image

Karl-Heinz Brodbeck

Wahrheit und Illusion

Ein buddhistischer Blick
auf eine Welt der Täuschung

image

1. Auflage 2018

© 2018 Tibethaus Deutschland e.V., Georg-Voigt-Straße 4, 60325 Frankfurt

Lektorat: Karin Herber-Schlapp

ISBN: 978-3-95702-028-4 (ebook)

Inhalt

Vorbemerkung

1 Einleitung

2 Wahrheit

2.1 Wahrheiten und die Träger der Wahrheit

2.1.1 Wahrheit als personale Beziehung?

2.1.2 Wahrheit als Geheimlehre?

2.1.3 Die zwei Wahrheiten

2.2 Relative Wahrheit

2.2.1 Was heißt „konventionell“?

2.2.2 Wahrheit als Handlung

2.2.3 Wahrheit der Existenz

2.2.4 Schlussfolgerndes Denken

2.3 Absolute Wahrheit

2.3.1 Leerheit und Verschränkung aller Phänomene

2.3.2 Leerheit oder Nichts?

2.3.3 Inwiefern ist die absolute Wahrheit „wahr“?

2.3.4 Die Wahrheit als Zeit

2.4 Wahrheit und Bewusstsein

2.4.1 Der Ort der absoluten Wahrheit im Bewusstsein

2.4.2 Bewusstsein und Ich

2.4.3 Welterkenntnis, Idealismus und Selbstgewahren

3 Buddhismus und abendländische Philosophie

3.1 Skepsis und Mādhyamaka

3.2 „Buddhismus“ und die Philosophie der Neuzeit

4 Illusionen

4.1 „Klarheit“ als Wahrheitskriterium?

4.2 Handlungsillusionen und die Fiktion „Karma“

4.3 Relative und absolute Illusion

4.4 „Schlange und Seil“

4.5 Zur „Theorie“ der Illusion

5 Die Fälschung der Welt

5.1 Kritik der Metaphysik

5.1.1 Die Erschütterung der Weltbilder

5.1.2 Nietzsche und das platonische Erbe

5.1.3 Der „Mensch“ als fiktives Zentrum

5.1.4 Mach und Avenarius

5.2 Technische Metaphern

5.2.1 Der „Mensch“ – eine Information?

5.2.2 Der „seelische Apparat“ bei Freud

5.3 Fiktionalismus

6 Die „erlogene Wirklichkeit“

7 Ethische Konsequenzen

Literaturverzeichnis

Anmerkungen

Zur Person von Prof. Dr. Karl-Heinz Brodbeck

Vorbemerkung

Dieses Buch hat eine längere Vorgeschichte. Die Ermutigung, frühere Aufzeichnungen und Überlegungen in eine geschlossene Abhandlung zu verwandeln, gaben Gespräche rund um einen Vortrag, in dem ich im Tibethaus in Frankfurt das aktuelle Thema der Fake News im Verhältnis zur buddhistischen Lehre von Wahrheit und Illusion näher zu erläutern versuchte.1 Da mich das Thema Propaganda und Illusionen im Verhältnis zu „Tatsachen“ im Rahmen meiner ökonomischen Untersuchungen2, aber auch bei früheren Darstellungen von Problemen der europäischen und der buddhistischen Philosophie mehrfach umgetrieben hatte, war der genannte Vortrag nur noch so etwas wie eine Initialzündung, deren ausgelöste „Schreibexplosion“ auf den nachfolgenden Seiten zu lesen ist.

Der hier vorgelegte Text richtet sich nicht primär an Experten in Sachen Buddhismus oder der westlichen Philosophie. Ich dachte bei der Niederschrift stets auch an Leser, die den Diskurs schätzen und letztlich vor allem der eigenen Einsicht vertrauen. Dieser Punkt ist mir nicht nur als private oder wissenschaftliche Haltung wichtig; er ist auch durchgängiges Thema auf den nachfolgenden Seiten.

Der Buddhismus ist in meinem Verständnis vor allem eines: eine kritische Philosophie. Dieses Verständnis mag vielleicht mit so mancher Denkgewohnheit einiger Vertreter des Buddhismus nicht ganz harmonieren, nachgerade dann, wenn ich auch „große Namen“ der asiatischen und der europäischen Tradition nicht als Säulenheilige, sondern einfach als Gesprächspartner behandle. Vor Gurus mag man einen Kotau machen. Gesprächspartnern dagegen wird man, zweifellos mit gebührendem Respekt, durchaus auch kritische Fragen stellen. Ein westlicher Buddhismus, der seine Form erst schrittweise findet und bislang viel zu oft versucht war, sich als bloßer Ableger und Kopie asiatischer Schulen zu begreifen, wird nicht nur überlieferte Fragen neu beantworten. Er wird sich ebenso den neuartigen Problemen der Gegenwart zuwenden, wie von einigen tradierten Vorstellungen verabschieden müssen, sofern er in der abendländischen Diskussion ein wichtiges Wort mitsprechen möchte.

Man mag die Frage vorab stellen: Weshalb soll ausgerechnet eine buddhistische Perspektive neues Licht auf eine in vielen Jahrtausenden diskutierte Frage werfen, die Wahrheit und Illusion zu unterscheiden sucht? Diese Frage genauer zu beantworten, ist die Aufgabe des ersten Kapitels. Vorab möchte ich nur sagen: Auch die buddhistische Sichtweise im Westen ist und bleibt immer noch ein europäischer Blick, der sich der abendländischen Philosophie verpflichtet weiß und deshalb nur eine Perspektive innerhalb einer gegenseitigen Abhängigkeit von zwei großen historischen Traditionen neu zu beleuchten versucht. Dennoch: Wahrheit und Illusion werden im Abendland und im Buddhismus je verschieden interpretiert. Ihr Begriffsinhalt und ihre Differenz offenbaren in Ost und West zwei Blickweisen, die durchaus auch Gemeinsames erkennen lassen, nicht aber einfach identisch gesetzt werden können. Das schon deshalb nicht, weil bereits der Begriff der „Identität“ im Buddhismus einer grundlegenden Kritik unterzogen wird. Derartige Differenzen zu erkennen und für ein tieferes Verständnis von Wahrheit und Illusion neu verfügbar zu machen, ist die Absicht meiner nachfolgenden Untersuchungen. Dass die ausgewählten Fragestellungen zweifellos durch meine eigenen Erfahrungen, früheren Forschungsinteressen und damit meine gesamte Biografie bestimmt sind, bedarf kaum einer Erwähnung.

Ich möchte hier allerdings auf etwas hinweisen, was im nachfolgenden Text zwar gelegentlich erwähnt, aber nicht systematisch behandelt wird: Das sind all jene Illusionen, die aus dem Geld erwachsen, die an Börsen, an den Finanzmärkten täglich Wirklichkeit zwischen Euphorie und Krise, zwischen Reichtum und Armut schaffen. Es war die nachfolgend im Mittelpunkt stehende Philosophie des Mādhyamaka, die es mir erlaubte, in einer Reihe von Untersuchungen das Geld sowohl als illusionäre, als täuschende Denkform wie auch als soziale Wirklichkeit, als Grund des Wandels der Subjektivität in der Moderne darzustellen. Wer Näheres über die spezifisch ökonomischen Illusionen erfahren möchte, kann auf meine Bücher und Aufsätze zurückgreifen.3 Zwar ist es nicht zuletzt die Erfahrung in der theoretischen Praxis bei der Analyse der dort zu entdeckenden Illusionen gewesen, die auch den Hintergrund für die vorliegende Untersuchung bilden. Ich habe aber weitgehend darauf verzichtet, das dort bereits Dargestellte hier nochmals zu referieren. Umgekehrt ist es eher so, dass meine hier vorgelegte Untersuchung für meine früheren Texte so etwas wie das philosophische und erkenntnistheoretische Fundament nachliefert, nunmehr systematisch aus einer Mādhyamaka-Perspektive entfaltet. Frühere eher rein philosophische Entwürfe4 waren mit Blick auf die Frage von „Wahrheit und Illusion“ Prolegomena zum vorliegenden Text.

Der leichten Lesbarkeit halber habe ich fremdsprachige Zitate konsequent ins Deutsche übersetzt bzw. auf deutsche Übersetzungen zurückgegriffen, auch um die verwendete Sprache begrifflich konsistent zu machen. Hinweise auf ursprüngliche Sanskrit-Begriffe sind gelegentlich in Klammern eingefügt, ohne sie ausführlich zu erörtern. Die immanent illusionäre Natur von Begriffen sorgt ohnehin schon hinreichend für allerlei Schwierigkeiten des Begreifens. Hierbei kommt es mir auf Verständlichkeit aus einer europäischen Perspektive, nicht auf philologische, religionswissenschaftliche Exaktheit oder die Reproduktion einer von je verschiedenen Schulen gepflegten spezifischen Begrifflichkeit an.

Dankbar sei noch nachgetragen: Bei Diskussionen im Nachgang zahlreicher Vorträge, aber auch als Reaktion auf frühere Publikationen habe ich viele Hinweise und Vorschläge, aber auch sehr hilfreiche Kritik erfahren, die hier einzeln aufzuzählen mir gänzlich unmöglich ist. Ich kann mich nur allgemein an dieser Stelle dafür bedanken. Nicht zuletzt mit meiner Frau, Elisabeth Müller-Brodbeck, konnte ich – als der dankbar Beschenkte – viele Aspekte der nachfolgenden Fragen vor dem Hintergrund unserer langjährigen Meditationspraxis klären. Im Gespräch mit meinen Studierenden habe ich über die Jahre hinweg gerade in der Betreuung von wissenschaftlichen Arbeiten selbst viele hilfreiche Hinweise erhalten. Sie zeigen, dass bei jeder Hilfe für andere stets der Gebende auch der Lernende ist. Ohne all dies wäre dieser Text nicht, wenigstens nicht so geworden, wie er sich, immer noch zweifellos höchst unvollkommen, nachfolgend präsentiert.

Karl-Heinz Brodbeck
Gröbenzell, im Sommer 2018

1

Einleitung

Weshalb sollte ausgerechnet ein buddhistischer Blick auf Fälschungen, Illusionen, Fiktionen oder Täuschungen zu neuen und anderen Einsichten führen als jenen, die in zahlreichen westlichen Untersuchungen bislang schon gewonnen wurden?5 Um die Geduld der Leser nicht über Gebühr zu strapazieren, gebe ich vorab eine kurze Antwort auf diese Frage; die längere Antwort findet sich in den nachfolgenden Kapiteln.

Der Buddhismus ist zwar auch eine Religion, zugleich aber, was oft übersehen wird, vor allem eine Philosophie und darin eine Methode der Geistesschulung. Das philosophische Herzstück des Buddhismus ist die Philosophie des Mittleren Weges (madhyama pratipada), die Mādhyamaka-Philosophie. In dieser Schule werden Aussagen verschiedener Systeme oder auch nur von Alltagsvorstellungen nicht mit einer alternativen Theorie konfrontiert, sondern man geht ganz auf die Argumente der kritisierten oder untersuchten Denkweise ein. Dies allerdings so, dass man darin eingebettete, implizite und nicht bewusste oder näher reflektierte Vorstellungen aufgreift und zu Konsequenzen treibt, die den vordergründig vertretenen Ansichten widersprechen. Jene, die diese Ansichten hegen, können sich auf diesem Wege rein argumentativ dann von den darin liegenden Illusionen befreien. Eine Nötigung, gar eine Bekehrung zu „alternativen Sichtweisen“ gibt es prinzipiell nicht. Mehr noch, Mādhyamaka ist eine Methode, das heißt selbst keine „Sichtweise“, die dogmatische Aussagen macht.

Diese Schule im Buddhismus kann man als Korrektur und Vertiefung dessen betrachten, was im frühen Buddhismus ausgesagt und dort im „Abhidharma“ zusammengefasst wurde.6 Der Abhidharma war der Versuch einer Systematisierung jener psychologischen und erkenntnistheoretischen Aussagen, die sich in den überlieferten Sutren (Pali: Suttas) finden, die ihrerseits als „Wort des Buddha“ gelten. Dieser Abhidharma, der in mehreren Varianten vorliegt, stets aber eine erkennbar dogmatisch-schematische Form angenommen hat, wurde von späteren Schulen oft kritisiert, bildet aber doch so etwas wie den stillschweigenden Hintergrund auch dieser Systeme.

Die Mādhyamaka-Schule, die viele alte Zöpfe abgeschnitten hat und zugleich auch zu neuen Einsichten führte, wird in der buddhistischen Überlieferung ergänzt, teilweise auch kritisch erweitert von zwei anderen philosophischen Schulen des Buddhismus: der erkenntnistheoretischen Schule, die gültige Aussagen in den Mittelpunkt rückt, und der Nur-Geist-Schule, die eher ontologisch verfährt, d.h. versucht, das Erkannte auf Geistiges oder auf das Bewusstsein zurückzuführen.

Die spezifische Form des buddhistischen Denkens zeigt eine ganz eigene Logik, die sich in wichtigen Elementen vom europäisch-philosophischen Denken unterscheidet. Im Zentrum steht aber immer die Frage nach Wahrheit und Illusion. Diese in der abendländischen Philosophie nahezu durchgängig als ein duales Verhältnis diskutierte Frage, worin Schein und Wesen, Erscheinung und Wirklichkeit, Phänomen und Idee usw. zwar in verschiedenen Begriffsformen, der Sache nach aber in der von Platon (428-348 v.u.Z.) vorgezeichneten Form diskutiert werden. Es ist deshalb für eine buddhistische Perspektive im Westen unerlässlich, immer wieder auch auf die Differenz zur abendländischen Philosophie hinzuweisen, fallweise auch mit deren Erkenntnissen und Erfahrungen die buddhistische Sichtweise zu erweitern oder zu modifizieren.

Das Verhältnis von Wahrheit und Illusion wird in der buddhistischen Philosophie anders als im Abendland bestimmt. Es gibt hier keine ontologische Differenz zwischen Wahrheit und Illusion. Was heißt „ontologisch“? Ontologie ist jener Teil der traditionellen Metaphysik, in dem man nach dem Sein, der Existenz einer Sache, eines Dings, eines Gedankens oder auch nur vorgestellter Inhalte (wie eine mathematische Formel, eine Phantasie, eine Stimmung) fragt. In der buddhistischen Philosophie wird der Wahrheit und der Illusion nicht ein je eigenes Sein zugeschrieben, noch geht man davon aus, dass Wahrheit oder Illusion überhaupt ein „Sein“ besitzen. Wenn man dafür den Ausdruck „Leerheit“ – der noch ausführlich zu erläutern sein wird – verwendet, so ist allerdings auch nicht das Gegenteil behauptet. Man sagt in der buddhistischen Philosophie gerade nicht: „Die Wahrheit ist ein Nichts“ oder „Es gibt keine Wahrheit“ – aber auch nicht „Die Illusion ist ein Nichts“ oder „Es gibt keine Illusion“. Die Wahrheit ist auch nicht einfach die Abwesenheit einer Illusion.

Ich werde den Sinn dieses Gedankens auf mehreren Wegen zu entfalten versuchen, auch in einem Abschnitt über die häufig gebrauchte Metapher von Schlange und Seil. Der Grundgedanke ist einfach; er findet sich auch bei Sextus Empiricus7. Ich gebe ihn hier nur ganz kurz wieder, später dazu Genaueres und mehr: Wenn man des Nachts einen dunklen Raum betritt, in dem ein eingerolltes Seil auf dem Boden liegt, dann mag man es zunächst für eine Schlange halten. Die Illusion verschwindet bei anderem Licht. Nun sind Schlange und Seil gerne gebrauchte Metaphern für Täuschung und Wahrheit. Offensichtlich ist das Seil hier aber nicht die Wahrheit der Schlange, die etwas ganz anderes bleibt. Auch ist diese Illusion nicht nur ein Denkfehler, die Folge einer Sehschwäche. Man kann auch nicht sagen, dass die Schlange nur im Bewusstsein „existiert“, nur das Seil sei wahre Wirklichkeit. Denn die Schlange wird ja durchaus in der „Wirklichkeit“ gesehen.

Dazu ist erläuternd sehr viel mehr zu sagen. Ich ziehe den Hinweis auf dieses Beispiel nur vor, weil diese Metapher eine grundlegende Denkfigur in der buddhistischen Philosophie vorab verdeutlichen kann: Weder ist hier die Schlange „mit sich identisch“, noch kann man sagen: Sie existiert. Man kann aber auch nicht sagen: Sie existiert nicht. Sie „ist“ ein Seil, aber irgendwie „ist sie es auch nicht“. Beides zugleich gilt auch nicht, denn man sieht nicht Schlange und Seil zugleich. Das ist wie bei den Kippfiguren in der Psychologie, z.B. dem „Necker’schen Würfel“, bei dem die Perspektive unaufhörlich kippt: Welche Kante vorne gesehen wird, ist nicht durch die Bleistiftzeichnung festgelegt, ist also keine „objektive Realität“ – und dennoch ist die Zeichnung nicht nichts. Ähnliches zeigt sich bei dem von Ludwig Wittgenstein (1889-1951) in seinen „Philosophischen Untersuchungen“ diskutierten Beispiel eines Entenkopfes, der immer wieder in einen Hasenkopf umkippen kann (der Schnabel erscheint dann als die beiden Ohren des Hasen).8

Die abendländische Philosophie hält wohl in ihren Grundzügen, auch bei den Kritikern jeweils früherer Systeme oder der Metaphysik überhaupt, doch an einer ontologisch zu deutenden Dualität von Illusion und Wahrheit fest. Gleichwohl zeigen sich auch hier immer wieder ganz andere Blickweisen, die der buddhistischen Fragestellung sehr nahe kommen. Es gibt aber ohne Zweifel auch deutliche Differenzen zwischen Buddhismus und der abendländischen Philosophie, da letztere über sehr lange Zeit und auch noch in der Moderne ihre Aussagen häufig mit theologischen Vorstellungen verknüpft hat. Um meine These etwas zu relativieren: Auch in der europäischen Tradition gab es – ich werde die Skepsis, Friedrich Nietzsche (1844-1900) und andere näher mit heranziehen – eine Kritik sowohl der Substanzvorstellung wie auch der Theologie, was übrigens keineswegs dasselbe bedeutet. Karl Marx (1818-1883) ironisierte auf den Schultern von Ludwig Feuerbach (1804-1872) stehend jede Religion, blieb aber gerade im Kern seines Materialismus, seiner Ökonomie, ein dogmatischer Substanzdenker. Erst Nietzsche hat diese Linie der abendländischen Philosophie dann kritisiert, freilich nicht ohne selbst auch wiederum auf ganz andere Weise ein Wesen namens „Leben“ oder „Trieb“ wie eine Substanz festzuhalten. Im Buddhismus gibt es keine Aussage über einen Schöpfergott, aber auch nicht über eine quasi-göttliche Weltsubstanz, mag man diese nun wie Spinoza selbst „Gott“ nennen, mag man dies durch die Abstraktion „Materie“ ersetzen, mag man die Materie auch physikalisch spezifizieren, wodurch dann die Naturgesetze als so etwas wie eine Weltsubstanz oder als Gott-Ersatz fungieren. Mit ihnen erklärt man den Kosmos; sie selber bleiben unerklärt.

Nun bezweifelt im Buddhismus niemand die Verwendung von Wörtern zur Bezeichnung alltäglicher Aufgaben und Fragestellung; niemand bezweifelt also den konventionellen Nutzen bestimmter Begriffe. Allerdings gibt es bei aller Kritik der Substanztheorien (im Buddhismus heißt die Substanz: „svabhāva“) so etwas wie eine endgültige Wahrheit im Unterschied zu den alltäglichen, konventionellen Wahrheiten. Darin bewährt sich der Buddhismus durchaus als „spirituelles“ System. Im Horizont dieser beiden unterschiedlichen Perspektiven – die „zwei Wahrheiten“ genannt – gelangt die hier entwickelte Analyse zu anderen Ergebnissen als die Substanzmetaphysik in all ihren Formen. Doch gerade auch der Sinn dieses Unterschieds ergibt sich nur durch den Vergleich, also relativ zur abendländischen Philosophie und Wissenschaft. Wenn man so will, bleibt also die Bereitschaft für ein vernünftiges Gespräch, für einen Diskurs die letzte, die unhinterfragte Voraussetzung für alle nachfolgenden Argumente. Diese Bereitschaft kann ich weder einfordern, gar logisch erzwingen noch rein empirisch allgemein voraussetzen. Wer feste Überzeugungen hat, wäre gut beraten, die Lektüre dieses Textes hier zu beenden, denn, wie Friedrich Nietzsche so treffend sagte: „Überzeugungen sind gefährlichere Feinde der Wahrheit als Lügen.“9

Hilfreich für einen Einstieg in die nachfolgende Fragestellung und zur Anknüpfung an die westliche Diskussion ist vielleicht ein kleiner Blick auf einige Fälschungen, also die Form, in der absichtlich jemand eine Täuschung erzeugt, die – anders als in einer Zauber-Show oder im Kino – von anderen als Wirklichkeit geglaubt wird.

„Täuschung“ hat einen Doppelsinn. Wir müssen „sich-täuschen“ von „andere-täuschen“ unterscheiden. Im ersteren Sinn ist „Täuschung“ gleichbedeutend mit Illusion, in letzterem Sinn enthält Täuschung einen anderen Sinn, enthält ein intentionales Moment, wie auch die Lüge.10 Eine in ihrer historischen Wirkung eher harmlose, gleichwohl oft im Zentrum des Publikumsinteresses stehende Form des Andere-Täuschens bezieht sich auf Fälschungen in der Kunst. Sie liefern auch das einfachste Denkmodell für das Verständnis des Begriffs „Fälschung“: Man kann Original und Fälschung, Autor und Plagiator vergleichend nebeneinander stellen. Es wurden entweder der jeweilige Urheber, der Schriftsteller, Komponist oder Maler nicht oder ein anderer als Urheber genannt; oder das gefälschte Werk möchte den Anschein erwecken, im Stil der „Originale“ anderer Künstler geschaffen worden zu sein.

Weniger klar sind die Fälschungen in der Historie oder in den Naturwissenschaften. Das „Original“ ist hier entweder ein bestimmtes historisches Ereignis oder – bei den Wissenschaften – ein Vorgang in der äußeren Natur. Zu beidem haben wir neben den jeweils darüber erzählten Geschichten (jede „Erklärung“ ist zunächst einmal eine Geschichte) keinen Zugang.11 Das „Original“ ist seinerseits nur durch eine andere Geschichte erkennbar, durch andere historische Erzählungen oder naturwissenschaftlich beschriebene „Fakten“, die entsprechend protokolliert wurden. In einer erzählenden, beschreibenden Zugangsweise ergeben sich mannigfaltige Möglichkeiten der Fälschung – Möglichkeiten, die immer wieder auch genutzt wurden. Wer die Wirklichkeit also fälschen möchte, erzählt zunächst eine Geschichte, und jede Geschichte hat ihre suggestive Wahrheit, handle sie nun von der Eroberung Trojas oder der Erschaffung der Welt, die in der modernen Kosmologie nur anders als in der Bibel erzählt wird, gleichfalls aber in einer Erzählung nur vom Rätsel des Anfangs durch eine neue Geschichte ablenkt. Nun sind Geschichten, die über Fakten erzählt werden, in ihrer äußeren Erscheinung nicht unmittelbar als Fälschung erkennbar. Wer die Weltentstehungsgeschichten in der Mythologie des alten Indien oder in der Bibel schon in ihrer Erzählform als unglaubwürdig, weil schlicht unvorstellbar bezeichnet, wird diverse Erzählungen über den big bang, formuliert von Astronomen in einer komplexen mathematischen Form, kaum als besser verständlich bezeichnen können.

Ein oft genanntes Beispiel für eine Fälschung in den Naturwissenschaften ist der russische Forscher Trofim Denissowitsch Lyssenko (1898-1976), der in der sowjetischen Stalin-Ära wider die damals aufblühende Genetik nachzuweisen versuchte, dass nicht Erbfaktoren (Gene), sondern Umweltbedingungen die Eigenschaften der Lebewesen bestimmen. Das gelang ihm offenbar nur, indem er einige seiner Forschungsergebnisse fälschte. Dieses Beispiel erhellt zugleich auch einen Grund für das Herstellen von Fälschungen, etwas, das Wissenschaftler oder Historiker eigentlich zutiefst verabscheuen – wenigstens, wenn es die anderen tun. Man fälscht, weil damit ein persönliches, schlimmer ein ideologisches oder noch schlimmer aus Geldgier ein rein pekuniäres Interesse verknüpft wird. In historischen Fälschungen sind meist Macht- und Geldgier untrennbar als Motivation verknüpft. Historiker haben derartige Fälschungen aber auch vielfach entlarvt. Eine der berühmtesten darunter ist die „Konstantinische Schenkung“ (Constitutum Constantini), ein gefälschtes Dokument aus der Zeit um 800, das dem Papst Silvester I. und sämtlichen Nachfolgern bis ans Ende der Zeit die Oberherrschaft über Rom und Teile des Römischen Reiches überträgt. Wie sich zeigt, hat diese Fälschung historisch nachhaltig gewirkt. Fälschungen sind aus der Literatur, in der Musik, aber auch in den Wissenschaften durchaus nicht selten aufgetaucht. Allein jene Fälschungen, die im Mittelalter zu entdecken sind, füllten als Dokumentation des Kongresses „Monumenta Germaniae Historica“ (1986), veranstaltet vom Deutschen Institut für Erforschung des Mittelalters, schließlich sechs Bände.12

Fälschungen, aber auch die bloße Unterdrückung alternativer Auffassungen, sind teilweise alt; und sie haben nicht nur für die abendländische Kultur eine nachdrücklich prägende Wirkung gehabt. Also nicht erst die jüngste Allgegenwart des Vorwurfs, Fake News zu verbreiten, hat die Frage nach Täuschung, Lüge und Illusion in den Vordergrund gerückt. Die Wirklichkeit selbst, nicht nur Erscheinungen in ihr sind fragwürdig geworden. „Fälschungen, wohin man sieht“, schrieb William Gaddis in seinem 1955 erschienenen Roman The Recognitions, der im Deutschen den treffenden Titel trägt: „Die Fälschung der Welt“.13 Joseph Roth (1894-1939) prägte den Begriff der „erlogenen Wirklichkeit“ und sagte: „Der Respekt vor der Wirklichkeit ist so groß, dass selbst die erlogene Wirklichkeit geglaubt wird.“14 Hannah Arendt (1906-1975) bezog diesen Begriff auf die politische Sphäre und nahm darin auf philosophisch reflektierte Weise das vorweg, was heute Fake News heißt.15 Eine vor allem „medial erlogene Wirklichkeit“16 ist in der Gegenwart zum Alltag geworden und wird auch alltäglich diskutiert. Dies allerdings unter dem sehr eingeschränkten Aspekt, dass man Aussagen meist nur als „Meinungen“ nimmt, miteinander konfrontiert und im häufigen Fall eines Widerspruchs sich wechselseitig der Lüge oder des Verbreitens von Fälschungen, von Fake News bezichtigt.

Vor allem die Personalisierung ist allgegenwärtige Praxis geworden. Wenn jemand eine für eine bestimmte Seite unbequeme Aussage macht, dann bricht der Diskurs ab durch die Zuweisung des Labels Fake News oder, noch ausgrenzender, den Vorwurf, jemand sei ein Verschwörungstheoretiker. Beliebt sind auch personale Zuschreibungen, man sei „islamophob“, „antisemitisch“, ein „Nazi“, „linker Antifa-Gewalttäter“ oder schlicht und einfach nur „links-“ oder „rechtsradikal“. Hier fehlt jede Empfindung für eine argumentative Verantwortung. Im wechselseitigen sich Bezichtigen, der Zuschreibung von je abgelehnten oder „verwerflichen“ Meinungen genügt das Umsichwerfen mit in sich völlig leeren, abstrakten Labels.

Der in die US emigrierte jüdische Philosoph Leo Strauss beschrieb dieses Verfahren mit Blick auf den „Nazi-Vorwurf“ als reductio ad Hitlerum.17 In anderen Bereichen werden andere Reduktionen verwendet, so in der Klimadebatte das Einsortieren in die Reihen der „Klimaleugner“ – schon dem Wortsinn nach ein alberner Vorwurf, weil niemand wirklich leugnen wird, dass es überhaupt ein und spezifischer ein sich wandelndes Klima gibt, dass man sich aber sehr wohl darüber streiten kann, was in der Gegenwart die besonderen Ursachen dafür sind. Strauss kritisiert ein derartiges Einsortieren in abstrakte Schubladen, die weiteres Argumentieren erspart und damit die Möglichkeit einer rationalen Diskussion verhindert. Es sind häufig auch Zuweisungen, die als Teil oder auch nur als vermutete Ähnlichkeit in Aussagen von Menschen vorkommen, die aus irgendeinem Grund verachtet und ausgegrenzt werden. So entgeht man zugleich der Gefahr, durch kritische Nachfragen das eigene Argument durch eine reductio ad absurdum als unhaltbar einsehen zu müssen.

Gerade diese Methode wird aber in der Mādhyamaka-Philosophie vorwiegend im Diskurs benutzt. Man formuliert nicht jeweils Gegenthesen, die sich einer Meinung entgegenstellen und alternativ verteidigt werden. Vielmehr greift man die Argumente der Gesprächspartner auf und führt sie zu in diesen Argumenten selbst liegenden, wenn auch vielleicht zunächst nicht offensichtlichen Konsequenzen, die auch vom Gesprächspartner akzeptiert werden. Deshalb scheint es mir aus dem Geist dieser buddhistischen Tradition besonders geboten, dass diese Form des Strebens nach Wahrheit und die damit verbundene Entlarvung von Illusionen in der aktuellen Debatte eine vernehmbarere Stimme erhält. Es ist durchaus dieselbe Stimme, die in der Aufklärungsphilosophie und in der griechischen Skepsis schon einmal überdeutlich zu hören war. Nur so können wir über Illusionen, Täuschungen, Fälschungen, Fiktionen und Lügen vernünftige, dem Diskurs verpflichtete und damit auch ethisch begründbare Aussagen machen.

Bislang scheint aber die öffentliche, teilweise auch die wissenschaftliche Debatte sich von diesem Ideal nur noch weiter zu entfernen. Der wechselseitig erhobene Vorwurf, nur Fake News zu verbreiten, ist nur der auffallendste Vorschein dieses „Niedergangs der Debattenkultur“18. Was einst noch verniedlichend „Zeitungsente“ genannt wurde, hat sich seit dem Jahr 2016 zu einem weltweiten und weltweit kommentierten Phänomen entwickelt. Sogar Papst Franziskus warnte in seiner „Botschaft zum 52. Welttag der sozialen Kommunikationsmittel“ vor Fake News und definierte sie als Nachrichten, „die zwar falsch, aber plausibel sind“. Weiter sagte der Papst: „Die Wirksamkeit der Fake News liegt vor allem in ihrer mimetischen Natur, in ihrer Fähigkeit der Nachahmung also, um glaubhaft zu erscheinen.“19 Der wissenschaftliche Dienst des Deutschen Bundestags sah sich gleichfalls genötigt, in einem Dokument vom Februar 2017 mit dem Titel „Fake-News. Definition und Rechtslage“, Stellung zu nehmen. Darin wird die rasche und virulente Verbreitung dieses Begriffs auf eine Äußerung des US-Präsidenten vom 11.01.2017 auf einer Pressekonferenz zurückgeführt, auf der Donald J. Trump zu dem CNN-Journalisten Jim Acosta sagte: „You are fake news!“20

An die Stelle von Fake News tritt auch gelegentlich das scheinbar weniger polemisch klingende Wort „postfaktisch“. Angela Merkel hat es 2016 verwendet, als sie sagte und definierte: „Es heißt ja neuerdings, wir lebten in postfaktischen Zeiten. Das soll wohl heißen, die Menschen interessieren sich nicht mehr für Fakten, sie folgen allein den Gefühlen.“21 Dass Menschen sich gerne auch von Gefühlen, weniger von Tatsachen leiten lassen, ist nicht unbedingt eine Einsicht, die nach einer neuen Kategorie verlangen würde. Der Begriff „postfaktisch“ verströmt einen modischen Duft, der sich in allerlei anderen „postmodernen“ Sprachnebel ohne weitere Reflexion einsortieren lässt und – wider den Wortlaut – dadurch gerade Modernität heischen möchte. „Fake News“ ist schon ein weit aggressiver vorgetragener Begriff, der in der Regel nur als polemischer Vorwurf gemeint ist. Seine Verwendung verrät nur, dass Sprache als Waffe, nicht als Verständigungsmittel gebraucht wird. Um Fälschungen, Lügen oder Illusionen aber tatsächlich als das, was sie sind, zu durchschauen, ist es unerlässlich, ihr Gegenteil – die Wahrheit – geklärt zu haben. Das wird die Aufgabe der nachfolgenden Kapitel sein.

Nun kann man Illusionen, Lügen oder Fälschungen zwar einfach als Negationen wahrer Aussagen definieren. Doch hier ist – wie beim Wahrheitsbegriff selbst – zwischen verschiedenen Stufen oder einem Grad der Falschheit in den Lügen oder Illusionen zu unterscheiden. Jede Lüge enthält in irgendeiner Hinsicht wahre Elemente. Wenn eine Aussage nur aus Falschem bestünde, so wäre sie gänzlich unverständlich. Die Sache wird allerdings noch dadurch komplizierter, dass es auch Illusionen gibt, deren Verneinung keineswegs zu einer endgültigen oder auch nur relativen Wahrheit führt. Zu sagen, dass in der Dämmerung keine Schlange gesehen wird, sondern ein Seil, ist selbst nur eine vorläufige Antwort, die sowohl im relativen wie im absoluten Sinn nur weitere Illusionen beinhaltet. Es zeigt sich hier die Gültigkeit der Aussage von Nāgārjuna (2. Jh.), dass man auch konventionell gedeutete Erfahrungen nicht nach Sein oder Nichts klassifizieren kann. Ein Ja oder Nein bleibt notwendig immer eine relative Antwort, in der – mit Blick auf Illusionen – stets nur ein gewisser Grad an Falschheit entschleiert wird. Der Illusionscharakter verschiebt sich nur; er wird nicht gänzlich aufgehoben. Wie immer eine kritische Diskussion von vermeintlichen Tatsachen auch klärend wirken mag: Man erreicht dadurch nicht, wie Dharmakīrti (7. Jh.) und Descartes (1596-1650) übereinstimmend hofften, so etwas wie eine endgültige, eine klare Wahrnehmung. Auch dazu später mehr.

Aus der Analyse der Mādhyamaka-Schule im Buddhismus ergibt sich allerdings, wie zu zeigen sein wird, eine wichtige Schlussfolgerung, um Lügen und Täuschungen in der Gegenwart besser verstehen zu können: Zur Natur aller Phänomene gehört es, nur in Verschränkung mit anderen Phänomenen zu erscheinen. Kein Phänomen besitzt also ein Fürsichsein, eine Identität aus eigener Kraft, sondern es „leiht“ sich das „Sein“ seines Erscheinens immer nur von anderen Phänomenen, die ihrerseits nur eine geliehene, abhängige Existenz besitzen. Dies eben wird die Leerheit an einer je eigenen, aparten Existenz aller Phänomene genannt, und aus dieser Leerheit ergibt sich zugleich die Möglichkeit vielfältiger, auch relativer Täuschungen. Nur weil die Wirklichkeit in diesem Sinn ein leerer Schein bleibt, der sich sein Erscheinen durch seine Abhängigkeit von anderen Täuschungen leiht, deshalb ist eine gezielte Täuschung überhaupt möglich. Hätten die Dinge, die Phänomene je ein unverrückbares Sein, eine unverrückbare Identität, die sich in der Wahrnehmung auch ebenso eindeutig zusprechen würde – eine Lüge, eine Täuschung wäre unmöglich.

Man kann noch ergänzen: Je näher das Bewusstsein in der Wahrnehmung dem ist, was – wie illusionär auch immer – als vermeintlich selbständiges Ding oder Wesen erscheint, desto weniger eröffnet sich ein Spielraum für Lügen. Was wir unmittelbar anfassen und sehen können, das lässt sich weniger leicht in eine irreführende Beschreibung einbetten als Nachrichten aus den Medien, die sich auf ferne Ereignisse beziehen. Deshalb hatte Dharmakīrti alle Schlussfolgerungen, die sich aus ursprünglich beschriebenen Beobachtungen nur ableiten, als prinzipiell fragwürdig betrachtet. Eben dieser vermeintlich einfache Zusammenhang wird aber gerne übersehen, weil man im Zeitalter der medial vermittelten Wahrnehmungen direkte und indirekte Beobachtung oft fraglos nebeneinander stellt.

Der Blick auf die Omnipräsenz der Lüge in der Welt, auf die „Fälschung der Welt“, nachgerade in der Politik, kann besonders in der Gegenwart immer noch vielfältigere Anschauungsobjekte liefern. Nicht selten führt dies zu einer Haltung der Ignoranz, der Abkehr, dem Abtauchen ins rein Private oder in die Berauschung mit Medien oder Suchtmitteln, vor denen schon der Buddha nachdrücklich in seinen fünf ethischen Regeln gewarnt hatte.22 Im Buddhismus, in Buddhas erster Lehrverkündigung der Ersten Edlen Wahrheit, worin die Wirklichkeit als Wirklichkeit des Leidens beschrieben wird, wird man deshalb nicht grundlos häufig ein sehr skeptisches Urteil über die jeweilige Aktualität, auch in der Moderne finden. Der in der Nyingma-Schule des tibetischen Buddhismus einflussreiche Lehrer Patrul Rinpoche (1808-1887) sagte in einem durchaus pessimistischen Ton: „In diesen Zeiten, wo der Bucklige den Aufrechten für bucklig hält, / Kannst du niemandem helfen – lass alle Hoffnung darauf fahren.“23 Ähnlich klingt der Zenmeister Dōgen (1200-1253), der eine nicht minder pessimistische Schlussfolgerung aus einem erkennbar melancholischen Blick auf die Wirklichkeit zog: „Oft versuchen die Menschen ihre Umstände zu ändern, obwohl dies natürlich nicht möglich ist. Gib solche nutzlosen Tätigkeiten auf und entwickle ein klares Verständnis für den Weg.“24 Dōgen hat hier nur auf eher poetische Weise das formuliert, was im Mādhyamaka als nüchterne Erkenntnis präsentiert wird. Allerdings schwingt bei ihm unüberhörbar über die illusionäre, vergängliche Welt ein dunkler Ton mit. „Dōgens Leben ist von der Vergänglichkeitstrauer wie von einer dunklen Wolke umhüllt.“25 Diesen Hauch von Wehmut kann man bei vielen großen buddhistischen Lehrern entdecken. So meinte auch das letzte Oberhaupt der tibetischen Nyingma-Schule, Dilgo Khyentse (1910-1991): „Jetzt, in diesem entarteten Zeitalter, haben wir den Höhepunkt der Illusion erreicht.“ Ratschläge an Lernende scheinen ihm vergeblich zu sein: „Am besten ist, man schweigt.“26

Es gibt allerdings im Buddhismus auch das genaue Gegenteil. Der Buddhismus wird als eine Religion des Glücks vermarktet; dies nicht selten durch „Gurus“, die selbst einem verschwenderischen Leben und zweifelhafter Moral ergeben sind. Erwähnt man – wie es dem Verfasser dieser Zeilen so ergangen ist – in einem Vortrag die Erste Edle Wahrheit, die Wahrheit vom Leiden, so darf man gelegentlich Reaktionen von Zuhörern erwarten, wie jene einer Zuhörerin, die mir empört entgegenhielt: Kernthema im Buddhismus sei doch das Glück, nicht das Leiden. In einer Welt, die sich immer mehr mit Lügen und Täuschungen herumschlagen muss, entspricht die Glückstäuschung exakt einer auf Konsum, Werbung und mediale Illusionen angelegten Wirtschaft und Gesellschaft. Joseph Roth sagte in den 1930er Jahren inmitten der politischen Verdüsterung: „Es ist, als bemühte man sich allerseits, den verlogenen Firnis der Gutgelauntheit, der den miserablen Zustand der Welt überdeckt, nicht dadurch zu beschädigen, dass man eine der Wunden auch nur erwähnt, an denen diese Zeit leidet.“27

Eine von extremen Fehldeutungen freie Zugangsweise findet sich in der Philosophie des Mittleren Weges, in der Mādhyamaka-Schule des Buddhismus. Bei einem nüchternen Blick auf die tatsächlichen Lehren des Buddha lässt sich sagen, dass Weltschmerz und Glückseuphorie nur zwei Extreme sind, die im Mittleren Weg erkannt und dadurch weitgehend vermieden werden. Zweifellos kann man sagen, dass Menschen nach Glück streben, auch, dass die Lehre des Buddha dieses Streben nicht bekämpft, sondern im Gegenteil durch gültige Erkenntnis in realisierbare Bahnen lenkt. Eben dies ist der Sinn einer Entzauberung aller Illusionen durch Wahrheit. Dharmakīrti, wie sich noch genauer zeigen wird, hat Wahrheit gerade dadurch im konventionellen Sinn definiert – und ein Glücksverlangen bewegt sich zunächst immer in den Illusionen der Weltkonventionen –, dass eine gültige, eine wahre Erkenntnis geeignet ist, eine erfolgreiche Handlung auszuführen. Genauer: Eine gültige Erkenntnis erlaubt es, selbst gesetzte Ziele auch tatsächlich zu erreichen. Die meisten Glücksversprechen der Konsumwelt reizen nur zu immer neuen Wünschen, die aber letztlich nie erfüllt werden. Die Allgegenwart des Leidens beruht auf einer falschen Wahrnehmung der Welt, auf Illusionen. Daraus eine Weltflucht zu folgern oder auch zu verzweifeln, ist als das eine Extrem ebenso wenig hilfreich wie das andere Extrem, das gedankenlose Abtauchen in allerlei oberflächliche „Gutgelauntheit“, auf die Joseph Roth hingewiesen hatte. Gleichwohl ist gerade darin auch ein wesentlicher Punkt angesprochen, der bei Illusionen, Täuschungen und Lügen in allen Bereichen in der Moderne fast durchgehend entdeckt werden kann. Die Frage nach Wahrheit und Illusion erweist sich somit als Voraussetzung für eine vernünftig begründete, eine säkulare Ethik, aber auch für das, was die Antike „Lebenskunst“ nannte.

Ein letzter Hinweis als Abschluss dieser einleitenden Bemerkungen. Wenn ich von „buddhistischer Perspektive“ oder schlicht von „Buddhismus“ spreche, so ist damit nicht unterstellt, es gäbe so etwas wie eine – womöglich dogmatisch fixierbare, mit sich selbst identische – Entität genannt „Buddhismus“. Der Begriff „Buddhismus“, so wie wir ihn heute verwenden, hat sich überhaupt erst im Rahmen der vergleichenden Religionsphilosophie Anfang des 19. Jahrhunderts herausgebildet. Wenn heute auch Lehrer, die aus dem Osten nach Europa oder in die USA kommen, scheinbar problemlos von „Buddhismus“ sprechen, so ist diese Abhängigkeit von der europäischen Perspektive, die sich in die Darstellung vermeintlich „rein traditioneller Schulen“ einschleicht, selten bewusst. Selbst der Name „Buddha“ ist das Resultat mehrerer Formulierungsversuche aus dieser Zeitperiode. Erstens haben einige der frühen Religionswissenschaftler noch gar nicht klar unterschieden zwischen verschiedenen Formen des Buddhismus in ihrer Differenz etwa zur indischen Samkya- oder Vedanta-Schule im nicht minder diffus als „Hinduismus“ bezeichneten Kontext. Zweitens wurden erst in den letzten Jahrzehnten zahlreiche der Texte aus über 2000 Jahren Geschichte überhaupt übersetzt. Darin offenbaren sich teils heftig miteinander ringende, teils gravierend sich unterscheidende Schulen oder Lehrmeinungen. Der europäischen Arroganz früherer Kolonialherren wollte es ursprünglich nicht einleuchten, dass außerhalb von Europa überhaupt Tiefes, vielleicht sogar sehr viel Tieferes als in der abendländischen Philosophie und Religion gedacht wurde. Der Terminus „Buddhismus“ war in diesem Sinn zunächst ein reiner Differenzbegriff, eine Unterabteilung dessen, was man „heidnische Religionssysteme“ nannte.

Nun ist es gerade eine Kernaussage in den meisten buddhistischen Traditionen, dass es so etwas wie eine Identität, eine „Selbstnatur“ bei keinem Phänomen gibt. Das gilt auch für „den“ Dharma, wie die jeweils vertretene buddhistische Lehre von seinen Anhängern genannt wird. Der „Buddhismus“ ist als System das, was er zugleich lehrt: leer. Dieser negativ eingeführte Begriff heißt aber positiv gewendet auch „Offenheit“: Es gibt keine Grenze, die den „Buddhismus“ einhegt, mit allerlei scholastischer Grenzpolizei von Hütern der reinen Lehre. Ich korrigiere: Was aber nicht heißt, dass nicht, rein empirisch gesagt, einige buddhistische Schulen gleichwohl mit teils heftiger Sprache ihre Schulidentität verteidigen. Dennoch widerspricht dies gewiss jener philosophischen Tradition im Buddhismus, auf die ich mich nachfolgend meist beziehe: die durch Nāgārjuna begründete Mādhyamaka-Philosophie. Wenn aber „Buddhismus“ ein leerer, also ein offener Begriff ist, wenn damit keine definitive Grenzziehung möglich wird, dann lässt sich das, was darin gelehrt wird, durchaus problemlos an andere Denkformen anbinden oder durch Gedanken aus ihnen erläutern. Anders gesagt: „Buddhismus“ ist eine Leerformel, die sich erst in der konkreten Verbindung mit spezifischen Argumenten, Meditationspraktiken und im Dialog mit anderen Auffassungen mit Inhalt füllt. Eben dies macht es hier in Europa, für einen europäischen „Buddhismus“ mehr als nur wünschenswert, buddhistische Argumente mit jenen aus der europäischen Philosophie und Wissenschaft zu vergleichen. Und nicht nur einfach zu vergleichen, sondern vor allem zu bereichern. Ich werde deshalb immer wieder die europäische Tradition erläuternd einbeziehen, nicht zuletzt aber umgekehrt auch die Denkformen der abendländischen Moderne aus dem Geist des Mādhyamaka einer kritischen Analyse unterziehen. Eben dies ist gleichsam die Grundmelodie der nachfolgenden Seiten, die Wahrheit und Illusion aus einer – so verstanden: offenen – „buddhistischen Tradition“ mehrstimmig zu intonieren versucht.

2

Wahrheit

Die Wahrheit zu kennen, sie zu repräsentieren oder „in ihr zu sein“ – das wird in Religionen, in der Philosophie, aber auch im menschlichen Zusammenleben als hoher Wert gepriesen. Die Bibel verspricht: „Die Wahrheit wird euch frei machen.“ (Joh 8.32) Im Buddhismus wird die Wahrheit nicht minder hoch eingeschätzt: „Die Wahrheit wahrlich ist der süßeste der Genüsse; / In Erkenntnis muss man leben, damit man es das beste Leben nenne.“ (SN 1.42)28 Doch diese Antworten bleiben dunkel, solange man nicht vorab jene Frage stellt und beantwortet, die Pilatus im JohannesEvangelium an Jesus richtet: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18.38). Zweifellos erwartete der römische Herrscher keine philosophische Abhandlung, er formulierte darin vielmehr eine Zurückweisung der Aussage von Jesus: „Ich bin die Wahrheit“ (Joh 14.6). Man spricht im religiösen Kontext einer Person, wenigstens aber einer Offenbarung „Wahrheit“ zu. „Allah ist die Wahrheit“, heißt es im Koran (22.61)29. Auch vom Buddha wird in den späteren Schulen gesagt, er sei ein „Wahrheitskörper“ (Dharmakāya). Die Wahrheit, die uns nach den Worten des Johannes-Evangeliums „frei“ machen soll, ist allerdings nur eine geglaubte, denn Jesus forderte seine Anhänger auf, seinem Wort zu glauben und so seine Jünger zu werden. Diese Deutung der Wahrheit als eine Lehre, der man glaubt und ihrem Verkünder, einem Guru, deshalb ohne kritische Distanz folgt, findet sich wohl auch in späten Formen des Buddhismus. Der Hauptstrom buddhistischer Lehren ist jedoch von ganz anderer Gestalt. Im obigen Zitat ist dies klar ausgesprochen: „In Erkenntnis muss man leben“. Und hier gibt der Buddha einem Fragenden nach der Wahrheit schlicht zu bedenken: „Die Wahrheit sieht man nicht so leicht.“ (Udana VIII.2)

Mit Gebet und Glauben ist es nicht getan. Vor allem in einem Zeitalter, in dem die Lüge allgegenwärtig geworden ist, scheint es unvermeidbar, die Frage: „Was ist Wahrheit?“ erneut, vertieft und im Horizont der jüngeren Erfahrungen neu zu stellen. Die Wahrheitsfrage ist durch die Debatte von Fake News politisch geworden, etwas, das der Dalai Lama schon im April 1993 in einer Rede in Washington betonte: „Wahrheit ist der beste Garant und das reale Fundament von Freiheit und Demokratie. Es spielt keine Rolle, ob du schwach oder stark und ob deine Sache über viele oder wenige Anhänger verfügt – die Wahrheit wird sich schließlich durchsetzen.“30

Dieses Vertrauen auf die praktische Wirksamkeit der Wahrheit, die der Dalai Lama als These formuliert, wird gewiss nicht von jedermann geteilt. „Was wir für Wahrheit hielten, setzt sich keineswegs in der Welt durch“31, sagte etwa Karl Jaspers (1883-1969). Wie auch immer wir das zunächst interpretieren: Gerade dann, wenn wir Illusionen, Lügen, Täuschungen oder Fälschungen durchschauen und etwas Vernünftiges darüber aussagen wollen, dann müssen wir vorab über „Wahrheit“ sprechen. Genauer, wir müssen die Inhalte von Wahrheiten, einen vorläufigen Begriff der Wahrheit überhaupt und die jeweiligen Träger der Wahrheit unterscheiden. Die Frage nach den Inhalten von Wahrheiten lässt sich allerdings rasch so beantworten: Wahrheiten gibt es für alle Lebensbereiche, für Dinge, Handlungen oder Denkformen. Jede Aussage, die über etwas ausgesagt wird, kann wahr oder falsch sein. Solche Wahrheiten können trivial sein oder sie werden in methodisch genauer und bewusster Form in den Wissenschaften gesucht und formuliert, kritisch überprüft, erweitert, verworfen und auch wieder durch neue Wahrheiten ersetzt. All dies sind Wahrheitsinhalte. Ich werde sie nachfolgend nur insofern berücksichtigen, als sie mir in jeweils beispielhafter Form erlauben, den Begriff der Wahrheit näher zu explizieren.

2.1Wahrheiten und die Träger der Wahrheit

2.1.1Wahrheit als personale Beziehung?

Bevor ich mich aber dem Begriff der Wahrheit, also der Wahrheitstheorie oder Wahrheitsphilosophie, den damit verbundenen erkenntnistheoretischen und im engeren Sinn spirituellen Fragen zuwende, möchte ich vorab eine nicht nur für den Buddhismus wichtige Voraussetzung klären. Jede Wahrheit ist – was immer sie sonst noch sein mag – eine Form des Bewusstseins, eine Denkform. Das Bewusstsein, das wird noch ausführlich zu zeigen sein, ist nicht einfach psychologisch als Tatsache zu interpretieren, sondern weist weit über die gewöhnlichen Fragestellungen der Wissenschaften, auch der Philosophie hinaus. Dennoch kann man auch ohne weitere Vertiefung bereits hier sagen, dass die Erkenntnis der Wahrheit untrennbar mit einem Bewusstsein verbunden ist – einem Bewusstsein, das ungeachtet seiner allgemeineren Natur immer auch einen individuellen, personalen oder vereinzelten Charakter besitzt. Die Wahrheit hat also immer auch einen personalen Ort.

Diese Frage wird oft psychologisch verbunden mit der ganz anderen Frage nach der Klugheit, der Reife eines Menschen, seiner Erfahrung, seiner Kreativität oder seinen Fertigkeiten. Abhängig von verschiedenen Menschen sind die Wahrheiten, die jemand als Individuum kennt, versteht, selbst findet, weitergibt oder empfängt, auch verschieden. Dennoch kann man nicht einfach gleichsam in postmoderner Beliebigkeit sagen, dass es ebenso viele Wahrheiten wie Menschen gebe, um damit die Untersuchung der Frage nach der Wahrheit auch schon zu beenden. Denn offensichtlich gibt es auch zahllose Wahrheiten, die viele Menschen teilen. Es mag ihnen nicht bewusst sein, weil man dazu neigt, das je für sich Erkannte auch in eine „Meinung“ zu verwandeln. Eine Meinung ist eine Folge individualisierter Gedanken oder Aussagen. Auch ein kritischer Wissenschaftler hat immer eine „Meinung“. Jeder macht sich also Wahrheiten zu eigen, macht sie zum Mein und ver-meint sie in diesem ganz wörtlichen Sinn. Dadurch werden Wahrheiten zwar gleichsam privatisiert, lassen sich aber nicht auf ein Individuum reduzieren. Dass die Zahl 3 eine Primzahl ist, kann man zwar auch als „Meinung“ aussprechen. Zweifellos handelt es sich dabei aber um eine von vielen geteilte Erkenntnis und damit eine allgemeine Wahrheit.