Das Buch

Elin kann es nicht fassen! Ohne große Anstrengung ergattert sie ihren Traumjob in einem der weltweit größten Pharmaunternehmen. Nicht nur, dass sie in die Fußstapfen ihres verstorbenen Vaters tritt, nein, mit der Forschung kann sie möglicherweise ihrem schwerkranken Bruder helfen. Allerdings ist es nicht einfach, sich auf die Arbeit zu konzentrieren, seit sie dort Esra begegnet ist. Er sieht umwerfend aus und ist unglaublich charmant, aber irgendetwas scheint er vor ihr zu verbergen. Und jeder Schritt in seine Richtung treibt Elin mehr in die faszinierende sowie gefährliche Welt einer längst vergessenen Legende. Bis sie sich entscheiden muss: Wen soll sie retten – ihren Bruder oder ihre große Liebe?

Die Autorin

Katja Ammon

© privat

Katja Ammon wurde 1977 in Basel geboren, wo sie heute mit ihrem Lebenspartner und ihrem Sohn lebt. Die promovierte Physikerin veröffentlicht seit 2006 wissenschaftliche Artikel in Fachzeitschriften. Schon als Kind hat sie Geschichten lieber erfunden, als sie nur zu lesen. Heute ist das Kreative Schreiben ihre große Leidenschaft, und einige ihrer Kurzgeschichten sind bereits in Anthologien erschienen.

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Viel Spaß beim Lesen!

Katja Ammon

Herz aus Gold und Asche

Für Djordje und Ilija

Kapitel 1

Minutenlang stand ich am Fuß der Treppe, vor dem Hauptgebäude von Panazea, dem Pharmaunternehmen, für das schon mein Vater gearbeitet hatte. Ich konnte an nichts anderes denken, als an die Möglichkeit, dass Tante Sina vielleicht doch recht behielt mit ihren Anschuldigungen. Wenn sie es mir wenigstens einmal erklärt hätte, warum sie der Firma die Schuld am Tod meiner Eltern gab. Aber wenn ich sie danach fragte, sagte sie immer: »Das ist kompliziert, Elin«, und damit war das Gespräch beendet.

Ich brauchte diesen Job – und ich wollte ihn! Denn er beinhaltete ein Chemiestudium. Ein Traum, den ich angesichts unserer finanziellen Situation schon lange begraben hatte.

Mit weichen Knien stieg ich die weitläufige Treppe zum Haupteingang hoch und trat durch die automatische Drehtür ins Foyer. Ein schwacher Zitrusduft umfing mich. Der Eingangsbereich der Firma war gigantisch. Ein moderner Palast aus weißem und schwarzem Marmor. Ich schaute mich in der von Säulen eingefassten Halle um. Das Firmenlogo aus blank poliertem Metall prangte mir entgegen. Es hing vor einer schwarzen Wand, an der das Wasser wie ein dünner Vorhang plätschernd hinunterlief. Das warme Licht, das die Halle ausleuchtete, kam von unzähligen Spots, die wie ein Sternenzelt über mir funkelten.

Ich zupfte meinen Blazer zurecht und begab mich zur Anmeldung.

»Guten Morgen«, begrüßte ich die Dame hinter der Theke. »Mein Name ist Elin Bergmann, ich habe ein Bewerbungsgespräch mit Herrn Leva.«

»Guten Morgen, Frau Bergmann«, lächelte sie. »Nur einen Moment, bitte, ich melde Sie gleich an.« Sie hob den Hörer ab und hielt die Hand auf die Sprechmuschel. »Sie können noch einen Moment dort drüben Platz nehmen.«

Ich schaute über meine Schulter und entdeckte ein paar hohe Topfpflanzen, die um eine Ledergarnitur gruppiert waren. »Vielen Dank.«

Beim Wartebereich angekommen, ließ ich mich auf der Couch nieder und griff mit zittrigen Händen nach einer Firmenbroschüre.

»Frau Bergmann?«

Ich fuhr hoch. Eine Frau mittleren Alters tauchte wie ein Wirbelwind mit ausgestreckter Hand neben mir auf. »Deiss«, lächelte sie. Die kurze blondierte Dauerwelle wippte noch nach. Ihre Fröhlichkeit steckte mich sofort an. Unauffällig strich ich die schwitzigen Hände an der Hose ab und begrüßte sie.

Sie führte mich quer durch das Foyer zu den Aufzügen. »Wir müssen nach oben in den vierundzwanzigsten Stock, dort werden Sie von Herrn Dr. Leva und Herrn Dr. Siller erwartet. Dr. Leva ist der Leiter der Forschungsabteilung für Onkologie, in der Sie arbeiten würden, und Dr. Siller ist unser CEO.«

Hatte ich mich verhört? Der oberste Chef der Firma würde mich interviewen? So ein Aufwand wegen einer Ausbildungsstelle?

Der Aufzug kündigte sich mit einem Klingen an, und Frau Deiss ließ mir den Vortritt. »Bitte schön.«

Nachdem sich die Türen geschlossen hatten, lächelte sie mir aufmunternd zu. »Hört sich schlimm an, was? Aber machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Siller ist sehr nett.«

Oben angekommen verließen wir den Lift und gingen einen mit grauem Teppich belegten Korridor hinunter. Vor der Bürotür drehte sich Frau Deiss noch einmal zu mir um. »Bereit, Frau Bergmann?«

»Bereit«, sagte ich mit einem Nicken.

Sie klopfte und drückte die Klinke nach unten. Ich folgte ihrer einladenden Geste in das Zimmer. Ein langer ovaler Designertisch aus dunklem Holz beherrschte die Mitte des Büros. Um ihn herum standen schwarze drehbare Lederstühle mit hohen Rückenlehnen. Helle Spotlampen ersetzten das Tageslicht im durch Jalousien verdunkelten Raum. An den Wänden hingen Diplome und Zertifikate, die angestrahlt wurden. Dann erst fiel mein Blick auf die zwei Herren, die sich nun erhoben. Der ältere kam auf mich zu und reichte mir die Hand.

»Elin Bergmann!«, begrüßte er mich. »Mein Name ist Christoph Siller, ich bin der Geschäftsführer von Panazea. Es wird Sie vielleicht wundern, aber ich lasse es mir nicht nehmen, vielversprechende Auszubildende selbst unter meine Fittiche zu nehmen. Jugend ist Zukunft!« Ein freundliches Lächeln erhellte sein bärtiges Gesicht. Mit seinem karierten Hemd, dem Strickpullunder und der Cordhose sah er nicht aus, wie ich mir einen Geschäftsführer vorgestellt hatte. Nur der scharfe Blick aus den klaren, graublauen Augen ließ vermuten, dass er mehr war als der nette Opa von nebenan.

»Guten Tag, Herr Dr. Siller«, erwiderte ich. »Vielen Dank für die Einladung.«

»Timon Leva. Leiter der onkologischen Forschungsabteilung«, sagte der Jüngere und gab mir die Hand. Ich schätzte ihn auf Mitte zwanzig, also kaum älter als ich selbst. Ganz im Gegensatz zu mir war er aber schon Doktor und Leiter einer Abteilung!

Er trug einen schwarzen Anzug mit hellblauem Hemd, das perfekt zu seinen eisblauen Augen passte, die mich kritisch musterten. Er hatte dunkle Haare und ein feines kantiges Gesicht.

»Freut mich«, sagte ich, in der Hoffnung, er würde mich dann loslassen, denn meine Hand schmerzte bereits von seinem Macho-Griff.

»Frau Deiss haben Sie ja schon kennengelernt, sie ist unsere gute Fee und die Chefin der Personalabteilung«, sagte Dr. Siller mit einem Zwinkern.

Frau Deiss stand am Ende des Tisches, beide Hände auf die Stuhllehne gestützt. Ich nickte ihr zu und erwiderte ihr Strahlen.

»Möchte jemand einen Kaffee?«

»Gern, Lucinda, danke«, sagte der Geschäftsführer.

»Für mich auch«, sagte Leva schroff.

»Und Sie, Frau Bergmann?«

»Sehr gern. Vielen Dank.«

»Wunderbar«, strahlte Dr. Siller. »Dann setzen wir uns doch erst einmal.« Er zog den nächsten Stuhl ein Stück nach hinten und bot mir den Platz an. Ich setzte mich und versank gleich ein Stück in dem weichen Leder.

»Also, Frau Bergmann«, sagte er an mich gewandt. »Ich werde Ihnen kurz die Firma vorstellen, und danach wird Ihnen Dr. Leva etwas über den Job und die Aufgaben erzählen, die Sie hier erwarten würden.«

Ich riskierte einen Blick zum »Herrn Doktor«, aber der verzog keine Miene, was mein Lächeln ersterben ließ, bevor es sich geformt hatte.

»Danach sind Sie an der Reihe und dürfen uns ein bisschen über sich erzählen. Sind Sie damit einverstanden?«

»Natürlich.« Ich war überrascht, dass ich nicht gleich durch die Mangel gedreht wurde, aber mir sollte es recht sein.

Leva wandte seinen Blick nicht von mir ab. Seit ich den Raum betreten hatte, verfolgte er jede meiner Bewegungen. Das wurde mir langsam unangenehm. Hatte ich einen Fleck auf der Bluse? Ich schaute kurz an mir hinunter. Nichts.

»Ich habe eine kleine Präsentation zusammengestellt«, sagte Dr. Siller und hantierte an den Schaltern herum, die in den Tisch eingelassen waren. Eine Leinwand erschien in seinem Rücken, und der Beamer summte auf, während sich das Licht von allein dimmte. Als Dr. Siller zu sprechen begann, schaute auch Leva endlich nach vorne. Erleichtert atmete ich auf.

Panazea war 1697 gegründet worden, wobei die Wurzeln der Firma noch viel weiter zurückreichten. Auf die lange Tradition seines Unternehmens schien Dr. Siller besonders stolz zu sein. Schon immer galt ihr Hauptinteresse der Krebsforschung, was sie heute zu den führenden Spezialisten auf diesem Gebiet machte.

Sofort musste ich an meinen Bruder denken. Trotz all der Forschung gab es keinen Weg daran vorbei, dass Nico so leiden musste. Er war doch erst vierzehn. Das Leben konnte so ungerecht sein. Sechs Monate intensiver Krebstherapie hatten ihm schlimm zugesetzt. Ich musste tatenlos zusehen, wie mit jedem Chemoblock ein weiteres Stück seiner Fröhlichkeit und Lebenslust erlosch. Er war nur noch Haut und Knochen gewesen, als er vor zwei Wochen endlich wieder ganz nach Hause durfte. Jetzt begann die sogenannte »Erhaltungsphase« der Leukämietherapie. Weitere eineinhalb Jahre, in denen er starke Tabletten schlucken musste, in der Hoffnung, dass der Krebs nicht zurückkam. Die ständige Angst um ihn belastete mich sehr. Ihn heute Morgen nach so langer Zeit wieder einmal lachen zu hören, war ein unglaubliches Gefühl gewesen.

Erst als die Tür aufging und Frau Deiss mit einem Tablett erschien, auf dem sie vier Tassen balancierte, bemerkte ich, dass ich total abgeschweift war. Erschrocken richtete ich mich auf. Mein Blick streifte Leva, der mich schon wieder wie gebannt fixierte. Demonstrativ schaute ich nach vorne und versuchte, mich auf Dr. Sillers Vortrag zu konzentrieren, was mir nur mäßig gelang.

Als dieser geendet hatte, drückte er ein paar Knöpfe vor sich. Die Leinwand verschwand, und die Jalousien fuhren nach oben. Die bodentiefe Fensterfront gab einen gigantischen Blick auf die Stadt frei.

»So, das war’s über die Firma. Haben Sie Fragen dazu?«

Ich wusste, dass ich irgendetwas sagen sollte, das machte einen guten Eindruck. Mein Problem war, dass ich das meiste von Dr. Sillers Ausführungen verpasst hatte. Ich räusperte mich. »Also … Sie sagten, dass Panazea führend ist auf dem Gebiet der Krebsforschung. Nun gibt es Tausende von verschiedenen Krebsarten. Forschen Sie da auf speziellen Gebieten wie zum Beispiel Leukämie, oder decken Sie mit Ihrer Forschung alles ab?«

»Eine ausgezeichnete Frage, Frau Bergmann. Man merkt, Sie haben sich mit dem Thema auseinandergesetzt«, sagte Dr. Siller. »Das Medikament, das wir entwickeln, kann für jegliche Arten von Krebs eingesetzt werden.« Er machte eine Pause. »Sie verstehen sicher, was das für ein gewaltiger Durchbruch wäre.«

»Ich denke schon«, nickte ich. Nico musste eine ganze Batterie von Medikamenten schlucken, um nur eine Art Krebs zu bekämpfen, und die entwickelten hier ein Medikament, das alle Arten von Krebs heilen konnte? »Aber ich dachte, jede Krebsform sei so individuell, dass das gar nicht möglich wäre? Eine Chemotherapie ist ja im Grunde auch nichts anderes als ein Rundumschlag, der den ganzen Körper lahmlegt.«

»Schon«, riss Leva das Wort an sich, »aber Krebszellen haben etwas gemeinsam, sie sind gegenüber gesunden Zellen verändert.« Er musterte mich. »Das ist unser Ansatz.«

Als ich nicht reagierte, kniff er kurz den Mund zusammen und erweiterte seine Erklärung um den nächsten kryptischen Satz. Seine Stimme nahm dabei eine genervte Färbung an. »Wenn wir die gesunden Zellen ausschließen, kann der Wirkstoff gegen den Rest ankämpfen.«

In meinem Hirn ratterte es. Er machte mich nervös.

Seine Brauen zogen sich finster zusammen. »Verstehen Sie das?«

»J-ja«, stotterte ich. »Das … das klingt logisch.« Die Frage, warum das bisher sonst niemand geschafft hatte, verkniff ich mir.

Eine peinliche Stille breitete sich aus.

»Wenn sonst alles geklärt ist«, durchbrach Leva schließlich das Schweigen, »kommen wir zum Job.« Übergangslos begann er, mir die Bedingungen zu erläutern: Ich würde drei Tage arbeiten und drei Tage an der Uni sein. Das hieß nur einen Tag Wochenende. Aber das war mir egal. Ich konnte studieren, und dafür würde ich fast alles tun. Im Labor würde ich Leva unterstützen und »einen Beitrag zur Forschungsarbeit« leisten, wie er es ausdrückte. Das klang alles so unglaublich, dass es mich gleich wieder nervös machte, denn noch hatte ich den Job ja nicht. Das vergaß ich gelegentlich, da irgendwie der Eindruck entstand, dass ich schon eingestellt war. Aber das war bestimmt nur Taktik. Ich hatte viel über solche Interviews gelesen, da gab es echt fiese Strategien.

»Fragen?«

»Wann würde das Studium beginnen?«

Leva blätterte in seinen Unterlagen, wurde aber nicht fündig. »Irgendwann im Oktober. Ich werde es heraussuchen.«

»Die Anstellung würde aber schon vorher beginnen, oder?«

»Ja.« Der Hauch eines Lächelns umspielte seine Lippen. »Im Prinzip ab sofort.«

Ich nickte. »Das wäre toll. Ich würde gern so schnell wie möglich anfangen.«

Nach den persönlichen Fragen wurde ich von Frau Deiss noch über das Gehalt und organisatorische Dinge aufgeklärt. 4450 Schweizer Franken pro Monat? Und das für einen Ausbildungsplatz! Mann! Ich dachte, ich hätte mich verhört, aber sie wiederholte es ein weiteres Mal. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken, aber mein Puls raste immer noch, als sie mich nach draußen begleitete. Sie bat mich, einen Moment zu warten, bis sich die Herren beraten hatten.

Wollten die sich etwa gleich entscheiden? War das normal? Das kam mir alles merkwürdig vor, und ich konnte kaum ruhig sitzen. Aber tatsächlich, nach wenigen Minuten rief mich Leva wieder herein. »Wir gratulieren, Frau Bergmann.«

»Wie?« Ich schaute von einem zum anderen. »Im Ernst, ich habe den Job?«

Dr. Siller lachte. »Sie haben den Job – wir sind überzeugt, dass Sie in unseren Kreis passen und motiviert sind.«

»Und wie!«, rief ich. »Vielen Dank.«

»In dem Fall, bis Montag.«

Aus Levas Mund klang alles wie ein Befehl, aber daran musste ich mich wohl gewöhnen.

»Acht Uhr beim Empfang. Ich hole Sie ab.«

»Perfekt!«

Wir reichten uns die Hände, und Dr. Siller übergab mich wieder in die Obhut von Frau Deiss, die mich bis ins Foyer zurückbegleitete.

Als ich nach draußen trat, blendete mich die Sonne, und frische Frühlingsluft umfing mich. Ich blinzelte. Nur langsam nahm die Welt um mich herum wieder Gestalt an. Ich konnte nicht fassen, was gerade passiert war. Ich hatte diesen Job bekommen, einfach so! Mein Blick wanderte an dem Gebäude entlang, hoch bis zum obersten Stock. Die Glasfassade glitzerte im einfallenden Licht in allen Farben. Das würde mir niemand glauben.

Noch im Umdrehen ging ich los und knallte sogleich gegen etwas Hartes. Hände umfingen meine Oberarme und stabilisierten mich. »Sie haben es aber eilig, von hier fortzukommen.«

Ich kam nicht dazu, etwas zu erwidern, denn als ich den Blick hob, schaute ich in die unglaublichsten Augen, die ich je gesehen hatte. Die waren golden! Nicht gelb oder bernsteinfarben oder ocker, nein, die Iris schimmerte wie flüssiges Gold. Und diese Augen gehörten zu einem jungen Wachmann mit kurzen pechschwarzen Haaren, die er mit Gel gebändigt hatte. Die markanten Gesichtszüge konkurrierten mit dem sanften Blick. Die perfekt geschwungenen Brauen angehoben, lächelte er mich an, was einen Kranz feiner Fältchen in seine Augenwinkel zauberte. Mein Kopf war wie leer gefegt, und ich musste kurz die Augen schließen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.

»Geht es Ihnen nicht gut?«

»Doch, doch«, stieß ich hervor. »E-es tut mir leid.«

»Kein Ding«, sagte er und ließ mich los. »Aber es hilft, wenn man den Blick dahin richtet, wo man hinwill.« Er verzog den Mund zu einem schiefen Grinsen.

»Ja, das macht Sinn. Danke für den Tipp.« Ich hörte mich total schlagfertig an. In Wahrheit aber raste mein Herz wie verrückt, und mein Kopf musste feuerrot sein, so heiß wie der sich anfühlte.

»Na dann, einen schönen Tag noch«, sagte er und ging davon. Ich schaute ihm nach. Sein trainierter Körper wirkte kein bisschen plump, im Gegenteil, die Bewegungen erinnerten mich an fließendes Wasser.

»Danke, gleichfalls«, murmelte ich.

Esra

Esra war kaum durch die Drehtür ins Foyer gelangt, als Leva sich vor ihm aufbaute. »Lass die Finger von der Kleinen, Delano!«

»Wie bitte?«

»Konzentrier dich gefälligst auf deine Aufgaben und halt dich von den Leuten fern!«

»Den Leuten, welchen Leu…« Esra weitete theatralisch die Augen. »Moment mal, war das etwa die Tochter von Michael Bergmann?«

Levas Mund verzog sich säuerlich. »Halt dich aus Dingen raus, die dich nichts angehen – Wachmann!«

»Die Dinge gehen mich also nichts an?«

»Nein, tun sie nicht.«

Esra lachte auf. »Interessant, wirklich, Leva, das …«

»Du bewegst dich auf sehr dünnem Eis«, unterbrach er ihn. »An deiner Stelle würde ich den Mund nicht so weit aufreißen.« Er drehte auf den Fersen ab und stolzierte davon.

Kapitel 2

Erst als ich vor Tante Sinas Haus stand, wich das beschwingte Gefühl aus meinem Kopf. Kalte Steinmauern umringten mich in der engen Gasse der Altstadt. Kaum ein Sonnenstrahl drang hier bis auf den Boden durch. Ich hielt einen Moment den Atem an und lauschte in die Stille. Nichts. Nicht einmal ein Vogel war zu hören. Eine Gänsehaut überzog mich. Mit zittrigen Fingern kramte ich in der Tasche nach dem Schlüssel, schob ihn ins Schloss und schlüpfte ins Haus. Was für eine merkwürdige Stimmung. Ich atmete tief durch und versuchte, die Kälte loszuwerden, die mich umfing.

Das würzige Aroma von gekochtem Schinken stieg mir in die Nase, und das Klappern von Töpfen aus der Küche brachte mich zurück in die Wirklichkeit. Ich zog meine Schuhe aus und schlich die Treppe hoch in mein Zimmer.

Das schlechte Gewissen nagte an mir. Ich hätte meiner Tante sagen müssen, dass ich mich ausgerechnet bei Panazea beworben hatte. Wie sollte ich ihr nun erklären, dass ich ab Montag dort arbeiten würde? Plötzlich konnte ich nicht schnell genug aus den Businessklamotten kommen. Ich tauschte sie gegen meine schwarze Röhrenjeans, eine weiße hüftlange Bluse und eine schwarze Weste.

Wenn Sina ihre Theorien hätte beweisen können, warum wich sie mir dann immer aus?

Nein, da war nichts. Panazea war eine ganz normale Firma. Punkt!

Ich löste die Haarspange, sodass mir die kastanienfarbenen Haare in leichten Wellen über die Schultern fielen, und ging hinunter in die Küche.

»Hey Elin.« Nico stieß mir mit einem wissenden Lächeln seinen Ellbogen in die Rippen. Da er mich heute Morgen erwischt hatte, als ich mich rausschleichen wollte, hatte ich ihn einweihen müssen. Jetzt war ich froh, einen Verbündeten zu haben.

»Hey.« Ich küsste ihn auf seinen kahlen Kopf und ging zum Herd hinüber. »Hallo Sina. Das riecht gut.« Ich fischte über ihre Schulter hinweg nach einer Nudel.

Sina schlug mir auf die Hand. »Danke, mein Kind. Und jetzt deck bitte den Tisch.«

Ich grinste.

»Wo warst du eigentlich den ganzen Morgen?«

»Weg«, sagte ich schnell, während ich die Teller verteilte. »Ich musste einiges erledigen.«

»Aha.«

Ich schöpfte Gemüse und Nudeln aus den dampfenden Töpfen, die meine Tante auf den Tisch gestellt hatte. Nachdem sie jedem ein Stück Fleisch gegeben hatte, begann ich sofort, alles in mich hineinzustopfen, sodass mein Mund keine Sekunde leer blieb. Ich hoffte, Sina würde ihren stechenden Blick irgendwann resigniert abwenden. Aber sie lauerte nur darauf, mich im Moment des Herunterschluckens zu packen.

Nach wenigen Minuten verlor sie die Geduld. »Was hattest du denn zu erledigen, wenn ich fragen darf?« Sie gab sich keine Mühe, der Frage etwas Beiläufiges zu verleihen.

Ich schob mir die volle Gabel in den Mund und legte dann das Besteck hin. »Ich hatte ein Vorstellungsgespräch.«

»Oh! Das ist ja toll. Warum hast du denn nichts erzählt?«

»Ich dachte, falls es nicht klappt … also ich wollte nicht …« Ich holte tief Luft. »Ich dachte, ich sag’s euch, wenn ich erfolgreich war.«

»Aber Elin, wir würden dich doch nicht verurteilen, wenn es nicht klappt. Das ist doch ganz normal. Die wenigsten bekommen gleich den ersten Job.«

»Ich hab ihn aber bekommen«, sagte ich und lächelte sie an.

»Was?« Sina runzelte die Stirn. »Du hast schon eine Zusage erhalten? Direkt nach dem Vorstellungsgespräch?«

Ich nickte. Nico stieß mich an und grinste.

»Das ist merkwürdig. Bei welcher Firma ist das denn?«

Mein Herz schlug mir bis zum Hals, als sich der Name auf meiner Zunge formte. »Panazea.«

Einen Moment stand alles still. Den Atem angehalten, ließ ich Sina keine Sekunde aus den Augen.

»Panazea!« Meine Tante sprang auf und donnerte ihre Fäuste auf den Tisch. Ich zuckte zusammen. Nico hatte aufgehört zu kauen und saß reglos neben mir.

»Das kann unmöglich dein Ernst sein, Fräulein!«

»Das ist eine große Chance, Sina. Ich könnte nebenher studie…«

»Eine Chance? Du weißt ganz genau, was das für Verbrecher sind!«

»Nein, weiß ich nicht. Du redest ja nie mit mir. Woher soll ich also wissen, was damals deiner Meinung nach passiert ist?«

»Das hat nichts mit meiner Meinung zu tun! Die haben deine Eltern auf dem Gewissen. Schämst du dich gar nicht, auch nur daran zu denken, dort zu arbeiten?« Ihr Zeigefinger hackte bei jedem Wort auf mich hinunter.

»Es gibt keine Beweise. Die Polizei hat nichts gefunden. Der Fall ist abgeschlossen. Es war ein ganz normaler Autounfall!«

»An diesem Unfall war überhaupt nichts normal. Herrgott! Wo ist deine verdammte Loyalität geblieben, Elin?« Ihre violettgrauen Locken hoben sich leuchtend von dem dunkelroten Teint ab, den ihr Gesicht angenommen hatte.

»Dann erzähl mir doch endlich mal deine Version der Geschichte! Alles, was ich immer höre, ist ›Das ist kompliziert‹. Was soll ich damit anfangen?« Ich wischte mir über die feuchten Augen. »Ich wollte nur einen Job, damit wir etwas mehr Geld haben.«

»Ich gebe mir weiß Gott alle Mühe, euch das zu bieten, was ihr gewohnt wart, und nun kommst du mir so!«

»Nein, so habe ich das nicht gemeint. Ich wollte doch nur helfen. Ich weiß, wie hart du …«

»Wir haben genug, auch ohne dass du bei Panazea arbeitest.« Sie drehte sich abrupt um und ging zur Spüle. Diese Diskussion hatte eine völlig verkehrte Richtung genommen. Und alles, was ich sagte, kam falsch an. Offensichtlich war es zu anmaßend, sich um einen Job zu bemühen und etwas aus seinem Leben machen zu wollen.

Auf einmal fühlte ich mich schuldig. Nicht nur dass ich wohl meine Eltern verraten hatte, jetzt dachte Sina auch noch, dass ich undankbar war. Ich war den Tränen nahe, aber die Blöße würde ich mir nicht geben. Krampfhaft schluckte ich sie hinunter.

Nico hatte wieder begonnen zu essen, wenn auch langsam und darum bemüht, keine Geräusche zu machen. Mir war der Appetit vergangen.

Ich starrte auf meine Hände. Plötzlich überdeckte mich Sinas Schatten erneut. »Und du wirst da nicht arbeiten! Hast du mich verstanden?«

Ich war achtzehn, sie konnte mir gar nichts verbieten. So eine Chance würde ich nie wieder bekommen. Diesen Job abzusagen, wäre schlicht und ergreifend dumm! Aber es ging nicht nur um die Ausbildung oder die Karriere, dort zu arbeiten hieße auch, dass ich helfen würde, Nico für immer zu heilen!

Vielleicht war das eine Trotzreaktion, und vielleicht war es egoistisch, vielleicht war es auch falsch und verwerflich oder alles zusammen, aber ich konnte Sina diesen Wunsch nicht erfüllen. Ich stand auf und verließ die Küche, ohne ein weiteres Wort.

»Du bleibst hier!«, brüllte sie mir hinterher, aber da war ich schon zur Haustür hinaus und rannte die Gasse hinunter Richtung Stadtzentrum.

Die hohe mit Efeu überwachsene Mauer stand den dicht gedrängten alten Häusern gegenüber, deren rostrot umrahmte Fenster wie Augen auf mich hinabblickten.

Erst als ich in der Tram saß, auf dem Weg zu Juna, entspannte ich mich allmählich.

Es war irgendwie merkwürdig, unter welchen Umständen Juna und ich uns kennengelernt hatten. Sie stand plötzlich da, auf der Beerdigung meiner Eltern. Es hieß, ihre Familie sei mit meinem Vater bekannt gewesen, aber ich hatte sie noch nie zuvor gesehen. Wahrscheinlich war es wohl Schicksal.

Sie tröstete mich, draußen vor der Kirche, und ich ließ es zu, weil es sich gut anfühlte. Ich wusste nicht mehr, wie es dazu kam, dass ich plötzlich in ihren Armen lag. Überhaupt erinnerte ich mich nur Bruchstückhaft an diese Zeit. Später kam sie ab und zu bei uns vorbei, wenn Sina abends arbeiten musste. Mittlerweile war sie wie eine große Schwester für mich.

Bei der nächsten Station stieg ich aus. Der Blumenladen, in dem Juna arbeitete, befand sich gleich an der Ecke auf der anderen Straßenseite. Durch das Schaufenster hindurch sah ich, wie sie einen jungen Mann bediente, der unschlüssig von einem Topf zum anderen wanderte. Ich klopfte an die Scheibe, um mich bemerkbar zu machen. Juna winkte mir zu und lächelte. In dem dunklen Strickkleid sah sie wie immer umwerfend aus. Die kurzen schwarzen Haare umspielten fransig ihr Gesicht, und der knallrote Lippenstift schmeichelte ihren vollen Lippen.

Ich ging einige Schritte die Straße entlang, als auch schon die Türglocke bimmelte. Ich drehte mich um und sah, wie Juna hinter dem Kunden aus dem Laden trat.

»Wiedersehen. Und viel Glück heute Abend«, sagte sie.

Der Typ grinste breit. »Danke. Wird schon schiefgehen.«

»Ben, ich mache Mittag«, rief Juna über die Schulter, bevor die Tür hinter ihr zufiel. »Hey Süße!« Sie hüpfte die Stufe hinunter und kam auf mich zu. Vor mir stockte sie. »Was ist los?«

»Ich hatte Streit mit Sina.«

Sie zog mich in ihre Arme und gab mir einen Kuss auf die Wange. »Komm, lass uns runtergehen zum Rhein. Dann erzählst du mir alles in Ruhe.«

Keine hundert Meter weiter grenzte das Wohnviertel ans Rheinufer. Die wenig befahrene Straße oberhalb des Flusses war von knorrigen Kastanienbäumen gesäumt, die sich die ganze Uferpromenade entlang bis ins Stadtzentrum zogen. Wir stiegen eine kleine Steintreppe hinunter und hockten uns auf den von der Sonne gewärmten Damm. Erste Grashalme und Wildblumen bahnten sich ihren Weg zwischen den Steinplatten hindurch ans Licht und verströmten ihren süßen Duft nach Frühling.

»Also, was ist passiert?«

»Ich habe mich bei Panazea beworben und den Job bekommen.« Ich schnippte mit den Fingern. »Einfach so.«

»Echt?« Juna klatschte in die Hände und drückte mich dann. »Wow! Ich gratuliere dir.«

Ich löste mich von ihr. »Und du denkst nicht, dass ich eine Verräterin bin?«

»Wie kommst du darauf?«

»Du kennst doch Sinas Verschwörungstheorien …« Ich brach ab. »Sie will, dass ich den Job absage.«

»Absagen? So ein Quatsch«, rief Juna. »Du bist volljährig. Sina muss lernen, damit zu leben, dass du deine eigenen Entscheidungen triffst.«

»Aber was ist, wenn sie recht hat? Was, wenn Panazea tatsächlich für den Tod meiner Eltern verantwortlich ist?« In meinem Kopf brauten sich plötzlich dunkle Wolken zusammen. Im Nachhinein war es doch verflucht einfach gewesen, diese Stelle zu bekommen. Kaum hatte ich die Bewerbung abgeschickt, hatte ich schon die Einladung bekommen. Und nun hatte ich den Job – als ob die auf mich gewartet hätten.

»Jetzt hör mir mal zu, Süße!«, drang Junas Stimme zu mir durch. »Du wirst nicht deine Zukunft wegwerfen, nur weil dir deine Tante mit ihren Theorien den Kopf verdreht.«

»Die haben mir so viel Geld geboten, Juna. Fast 4500 Franken pro Monat. Das ist wie Schweigegeld, oder nicht?«

»Jetzt hör auf, dich verrückt zu machen. Panazea ist ein riesiger Konzern. Hohe Gehälter sind da normal. Zudem haben wir das echt durch, oder? Du kennst den Polizeibericht vom Unfall, ich kenne ihn, deine Tante kennt ihn. Alle kennen ihn. Ich kann diese Verschwörungstheorien nicht mehr hören.«

Ihre Worte waren Balsam für mein Gewissen. Bestimmt hatte sie recht. Es musste so sein.

Ich zupfte einen Grashalm zwischen den Steinen hervor und schaute auf den Rhein. Meine Gedanken schweiften ab. Zu dem Wachmann. Keine Ahnung, warum er mir nun plötzlich im Kopf herumspukte. In seine Augen zu blicken, hatte sich ein bisschen angefühlt wie Schweben. Schön, aber im Nachhinein auch etwas unheimlich.

Juna schnippte mit den Fingern vor meinem Gesicht herum. »Hallo? Ist da jemand?«

Ich zuckte zusammen. »Ähm … hast du was gesagt?«

»Nein, aber du eben auch nicht.«

Ich grinste. »Entschuldige. Ich …«

»Was?«

»Nichts, vergiss es.«

»Elin, was macht dieser verträumte Ausdruck auf deinem Gesicht?«, gluckste meine Freundin.

»Was?« Ich schubste sie von mir weg. »Ich habe ganz bestimmt keinen verträumten Ausdruck auf dem Gesicht. Du spinnst ja wohl.«

»Sondern?«

»Gar keinen Ausdruck.«

Juna zog die Augenbrauen hoch und grinste breit.

»Na gut«, stöhnte ich. »Da war so ein Wachmann, mit dem ich zusammengestoßen bin. Vor der Firma.«

»Und?«

»Was und?«

»Na, wie sieht er aus? Was hat er getan? Warum denkst du überhaupt über ihn nach? Solche Dinge eben …«

»Na ja, irgendwie sieht er verdammt gut aus, um ehrlich zu sein. Er ist groß und hat einen tollen Körper. Athletisch, nicht so ein Muskelprotz, weißt du? Und er hat schwarze Haare. Kurz, also so mittel – und dann diese Augen …« Ich schüttelte den Kopf. »So was habe ich noch nie gesehen.«

»So-was-hast-du-noch-nie-gesehen-schön oder eher nicht-so-schön?«

Ich blickte wieder auf den Rhein. »Das Erste – glaube ich.«

»Du glaubst es?«

»Getan hat er eigentlich nichts«, überging ich Junas Einschub, »außer mir im Weg zu stehen.«

Sie lachte auf. »Na ja, um als männliches Wesen deine Aufmerksamkeit zu erlangen, muss man sich schon was einfallen lassen.«

»Ha, ha.«

Es war spät, als ich mich wieder nach Hause wagte. Normalerweise hatte ich keine Angst im Dunkeln, aber heute war etwas anders. Ich hatte es schon am Mittag gespürt, und nun war es wieder da, dieses beklemmende Gefühl, nicht allein zu sein. Die Haare standen von meinen Armen ab. Es war mir nie aufgefallen, wie unheimlich es bei Nacht in der Altstadt sein konnte. Ein Radfahrer ratterte an mir vorbei und ließ mich zusammenzucken. Das sich entfernende grell blinkende Licht und das Klappern des Rades auf dem Kopfsteinpflaster zerstreuten die Grabesstimmung. Ich beeilte mich, nach Hause zu kommen.

Ohne das Flurlicht anzuschalten, huschte ich wenig später die knorrige Holztreppe hoch, die sich in einem Viertelkreis in den ersten Stock schwang. Durch den Türspalt von Nicos Zimmer schimmerte Licht auf den Gang hinaus, und ich hörte das leise Rattern und Summen seines Computerspieles. Ich blieb kurz stehen. Es war schön, ihn wieder hier zu haben.

Kaum hatte ich mich aufs Bett gelegt, fielen mir auch schon die Lider zu. Das Knarren der Tür vermischte sich bereits mit meinen Träumen.

»Elin?«

Zittrig schreckte ich hoch. Nur langsam zeichnete sich eine Gestalt vor dem grellen Flurlicht ab. »Nico? Bist du das?«

»Ja. Darf ich reinkommen?«

»Sicher.« Ich rappelte mich hoch.

Er fläzte sich zu mir aufs Bett. »Ich wollte nur sagen, dass es voll fies war, was Sina zu dir gesagt hat.«

»Danke, Nico.«

»Und ich finde es gut, dass du diesen Job bekommen hast.« Ich zog ihn in meine Arme.

»Ich wollte einfach, dass du das weißt«, nuschelte er gegen meine Schulter. Dann stemmte er sich aus meinen Armen. »Hab noch einen Krieg zu gewinnen«, grinste er und nickte Richtung Tür.

»Okay, aber nicht mehr zu lange.«

»Ja, ja. Schlaf gut!«

»Du auch.« Mit einem Lächeln schaute ich ihm hinterher. »Nico?«

Er drehte sich um.

»Ich hab dich ganz doll lieb.«

»Ich dich auch.«

Kapitel 3

Als ich am nächsten Morgen hinunter in die Küche kam, wunderte es mich, dass sich an der Scheibe noch keine Eiskristalle gebildet hatten, so frostig war die Stimmung. Ich zog meine Strickjacke enger um den Körper und verschränkte die Arme vor der Brust. »Guten Morgen«, murmelte ich.

Sina sagte nichts. Wandte sich nicht um. Der Tisch war nicht gedeckt, also ging ich zum Schrank und holte die Teller heraus. »Ich glaube, wir haben gestern etwas aneinander vorbeigeredet«, wagte ich mich vor.

Sina knallte den Lappen in die Spüle und drehte sich zu mir. Ihr Blick traf mich wie eine Ohrfeige. »Nein, das glaube ich nicht.«

Ich schluckte, presste die Teller an mich, als ob sie mich beschützen könnten.

»Und ich wäre froh, wenn du das nächste Mal nicht einfach davonrennst, nur weil dir nicht gefällt, was ich sage.«

»Es tut mir leid«, presste ich hervor.

»Ja, mir auch.« Damit wandte sie sich wieder ab und widmete sich dem Herd, den sie heftig zu schrubben begann, dabei blitzte er schon wie das Tafelsilber der Queen.

»Ich versuche nur, alles richtig zu machen.«

»Du weißt ganz genau, wie du das erreichen kannst, Elin!«

Das Kratzen der Stahlwolle auf dem alten Herd zog alles in mir zusammen. Am liebsten hätte ich ihr das Ding aus der Hand gerissen. Sie konnte so stur sein. Alles, was ich wollte, war eine Zukunft. Ich konnte nicht ändern, was geschehen war, aber ich wollte zumindest das Beste aus dem machen, was mir geblieben war. »Dann erklär mir doch endlich mal, was damals vorgefallen ist. Erklär mir, warum du Panazea verdächtigst, etwas mit dem Unfall zu tun zu haben. Rede mit mir! Ich will es verstehen, Sina!«

Das Kratzen verstummte. Sina richtete sich auf und blieb einen Moment reglos stehen. Dann strich sie die Hände an der Schürze ab, zog sie aus und hängte sie an den Haken bei der Kommode.

»War es das nun wieder?«, platzte ich heraus, als sie an mir vorbeiging. »Lässt du mich wieder hier stehen?«

»Ach!«, machte sie und verschwand durch die Tür.

Ich knallte die Teller auf den Tisch. Gut! Wenn sie mir nichts sagte, musste ich selbst Nachforschungen anstellen. Das hieße aber, dass ich auf den Dachboden gehen und in den Sachen meiner Eltern herumstöbern musste, die Sina von der Hausräumung mitgenommen hatte. Ich setzte mich, stützte die Ellbogen auf den Tisch und legte meine Stirn in die Hände. Irgendwann musste ich mich den schlimmen Erinnerungen stellen, sonst würde ich die guten früher oder später auch vergessen.

Am Nachmittag ging ich mit Nico zur wöchentlichen Nachkontrolle. Seine Blutwerte waren super: keine Leukämiezellen nachweisbar. Und wenn er sich gut fühlte, durfte er ab Montag wieder zur Schule.

Es war herrliches Wetter, und man konnte den Sommer förmlich riechen. Blätter sprossen saftig grün aus den knorrigen Ästen der Kastanienbäume, die unseren Weg säumten.

Der Alltag würde Nico ablenken, und er hätte wieder Kontakt zur Außenwelt. Durch die lange Zeit im Krankenhaus hatten seine Freundschaften gelitten, und ich wusste, dass ihn das sehr traurig machte. Früher verbrachte er jede freie Minute mit seiner Clique, fuhr Skateboard, bis es dunkel war, und flirtete mit seinen Bewunderinnen. Ich musste grinsen bei dem Gedanken. Erst durch die Krankheit hatte er sich derart zurückgezogen. Er wollte keinen Besuch. Seine Freunde sollten ihn nicht so sehen, hatte er immer gesagt. Und in den paar Tagen zwischen den Chemoblöcken, in denen er zu Hause war, hatte er fast ununterbrochen geschlafen. Aber das war nun Vergangenheit.

»Lass uns ein Eis essen gehen.«

Nico grinste. »Yeah.« Er hielt die Hand hoch, und ich schlug ein.

Wir steuerten ein Café an, das keine zehn Minuten von der Kinderklinik entfernt gleich an der Ecke des Basler Marktplatzes lag. Hier gab es super leckere Eiscreme. Wir setzten uns draußen unter die großen weißen Sonnenschirme an einen Tisch. Mein Blick schweifte über den mit Kopfsteinpflaster versehenen Platz, auf dem einige Marktstände aufgestellt waren. Dahinter erhob sich das dunkelrote Rathaus, mit seinen merkwürdigen, an Orgelpfeifen erinnernden Fenstern und den bunten Dachziegeln.

Ich genoss den Moment der Ruhe, lauschte dem Stimmengewirr, das sich mit dem leisen Klappern von Geschirr und Besteck verwob, und streckte das Gesicht der Sonne entgegen. Von den Ständen wehte ein würziger Duft nach Käse und Grillwurst zu uns herüber.

»Brauchst du noch etwas für die Schule?«, fragte ich Nico, nachdem der Kellner seinen Eisbecher und meinen Eiskaffee vor uns auf den Tisch gestellt hatte.

»Haare wären cool«, sagte er und begann, seine Eiskugeln mit dem Löffel zu bearbeiten.

»Die kommen sicher bald wieder. Du hast Dr. Brenner ja gehört. Bei vielen beginnen sie schon, in den ersten Wochen der Erhaltungstherapie wieder zu wachsen.«

»Hmm.« Nico drehte den Löffel im Mund herum. »Meinst du, ich darf im Unterricht meine Mütze tragen?«, nuschelte er.

»Ich kann mit Mattmann reden, wenn du willst.«

Nico zuckte mit den Schultern und widmete sich wieder dem Eis.

»Aber du musst dich nicht schämen deswegen.«

»Das ist die Schule, Elin. Das ist was anderes als unter Fremden.«

»Ich weiß. Aber in drei, vier Wochen ist das kein Thema mehr. Wirst sehen.«

»Ich lass sie einfach auf.«

»Ja, tu das«, nickte ich und biss in den karamellisierten Mandelkrokant.

Nico kratzte schon den letzten Rest Eiscreme aus dem Glas. Dass er nicht noch den Finger zu Hilfe nahm, wunderte mich. Ich grinste ihn an. »Nachschub?«

»Ist das nicht zu teuer?«

»Ach was, bald verdiene ich Geld.«

Er gluckste. »Nur wenn Sina dir vorher nicht den Kopf abreißt.«

»Das soll sie mal versuchen.« Ich winkte den Kellner herbei und bestellte die zweite Runde.

Erst als es draußen ganz dunkel war und im Haus endlich Ruhe einkehrte, schlich ich mich aus dem Zimmer. Vom Flur im ersten Stock, wo Nico und ich unsere Zimmer hatten, führte eine Luke auf den Dachboden. Der lange Haken, mit dem man die Falltür öffnete, stand verstaubt in der Ecke unseres kleinen Badezimmers. Vorsichtig zog ich an der Klappe und ließ die Leiter hinunter. Meine Finger waren eiskalt. Ich hatte Angst vor dem, was mich da oben erwartete. Beim Hinaufklettern quietschten die Metallsprossen leise bei jedem Tritt. Ich hielt den Atem an und horchte in die Dunkelheit. Alles blieb ruhig. Oben angekommen schaltete ich die Taschenlampe ein und zog die Leiter samt Falltür hinter mir hoch.

Ich musste gebückt unter den Dachbalken gehen. Im Schein der Lampe entdeckte ich ein paar gestapelte Kisten in der Ecke. Der Geruch nach altem Karton und feuchtem Holz lag in der Luft. Überall hingen Spinnweben, und alles war von einer dicken Staubschicht überzogen. Es kitzelte mich in der Nase, als ich die erste Schachtel öffnete. Angestrengt versuchte ich, ein Niesen zu unterdrücken. In der Kiste lag ein altes Geschirrset von Sina, eingewickelt in vergilbtes Zeitungspapier. Ich schloss den Deckel wieder, und mein Blick wurde von einem Karton angezogen, auf dem »Michael« stand, der Name meines Vaters. Mein Herz stolperte. Ich pustete den Staub weg, öffnete eine der Kartonklappen und leuchtete hinein. Unter zerknülltem Zeitungspapier lag ein Stapel Fotoalben. Ich griff nach dem obersten Band. Auf der ersten Seite lachten mir meine Eltern entgegen, im Hintergrund sah ich Berge und einen See. Ihre Gesichter waren leicht verzerrt. Vermutlich hatte mein Vater das Bild selbst geschossen. Ich lächelte, aber gleichzeitig verschwamm alles vor meinen wässerigen Augen. Wann würde es aufhören, so schrecklich wehzutun?

Einige Seiten weiter blieb ich an einem Bild von Nico hängen. Er grinste schelmisch in die Kamera, was tiefe Grübchen in seinen Wangen hervorrief. Seine dunkelbraunen halblangen Haare waren zerzaust und fielen ihm in Strähnen über die Stirn. Er hatte rote Wangen von der frischen Bergluft, und seine braunen zu Halbmonden verengten Augen blitzten, als ob er irgendetwas ausgeheckt hätte. Es war schon lange her, seit ich ihn das letzte Mal so gesehen hatte, gesund und glücklich.

Ich zog das nächste Album heraus, und die Anspannung fiel langsam von mir ab, als ich immer tiefer in die schönen Erinnerungen eintauchte. Nach dem letzten Buch verstaute ich alles wieder in der Schachtel und klappte den Deckel zu.

Ich drehte mich auf die Knie und zog den nächsten Karton zu mir heran. Meine Hand ertastete Luftpolsterfolie. Neugierig schwenkte ich den Lichtkegel in die Schachtel und hob die darin gebettete Holzfigur heraus. Mein Vater hatte sie mir geschnitzt. Ich erinnerte mich noch genau, wie ich das Geschenk an meinem dreizehnten Geburtstag ausgepackt hatte. Die viele Arbeit und Mühe, die er sich für mich gemacht hatte. Er musste Wochen darangesessen haben. Mit dem Finger strich ich über die goldenen Rückenzacken des drachenähnlichen Geschöpfes. Die Figur war etwa so hoch wie mein Unterarm und bis ins kleinste Detail ausgearbeitet. Der gefiederte Bauch ging in den schuppigen Rückenpanzer über, von dem aus die Flughäute ansetzten. Die ausgebreiteten Flügel zeigten eine viergliedrige Stützkonstruktion, die die Fingerknochen widerspiegelte und in scharfen Krallen endete. Bis auf die goldenen Augen, Hornfortsätze und Krallen war er schwarz, der Basilisk. Eine ungewöhnliche Farbe für den legendenumwobenen Wappenhalter unserer Stadt. Mein Vater hatte mir gesagt, dass dies der Anführer der Basler Basilisken sei und dass er mich immer beschützen würde.

Ich legte die Figur beiseite. Die würde auf jeden Fall nachher mit mir nach unten gehen.

Ich öffnete eine Kiste nach der anderen. Eigentlich hatte ich gehofft, irgendwelche Papiere zu finden, Briefe, Tagebücher, irgendetwas, was mir weiterhelfen würde. Aber da war nichts. Und als ich schon aufgeben wollte, entdeckte ich sie, die Kiste, die zu demonstrativ in einem dunklen Winkel verborgen lag und als einzige fest verklebt war. Ich rutschte auf den Knien weit unter die Dachbalken, zerrte die Schachtel aus ihrem Versteck und begann, an dem Klebeband herumzuzupfen. Die Aufregung machte meine Finger ganz zittrig. Endlich bekam ich ein Ende des Bandes zu fassen und zog daran. Ich wickelte die Kiste aus und hob den Deckel ab. Im Schein der Taschenlampe erkannte ich ein schwarzes Tuch. Vorsichtig schob ich die luftige Seide zur Seite. Unter den Fingern spürte ich feines, mit Kerben überzogenes Leder. Ich steckte mir die Lampe zwischen die Zähne und griff in die Schachtel. Es fühlte sich an wie ein Buch. Meine Hand reichte kaum aus, um den dicken Wälzer zu umschließen. Der Ledereinband, der zum Vorschein kam, war mit wunderschön geschwungenen goldenen Prägeformen verziert. Das Buch musste uralt sein. Es war zwar nicht das, was ich bei meinen Nachforschungen zu finden gehofft hatte, dafür war es umso spannender.

Schnell packte ich den Basilisken und das Buch in die Schachtel und kletterte mit ihr unter dem Arm hinunter in den Flur. Es war eine Zitterpartie, und ich war froh, als die Falltür geschlossen war und ich, ohne Zwischenfälle, wieder in meinem Zimmer stand. Ich wuchtete die Kiste auf den Schreibtisch. Als Erstes nahm ich den Basilisken heraus und stellte ihn auf den Nachttisch. Danach hob ich den dicken Wälzer hoch, wobei ich einen Zipfel des Seidentuches erwischte, das ich gleich mit herausriss. Etwas Schweres rollte klimpernd in die Kiste zurück. Mit dem Unterarm schob ich ein paar Stifte und Zettel zur Seite, um das Buch ablegen zu können, und schnappte mir dann wieder die Kiste. Auf dem Boden lag eine feingliedrige Kette mit einem runden bauchigen Anhänger in der Größe eines Ein-Franken-Stückes. Das schwarz angelaufene Silber des Anhängers brachte die goldenen ineinanderfließenden Linien, die ihn verzierten, umso mehr zum Leuchten. Ich nahm die Kette in die Hand und rieb mit dem Daumen über den Anhänger. In meiner Handfläche begann es zu kribbeln, und plötzlich wurde das Medaillon ganz heiß, es schien förmlich zu glühen. Erschrocken ließ ich es zurück in die Kiste fallen. Der Zauber verflog so schnell, wie er gekommen war. Ich starrte in die Schachtel. Was war das denn gewesen?

Der fahle Schein der Schreibtischlampe milderte das Kribbeln in meinem Nacken nicht, sondern machte die Schatten nur noch bedrohlicher. Ich schob die Schachtel von mir und setzte mich. Zitternd betrachtete ich das Buch. Die Goldprägung zeigte Ornamente, aber sie hatten eine merkwürdige Regelmäßigkeit und somit nicht viel Künstlerisches. Auch fehlte ein Titel.

Ich schlug den Deckel auf. Das vergilbte wellige Papier fühlte sich rau und steif an. Diese seltsamen Muster zogen sich über alle Seiten. Wenn man den einzelnen Linien folgte, sah man deutlich, dass sie mit einer Feder gezeichnet waren, denn ihre Dicke variierte. Aber ich fand nicht den kleinsten Hinweis darauf, mit was ich es hier zu tun hatte. Es gab weder Text noch Passagen, die auch nur annährend an Buchstaben erinnerten. Auch auf Beschreibungen oder Erklärungen zu den Mustern hoffte ich vergebens. Es gab nicht einmal ein wirkliches Bild. Nur diese in chaotischer Regelmäßigkeit auftauchenden Formen und Muster, die mal auseinandergezerrt wirkten und mal dicht gedrungen waren. War das eine Art Code oder eine unbekannte Sprache, so was wie die Keilschrift oder Hieroglyphen?

Das Knarren der Treppe ließ mich zusammenfahren. Eilig packte ich das Buch in die Kiste und hob sie hoch. Unschlüssig stand ich einen Moment mitten im Zimmer.

Unter der Tür hindurch sah ich den Schatten von zwei Beinen.

War das Sina? Mist! Obermist!