldentat fühlt sich wichtig an, nachdem ihm sein Leben schon so lange Zeit nutzlos vorkommt. Sie bringt Fitz dazu, seinen Werbejob zu kündigen. Er will endlich eine seit langem geplante Fernsehserie schreiben, in der er mit den Dämonen seiner Jugend ringt. Doch als ein Sender die Serie kauft, kommt es schnell zur Ernüchterung. Die schwule Hauptfigur wird gestrichen, »weil sich das nicht vermarkten lässt.«

Obwohl er sich dafür hasst, macht er weiter. Von Anfang an verraten. Trotzdem, oder deswegen, wird die Serie zu einem viralen Hit. Und vielleicht ist das, was Fitz immer wollte, genau das, wodurch er alles verliert, was er hat.

In seiner kompromisslos gegenwärtigen und aufmerksamen Sprache lässt Stephan Phin Spielhoff seinen Protagonisten durch die Großstadt irren. Manisch, entfremdet, töricht und nonchalant – immer darauf lauernd, dass morgen jemand die Revolution startet. Zwischen Likes und Zigaretten, im grellen Licht der medialen Aufmerksamkeit, verschwimmt so vieles, das früher einmal sicher war.

DER AUTOR

Stephan Phin Spielhoff wurde 1983 in Bremen geboren; nach einem Studium in Tübingen, Hildesheim und Berlin Master in Philosophie. Er hat in einem Pornoladen gearbeitet, nachts auf Erich Kästners Friedhof gelesen, Kurzgeschichten und Essays veröffentlicht und vor langer Zeit einmal einen Literaturpreis gewonnen. Inzwischen lebt er als Texter mit seinem Freund in der Hauptstadt.

STEPHAN PHIN SPIELHOFF

DER HIMMEL
IST FÜR
VERRÄTER

Roman

image

FÜR PATRICK

I WISH SOMETHING ON T.V. WOULD
TROUBLE ME. THEN MAYBE I WOULD WATCH IT.

JOHN WATERS

STAFFEL I

Die Katze springt aufs Bett. Fitz öffnet die Vorhänge.

«Was soll sie essen?», will Marek wissen. Fitz wirft einen Blick auf die jämmerliche Kreatur. Das Fell stumpf, ein Auge blind. Mager und krank.

«Fisch», sagt Fitz. «Ich werde dem Kätzchen Fisch geben.» Marek sieht aus, als hätte er auf was Bitteres gebissen.

«Was ist denn? Katzen essen Fisch», sagt Fitz, setzt sich zu dem Tier, das sofort seine Nähe sucht. Es amüsiert Marek, aber er verdreht die Augen.

«Du kannst der Katze nicht einfach einen Fisch hinwerfen und glauben, dass damit alles gut wird.»

Fitz hat das Tier vor einer Gruppe Kinder gerettet. Sie hatten ihm die Hinterbeine mit einem Strick zusammengebunden und machten Anstalten, die Katze daran durch die Luft zu schleudern, als Fitz vorbeilief. Die Kinder verstanden nicht, was er ihnen zurief, ergriffen aber instinktiv die Flucht.

Marek war überrascht, dass Fitz das Tier nicht nur befreit, sondern mit in ihr Ferienapartment gebracht hatte. So was sieht ihm nicht ähnlich. Marek stemmt die Hände in die Hüfte.

«Weißt du noch, dass du vor zwei Jahren ganz besessen davon warst, überall in der Wohnung Pflanzen aufzustellen?», will er wissen.

Fitz reagiert nicht. Er streichelt die Katze.

«Wie viele Pflanzen hast du gekauft? Du konntest ja nicht erst einmal mit einer anfangen, sondern musstest gleich einen ganzen Dschungel besorgen.» Fitz wirft ihm einen Blick zu, den er kennt. Er bedeutet so was wie: Bitte hör auf.

«Keine hat länger als zwei Monate überlebt. Und dann standen sie vertrocknet und tot in ihren Töpfen.» Fitz macht eine wegwerfende Geste.

«Das hier ist keine dumme Pflanze», sagt er.

«Nein, es ist eine Katze. Du musst sie füttern, du musst für sie sorgen.»

«Ich weiß.»

Marek atmet ein. Setzt sich neben Fitz, der die Katze mit dem Daumen streichelt.

«Willst du das wirklich tun?», fragt er.

«Was bleibt uns übrig, wir müssen uns kümmern.»

«Wie sollen wir uns auf Kreta um eine Katze kümmern?»

«Was, gibt es hier keine Tierärzte?»

«Und dann? Willst du sie mit nach Deutschland nehmen?»

«Natürlich.» Marek versucht noch, Fitz die Laune zu verderben, indem er die bürokratischen Hürden aufzählt, genauso wie weitere Komplikationen. Er sieht Fitz an, wie er das Kätzchen streichelt, viel Fürsorge und Verpflichtung. Ist das nicht eigentlich gut?

Und er weiß, wie hartnäckig sein Freund sein kann, wenn er sich einmal entschieden hat. Fitz war niemals gut darin, seine Position neu zu überdenken oder den Standpunkt zu wechseln, ganz egal, wie falsch oder blödsinnig etwas war. Immer wieder musste er geradezu genötigt werden, um etwas zu tun, das er nicht wollte. Es hatte Monate gedauert, bis er damit einverstanden war, Mareks Mutter kennenzulernen. Es hatte nichts damit zu tun, dass ihre Beziehung dadurch offiziell werden würde, es war längst klar, wie ernst sie es miteinander meinten. Und als es schließlich so weit war, versuchte Fitz sich im letzten Moment unter einem Tisch zu verstecken. Mareks Freundin Jenny hatte das mal melodramatisch genannt, weil Fitz für diese Sturheit auch kein Vokabular hat. Keine Möglichkeit zu erklären, warum es ihm teilweise so unmöglich ist, sein Verhalten den Umständen anzupassen.

Es war ein spontaner Einfall gewesen, Fitz mit nach Kreta zu bringen.

Marek war angereist, um die Bauarbeiten an einem Strandhaus zu überwachen, das sein Architekturbüro entworfen hatte. Seine Klienten waren sofort bereit, ein zusätzliches Ticket zu zahlen. Komplizierter war es, Fitz dazu zu bringen, mitzukommen. Der ging in Berlin am Morgen zur Arbeit, kam am Abend heim und legte sich schlafen. Zwischendurch weinte er in der Dusche, aber das stritt er ab. Er war nicht hungrig und klagte über Schmerzen. Etwas in den Beinen, oder dem Magen. Ein paar Wochen lang ging das so. Jedes Treffen mit Freunden schlug Fitz aus. Er unternahm nichts. Er joggte nicht einmal mehr, dabei war das Wetter besser geworden.

Marek hatte sehr gehofft, dass er in Griechenland wieder zu sich finden würde. Aber in seinem Zustand war es schwierig, ihn zu überzeugen. Weder der blaue Ozean noch das gute Essen oder der Palast von Knossos waren für ihn Gründe, eine Reise anzutreten. Marek kaufte dann ganz einfach die Tickets und legte sie ausgedruckt auf den Esstisch. Es war immer sinnvoll, Tatsachen zu schaffen, die Fitz nicht bestreiten konnte. Fitz nickte und damit war es entschieden. Aber als sie auf Kreta in ihrem Zimmer angekommen waren, schob Fitz seinen Koffer in die Ecke und legte sich ins Bett.

Die erste Nacht schläft die Katze im Waschbecken. Fitz hat ihr mit einem Handtuch ein Nest gebaut. Er legt den Arm um Marek, während er das müde Tier ansieht.

«Es ist eine Menge Verantwortung», sagt Marek.

«I know», antwortet Fitz.

«Bist du dir sicher, dass du dem gewachsen bist?» Fitz rollt die Augen.

«Eine Katze am Leben zu erhalten ist doch keine Hexerei.»

«Ich liebe dich, weißt du?», fragt Marek.

«Klar», antwortet Fitz. Dann trinken sie auf dem Balkon noch ein Glas Wein und putzen sich die Zähne über der Toilette.

Während Marek am nächsten Tag auf der Baustelle ist, leiht Fitz sich ein Auto und fährt in die Stadt. Die Katze liegt auf dem Beifahrersitz. Marek macht sich Sorgen, weil Fitz sehr schlecht Auto fährt und die Serpentinen beschissen sind. Aber als er wiederkommt, sitzt Fitz auf dem Balkon, füttert die Katze mit einer Spritze, während seine Zigarette im Aschenbecher herunterbrennt.

«Du bist also wirklich nach Agios Nikolaos gefahren», sagt Marek.

«Viel interessanter ist doch, dass ich überlebt habe», antwortet Fitz.

«Ich erinnere mich an das eine Mal, als du uns fast umgebracht hast, weil du zu schnell von der Autobahn gefahren bist.» Damals hatte sich der Wagen auf der Ausfahrt um 360 Grad gedreht, reines Glück, dass keine Autos hinter ihnen waren. Seitdem eine ständige Referenz, wenn es darum geht, wozu Fitz in der Lage ist, oder eben auch nicht. Als würde sein Unvermögen, ein Vehikel zu steuern, auf eine tiefere Unzulänglichkeit deuten.

«Du hast geschrien wie ein Mädchen», antwortet Fitz.

«Yes, genauso hat es sich zugetragen», sagt Marek und streichelt Fitz den Nacken. Die Spritze ist leer, Fitz säubert der Katze das Maul und setzt sie auf den Boden.

«Es geht ihr gut. Ich meine, sie ist auf einem Auge blind, hat Würmer und eigentlich alles, was eine Katze so haben kann. Aber es geht ihr gut.»

«Wie hast du so schnell einen Arzt gefunden?»

«Das hier ist ein Dritte-Welt-Land und ich habe eine Menge Geld.»

«Und du kannst sie nach Deutschland mitnehmen?»

«Sie ist jetzt gechipt.» Marek kniet sich neben seinen Freund, legt ihm die Hand auf die Schulter.

«Ich bin überaus beeindruckt, wie du das geregelt hast.»

«So wie du das sagst, könnte ich fast glauben, dass du es nicht ernst meinst.»

«Absolut, Krümel, absolut.»

«Ich bin der weltbeste Problemlöser», sagt Fitz, was natürlich gelogen ist. Fitz ist ein Romantiker und Marek macht sich keine Illusionen darüber, dass sich der Charakter seines Freundes durch eine gewisse Unfähigkeit auszeichnet, dem Leben zu begegnen. Ein einfacher Anruf beim Steuerberater oder bei der Krankenversicherung ist für ihn zuweilen eine absurde Herkulestat, die er, solange es geht, aufschiebt. Es gefällt Marek, dass Fitz auf ihn angewiesen ist. Er hat die perfide Vorstellung, dass sein Freund ihn ein paarmal auch darum nicht verlassen hat, weil ihm die Wohnungssuche, der Auszug, der Kauf neuer Möbel zu viel abverlangt hätten. Das muss nicht stimmen, aber es gibt Marek eine gewisse Sicherheit und Freiheit für die Planung einer gemeinsamen Zukunft.

Den Abend verbringen sie auf dem Balkon. Fitz hat aus der Stadt Essen mitgebracht. Die Katze läuft zwischen ihnen hin und her, bis sie müde wird. Sie suchen einen Namen für sie und können sich nicht einigen. Als die Sonne untergeht, sagt Fitz: «Es geht mir nicht besonders gut. Ich bin nicht glücklich.» Der leichte Kokosgeruch der Feigenbäume, deren Früchte noch klein sind und auf keinen Fall süß, wird vom Wind zu ihnen getragen.

«Das ist mir schon klar», antwortet Marek, «ich lebe mit dir zusammen.» Es nötigt Fitz ein Lächeln ab.

«Die Katze zu retten ist seit langer Zeit das Erste, bei dem ich sage: Es hat sich gelohnt. Der ganze Rest? Ich weiß nicht, wie ich das durchhalten soll», sagt Fitz. Relativiert die Aussage sofort mit einer ungefähren Handbewegung.

Fitz hat vor über vier Jahren eine Stelle als Texter und Konzepter in einer Agentur angenommen, die er aber schon seit Beginn des Jahres herzlich hasst, weil sie ihm nutzlos erscheint. Alles, was er tut, ist Lärm machen. Er schreibt Texte, die durch alle Kanäle gejagt werden. Entwirft Kampagnen, denen man sich nur entziehen kann, wenn man nicht fernsieht, das Radio auslässt, keine Zeitungen kauft, nicht ins Internet geht und auch die Wohnung nicht verlässt. Und wenn er Dokumentationen sieht, über einen Müllteppich im Pazifik oder einen Brand in einer Fabrik in Bangladesch, fühlt er sich mitschuldig. Auch mit Freunden oder seiner Mutter redet er darüber. Dann heißt es oft, man müsste etwas tun oder etwas ändern. Nicht noch mehr produzieren, nicht einfach weitermachen, nicht sinnlos konsumieren. Darüber denkt er manchmal nach, wenn er im Laden den Reifegrad von Avocados überprüft oder etwas bei Amazon bestellt.

Und dieses schlechte Gewissen wird durch Langeweile angereichert. Es ist ein endloses Déjà-vu. Nicht einfach austauschbar, sondern längst erlebt. Jede Bewegung ist schon getan, für die Zukunft erneut geplant, bis in alle Ewigkeit und seit Anbeginn der Zeit. Das Klicken der Tasten an allen Schreibtischen in der ganzen Welt. Potemkinsche Dörfer, so weit das Auge reicht. Dahinter nur leere Felder, von denen der Wind den fruchtbaren Lössboden abträgt, der schon lange nicht mehr von Wurzeln gehalten wird. Leben ohne Zweck oder Ausdruck. Kurz: Es sind allerlei Kleinigkeiten, nicht sonderlich berühmt und allemal absolut bekannt und gewöhnlich. Es ist nicht die Banalität, die ihn stört, sondern der Gedanke: Wenn das hier alles ist, dann verlieren wir den Verstand.

Das alles erklärt er Marek ausführlich, der es nicht gewohnt ist, dass sein Freund offen über seine Motivationen und Gefühle spricht. Die seltsame Situation geht so weit, dass Marek einen Zug von Fitz’ Zigarette nimmt. Eine Geste der Verbrüderung. «Ich möchte nicht irgendwann aufwachen und denken, dass ich es nicht gewagt habe.»

«Hör zu, ich weiß, dass es dir nicht gut geht. Wenn du denkst, dass du gehen musst, dann geh. Es macht nichts, wenn du für ein paar Wochen runterschaltest. Dann kannst du überlegen, was du anstellen willst. Es sei denn, du weißt schon was.»

«Ich denke, ja», sagt Fitz, «ich werde meine Serie fertigschreiben.»

«Ihr altes Geld merkt man ihnen an», hatte Marek über seine Klienten gesagt. «Harald macht etwas mit Werbung, aber es ist klar, dass er nicht arbeiten muss. Und Eva, ich meine, sie ist wunderbar, aber ich bezweifle, dass sie weiß, was ein Liter Milch kostet.» Diese Art von Klassenneid war Fitz nicht neu. Ein Ekel vor der Sorglosigkeit dieser Menschen. Er bemerkt, wie abschätzig Marek manchmal von anderen spricht, und fragt sich, ob er auch ihn so sieht. Die Kritik an einem privilegierten Status, der von Generation zu Generation weitergegeben wird, bis er fast Teil der DNA ist. «Du wirst sie wirklich gut leiden können», sagt Marek auf dem Weg zur Baustelle.

«Sie haben sich gut vor uns versteckt», meint Eva und reicht Fitz ein Sektglas. Sie stehen auf der Baustelle. Noch kein teures Parkett, vor dem Ozean schmierige Fenster.

«Ich freue mich, Sie endlich kennenzulernen», antwortet Fitz und wirft einen Blick auf die Katze, die sich am Boden zusammengerollt hat.

«Dort wird einmal die Küche sein», sagt Eva. Als Harald und Eva die Katze in seinen Händen sahen, war eine unangenehme Pause entstanden, aber als Fitz die Umstände ihrer Rettung beschrieb, schienen sich ihre Bedenken aufzulösen, wenngleich Harald sagte, was für ein hässliches Tier es sei. «Sie sieht schon viel besser aus», erwiderte Fitz und nahm es ihm nicht übel. Harald und Marek brechen auf, um die Baustelle zu begehen.

«Schade, dass es kein echtes Richtfest ist», meint Eva, «aber wir reisen ja in drei Tagen wieder ab.»

«Sie haben einen sehr schönen Ort gefunden», bemerkt Fitz und geht zur Fensterfront.

«Harald hat hier seine Kindheit verbracht», sagt Eva, «wenn wir hier sind, ist er wie ausgewechselt.»

«Das scheint die Insel mit einem anzustellen», antwortet Fitz.

«Marek ist sehr talentiert», sagt sie und streift durch die Beton-Karkasse. «Wir haben uns mit einigen Architekten unterhalten. Marek hat uns überzeugt. Er sieht die Dinge als das, was sie sein können, und nicht als das, was sie sind. Wir haben ihm das Bild einer Steilklippe gezeigt und er fing an, von Stützen und Panoramafenstern zu sprechen.»

«Er sieht sich als Teil der Zukunft, die bei ihm seltsamerweise wie eine Mischung aus Mies van der Rohe und einer Hipster-Bar aussieht, die ihr eigenes Craft Beer braut», sagt Fitz. Eva runzelt die Stirn.

«Das klingt fast so, als könnten Sie das nicht leiden.»

«So ein Unsinn, ich finde seine Häuser wunderbar und kann es nicht erwarten, bis er uns eins baut. Das wird dann so sein, als würden wir in einem Instagram-Account leben.»

«Sehen Sie, da ist es schon wieder», sagt sie und steckt sich eine Zigarette zwischen die Lippen. «Sie sind abschätzig.»

Fitz schaut sie von der Seite an. «Ich kann mich nicht besonders auf meine Gefühle verlassen», sagt er dann. «Darum mache ich mich eher über sie lustig, als sie ernst zu nehmen.»

«Und wie geht es Ihnen damit?»

«Ich kann mich nicht beschweren», lügt er.

Als die beiden anderen nach einer halben Stunde zu ihnen stoßen, sitzen Fitz und Eva auf Campingstühlen und unterhalten sich über Houellebecq. Sie haben beide zwei seiner Romane gelesen. Aber nicht dieselben.

«Was haltet ihr davon», fragt Harald, «wir packen zusammen und ich entführe euch ins Dorf.» Sie heben die Gläser und trinken aus.

Sie sitzen bei Dimitri, und als Marek Fitz anschaut, erinnert ihn nichts mehr an den Schiffbrüchigen, mit dem er nach Kreta gekommen ist. «Es gibt drei Restaurants von vergleichbarer Qualität», hat Harald gesagt. «Aber Dimitri serviert dieses frittierte Brot. Mein Personal Trainer wird nicht glücklich sein, wenn ich wieder zurückkomme. Mir ist es das wert.» Das Fischerdorf liegt knapp fünfzehn Minuten zu Fuß von der Baustelle entfernt. Es ist Vorsaison und sie sind mit dem Personal allein. Tagsüber sieht man, wie das Griechenlandidyll produziert wird. Die Wände werden weiß getüncht, blaue Markisen angebracht. Fitz hat die Katze neben seinem Stuhl auf den Boden gelegt und schießt Bilder von einem Tintenfisch, der über einer Wäscheleine hängt.

«Fitz hat die Olympus aus den Hinterlassenschaften seines Vaters gefischt», erklärt Marek. «Ich kann ihn nicht davon überzeugen, sie gegen eine digitale Spiegelreflex einzutauschen. Er hat keine große Ahnung und die meisten Bilder gelingen ihm nicht.»

«Entschuldigung», mischt sich Fitz ein, «meine Aufnahmen sind Meisterwerke.»

«Ich hab’s manchmal schwer, mit diesem Nostalgiker.»

«Ich bin nicht nostalgisch», sagt Fitz, «ich verweigere mich.»

«Und es wird schlimmer mit der Zeit», fügt Marek hinzu, Harald lacht.

«Ich halte es für weise», sagt Fitz, «sich nicht auf Gedeih und Verderb der digitalen Transformation auszuliefern. Viele laufen rum und sehen ihr Leben auf einem Bildschirm. Es ist sinnvoll, wenn ein paar auf die Bremse treten.»

Marek schießt währenddessen mit seinem Telefon ein Bild vom Ozean. «Siehst du», sagt Fitz, «wir verlieren das Jetzt. Jeder Moment wird sofort geteilt und verliert seine Substanz. Das führt unweigerlich zu einer Entweltlichung. Leute nennen das the permanent now, aber ich glaube vielmehr, dass wir gerade diesen Kontakt zum Augenblick verlieren. Die Leute machen sich Sorgen über den Klimawandel, dabei zerstören wir die Zeit an sich.»

«Ich habe darüber einen interessanten Artikel im ‹New Yorker› gelesen», sagt Eva. «Und auch meine Patienten erzählen mir, dass ihnen die Zeit fehlt, es ist ein Gefühl, als wären sie ständig auf der Flucht.»

«Entschuldigung», sagt Marek, «du hast gerade selbst Bilder geschossen», und erhält keine Antwort.

Die Kinder, die die Katze gequält haben, laufen in sicherem Abstand an ihnen vorbei und strecken Fitz die Zunge raus. Die Katze, immer noch ohne Namen, liegt inzwischen auf seinen Oberschenkeln und schläft. Marek liebt diesen Menschen, der die Welt beherrschen könnte, würde er es darauf anlegen. Er greift immer wieder nach seiner Hand und bestellt neuen Raki. Sie essen Kleinigkeiten, gebackenen Feta, frittierte Heringe, Moussaka. Im Hintergrund spielt Musik.

«Es kann nicht sein, dass die Katze keinen Namen hat», sagt Eva und schenkt nach.

«Es ist nicht so leicht», antwortet Fitz.

«Wir haben es bei unseren drei Kindern auch hinbekommen», meint Harald.

«Wir sind für alle Vorschläge offen», antwortet Marek. Fitz ist das offensichtlich nicht recht.

«Ein Name muss sich finden, ein kosmisches Zeichen.»

«So wie jetzt Joni Mitchell spielt», sagt Eva.

«Was?»

«Wir reden darüber, wie die Katze genannt werden soll, auf der schönsten Insel Europas, das Essen ist wunderbar, die Sonne geht unter und aus den Lautsprechern kommt Joni Mitchell. Sie sollte Joni Mitchell heißen.»

Fitz nimmt die Katze hoch, «Gefällt dir das? Joni Mitchell?» Die Katze zeigt keine klare Reaktion.

«Ich mag Joni Mitchell», sagt Marek.

«Ich habe nie wirklich einen Song von ihr gehört», antwortet Fitz.

«Meine Frau ist verrückt nach ihr. Für mich ist das zu düster. Ich höre eher Bach.»

Eva singt leise einen Song mit heller Weinstimme. Es klingt traurig und abgeklärt, so als ob es ihr nicht möglich sei, einen bestimmten Schmerz von früher zu vergessen. Aber es lohnt auch nicht mehr, deswegen zu weinen.

«Damit ist es also beschlossen, sie heißt Joni Mitchell», sagt Fitz, legt die Katze zurück in seinen Schoß und sie bestellen noch eine Flasche Wein.

Die nächsten drei Tage sind wie ein Hollywoodfilm. Eva trägt weiße Sommerhüte mit breiter Krempe. Fitz schwimmt immer weiter aufs Meer hinaus. Kaum Wolken, Campari mit Soda und Zitrone. Lektüre an Sandstränden. Sie fahren die Serpentinen mit offenem Verdeck entlang. Inzwischen spricht Marek mit Harald über drei neue Projekte. Er war mit seinen Auftraggebern zu Beginn nicht befreundet; jetzt, wo sie sich nähergekommen sind, kündigt sich eine große Zukunft an. Der finale Durchbruch, mit dem er sich endgültig etablieren wird. Er kann nicht umhin, sich einzugestehen, dass Fitz einen großen Anteil daran hat. Fitz mit der Katze, Fitz mit den Kunden. Sowohl als auch. Die Erziehung eines Lebewesens, die Geselligkeit eines Dinners. Marek greift nach der Hand seines Freundes und will sie nie mehr loslassen. Sie essen wieder in dem blau-weißen Fischerdorf, der Wind ist salzig, Joni Mitchell, die von allen nur noch Mitch genannt wird, ist immer dabei. Sie wagt sich inzwischen weiter fort, kommt aber schnell wieder. Noch kann man alle Rippen zählen. Fitz redet mit Eva weiter über Literatur. Sie fährt sich durch ihre schwarzen Haare und Fitz sagt, dass sie in diesem Licht aussieht wie Isabella Rossellini. Sie lacht. Es endet damit, dass Fitz und Marek im Privatjet mitfliegen dürfen. Fitz ist es recht, weil er Mitch bei sich tragen kann. Ihr bekommt das Fliegen nicht und sie übergibt sich auf die roten Ledersitze. Sie essen noch im Lieblingsrestaurant des Ehepaars in Berlin-Schöneberg, bevor sie sich letztendlich mit einer Art Wehmut trennen. Marek sieht Fitz auf der Heimfahrt in der S-Bahn an. Fitz schaut nicht zurück, er blickt aus dem Fenster auf Berlin.

Die Katze schläft in dieser Nacht zwischen ihnen, was sie auf Kreta nicht durfte. Aber Fitz besteht darauf. «Sie darf jetzt nicht alleine sein.» Marek ringt ihm das Versprechen ab, dass es bei diesem einen Mal bleibt. Es überrascht ihn, dass er streng ist und Fitz zärtlich. Am nächsten Tag, es ist ein Samstag, kauft Fitz in einer Tierhandlung alles, was nötig ist. Danach geht er in den Supermarkt. Der Kühlschrank war nach ihrer Ankunft leer und Marek hat gesagt: «Ich habe richtig Lust auf dein Risotto.» Sie bleiben am Abend allein. Machen einen Spaziergang. Essen ein Stück Kuchen, Fitz schießt Bilder und macht sein Risotto mit Pilzen und zu viel Parmesan. Danach schauen sie einen Film mit Steve Martin. Mitch schläft auf einem Kissen im Wohnzimmer und niemand spricht darüber, dass Fitz am Montag kündigen wird.

Fitz checkt seinen Look einmal im Spiegel. T-Shirt, Jeanshemd, Schuhe, schneeweiß. Er schnallt sich den Rucksack auf, gibt Mitch einen freundlichen Stoß mit dem Fuß und sagt zu Marek, der noch am Tisch Zeitung liest: «Ich werde heute also kündigen. Wir sollten am Abend in ein gutes Restaurant gehen.» Er küsst seinen Freund, der noch die geschlossene Tür anschaut, als Fitz auf dem Fahrrad schon um die nächste Ecke gefahren ist – verwundert, nachdenklich, unsicher, was als Nächstes passiert, und dennoch ist er hoffnungsvoll. Dass etwas anfängt.

Es sind, wie jedes Mal, gut zehn Kilometer zum Tempelhofer Feld. Fitz atmet tief ein, stellt sich auf dem Fahrrad auf. Er fährt schneller als gewöhnlich.

Er fühlt sich wie ein Hund im Park, dem gleich die Leine abgenommen wird. Er stolziert in die Agentur hinein, geheiligt vom Urlaub, alle bemerken, wie braun er geworden ist, und als sein Chef ihn zu sich ruft, um ihm eine To-do-Liste zu übertragen, sagt er: «Franz, wir sollten reden.»

Franz ist ein kugelrunder Mann mit einem üppigen Busch Haupthaar, der auf die schlechte Neuigkeit hektisch reagiert. Er hat Fitz damals mehr oder minder aus einer Laune heraus engagiert. Sicherlich gab es unter den zahlreichen Bewerbern einige, deren Expertise die von Fitz bei Weitem übertraf. Aber Fitz machte keinen Hehl aus seiner Homosexualität, und Franz wollte ihm eine Chance geben. Genauso wie er wollte, dass andere seinem Sohn eine Chance geben würden, der sich erst am Samstag vorher bei ihm und seiner Frau geoutet hatte. Dass dieser Mann also, gerade aus dem Urlaub zurück, die Frechheit besitzt zu kündigen, gefällt Franz gar nicht. Er ist es nicht gewöhnt, dass etwas kommt, das er nicht hat kommen sehen.

Fitz entschuldigt sich recht aufrichtig, kann aber eine Spur Schadenfreude nicht verbergen, dass er der gesicherten Existenz aus eigener Entscheidung heraus entkommt. Franz zetert und blickt Fitz nicht in die Augen, er beginnt zu schwitzen, läuft auf und ab – «es ist ja auch wirklich eine sehr schlechte Zeit zu gehen, die Aufträge, die Kunden» –, aber Fitz bleibt unbeirrt und lächelt, als er das Büro verlässt. Er lässt seinen Blick über den Raum und die 76 Mitarbeiter streifen, hört das geschäftige Rauschen und freut sich, dass keiner von ihnen weiß, dass er keiner von ihnen mehr ist. An diesem Tag, auf dem Weg nach Hause, scheint ihm jeder Passant, an dem er vorbeifährt, auf dem Pfad in eine gute, in eine große Zukunft zu sein.

Der letzte Monat im Büro fliegt vorbei, Fitz fühlt sich, als würde der Sommer beginnen. Die Kollegen nehmen seinen Abgang hin, aber keiner freut sich. Manche finden es übel, sie fühlen sich im Stich gelassen, haben Angst, es ihm gleichzutun, und verachten ihn für seinen «Mut». Sie gehen noch ein paar Bier mit ihm trinken, aber auch der Alkohol kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sie in den viereinhalb Jahren keine Freunde geworden sind, so wie auch die anderen keine Freunde sind. Auch wenn man sich den Arbeitstag über durchaus etwas zu sagen hat, wichtig ist das nie.

Als Fitz also zum letzten Mal geht, der Schreibtisch und die Schubladen leer sind, im Kühlschrank nichts mehr seinen Namen trägt und er die Lampe ausschaltet, wird er nicht wehmütig. Die Geschenke der Kollegen (Keramikfrösche?!, eine Flasche «sehr besonderes Bier», ein Schweden-Krimi etc.) nimmt er hin, umarmt, verschwindet und ist keinen Deut traurig, nicht wütend, nur frei, mit dem Leben davongekommen, unterwegs in eine andere Zukunft, die sich von der schlechten Vergangenheit unterscheidet, unterscheiden muss. Er wird die Namen der Kinder vergessen und Telefonnummern werden Relikte im Smartphone.

Ferdinand hat zwei doppelte japanische Whiskys bestellt. Er wartet, die Zigarette im Mund. Die Bar ist noch nicht gut besucht, deshalb hat Ferdinand die Sessel auf dem Podest am Fenster bekommen.

«Du Held», ruft er Fitz zu, umarmt ihn und bekommt einen Kuss auf den Wangenknochen. Fitz stellt die Tasche mit Geschenken hin und wirft ihr einen verächtlichen Blick zu. «Wir müssen dafür sorgen, dass wir das alles im Laufe der Nacht loswerden», sagt er und führt die Frösche vor. Ferdinands Bart ist dicht geworden, seitdem ihm Fitz die Bürste geschenkt hat: «Wenn du es damit ernst meinst, dann tu etwas dafür.»

Ihre Freundschaft hat an der Uni begonnen. Ferdinand schlief damals in seinem Auto auf dem Parkplatz einer Bank, weil er sich nicht die Mühe machen wollte, eine Wohnung zu suchen oder zu finden. Sie trafen sich zufällig auf den Gängen der Uni und kamen über einen Aushang zu einer Heidegger-Leserunde ins Gespräch, an der beide Interesse bekundeten, zu der sie aber nie hingingen. Fitz hatte ein Zimmer frei, Ferdinand erzählte ihm von seiner Zeit in Guatemala und davon, dass er noch eine Flasche Rum im Wagen hätte. Er zog am nächsten Tag ein. Wobei sein Zimmer sich erst langsam füllte, und immer nur mit Dingen, die er auf der Straße fand oder auf Partys klaute.

«Wie fühlt es sich an?», will Ferdinand wissen.

«Ich bin frei, es ist großartig.»

Natürlich hat auch Ferdinand, wie wohl alle, mal mit dem Gedanken gespielt, seinen Job hinzuwerfen. Aber seine Absichten gingen nie darüber hinaus, führten nur zu einem anderen Job, gleich oder ähnlich wie der alte. Ferdinand ist klug, sicherlich, ein Verstand wie eine Rasierklinge, auch besitzt er Fähigkeiten, die einem Talent gleichen, aber er ist zudem ein übler Realist, der der Realität eher durch Drogenkonsum und nicht durch seine Fantasie entrinnt. Er weiß, dass die Welt von Halsabschneidern regiert wird, und geniert sich darum nicht, sich zu nehmen, was er will, ohne sich über die Mittel Sorgen zu machen. Vom Glauben an etwas Größeres hat er keine Ahnung. Gerade darum erscheint ihm Fitz in diesen Tagen wie ein Faszinosum. Er, der eigentlich ängstlich ist, vorsichtig bis zur Dummheit. Natürlich teilen sie gewisse radikale Gedanken, die sie mit linker Literatur untermauern, aber Fitz kommt ihm zuweilen zu verkitscht vor. In einem seiner Notizbücher hat Ferdinand einmal eine Aussage von Werner Herzog über Klaus Kinski vermerkt, die ihm auch auf Fitz zuzutreffen schien. Etwas darüber, dass sich Kinski bei den Dreharbeiten zu «Aguirre» und «Fitzcarraldo» tunlichst vom Regenwald ferngehalten hat. Ein einziges Mal nahm er sich einen Fotografen, um mit ihm fünfzig Meter in den Wald hineinzugehen. Dort sollten Hunderte Bilder gemacht werden, um zu beweisen, wie sehr er mit der Wildnis verbunden war. Die Posen, die Haltung waren wichtiger als der Dschungel.

Ihr gemeinsamer Freund Dominik hat Fitz einmal einen Schisser genannt, und Ferdinand hatte nur halbherzig widersprochen, während er eine neue Line präparierte. Und jetzt ist es dieser Mensch, der den Absprung wagt. Der eine vielversprechende Karriere aufgibt, um einer halbgaren Kindheitsfantasie zu folgen. Was fällt ihm nur ein?

Der Abend mäandert. Geschichten in Fetzen, Pläne an der Decke. Sie reden über die Serie, die Fitz jetzt endlich fertig schreiben will: Ferdinand kennt sich damit ganz gut aus, einige Wendungen und Figuren hat ganz klar er erfunden, das kann Fitz nicht abstreiten. Es kann sogar sein, dass Ferdinand überhaupt der Erste war, dem Fitz von der Serie erzählt hat und der dann ein paar Seiten lesen durfte. Damals, in der Küche ihrer Wohnung, es war schon spät und das Bier fast aus, klang es zunächst so, als würde Fitz ein unerhörtes Geheimnis beichten. Er beugte sich vor und flüsterte. Ferdinand dachte, er würde sich wegen seiner Ambitionen schämen. Fitz kam immer wieder darauf zu sprechen, immer, wenn es schon spät war und sie sich bereits anderes gestanden hatten, wie Masturbationsfantasien oder den neuesten Crush.

«Also, es ist diese Geschichte, du weißt, es gibt diesen Typen, Noah, und der hat immer gedacht, dass etwas wirklich schiefläuft mit ihm. Dass er eine Psychose hat oder so was, weil er Stimmen hört und Albträume hat, das wirkt alles so real und er denkt, dass er verrückt ist, aber das stimmt gar nicht, weil er trifft eines Tags diesen Jungen, Daniel. Und Daniel gehört zu diesem Geheimbund, der Dämonen jagt. Jedenfalls ist Daniel ein Empath, also er kann spüren, wie es anderen geht, und er kann deren Gefühle beeinflussen, ladida, aber Noah, der in dem Café arbeitet, in dem Daniel gerade sitzt, kann er nicht spüren. Verstehst du, Daniel hat sein Leben lang die Gefühle von allen anderen gespürt und war sich immer unsicher, was er selbst fühlt, und dann trifft er diesen Jungen und er kann ihn nicht spüren und das verwirrt ihn total.» Während er sprach, beobachtete Fitz Ferdinand genau. Sobald sich in dessen Gesicht eine Emotion zeigte, Verwunderung oder Komik, erklärte er nur noch mehr. «Also geht Daniel zu den Leuten vom Geheimbund und sagt denen, ‹Hey ich habe jemanden getroffen, den ich nicht fühlen konnte›, und die rasten total aus, weil sie wissen, was das bedeutet. Noah kann nämlich mit Dämonen sprechen, das sind die Stimmen, die er hört. Und vor tausend Jahren oder so gab es viel mehr Leute wie ihn, die das auch konnten, und einer von ihnen wurde eben supermächtig, denn er konnte die Dämonen auch kontrollieren, verstehst du, und er war ein hundsgemeiner Kriegsherr und wollte die Welt beherrschen, und nur mit aller Macht und der größten Armee, die es jemals gab, gelang es den Leuten, ihn zu stoppen, und darum wurde dieser Geheimbund gegründet, denn alle hatten Angst, dass so was noch einmal passiert, und deshalb wurden alle Leute, die diese Fähigkeit besitzen, gejagt und getötet, und für tausend Jahre gab es niemanden mehr, der so war, nun ja, eben bis Noah.»

Es dauerte nicht lang, bis sie ganze Abende vor dem Rechner saßen, um Plotpoints zu entwickeln. Ferdinand lernte seinen störrischen Freund auf diese Weise gut kennen, dadurch, welche Geschichten er erzählen wollte und wie sich die Figuren verhielten. Ferdinand machte einmal den Scherz, dass er länger an der Serie gesessen habe als an seiner Bachelorarbeit. Fitz bekam eine 1,3 und ein zweiseitiges Gutachten, das sie mit Gin begossen. Erst nachdem sie nach Berlin gezogen waren, erst nachdem Fitz Marek kennengelernt hatte, verlor die Serie an Relevanz. Sie sprachen darüber, aber nicht über die Details. Sondern über das, was sie ihnen bedeutete. Eine Geschichte vergangener Heldentaten, aus einer Zeit, als sie es einmal fast geschafft hatten. Wenn Ferdinand daran dachte, fiel ihm auf, wie jung sie damals gewesen waren und dass sie Ideale gehabt hatten.

Erst letztes Silvester fing Fitz wieder ernsthaft damit an. Ohne einen Auslöser zu benennen, setzte er sich auf einer Party neben Ferdinand und stellte ihm eine Frage über den Background der Hauptfigur, über den sie sich immer uneins waren.

Dass er es jetzt richtig versucht, ist für Ferdinand keine logische Konsequenz, sondern ein Abstecher mit ungewissem Ziel. Es freut ihn nur, dass sie wieder über die Serie reden.

Als Fitz mit neuen Drinks zurückkommt, flippt Ferdinand gerade durch den Tinderkatalog. «Ich brauche ein Mädchen», sagt er dazu. «Es ist schon eine Weile her.»

Fitz erinnert sich schlecht an Katrin, die er kaum zweimal zu Gesicht bekommen hatte, bevor sie unwiderruflich verschwand.

«Ich hab’s halt nötig», sagt Ferdinand knapp.

Fitz hat natürlich keine Ahnung von der App. Es wundert Ferdinand manchmal, dass Fitz, der in der Werbung arbeitet, gearbeitet hat, nie wieder arbeiten wird, ein derartiges Desinteresse gegenüber neuen Entwicklungen pflegt, das zuweilen in offene Feindseligkeit umschlägt.

«Es ist doch ganz unnötig, als ob wir noch ein Gadget brauchen, um aneinander vorbeizuleben. Lass uns die Bar wechseln», sagt er.

In dieser Nacht ziehen sie mehrmals weiter. Sie treffen Dominik, der erst um halb zehn von der Arbeit kommt. Mit ihm gehen sie kegeln, jeder Pudel bedeutet einen Schnaps. Fitz bestellt konsequent Berliner Luft, weil er nicht so viel wie die anderen verträgt. Beim Billard in einer anderen Bar erzählt Dominik dann, dass seine Affäre zu Ende ist, so ganz nebenbei. Fitz sagt: «Es tut mir leid», aber das will Dominik nicht hören. Er zuckt mit den Schultern und ist froh, dass sie wenig Stress gemacht hat. Sie machen sich gern darüber lustig, dass Dominik von ihnen am besten aussieht. Eine klare zehn. Also sind sie oft neidisch, und so erklärt sich vielleicht auch, dass Fitz einmal zu ihm gesagt hat: «Du bist schrecklich unromantisch», nachdem Dominik mit einem Mädchen auf der Clubtoilette gevögelt hatte, ohne ihr danach einen Drink zu kaufen. Ferdinand versenkt die Drei. Es ist dann so spät, dass es egal ist, wer geht, wer bleibt. Sie winken sich auf der Sonnenallee noch zu. Fitz steigt in ein Taxi. Er ist nicht unglücklich, aber auch nicht happy.

Verkatert wacht Fitz auf dem Sofa auf. Er wollte in der Nacht Marek nicht wecken. Er wusste, dass sein Freund heute irgendeine Nachbesprechung hat. Er reibt sich die Stirn und sieht, dass ihm Ferdinand um 6:30 Uhr noch eine Nachricht geschrieben hat, kryptisch und ohne Relevanz für das Jetzt. «My Girl, natürlich My Girl, und ein Junge tritt in einen Bienenstock.» Trotz seines kläglichen Zustandes steht er auf, putzt sich erst die Zähne, geht duschen und zieht sich an. Dann Tee (Earl Grey, Milch, Honig), Joghurt (Vanille-Mango) und eine Zigarette auf dem Balkon, die er sofort bereut.

«Herr Krümel: Das ist der erste Tag vom Rest deines Lebens, nutze ihn» steht auf einem Zettel auf dem Küchentisch. Sweet Marek. Fitz nimmt das Papier, zerknüllt es und wirft es in Richtung Mülleimer. Er setzt sich an den Schreibtisch, räumt auf, ordnet Papiere. In der Lampe tauscht er die Glühbirne, die vor ein paar Tagen durchgebrannt ist.

Dies ist er, der Moment. Ein Augenblick, den er aus seiner Vorstellung kennt. Noch in Jahren wird er sagen: «Hier hat es begonnen.» Es juckt ihn an der Nase, all die freie Zeit türmt sich vor ihm auf. «Erst wenn ich den elenden Job hinter mir gelassen habe», hat er sich gesagt, «erst dann beginne ich, damit der Geschmack gleich richtig ist und nicht müde oder bitter.» Er öffnet das Dokument. Er macht sich noch einen Tee, er liest die Nachrichten. Er stellt sich eine Playliste zusammen, er ändert den Font des Titels. Er raucht noch eine Zigarette. «Wie läuft es?», fragt Ferdinand. «Klasse», antwortet Fitz. Die Uhr zeigt 15:56. Er ist hungrig. Marek kommt nach Hause. Sie gehen Burger essen, sie gehen mit Freunden trinken, sie gehen nach Hause. «Ich muss morgen wieder an meiner Serie arbeiten.» Sie schlafen miteinander. Fitz wacht mit einem Kater auf.