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Westend Verlag

Ebook Edition

Peter H. Grassmann

Zähmt die Wirtschaft

Ohne bürgerliche Einmischung werden wir die Gier nicht stoppen

Westend Verlag

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Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

ISBN 978-3-86489-743-6

© Westend Verlag GmbH, Frankfurt/Main 2018

Umschlaggestaltung: Buchgut, Berlin

Satz und Datenkonvertierung: Publikations Atelier, Dreieich

Inhalt

Generationenschuld
Systemänderung statt nur Lebensstil
Das Versagen des Systems unter anderem Blickwinkel
Protektionismus
Die Demokratie schwächelt
Verkaufsargument »grün« ist in
1 Verrat an der Zukunft
1.1 Der Globus entgleitet uns: Wir zerstören unsere Lebensgrundlagen
Die Vermüllung der Meere
Die Verschmutzung der Atmosphäre
Eine unsinnige Zahl verharmlost den Klimawandel
Die größten Veränderungen sind nicht reversibel
2018: Rekordjahr der Extreme
Vermögensverwalter werden nervös
Der Globus ist uns entglitten
Die Politik ist gefordert – oder ist sie überfordert?
1.2 Gefangen zwischen Börse und Lobbyismus: Die Wirtschaft und ihre Gier
Die Tragik des Propheten
Zweifel säen durch Lobbyarbeit
Der Wolf im Schafspelz
Brutalo pur – mit Tradition
Parteispenden für eine lobbyfreundliche Politik
Der Import von Shareholder-Value und Millionengehältern
Über die Gier
Verratenes Vertrauen hat kurze Beine
Japan denkt langfristig – und kooperativ
Selbstverantwortung: wirkungsvoll, aber unbeliebt
Innovation ist Risiko – und kennt Verlierer
Der Verlust der Langfristigkeit
Chinesische Innovationsstärke und politische Steuerung statt Abwarten
1.3 Die Demokratie schwächelt: Der Stillstand unseres Systems
Al Gore wäre Präsident – statt historischem Werteeinbruch der USA
Klimakonferenzen: Naivität oder in der Falle des Lobbyismus?
Supergau Energiewende
Unseren Berufspolitikern fehlt der Mut
Ein Häuschen als Wahlgeschenk
Der Wunsch nach Kolonien – ein europäisches Erbe
1.4 Das Ego der Herrschenden: Abheben durch Erfolg
Die Wirtschaft achtet auf Qualifikation
Die Tragik der Angela Merkel
Vom Wert mutiger Führung
Der Fisch stinkt immer vom Kopf zuerst
Wie Demagogen unser demokratisches System missbrauchen
Starke Führung: Antwort auf Komplexität?
2 Gefahr im Verzug
2.1 5 nach 12: Ohnmacht ist keine Option
Eine neue Epoche – marktwirtschaftlich, sozial und demokratisch
2007: Es ist 12 Uhr!
5 nach 12: Die Signale verhallten – die Gerichte werden aktiv
Die Nächsten zahlen
Die Digitalvorherrschaft: Gefahr für die Demokratie
2.2 Janusköpfiger Protektionismus: Schutz der Werte – Freiheit des Handelns
Wohlstand braucht Freiräume
England, not Europe
Calvinismus – die Wurzel der amerikanischen Gier
Weltoffene Märkte als Voraussetzung für Erfolg
TTIP und CETA
Protektionismus pur: America first and only
2.3 Wollen, Können, Tun: Veränderung als Frage von Einstellung, Wissen und Handlungswillen
Ich will – eine Glaubensfrage
Berater, Visionen und Erlerntes
Preis- statt Forschungssubvention
Marktwirtschaft, mit politischer Vorgabe!
Vertrauen: Eckpfeiler einer funktionierenden Gemeinschaft
3 Märkte brauchen Regeln
3.1 Die ökosozial verantwortungsvolle Marktwirtschaft: Werte bestimmt die Gemeinschaft
Freiwillig läuft nichts
Die Politik ist überfordert
Die EU-Kommission macht mit
Von den Wirtschaftsverbänden zerschossen
Kein bundesweiter Volksentscheid
Mitbestimmung – durch die Gemeinschaft
Der Wertekodex: Werteversprechen und Verhaltensregel
Fachverbände als Wächter der Branchenkultur?
NGO: Fachkenntnis mit anderem Blick
Der Klimawandel ist eine besondere Herausforderung
Die Treppe wird von oben gekehrt
Aktionäre, Betriebsrat und Investoren: Plattform ökosozialer Kritik?
Branchenethik: Teil einer fairen Marktwirtschaft
Worte sind mehr als Schall und Rauch
Deutsches Brot und Fastfood
Textil: Das Glück der Schwellenländer
Verpflichtender Fairnesskodex: Gesetzlicher Hebel zur fairen Marktwirtschaft
3.2 Zertifikate beruhigen, Regeln wirken: Verpflichtender Wertekodex für alle Labels
Die stärkste Macht im Markt ist der Kunde – eigentlich
Gütesiegel und Zertifikate: Qualitätsversprechen der Marktwirtschaft
Labels wirken
CO2-Steuer: Wirksame Kostenbelastung
Fairtrade: Globale Mindestlöhne
Thilo Bode: Pionier der Nährwertampel
Das Rauchverbot als Vorbild
Gemeinwohlbilanz und CSR-Bericht
Der Klimajoker
3.3 Von Carl Zeiss bis Zuckerberg
Die überholte Stammesdenke im Erbrecht
Eine gesellschaftliche Veranstaltung
Ein Korrektiv der Arm-Reich-Schere
Auch die Genossenschaften können ihr Wertemodell bestimmen
Erbschaftssteuer: Politisch begehrt, volkswirtschaftlich ein Flop
4 Mehr Macht dem Volk
4.1 Parteien wählen: Die schwächste Form der Mitbestimmung
Diskutieren oder streiten: Das wichtige Vorfeld einer Entscheidung
Dringend reformbedürftig: Wahlsysteme im demokratischen Europa
Einzelthemen dominieren Wahlen
Unregierbare Komplexität
4.2 Die moderierte Demokratie: Volksentscheide
Wir sind das Volk
Brexit: Schicksalhaftes Versagen der Politik
Das Aus der Kohle per Volksentscheid?
Moderierte Partizipation
Neutral informieren – knapp und verständlich
Volksentscheide gegen die Klimakatastrophe
Mitbestimmung ist etwas anderes
Eine Petition des Souveräns?
Umfrageplattform: Digitale Bürgerbeteiligung
Verfassungskonvent?
4.3 Ein nächstes Niveau der Demokratie: Weniger Partei, mehr Fachkompetenz
Der Geschäftsbereich: Ordnungsinstrument komplexer Unternehmen
Das Antimodell der chinesischen Einheitspartei
Eine bessere Diskussionskultur?
Wir sind die Kandidatenlisten leid
Kompetenzmischung statt Berufspolitik
Das Kompetenzmodell: Wahl themenbezogener Fachgruppen
Keine Regionalinteressen auf Bundesebene
Kompetenter, billiger und demokratischer
Begrenzte Amtszeiten und ein Vielparteiensystem
Kanzler oder Präsident: Vom Parlament gewählt
Keine Zukunft ohne erhöhte Kompetenz der Parlamente
4.4 Ohne Bildung ist alles nichts: Wissen und Verständnis als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie
Kinder haben Rechte
Fridays for Future
Selbstbewusste Persönlichkeiten ausbilden
Nächstenliebe als Basis unserer Werte
Sozialverhalten einer Gemeinschaft
Jeder von uns bestimmt die Demokratie
Unsere Zivilisation hat sich überreizt
Mischt euch ein!
Erzeugt Konsensdruck auf die Politik!
Fokussiert euch auf ein Thema!
Fordert klimaneutrales Wirtschaften ein!
Schützt die Grenzen für fairen Handel!
Rettet eure privaten Daten vor dem Zugriff der Digitalkonzerne!
Lasst euch nicht erpressen – Embargos sind inhuman!
Helft Afrika!
Schließt euch zusammen!
Verändert die Arbeit in den Parteien!
Fordert eine Reform des Wahlrechts!
Überarbeitet unsere Verfassung!
Überzeugt andere!
Macht Druck auf die Politik und Wirtschaft!
Macht Druck auf die schwarzen Schafe!
Nutzt die Medien!
Nutzt die Macht der Bilder!
Nutzt die Kraft eurer Jugend!
Die Zeit drängt!
Literatur
Dank

Dieses Buch ist den Hunderttausenden gewidmet, die für eine faire Marktwirtschaft kämpfen.

Generationenschuld

Wir Kinder sollten es wohl nicht hören. »Mitläufer!«, hatte mein Vater gerade gesagt, mit einer Mischung aus Wut und Resignation in der Stimme, und verschwand mit meiner Mutter im Zimmer nebenan. Heute weiß ich, dass er ihre Frage zu seinem Verfahren bei den Nürnberger Prozessen beantwortet hatte. Er war Direktor eines Kaiser-Wilhelm-Instituts gewesen, einem Vorgänger der Max-Planck-Institute. Forschungsdirektoren verurteilten die amerikanischen Richter zumindest als »Mitläufer« des Hitler-Regimes, auch wenn sie nicht unmittelbar an den Gräueltaten des Dritten Reichs beteiligt waren.

»Mitläufer«, das hatte so einen Anflug von Mitschuld, der meinem Vater zu schaffen machte. Er hatte sich 1923 in München an der Niederschlagung des ersten Hitler-Putschs beteiligt. Er hatte das Parteibuch, das ihm die NSDAP aufgrund seiner Position zugesandt hatte, zurückgegeben. Er war abgehört und beobachtet worden und hatte nie die Hand zum Hitlergruß gehoben. Und dennoch galt er jetzt als mitschuldig, als einer, dessen Generation am größten Verbrechen des Jahrhunderts beteiligt war. Er war eben Teil dieser Generation, hatte seine Rolle als Wissenschaftler in verantwortlicher Position wahrgenommen und war in wirtschaftlich schwieriger Zeit mit seiner Karriere als Wissenschaftler und mit seiner neu gegründeten Familie beschäftigt, politisch sehr interessiert, aber nicht wirklich engagiert und generell kritisch gegenüber dem Nationalsozialismus.

Hätte er damals mehr tun können? Denn später, nach dieser sogenannten Machtübernahme und Perfektionierung von Gestapo und SA war wirklicher Widerstand nur noch unter Lebensgefahr möglich. Da war es zu spät, da blieb nur noch die Konzentration auf den Beruf und den Schutz als anerkannter Wissenschaftler für einen kriegswichtigen Rohstoff.

Mein Vater war Direktor eines Instituts für Lederforschung. Leder war in der nationalsozialistischen Zeit ein wichtiger Grundstoff. Auch heute noch ist es nicht perfekt durch Plastik zu ersetzen, und gutes Leder setzt Importe von Gerbstoffen aus dem Ausland voraus. Forschung für neue Gerbverfahren galt deshalb als kriegswichtig. Und als international anerkannter Spitzenforscher blieb er Direktor des Instituts mit fast zweihundert Mitarbeitern, obwohl er nicht »linientreu« war. Wird daraus eine Mitschuld? Hätte er berufliche Stellung, Einkommen und Lebensstandard aufgeben und seine Familie in die Zurückgezogenheit oder gar ins Ausland verbannen sollen?

Worin bestand also seine Schuld? Sicher, er war »Mitläufer« dieser Generation, die diesen dramatischen Rassenhass und einen zweiten großen Krieg zuließ. In diesem Sinne sehe ich auch bei ihm eine Mitschuld, wenn auch durch die schwierigen Umstände gemindert.

Generationenschuld – gibt es das überhaupt? Das frage ich mich heute immer wieder. Kann man eine ganze Generation in Haftung nehmen? Bin nicht auch ich Teil einer Generation, die schwere Schuld auf sich lädt? Der Klimawandel, der Rückgang der Artenvielfalt, die Vermüllung der Meere – das sind doch alles von unserer Generation geschaffene Probleme. Probleme übrigens, die mit europäischer Technologie ihren Ausgang nahmen und für die unser politisches System keine Lösung findet.

Wir stecken tief in einer Systemkrise, einer Zivilisation, die zwar die Kindersterblichkeit verringern und die Lebenserwartung erhöhen kann, aber zugleich den Planeten ausbeutet, als gäbe es kein Morgen und keine Verantwortung für Umwelt und die Generationen nach uns.

Und wie betrifft das mich? Zweifelsohne bin auch ich ein Mitläufer, bin beteiligt an dieser Systemkrise. Sicher, ich könnte sagen: »Auf mich kommt es nicht an.« Aber stimmt das? Denn die Systemschwächen sind letztlich durch uns alle bedingt. Wir leben in einer Demokratie. Wir dürfen zwar nicht direkt mitbestimmen, aber wir dürfen immerhin unsere Meinung ziemlich frei äußern, zumindest in Europa. Die Schuld, die Generationenschuld beginnt wohl da, wo man Ideen zur Veränderung, zur Verbesserung hat, sich an Diskussionen beteiligen und sich äußern kann – und sich dennoch zurückzieht auf genau diese Position: »Auf mich kommt es nicht an.«

Zurückziehen – das passt nicht zu meinem Ehrgeiz. Ich möchte Probleme lösen. Wie es übrigens auch viele andere wollen. Da große Änderungen Diskussion und Ideen brauchen, möchte ich mich einmischen, Anregungen geben, Wege zeigen, wie unsere Zivilisation auf ein nächstes, ein höheres Plateau sozialer Kultur kommen könnte. Wir erleben aktuell eine dramatische Verstrickung unserer Zivilisation zwischen den Gegenpolen Generationenegoismus und Generationenschuld. In so einer Phase nichts zu tun, wäre verantwortungslos. Es wäre auch eine Missachtung all dessen, was Eltern, Lehrer und Gönner und die Allgemeinheit in mich, ja in uns, die sogenannte Elite, investiert haben.

Ich war dabei besonders vom Glück gesegnet. Trotz häufiger Faulheit bin ich mit ebendiesem Glück durch Schule und Studium manövriert, habe später bei Heisenberg promoviert, einem der Intelligentesten der Nachkriegszeit, danach in Boston am MIT studiert, einer der Eliteuniversitäten der USA, die immer an vorderster Front lag, wenn es um neue Technologien ging, und bin schließlich bei einer Firma gelandet, zu der ich erst nicht hinwollte, bei der ich aber von Anfang an in herausforderndes Innovationsmanagement und internationale Führungsfunktion einsteigen konnte, die mich dann in fast alle Länder der Welt führte.

Welch ein Glück – und welch eine Aufforderung, Erfahrungen zurückzugeben an das Land, an den Kontinent, dem ich das alles verdanke. Zurückzugeben auch, weil viele Bürger nicht die Chance dieser vielen Erfahrungen und Eindrücke haben, und zurückzugeben, weil ich bei den Kollegen der Wirtschaft allzu oft eine merkwürdige Zurückhaltung sehe, gar eine Ängstlichkeit, nicht nur von den Vorzügen der Marktwirtschaft zu schwärmen, sondern auch ihre Schwächen einzugestehen und gegen sie anzuarbeiten. Denn es ist die fehlende Werteorientierung der Marktwirtschaft, deren Defizit der Kern der globalen Probleme unserer Zivilisation ist.

Systemänderung statt nur Lebensstil

Vieles habe ich gesehen, Positives und Schreckliches, Aufopferndes und Gemeinheiten, und ich habe mit Politikern und mit Wissenschaftlern gesprochen, manchmal auch gestritten. Ich bin Idea­listen begegnet, die sagen: »Nein, das muss nicht so sein, eine humanere, eine fairere Welt ist möglich!«, und die Lösungen vorschlagen, neue Systemregeln, manches realitätsnah, häufiger aber eher sozialistisch staatsgläubig – immer noch – oder naiv unrealistisch. Aber der Wille, zu verändern, ist mir immer wieder begegnet. Ich habe Hunderte von Büchern über Werteorientierung in der Wirtschaft, über Nachhaltigkeit, über Klimawandel und über geändertem Lebensstil in meinen Regalen. Deren typische Ansätze haben mich allerdings meist wenig überzeugt: Nur Anklagen, wie in Tausenden von Büchern und Hunderttausenden von Vorträgen und Postings mit der immer wiederholten Botschaft »endlich Vernunft« und einen anderen »Lebensstil« anzunehmen, genügen nicht. Das mag man sich wünschen, aber die individuelle Vielfalt und unsere »Unvernunft« verhindern, dass allein daraus eine neue Kultur entsteht. Lösungen müssen am System ansetzen, nicht nur am Individuum.

Ich glaube nicht, dass die Mehrzahl der Bürger die Erschwernisse eines »anderen«, beispielsweise emissionsfreien und auch sonst vorbildlich nachhaltigen, Lebensstils freiwillig auf sich nehmen würde – unabhängig davon, wie diese Umerziehung indoktriniert wird. Vielmehr führt wohl kein Weg daran vorbei, dass wir unser wirtschaftliches System ändern, dass wir es mit der Leitlinie der Nachhaltigkeit weiterentwickeln. Das beobachte ich auch an mir, denn für ein »Nullemissionsleben« wäre ich zu bequem – obwohl die wenigen Menschen, die das versuchen, von einem befreienden Gefühl sprechen. Wie dem auch immer sei: Von diesem arg kleinen Beitrag zur »Lösung« der Probleme bin ich nicht überzeugt. Als Nullemissionsheld bin ich ungeeignet, aber lösungsorientiert war immer meine Devise – und darum geht es in diesem Buch.

Ich erwarte vom System, also von unserer Marktwirtschaft und von den politischen Vorgaben, dass nur Infrastruktur und Waren angeboten werden, die nachhaltig und unbelastet sind, und dass die übliche Haltung der Unternehmen, Profiten mehr Priorität zu geben als Fairness, ausreichend kontrolliert wird. Ich weiß, dass viele genau das Gleiche wollen wie ich. Das also gilt es zu erreichen: bessere Kontrolle der Fehlentwicklungen der Marktwirtschaft durch die Politik sowie mehr Engagement der Wirtschaft, selbst verantwortungsvoll zu agieren. Dabei können wir darauf vertrauen, dass der überwiegende Teil der Bürger eine nachhaltig verantwortungsvolle Zivilisation will, wie es Um­-fragen immer wieder bestätigen. Das gilt es zu nutzen als Gegengewicht zur Macht des wirtschaftsnahen Lobbyismus und seiner großen Verbände. Und als Gegengewicht zu einer oft mutlosen Politik, immer wieder erkennbar dominiert vom Streben nach Machterhalt.

Das Versagen des Systems unter anderem Blickwinkel

Meine jahrelange Wirtschaftserfahrung kann für den Kampf um diese Veränderungen einen anderen Blickwinkel geben, frei von allzu viel Träumerei und Realitätsferne. Ich habe erlebt, wie Marktwirtschaft funktioniert, und gesehen, wie es viele Unternehmen mit ihrer Mischung aus Gier und Lobbyismus immer wieder geschafft haben, ernsthafte Regeln für eine nachhaltige Wirtschaft auszuhebeln, oft mit Dreistigkeit und einer Mischung aus Drohung, Lobbyarbeit und Medieneinfluss und manchmal einfach mit Betrug und Missachtung der Gesetze. Gerade wenn man dazugehört, wenn man »von innen«, aus dem Blickwinkel eines Vorstands, diese Schwächen von befreundeten Konzernführungen sieht, wird man besonders wütend, weil man meint, es müsste nicht so sein. Jeder Konzern sollte sich Fairness in Marktauftritt und Produktentwicklungen und Visionen leisten können, die sich an den großen Problemen unserer Zivilisation orientieren.

Aber so ist es nicht. Weltweit unterwegs und mit den Vorteilen mächtiger Vorstandsinsignien ausgestattet, sieht und hört man mehr, sieht man zu oft auch, wie es nicht sein sollte. Genau diese »Freiheit« der Marktwirtschaft, diese »ordnende Hand«, erreicht zwar Wohlstand, aber diese Freiheit versagt mit Blick auf eine verantwortungsvolle nachhaltige Gestaltung der Zukunft. Immer wieder konnte ich das beobachten, bei uns in Deutschland, in den USA, aber auch in China und Südamerika. Keine der Marktwirtschaften der großen und auch der kleinen Nationen funktioniert so.

Ich fing mehr und mehr an zu grübeln und entwickelte schließlich meine eigenen Lösungsansätze, wie eine fairere gesellschaftliche Ordnung aussehen könnte – eine, für die es sich lohnt, sich einzumischen, sich zu engagieren. Und das tue ich nun seit mehr als zehn Jahren. Durchaus mit einigen Erfolgen, aber eine neue marktwirtschaftliche Kultur ist noch in weiter Ferne. Unsere Zivilisation stagniert seit mehreren Jahrzehnten und ist weitgehend ohnmächtig vor den größten globalen Problemen.

Wir müssen uns endlich eingestehen: Unser politisches System – die aktuelle repräsentative Demokratie Deutschlands – ist nicht mehr gut genug. Bei den Lösungen der großen Probleme unserer Zivilisation scheitert sie. Es genügt wohl nicht mehr, sich nur durch eine Partei und deren Abgeordnete vertreten zu lassen und dann allein dieser politischen Klasse die Gestaltung der Ordnungsprinzipien unserer Welt zu überlassen. Wir Bürger brauchen mehr Einfluss. Wir brauchen nicht eine marktkonforme Demokratie, wie Kanzlerin Merkel das einmal nannte, sondern, da wo nötig, eine bei Fehlentwicklungen der Märkte steuernd eingreifende Demokratie. Und wenn die Repräsentanten das nicht allein schaffen, müssen wir uns selbst stärker in die dringlichsten Probleme einarbeiten, Lösungen erarbeiten und diese durchsetzen. Deshalb hat dieses Buch ein Kapitel mit dem Titel: »Mehr Macht dem Volk!« Wenn wir das demokratische Grundprinzip nicht verlassen wollen, bleibt nur, verstärkt den Bürger selbst, »das Volk«, zu mobilisieren für konsequenten Einfluss und neue Strukturen, die der Meinung des Bürgers mehr Hebel geben – über das Kreuzchen am Wahltag hinaus.

Protektionismus

Vieles, was wir durchsetzen wollen, wird realistischerweise begrenzt werden müssen auf Deutschland oder im besten Fall auf Europa. Denn alles darüber hinaus – weltweite Veränderungen durch Partizipation – bleibt wohl ein schöner Traum. Wirkliche Veränderungen werden wir nur innerhalb unserer eigenen demokratischen Grenzen erreichen können. Wir wissen, wie wenig weltweite Regelungsversuche erreicht haben, und deshalb ist ein gutes Maß an Protektionismus das Gebot der Stunde. Die Auffassung über Generationenverantwortung, über zivilisatorische Ordnung und über Fairness in der Marktwirtschaft ist von Land zu Land und von Kontinent zu Kontinent sehr unterschiedlich. Die Hoffnung auf globale Uniformität in der Meinungsbildung ist Illusion.

Sicher, die großen Probleme sind global. Und dennoch würden wir uns verheben, wenn wir meinen, globale Probleme bedürfen stets globaler Lösungen, und eine verbesserte Demokratie könnte einfach durch mehr Mitsprache von uns Bürgern gelingen. Aber Lösungen in unserer eigenen Welt, in Deutschland, teils auch in Europa, können wir herbeiführen – zumindest, wenn es uns gelingt, die Profitinteressen der Konzerne und der Machtpolitik auszutarieren mit einer ausgewogenen Werteorientierung der Marktwirtschaft statt bremsendem Lobbyismus. Klar, eine weltweite Anpassung ist dadurch nicht zu erwarten, aber auch andere Länder ergreifen Maßnahmen. Eine verstärkt werteorientierte Politik unsererseits könnte durchaus ausstrahlen und in anderen Teilen der Welt nationalen oder auch kontinentalen Ehrgeiz entfachen. Es ist die große Lüge – ja die Flucht vor großen Lösungen –, primär auf eine weltweite Koordination und auf weltweit geltende Verpflichtungen zu hoffen, statt selbst zu handeln, in den eigenen Grenzen.

Als ich begann, mich zu engagieren, schrieb ich zuerst ein Buch. Damals war es sozusagen 5 vor 12. Der Klimawandel war noch eine Hypothese, und die Aussichten, ihn zu begrenzen, waren noch gut. Aber schon damals, in meinem ersten Buch Plateau 3 war ich der Meinung, dass unsere Regierungen den Klimawandel nicht unter Kontrolle bekommen werden. Allein schon die Idee des weltweit verpflichtenden Kyoto-Protokolls war als Irrweg erkennbar, denn es war ein Fingerzeigen auf die anderen, um sich selbst vor Maßnahmen zu drücken.

Und das gern besserwissende Deutschland war bei diesem Spiel weit vorne: Es gab große Berechnungen und Einladungen zu Konferenzen in Bonn und Berlin, aber im eigenen Land gab es keinen Fortschritt – und streng genommen sogar nur Rückschritt. Zwar waren die Beiträge der Bevölkerung unübersehbar: Autos wurden sparsamer, Häuser und Wohnungen wurden sorgfältiger isoliert, und selbst die Kinder mahnten ihre Eltern zu nachhaltigem Lebensstil. Aber die enormen CO2-Emissionen Deutschlands bleiben ungebremst wegen einer unsicheren, teils hilflosen Politik, die statt konsequenter Förderung von Emissionsminderung, erneuerbaren Energien und Ressourceneffizienz allen Lobbyeinflüssen zum Schutze gestriger Systeme nachgibt. Nur die Abschaltung der vielen Dreckschleudern in der ehemaligen DDR brachte Deutschland zunächst statistische Besserung beim Schadstoffausstoß – im Ausland dagegen, in der Schweiz, in Dänemark und insbesondere in den USA und auch China, nehmen die Emissionen inzwischen ab. In den deutschen Medien spielt das aber kaum eine Rolle. Deutschland ist entgegen aller Versprechen beim Klimaschutz deutlich zurückgefallen, wie die Klimakonferenz in Kattowitz Ende 2018 peinlich klarmachte.

Die Demokratie schwächelt

Die Bundesregierung hatte zuvor schon offiziell bestätigt, dass sie die international verbindlich vereinbarten Klimaziele nicht erreichen wird. Damit ist leider meine Vorhersage aus Plateau 3 wahr geworden: Unser Demokratiesystem ist zu furchtsam, um nachhaltig wirksame, unpopuläre Maßnahmen gegen die Macht der Wirtschaftsverbände und manche wohlstandsbedingte Trägheit durchzusetzen. Volksentscheide hätten als Korrektiv den Druck auf Regierung und Industrie deutlich erhöhen können – aber sie sind ein Instrument der direkten Demokratie, mit verbindlicher Sachentscheidung des Wählers. Natürlich gibt es auch ein Pro und Contra, vor allem, weil dadurch die Macht der herrschenden politischen Klasse beschränkt wird. Deshalb wundert es nicht, dass Deutschland, aber auch andere EU-Länder, bei der Weiterentwicklung der Demokratie stagnieren.

Fakt ist leider auch, dass in vielen anderen Teilen der Welt die Demokratie auf dem Rückzug ist, ja, bei der Sicherung der Demokratie ein Schock auf den nächsten folgt. Man schaue nur in Richtung Türkei, Russland, Ungarn; auch ein Blick nach Südamerika zeigt mit den die Demokratie verhöhnenden Beispielen Venezuela, Nicaragua, Bolivien und Brasilien diesen gefährlichen Trend. Fakt ist leider außerdem, dass es viele Länder gibt, in denen die »Demokratie« zwar gepflegt wird, die Regierungen aber zu schwach sind, um das Nötigste für die Bevölkerung umgesetzt zu bekommen.

Schauen wir beispielsweise nach Indien, wo es in sechzig Jahren »Demokratie« nicht gelungen ist, wenigstens die wichtigsten Grundregeln moderner Hygiene durchzusetzen. Erst der aktuelle Präsident Modi startete vor fünf Jahren ein 20-Milliarden-Dollar-Programm »Clean India«, in dessen Rahmen bis Ende 2019 insgesamt 111 Millionen Toiletten gebaut werden sollen. Denn 60 Prozent der indischen Haushalte haben bis heute noch keine Toilette, 1980 waren es sogar um die 80 Prozent. Das ist das Erbe, das der primär ausbeutende englische Kolonialismus dort hinterlassen hat. Die vorangegangenen Ministerpräsidenten, vorrangig aus der Gandhi-Familie, »erhielten und vergrößerten eine ineffektive, mühsame und korrupte Bürokratie, während das Wohlbefinden der Bevölkerung und das Ziel, den Lebensstandard zu verbessern, weitgehend außer Acht gelassen wurden«, schrieb Ende 2018 der aus der Schweiz stammende Investmentberater Marc Faber in einem Rundbrief. Denn Regierungen, wie jetzt unter Präsident Narendra Modi, die mit Bürokratie und Missständen aufräumen, sind natürlich für die Invest­mentszene interessant – sofern der Ordnungsdrang nicht auch zu Einschränkungen einer »freien« Marktwirtschaft führt.

Die Schwächen und die sich in Indien durch alle Institutionen von Regierung und Verwaltung durchziehende Korruption habe ich oft erlebt und manches Mal mit goldenen Cross-Kugelschreibern oder über Mittelsmänner aushebeln müssen. Indien hat enormes geistiges Potenzial, und dennoch ist ihm eine funktionierende Demokratie bisher nicht gelungen. Nach sechzig Jahren scheint hier nun endlich ein härterer Durchgriff die Regierungsarbeit zu bestimmen.

Über die Weiterentwicklung der Demokratie wird in diesem Buch deshalb zu reden sein und auch über die dazu notwendige Qualität der Information der Bürger. Die Beobachtungen aus dem Brexit, die durch Bots und Fake-News verzerrte Wahl von Präsident Trump, die fraglichen Mehrheiten des türkischen Präsidenten Erdog˘an, die auf Populismus und Falschaussagen aufgebauten Wahlsiege in Ungarn oder Italien – all dies braucht eine neue Absicherung korrekter Information und braucht Änderungen am System. Im Internetzeitalter sind die Möglichkeiten des Bürgers, sich zu informieren, deutlich gestiegen. Gleichzeitig hat aber auch die Gefahr von Falschinformationen und tendenziös verzerrten Nachrichten zugenommen. Das fordert eine fundamentale Systemantwort, vor allem, wenn es um politische Informationen oder gar um die Vorphase von Wahlen geht, die vor das Kreuzchen auf dem Wahlzettel die Sicherung korrekter Information und die Ausgrenzung von Ideologie und Falschinformation zu stellen hat.

Neben neuen Formen zur Sicherung korrekter Information brauchen wir neue Wege, um unserer Meinung einen besseren Hebel zu verschaffen. Wir werden über Gruppenbildung, über Zivilgesellschaft, über Bürgerräte und Bürgerforen und generell über neue Formen der bürgerlichen Partizipation reden müssen. Auch ein verändertes Wahlsystem, das dem Wähler eine verstärkt themenbezogene Stimmabgabe erlaubt, gehört in die Diskussion. Es geht darum, den Einfluss der unterschiedlichen Meinungen aus der Bürgerschaft zu verstärken, selbst wenn der Normalbürger zunächst desinteressiert und oberflächlich nur dem Augenblick zugewandt scheint. Am Ende des Tages werden auch wir und nicht nur die nächsten Generationen von dem betroffen sein, was uns das aktuelle weltweite politische Versagen einbrockt.

Verkaufsargument »grün« ist in

Der Stagnation, ja international sogar dem negativen Trend bei der Entwicklung der Demokratie, steht der leicht positive Trend bei der Werteorientierung der Märkte gegenüber. Die Bereitschaft der Unternehmen, auf Nachhaltigkeitsthemen einzugehen, ist gestiegen. Die Zahl der Label und Zertifikate, die Fair­trade oder Klimaneutralität versprechen, ist explodiert. Im Einzelhandel nehmen die Versprechungen zu »Bio« oder »Ökologie« kontinuierlich zu, und immer mehr Kunden sind kritischer geworden. Aber eine flächendeckende Kulturänderung, wie etwa ein kon­sequentes Vorgehen gegen die Überlastung der Gewässer oder der Atmosphäre mit der dadurch entstehenden Klimaänderung, ist nicht erreicht.

Strengere Regulierungen bleiben bis heute unzureichend und greifen meist nur so weit, wie es der Wirtschaft nicht wehtut. Die Wirtschaft profiliert sich unterdessen mit diesen Labels und beschreibt in Nachhaltigkeitsberichten, was man alles »Gutes« tue. Und auch die Politik redet, setzt aber kaum um, ja setzt eher alles daran, dass es der Wirtschaft eben nicht wehtut, dass es vielmehr beim Berichten bleiben kann, ohne Pflichten und ohne Kontrolle. Die EU-Kommission wollte ursprünglich weitergehende Regelungen, hatte mehr selbstorganisierte Verpflichtungen der Wirtschaft gefordert – auf deren starke Möglichkeiten ich noch kommen werde –, aber die großen Wirtschaftsverbände haben diese Idee in konzertierter Aktion zerschossen.

Immerhin, in den Märkten hat sich ein bisschen was bewegt: »Green« ist in, einige Gesetze und Überwachungen sind strenger, die Medien berichen kritischer, und in logischer Folge nehmen Firmen das Wort »Compliance« – die Regeltreue – wesentlich ernster, auch über das Gesetz hinaus. Denn sie fürchten öffentlichkeitswirksame Anklage durch die Medien oder verstörende Qualitätsskandale. Krisenmanagement zum Schutz gegen ein dadurch ramponiertes Image wird in Seminaren gelehrt und durch medienerfahrene Fachkräfte abgesichert. All dies folgt den Wünschen einer Öffentlichkeit, die überwiegend in einer besseren, einer fairen Marktwirtschaft leben will und auch zu Generationen verpflichtender Nachhaltigkeit bereit ist. Es braucht jetzt mehr, es braucht auch einen Kulturwandel, eine Haltung zu Fairness und Anstand, die da greift, wo das Gesetz nicht greift.

Kulturwandel ist eine Führungsaufgabe der Wirtschaft, die aber von der Politik eingefordert werden muss. Die Treppe wird von oben gekehrt. Dieses Oben in den Griff zu bekommen, muss das Ziel sein – durch unser heutiges Engagement und nicht durch Schuldzuweisungen und Gerichtsverfahren in ferner Zukunft. Anders als bei den Nürnberger Prozessen ist kaum anzunehmen, dass die, die besondere Schuld bei langfristigen globalen Schädigungen wie etwa dem Klimawandel haben, eines Tages dafür zur Rechenschaft gezogen werden. Immerhin wurde George W. Bush bereits von einem amerikanischen Gericht verurteilt, schuldhaft das Risiko des Klimawandels vernachlässigt zu haben. Zahlreiche ähnliche Gerichtsverfahren zur Untätigkeit von Regierungen sind zur Zeit oder waren in der Vergangenheit anhängig. Aber Gerichte werden die großen Probleme nicht lösen – der Druck des Bürgers auf die politische Klasse muss konsequenter und unser persönliches Verhalten problembewusster werden. Nur in einer neuen, engen Partnerschaft können wir die globalen Probleme lösen, in die wir durch den Gang unserer Zivilisation hin­eingeschlittert sind. Wir alle sind gefordert, wenn wir Ausbeutung und die dramatische Schädigung unseres Globus nicht ungehindert laufen lassen wollen.

Die Erde wird die großen Schäden, die wir anrichten, nicht vergeben. Die Folgen beginnen, auch uns zu belasten, und sie werden die Lebensbedingungen der nächsten Generationen gewaltig verschlechtern. Und die Nachgeborenen werden uns die Schuld geben, werden fragen: »Was habt ihr gewusst, und was habt ihr getan?« Es ist höchste Zeit zu handeln, es ist 5 nach 12.

2 Gefahr im Verzug

2.1 5 nach 12: Ohnmacht ist keine Option

Eine neue Epoche – marktwirtschaftlich, sozial und demokratisch

Die nach Kriegsende rasch entstehende Kluft zwischen Ost und West war der Auslöser für die Bereitschaft, Deutschland trotz des Grollens über die historischen Verbrechen des Kriegs und des Judenmords wieder zu einer starken Marktwirtschaft aufzubauen, auch als Bollwerk gegen die Expansionsbestrebungen der Sowjet­union. In der Truman-Doktrin kündigten die USA an, dass sie »alle freien Völker« im Kampf gegen totalitäre Regierungsformen unterstützen würden. Und kurz danach verkündete der Weltkriegsgeneral und spätere Außenminister George C. Marshall den nach ihm benannten Plan, den Wiederaufbau Europas und auch Deutschlands mit circa 14 Milliarden Dollar zu unterstützen und in eine vollwertige Marktwirtschaft zurückzuführen. Die westlichen Besatzungsmächte einigten sich dann 1949 auf die Gründung der Bundesrepublik nach demokratisch marktwirtschaftlichen Grundprinzipien, definiert in einem »Grundgesetz«, das man wegen fehlenden allumfassenden Konsens und wegen der entstandenen Teilung Deutschlands (noch) nicht »Verfassung« nennen wollte.

Damit begann in Westeuropa eine neue Zeit, die dank einer leistungsfähigen Marktwirtschaft sowohl die Versorgung als auch Wachstum und Wohlstand in wenigen Jahren herbeizauberte. Ludwig Erhard ergänzte das deutsche Wirtschaftsmodell durch die Verpflichtungen eines leistungsfähigen sozialen Netzes. Die soziale Marktwirtschaft war geboren, ein Kapitalismus auf höherem Niveau, quasi ein Plateau 2.

Aus exportorientierten Firmen wurden bald globale Player mit Fertigungen in vielen Teilen der Welt. Sie bildeten die Basis für eine starke Wirtschaftsentwicklung auf allen Kontinenten. Mit dem Wohlstand stiegen auch die Leistungen der Medizin und natürlich die Standards bei Ernährung, Wasser und Hygiene. Das schuf die Grundlagen für einen Rückgang der Infektionskrankheiten und der Kindersterblichkeit und damit für ein enor-mes Bevölkerungswachstum. Der Club of Rome sandte 1968, vor fünf­zig Jahren also, seine erste große Warnung über die globalen Belastungsgrenzen, aber beachtet wurde dies bis vor Kurzem nicht – trotz ständig wiederholter Warnungen. Hatten meine Schullehrer in den sechziger Jahren noch von dreieinhalb Mil­liarden Weltbevölkerung gesprochen, so sind wir heute bei mehr als dem Doppelten. Erst allmählich begreift die Welt, dass Länder mit hohem Bevölkerungszuwachs auch Geburtengleichgewichte brauchen.

Es ging weiter mit dem Austausch der Währungen, der Abbau von Handelsschranken folgte rasch. Die zunächst EWG, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, und nach dem Vertrag von Maastricht in Europäische Union umbenannte Staatengemeinschaft arbeitete zügig an der Beseitigung von Handelshemmnissen, aber auch global wurde harmonisiert, wurden Vorschriften vereinheitlicht. Nun konnten Produktionen verlagert werden, dorthin, wo die Löhne am niedrigsten waren und die Produktivität akzeptabel. Das Niederreißen von Handelsschranken bedeutete größere Märkte, effizientere Lieferketten und den »Export« von Wohlstand in Niedriglohnländer. Diese Entwicklung beschleunigte sich stark durch den Aufbau des weltweiten Internets mit Wissensaustausch, E-Mail-Verkehr und preisgünstiger Telefonie. Und der medizinische Fortschritt erreichte fast alle Winkel der Welt. Die Bevölkerung wuchs, erst in China und Indien, dann in Afrika. Und damit wurde uns die Endlichkeit des Globus als Lebensraum bewusst. Nach wie vor siegt die Versuchung, die Signale der zunehmenden globalen Schäden kleinzureden und zu vernachlässigen.

2007: Es ist 12 Uhr!

Mahner und Oppositionelle, die auf Maßnahmen hoffen, sagen oft: »Es ist 5 vor 12.« Sieht man darin die Warnung vor einer gefährlichen Entwicklung und höchste Zeit, Maßnahmen dagegen zu ergreifen, dann war 2007 das Ende der besten Zeit, zu handeln. Um im Symbol zu bleiben, 2007 war »12 Uhr«, es war der Beginn einer Zeitenwende, denn mehrere dramatische Entwicklungen einer politisch zu wenig kontrollierten Marktwirtschaft kombinieren und kumulieren sich seither:

Im Herbst 2007 erklärte der IPCC, der wissenschaftliche Ausschuss der Vereinten Nationen zum Klimawandel, dass die seit Beginn der Industrialisierung beobachtete Erwärmung der Erdatmosphäre zweifelsfrei überwiegend menschengemacht ist, einschließlich des zunehmenden Extremverhaltens des Wetters. Der Klimawandel wurde zur Klimakrise. Damit wurden Gegenmaßnahmen durch politische Vorgaben gemäß den meisten Verfassungen der Welt Pflicht, denn der Erhalt und Schutz der Lebensgrundlagen hat in vielen Ländern Verfassungsrang. Nun galt es für jede Regierung, aber auch für jeden Bürger, das Möglichste gegen die Klimakrise zu tun. Untätigkeit wurde zur Sünde, wie Papst Franziskus in seiner Enzyklika Lauda si’ betonte.

Etliche Länder – Norwegen, Schweden und selbst China – wurden sehr energisch, auch die EU-Kommission. Anders die deutsche Regierung, für die Kanzlerin Merkel bei ihrem Amtsantritt Ende 2005 zwar von einer »Energiewende« sprach, aber die Vorgaben der Vorgängerkoalition bald nach den Wünschen der Energiewirtschaft umgestaltete und verwässerte.

Mehr noch, in diesem Schicksalsjahr 2007 entschied die Automobilindustrie, jeden Pfad von Anstand und Verantwortung zu verlassen und mit kriminellen Tricks die Vorgaben der europäischen und amerikanischen, insbesondere der kalifornischen, Gesetze zu verlassen. Diese Haltung im Rücken, begann die gesetzeswidrige Manipulation der Abgasmessungen – der Dieselskandal. Die Gier nach Bonus und Aktienbewertung hatte das Übergewicht gegenüber Regeltreue und Anstand erreicht. Im gleichen Jahr 2007 kamen zwar die ersten Warnungen aus der Belegschaft von VW, die man aber machtbewusst negierte – bis dann sieben Jahre später eine amerikanische NGO recherchierte, eigene Nachmessungen vornahm und schließlich ein kalifornischer Staatsanwalt sich nicht länger hinters Licht führen ließ und seiner Ermittlungs- und Anklagepflicht nachkam. Ob es ohne diesen amerikanischen Vorstoß Industrie und Politik gelungen wäre, die Betrügerei weiter unter dem Teppich zu halten, bleibt der Fantasie vorbehalten.

Und noch ein anderes Glöcklein läutete 2007, laut, schrill, unüberhörbar – die Feuerglocke der Finanzwirtschaft. Die Finanzwirtschaft zeigte ihre wahrhaft menschenverachtende Fratze, hatte sich aber verrechnet. Mehrere große Hypothekenbanken gingen pleite und mussten gerettet werden. Der folgende Zusammenbruch der Investmentbank Lehman Brothers löste eine dramatische Erschütterung unseres globalen marktwirtschaftlichen Systems aus.

Aufgrund falscher Annahmen über die Größe der Bank hatte der damalige Finanzminister Henry Paulson die Rettung dieser Traditionsbank verweigert. Sie aber hatte sich in ihren abenteuerlichen Spekulationen auf die Regel »too big to fail« verlassen, also auf Rettung als »systemrelevante« Bank mit notfalls staatlichen Mitteln. Trotz vorhersehbar großer Risiken setzte sie auf ein Finanzmodell, das zum Ankauf fauler Hypothekenkreditpakete laufend besonders günstige kurzfristige Kredite aufnahm – mit der Folge, dass das Kartenhaus zusammenbrach, als die Zinsen stiegen und ein höllisches Feuer sich ausbreitete, dessen gesamte Wertvernichtung einige Jahre später vom Internationalen Währungsfonds IWF auf 4 Billionen US-Dollar geschätzt wurde – Geld aus vielen vernichteten Vermögen von Kommunen, von Stiftungen, Versicherungen und natürlich Privatpersonen.

Diese Beträge waren möglich wegen der im Banken- und Hedgefondssektor völlig aus dem Ruder gelaufenen kontinuierlichen Geldvermehrung. Es hatte schon länger reichlich Warnungen gegeben gegen den oft zu hohen »Leverage«, also gegen Kreditaufnahmen ohne ausreichende Eigenkapitaldeckung und gegen die von der Politik geförderten Subprime-Hypotheken unterbemittelter Häuslebauer. Auch gab es Warnungen gegen die überhöhten Boni – aber gerade die sorgten dafür, dass alle Warnungen überhört wurden, zu groß war der Rausch der Wertsteigerungen in der Immobilienbranche und an den Aktienmärkten. Die Warnungen vor 12 Uhr wurden schlicht nicht genutzt. Erst jetzt wachte die klassische NGO-Szene auf. Protestaktionen wie Occupy überrannten ein paar Tage lang die Wall Street, und zwanzig Europa-Abgeordneten gründeten die NGO Finance-watch.org, alles de facto aber bis heute ohne Wirkung auf die Finanzbranche.

Letztlich war die Finanzkrise, ebenso wie die Klimakrise, der Exzess einer politisch zu wenig kontrollierten Marktwirtschaft durch eine zu schwache Regierungsform. Der Politik gelang es nicht, diesen und vielen anderen der globalen Probleme konsequent Programme entgegenzusetzen, sodass wir nun, mehr als zehn Jahre später, mit den schon diskutierten Konsequenzen leben müssen.

Auch der Kommunikations- und Internetbranche läutete 2007 das 12-Uhr-Glöcklein einer Zeitenwende, hell und laut und mit allen Fanfaren des Marketings untermalt. Erstmals kombinierte Apple in seinem iPhone Telefon, E-Mail, Internet und weitere Dienste bedienungsfreundlich mit Touchscreen und Bequemlichkeit. Damit wurden die Möglichkeiten des 2003 freigegebenen Web 2.0 für jeden voll nutzbar. An Persönlichkeitsrechte, Missbrauch und Suchtrisiken durch Überangebot dachte kaum jemand – völlige Handlungs- und Datenfreiheit war die Devise. Ein Marc Zuckerberg erkannte deshalb schnell nicht nur, wie man damit Menschen vernetzen kann, sondern auch, wie man mit deren persönlichen Daten Geschäfte macht, wie man Werbung individualisiert – und Nachrichten ebenso. Denn Facebook führte und führt genau Buch über die Interessen seiner Kunden.

Zunächst aber war es die Geburtsstunde der modernen Social Media und die Erweiterung des Telefons durch Text und Bild. Das änderte die Informationsgewohnheiten fundamental. Web 2.0 ermöglichte das Posten von Bildern und persönlichen Beiträgen auf Plattformen, der persönliche Kontakt wurde oft enger, auch bebildert, aber doch anonymer. Es war die Anfangszeit der raketenhaften Wertsteigerungen von Facebook, Google, Amazon und Co. Weltweiter Vertrieb von Waren und auch der weltweite Zugriff auf Medien und schlagwortartige Informationssuche wurden möglich und führten zu einem neuen Wissensniveau, bis in die hintersten Winkel der Kontinente.

Es war ein Riesenfortschritt, aber es war auch der versäumte Zeitpunkt, über die Gefahren einer weltweiten Vernetzung in einer teils auch kriminellen Welt nachzudenken. Persönliche Daten wurden gespeichert und analysiert, aber keineswegs immer ausreichend vor unerwünschtem Zugriff gesichert. Hacker verschafften sich bald Zugang, auch zu Vernetzungen von Unternehmen und Maschinen, ja sogar zu Telefon- und Datenzentralen, klauten Passwörter, infizierten Computer mit Trojanern für allen möglichen Unfug und zum anonymen Streuen von Werbung und Informationen. Und die Botschaften mit unerwünschten Fake-Inhalten fanden auch bei manchen Politikern Interesse, großes sogar. Immer umfangreichere, schärfere Persönlichkeitsprofile entstanden primär zu Werbezwecken von jedem von uns, weltweit und unter Missachtung traditioneller Rechte auf Persönlichkeitsschutz, wie sie europäischen Traditionen und Gesetzen entsprach.

Im gleichen Jahr beschloss der Bundestag ein Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung für polizeiliche und öffentliche Zwecke, das das Bundesverfassungsgericht einige Jahre später als einen zu weitgehenden Eingriff in die Persönlichkeitssphäre verurteilen sollte. Die Europäische Union blieb allerdings aktiv, verfasste eine weniger auf polizeiliche Interessen ausgerichtete Datenschutzrichtlinie, allerdings mit viel Feinmaschigkeit und reichlich Bürokratie und erntete deshalb viel Kritik. Es war im Prinzip aber der richtige Ansatz, nur entschärfte er das Geschäftsverhalten der neuen Web-Giganten nicht. Sie forderten weiter die Anerkennung ihrer Regeln – und wegen ihrer weitgehenden Monopolstellung musste man deren Kleingedrucktem auch zustimmen. Es fehlte der mutig konsequente Schritt gegen diese Monopolisten, kleingedruckte Sonder-AGB zu verbieten und jedem Nutzer grundsätzlich die Abschaltung von Datenspeicherung anzubieten, ohne Nutzungseinschränkung, allenfalls eventuell gegen eine kleine Gebühr. Die Klickraten von Internetseiten allein sind schon wertvolle Information, und diese muss nicht zum Aufbau individueller Personenprofile für die Werbeoptimierung zur Verfügung stehen.

Aber es ging nicht nur um Werbung. Das Internet ergänzte sich rasch durch themenbezogene, auch politische Foren. Die Social-Media-Vernetzung wurde zum Standard der Jugend mit Gruppenbildung und banalem Gesimse, aber auch weltoffener Kommunikation mit steigenden Erwartungen an die Zukunftsgestaltung. Die neue Macht von Social Media entstand, führte bald danach zum Arabischen Frühling, aber auch zu den Fake-News, mit denen Donald Trump die Präsidentschaftswahl gewann.

Und nebenbei machte es Apple zur wertvollsten Aktiengesellschaft der Welt, dicht gefolgt von Google, Amazon, Facebook und Ebay. Es begann eine tektonische Verschiebung der Macht über Kommunikation, Persönlichkeitsrechte, Vertrieb und Meinungsmanipulation – sowie der Abhängigkeit von US-Technologie und der riesigen Datenflut der Konzerne.

5 nach 12: Die Signale verhallten – die Gerichte werden aktiv

2007 hätte eine positive Zeitenwende für die Regulierung der Marktwirtschaft werden können – ja werden müssen –, wenn man diese drei großen Signale der Marktwirtschaft ernst genommen und die Regelungsansätze verbessert hätte. Aber die Repräsentanten der Demokratie waren zu sehr mit sich und ihren Zustimmungsquoten beschäftigt, mit kurzfristiger Popularität, eben den Kennzeichen eines nicht mehr zeitgemäßen politischen Systems. Nur China nahm künstliche Intelligenz, Klimawandel und Luftverschmutzung in seinen Fünfjahresplan auf und zeigte bald erste beeindruckende Beispiele gegen den unverändert steigenden Energiehunger, führte aber kurz danach die Totalüberwachung und den gläsernen Bürger ein, mit Prämien für den Gutbürger. Aus dem möglichen Vorbild wurde ein Alptraum.

Immerhin, als Teil der Leitlinien verabschiedete China das ehrgeizig strenge National Climate Change Programme (CNCCP), in dem die Auswirkungen des Klimawandels im Reich der Mitte sowie bereits ergriffene und zukünftige konkrete Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels aufgelistet werden. Es ist bis heute ein entscheidender Teil der Bemühungen Chinas in den Bereichen Umwelt- und Klimaschutz. Für jedes Vorhaben wurden genaue Ziele zur CO2-Reduktion definiert. Neben dem CNCCP ist vor allem der Entwicklungsplan für erneuerbare Energien vom September 2007 wichtig. Denn in diesem Plan, so die Konrad-Adenauer-Stiftung in einer Studie, »werden erstmals Leitlinien, Ziele und politische Maßnahmen für den Ausbau erneuerbarer Energien in China bis 2020 festgelegt«. Der elfte Fünfjahresplan von 2005 bis 2010 beinhaltete nicht nur die Forderung nach einer Reduktion des Energieverbrauchs um 20 Prozent, sondern auch die Reduzierung der Energieintensität als eines der Hauptziele. Auch im zwölften und dreizehnten Fünfjahresplan bis 2020 bleibt die Reduzierung des Energieverbrauches, des CO2-Ausstoßes sowie der Emission von Schadstoffen weiter ein zentrales Thema.

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