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Der neue Sonnenwinkel
– 46 –

Ein unmögliches Paar?

Claire kann Achim nicht lieben – oder etwa doch …

Michaela Dornberg

Impressum:

Epub-Version © 2020 KELTER MEDIA GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert

Originalausgabe: © KELTER MEDIA GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: https://ebooks.kelter.de/

E-mail: info@keltermedia.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74094-219-9

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Für einen Augenblick war Rosmarie Rückert wie erstarrt. Zuerst der Schatten, dann der dumpfe Knall …

War es wirklich geschehen, oder hatte sie sich alles nur eingebildet, getragen von dieser Angst um Heinz, die plötzlich da gewesen war?

Rosmarie versuchte, sich zu beruhigen und schob ihr Verhalten darauf zurück, dass halt alles ein wenig zu viel gewesen war – die Auflösung des großen Villenhaushalts in Hohenborn, der Umzug in den Sonnenwinkel …

Rosmarie war eine Frau, die sehr gut organisieren konnte, die tatkräftig war. Doch wenn sie ehrlich war, dann war alles doch ziemlich anstrengend gewesen und ihr war mehr als nur einmal bewusst geworden, dass sie nicht mehr die Jüngste war.

Der Schatten …

Der dumpfe Knall, Schlag, was immer es auch gewesen war, es hatte sie beunruhigt.

Warum stand sie jetzt nicht einfach auf, um nachzusehen? Bis zur Terrassentür, von wo aus es gekommen war, waren es nur ein paar Schritte!

Rosmarie wusste nicht, was sie zurückhielt. Als es allerdings immer unerträglicher wurde, stand sie entschlossen auf, ging zur Terrassentür, riss sie auf, und dann …

Rosmarie schluckte, denn mitten auf den Steinen lag ein großer schwarzer toter Vogel!

Das war jetzt nichts Weltbewegendes, so etwas geschah immer wieder, das hatten sie auch bei der Villa gehabt. Warum war sie jetzt deswegen so durch den Wind?

Rosmarie wusste es!

Und das hing mit dem zusammen, was Heinz ausgesprochen hatte, ehe er ins Schlafzimmer gegangen war, um sich ein wenig auszuruhen.

Sie hatte seine Worte noch im Ohr, die sie so sehr beunruhigt hatten – »solange noch Zeit ist«, dann habe sie nicht mehr diesen Klotz am Bein, jetzt sei alles viel überschaubarer, es könne immer etwas passieren, niemand habe das ewige Leben …

Diese Worte hatten Rosmarie beängstigt, weil sie sich bereits seit einiger Zeit Sorgen um Heinz machte. Es war doch nicht normal, dass ein Mann wie er dauernd müde war, antriebslos.

Und dann jetzt der schwarze Vogel, es musste ein Rabe sein, und er war besonders groß.

Doch das war es nicht, was ihr jetzt durch den Kopf ging. Es war ein Zeichen …, sagte man den Raben nicht nach, sie seien Unheilsbringer?

Die Sorge um Heinz, seine Worte, und nun der Rabe!

Das hatte etwas zu bedeuten, und sie spürte das Unheil förmlich, es nahm ihr den Atem.

Rosmarie steigerte sich in etwas hinein, was sie unter normalen Umständen nicht so gesehen hätte. Es wäre dann für sie ein toter Vogel gewesen, und es hätte ihr leidgetan, dass er gegen die Scheibe geprallt war.

Aber so?

Sie bekam nicht mit, dass sie nicht mehr allein in dem sehr geschmackvoll eingerichteten Raum war. Erst als sie eine Stimme hörte, wirbelte sie herum.

Es war Meta, ihre treue Seele, die mit ihnen in den Sonnenwinkel gezogen war und für die sie extra eine Einliegerwohnung hatten bauen lassen, denn ein Leben ohne Meta wäre für Rosmarie und Heinz unvorstellbar. Meta gehörte zu ihnen, sie war mittlerweile längst so etwas wie ein Familienmitglied geworden.

Rosmarie wurde bewusst, dass sie schrecklich aussehen musste, als Meta sich ganz besorgt erkundigte: »Frau Rückert, geht es Ihnen nicht gut?«

Rosmarie versuchte sich zusammenzureißen, sie konnte Meta doch jetzt nicht erzählen, weswegen sie so durch den Wind war, deswegen deutete sie auf den auf der Terrasse liegenden toten Vogel.

»Das arme Tier«, bedauerte Meta, »wir müssen unbedingt etwas auf die Scheiben kleben, was die Flugrichtung der Vögel ändert, denn sonst werden wir häufig solche Zwischenfälle haben, und das wäre schade um die Vögel. Aber der Garten ist groß, die Scheiben sind es ebenfalls …«

Rosmarie hatte jetzt nicht die Nerven, sich das anzuhören, und sie war froh, dass Meta ihren Satz abbrach, um ihn fortzusetzen: »Ich kümmere mich gleich darum. Eigentlich bin ich gekommen, um Sie zu fragen, ob Sie mich noch brauchen, weil ich sonst gern meine Wohnung weiter einrichten möchte. Sie ist so wunderschön, und ich weiß überhaupt nicht, wie ich Ihnen dafür danken soll, dass Sie das möglich gemacht haben.«

Rosmarie strich ihr über den Arm.

»Meta, wenn sich jemand bedanken muss, dann sind wir es doch, mein Mann und ich. Es macht uns sehr glücklich, dass Sie mit uns hergezogen sind.«

Meta wurde ein wenig verlegen, winkte ab. »Etwas Besseres hätte mir doch überhaupt nicht passieren können. Ich fand den Sonnenwinkel mit diesem unglaublichen See, der fantastischen Ruine Felsenburg als über allem thronende Kulisse schon immer toll. Ich hätte allerdings nicht im Traum daran gedacht, dass ich einmal hier leben würde. So etwas kann sich ein Normalsterblicher überhaupt nicht erlauben.«

Rosmarie schämte sich beinahe ein wenig, dass sie alles als eine Selbstverständlichkeit hinnahm und Meta reinweg aus dem Häuschen war, dabei bewohnte die bloß eine Einliegerwohnung.

Sie sagte, dass man sie heute nicht mehr benötige, dass Heinz und sie ja in den ›Seeblick‹ gehen würden.

»Aber wenn Sie den Vogel …«

Rosmarie musste den Satz überhaupt nicht beenden, denn Meta versprach, sich sofort darum zu kümmern.

Rosmarie wollte überhaupt nicht wissen, was nun mit dem toten Vogel geschehen würde. Sie wollte ihn nur nicht mehr sehen, also ging sie nach ein paar Worten, sie hatte es eilig ins Schlafzimmer zu kommen. Und dort sah sie, dass sich Heinz angezogen quer übers Bett geschmissen hatte, und er schlief.

War er so blass und sah krank aus? Oder sah sie es nur so, weil der Gedanke sie bereits seit einiger Zeit nicht losließ, dass mit ihm etwas nicht in Ordnung sei.

Sie stellte sich vor das Bett, blickte zu ihm hinunter.

Ihm durfte nichts passieren! Sie hatten sich doch gerade erst gefunden und hatten ihre Gefühle füreinander entdeckt, und das nach all diesen Jahren, und sie hatten noch so unendlich viel vor. Sie wollten gemeinsam mit einem Camper die Welt erobern, so zu reisen, das war ihre neue Leidenschaft, und sie würden nur auf sich angewiesen sein, und natürlich wollten sie diesmal Beauty und Missie mitnehmen, und die Wohnung in Paris wartete auf sie, der Urlaub mit Cecile in der Provence stand bevor. Rosmarie freute sich schon sehr auf die unendlichen Lavendelfelder, die mit ihrem Duft der ganzen Landschaft eine gewisse Leichtigkeit, beinahe Fröhlichkeit gaben, und die das Herz mit Freude erfüllten. Zumindest ihr ging es so, und selbst wenn es nicht so wäre. Sie liebte Cecile wie eine eigene Tochter, und um Zeit mit dieser liebenswerten jungen Frau verbringen zu dürfen, würde sie sich mit einer armseligen Hütte zufriedengeben.

Rosmarie beugte sich zu ihrem Mann hinunter, strich eine Haarsträhne aus seinem Gesicht, berührte sanft seine Wange.

Hatte er es mitbekommen, oder träumte er gerade etwas, was ihm ein leichtes Lächeln auf die Lippen zauberte?

Sie wusste es nicht, sie wusste nur, dass sie ihn nicht verlieren wollte, und sie würde darauf drängen, dass er sich bei Frau Dr. Steinfeld untersuchen ließ. Und erst danach würde sie aufatmen, oder …

Nein!

Rosmarie rannte beinahe panisch aus dem Schlafzimmer. Sie wollte sich nicht von diesen Gedanken einholen lassen, das mit dem Vogel hatte überhaupt keine Bedeutung. Es war ein Aberglaube, in schwarze Vögel, speziell in Raben, etwas hineinzuinterpretieren.

Für ganz unterschiedliche Kulturen wurde dem Raben die Kraft der Magie zugeschrieben. Und war es jetzt nicht eine Art von Magie, die gerade in ihrem Leben stattfand? Von der erdrückenden und kalten Pracht der Villa waren sie in dieser Haus gezogen, in die Helle, die Leichtigkeit. Und in der indianischen Tradition wurden viele Dinge als schwarz bezeichnet, aber niemals das Böse …

So versuchte Rosmarie sich zu beruhigen, und sie begann sich zu beruhigen, als Meta noch einmal ihren Kopf zur Tür hereinsteckte, um ihr zu sagen, dass der Vogel weg sei.

Raben waren klug, sie hatten gerade bei den Indianerstämmen eine große Bedeutung, doch genug davon, sie lebte mit ihrem Heinz im Sonnenwinkel, und genau da hoffte sie gemeinsam mit ihrem Mann noch viele wundervolle Jahre zu verbringen, in Liebe, mit Zärtlichkeit, Nähe …

Rosmarie wollte jetzt keinen Lebensplan aufstellen, weil sie aus eigener Erfahrung wusste, dass so etwas niemals funktionierte.

Sie trat nochmals an die Terrassentür, es war eigentlich nur aus einem Reflex heraus, weil sie doch wusste, dass sie den toten Vogel dank Meta nicht mehr sehen würde. Doch dafür sah Rosmarie etwas ganz Unglaubliches. An einer Stelle des grauen Himmels zeigte sich ein blutroter Fleck, die untergehende Sonne schickte ihre letzten Strahlen hinunter zur Erde.

Ja, dachte Rosmarie, und eine unglaubliche Erleichterung erfüllte sie in diesem Augenblick. Wenn man an Zeichen glauben wollte, dann war das jetzt eines, eines für einen Neubeginn voller Schönheit, aber auch Kraft und Verheißung …

Sie entschied sich dafür, nicht mehr an den toten Vogel zu denken, sondern das, was sie da gerade sah, in ihrem Herzen zu behalten …

*

Eigentlich hatte Alma mit einer Freundin aus ihrem Gospelchor einen Einkaufsbummel in Hohenborn machen wollen. Und sie hatte sich sogar darauf gefreut, weil sie sich neue Schuhe kaufen wollte. Doch diese Verabredung sagte sie ab, weil sie viel Wichtigeres zu tun hatte.

Sie war aufgeregt und konnte es noch immer nicht glauben, dass sich für sie ein Traum erfüllen würde. Das, worüber sie sich so sehr ihren Kopf zerbrochen hatte, ohne eine Lösung zu finden, wurde wahr. Und es hatte nur einiger Worte bedurft. Sie dankte dem Himmel, eine so wundervolle Chefin zu haben, die Frau Doktor hatte doch wahrhaftig sofort zugestimmt, als sie von Pia, dem obdachlosen Mädchen, gesprochen hatte und ihrem Wunsch, sie am liebsten bei sich aufzunehmen. Wirklich, es war unglaublich. Als sei es die selbstverständlichste Sache der Welt, hatte sie gesagt, sie solle Pia holen. Und genau das würde sie jetzt tun.

Ach, die Frau Doktor, Alma war voller Dankbarkeit, wenn sie an die dachte. Einen so guten Menschen hatte sie noch nie zuvor kennengelernt, und wie sie sich um ihre Patienten kümmerte, sie tat viel mehr als sie musste, sie schaute nicht auf die Uhr, und Alma war sich sicher, dass sie auch nicht alles aufschrieb, sondern vieles umsonst machte, wenn sie wusste, dass die Krankenkassen es nicht übernehmen würden. Alma wollte ja überhaupt nicht mehr daran denken, wie viel Gutes sie von der Frau Doktor erfahren hatte. Ohne die würde sie jetzt nicht mehr leben, in dem düstersten Moment ihres Lebens war die Frau Doktor ihr wie ein Engel erschienen. Sie würde es nie vergessen, und wie ein Engel wollte sie jetzt für Pia alles in die Hand nehmen, das war eine kleine Wiedergutmachung für alles Gute, was sie nicht nur erfahren hatte, sondern auch täglich erfuhr. Sie hatte im Doktorhaus wirklich den Himmel auf Erden. An Pia konnte sie etwas Gutes tun. Doch bei der Frau Doktor? Sie wurde ganz traurig, als ihr bewusst wurde, dass sie deren Herzenswunsch nicht erfüllen konnte. Sie besaß keine magischen Kräfte, sonst hätte sie den Herrn Lars Magnusson längst wieder in das Leben der Frau Doktor gezaubert. Auch wenn sie es sich nicht anmerken ließ, merkte Alma es täglich, wie sehr die Ärmste litt, sie hatte schließlich Augen im Kopf, außerdem musste man schon das Gemüt eines Fleischerhundes haben um nicht zu sehen, wie es die Frau Doktor innerlich vor Schmerz beinahe zerriss.

Weil sie sich wieder auf einem guten Weg befand, hatte sie dem lieben Gott verziehen und sich mit ihm ausgesöhnt. Das war erst, weiß Gott, nicht so gewesen, denn sie hatte sich immer wieder gefragt, warum sie die Zeche für den Leichtsinn, die Skrupellosigkeit ihres Exmannes hatte zahlen müssen.

Das war Schnee von gestern, sie hatte sich längst mit ihrem Schicksal ausgesöhnt, und die Vergangenheit tauchte nur noch selten in ihren Gedanken auf. Sie hatte eine wunderschöne Wohnung, ein Auto, doch das war nicht das Wichtigste. Sie hatte die beste Chefin der Welt, hatte ihren Gospelchor, hatte ihr Maltalent erkannt, und es waren sogar Galeristen hinter ihr her, um sie unter Vertrag zu nehmen. Doch das war nichts für Alma, sie wollte nicht die Welt erobern, sie strebte nicht nach Geld und Ruhm, das, was sie hatte, das reichte ihr, und wenn sie etwas von dem auf Pia übertragen konnte …

Alma stieg aus ihrem Auto, sie wusste, wo sie Pia finden konnte, und so schön der Park in Hohenborn auch war, heute hatte sie keinen Sinn für die wundervollen Bäume, Sträucher, die sorgfältig angelegten Pflanzungen aller Art.

Sie hatte sie zufällig entdeckt, und sie hatte sich auf unerklärliche Weise zu dem Mädchen hingezogen gefühlt. Sie hatte ihr Geld zustecken wollen, doch das nahm Pia nicht, für ein Getränk und belegte Brötchen hingegen war sie dankbar, und sie hatte auch nichts gegen die warme Wolldecke einzuwenden gehabt, die Alma ihr eines Tages mitgebracht hatte.

Anfangs war Pia ziemlich einsilbig gewesen, doch dann hatte sie deren Geschichte so nach und nach erfahren, und es war eigentlich zu viel, was sie hatte ertragen müssen, eine schwache Mutter, die sich schließlich umgebracht hatte, weil sie das perspektivlose Leben an der Seite eines prügelnden, trinkenden, rabiaten Mannes nicht mehr ertragen konnte. Pia war stark, sie war nicht zerbrochen, doch es war schon schlimm genug, dass sie sich jetzt mit Schuldgefühlen herumschlug, weil sie glaubte, sie hätte den Freitod ihrer Mutter verhindern können.

Abgründe über Abgründe …

Und es war so schrecklich, dass die wohlhabende Gesellschaft so überhaupt nichts von den Menschen mitbekam, die an deren Rande lebte, dahinvegetierte.

Pia …

Alma beschleunigte ihre Schritte, sie hatte das Mädchen so sehr in ihr Herz geschlossen, sie war wie eine eigene Tochter für sie, die sie leider nicht hatte. Doch wenn, dann könnte sie in Pias Alter sein.

Ein wenig atemlos kam Alma an der Stelle an, an der sie Pia immer getroffen hatte, an der Mauer am Ende des Parkes, geschützt von den Steinen und dem mächtigen Hortensienbusch.

Alma hatte so fest damit gerechnet, Pia zu treffen, dass Wellen der Enttäuschung sie durchfluteten. Sie hatte Mühe, ihre Tränen zurückzuhalten.

Wo war Pia?

Sie war nicht da, daran gab es keinen Zweifel, und sie konnte sich auch nicht unsichtbar gemacht haben. Dennoch suchte Alma den ganzen Ort ab, vergebens, es gab nicht das geringste Anzeichen dafür, dass sich hier jemand aufgehalten hatte, nicht einmal ein Fitzelchen Papier.

Ein wenig kopflos begann Alma herumzulaufen, hielt Ausschau, vergebens. Sie war allein auf weiter Flur, und sie wusste auch, dass ihr kaum jemand begegnen würde. Dieser Teil des Parkes war kaum frequentiert, und sie war auch zum ersten Male nur zufällig hergekommen, weil die efeuüberwucherte Mauer sie aus der Ferne fasziniert hatte, ja, und da hatte sie Pia entdeckt, und so war alles gekommen …

Wo war sie?

Diese Frage war in ihrem Kopf wie festgemeißelt, und sie hatte Mühe, einen klaren Gedanken zu fassen, und das war nötig, denn sie musste sie finden.

Alma begann durch den ganzen Park zu laufen, sie sah Spaziergänger, Mütter mit ihren kleinen Kindern, Menschen, die am Hundespielplatz auf den Bänken ringsum saßen und sich unterhielten.

Zu denen musste sie nicht gehen, die konnte sie alle nicht fragen, was sollte sie denn tun …

»Haben Sie Pia gesehen?«, in den Raum werfen?