Michaela F. Hammesfahr

Dein Blut für ewig

Roman

 

Für meine «kleine» Schwester Tanja

Auftrieb und Wind unter meinen

manchmal lahmen Flügeln.

Du hast immer wieder gesagt,

dass ich es schaffe.

Hier ist es!

 

Wir leben von und mit euch, mitten unter euch. Aber wir sind Meister der Täuschung und Lüge. Ihr bemerkt uns nicht.

Als ihr vor ewiger Zeit der Wahrheit zu nahe kamt, wurde ein Mythos geboren: Vampire.

Euer Aberglaube und das Unvermögen, den wahren Kern der Legende zu erkennen, sind unser Schutzschild.

Wir laden Schuld auf uns, weil wir euch ausbeuten.

Unser Leben ist so viel länger und leichter als eures. Ihr werdet krank, lebt kurz, vermehrt euch schnell.

Mit uns geht die Zeit sanft um. Wir kennen keine Krankheiten – bis auf die eine, die wir die «Strafe der Sonne» nennen.

Aber ohne euer Blut können wir nicht leben und uns nicht mehren.

Wir müssen uns schämen, weil wir Parasiten sind.

Intelligente Parasiten mit hoher Moral.

Niemals werde ich müde, zu forschen und zu suchen, um euch etwas zu schenken, als Ausgleich für das, was wir nehmen.

 

Auszug aus dem Tagebuch von Frederik Ravenstein

Zahltag

Schon seit einiger Zeit hatte Andrea das Gefühl, beobachtet zu werden. Mal mehr, mal weniger stark. Sie hatte auch schon mit Klaus, ihrem Lebensgefährten, darüber gesprochen. Aber da nie etwas Konkretes vorgefallen war, keine merkwürdigen Anrufe oder sonstige Belästigungen, meinte Klaus inzwischen, sie bilde sich das nur ein.

Sie stand in der Auffahrt vor der Garage, wo Klaus normalerweise parkte. Doch der war auf Dienstreise. Ein paar einsame Nächte standen Andrea bevor. Sie registrierte zwar, dass es ein herrlicher Frühsommerabend war, die Luft angenehm kühl und frisch, aber sie konnte das nicht genießen. Eine Mischung aus Verlassenheit und Angst drückte ihr den Brustkorb zusammen, sodass sie nicht richtig durchatmen konnte.

Möglich, dass Klaus recht hatte. Doch heute war das Gefühl, beobachtet zu werden, besonders stark. Sie hatte noch den Müll rausgebracht. Das tat sie jeden Abend. Sie räumte immer als Letztes die Küche auf. Den Biomüll mochte sie über Nacht nicht im Haus lassen, wegen des Geruchs und wegen der Fruchtfliegen, die er in Massen anzog. Nachdem sie den Eimer in die Tonne ausgeleert hatte, spähte sie in die Dunkelheit. Irgendwer war da und belauerte sie. Sie spürte beinahe körperlich, dass Augen auf sie gerichtet waren. Dann hörte sie ein Rascheln in der Thujahecke, die den Nachbargarten von der Garage abgrenzte. Statt zurück ins Haus zu laufen, nahm sie allen Mut zusammen. «Hallo?», rief sie zur Hecke hinüber. «Ist da jemand? Kommen Sie raus, wenn Sie etwas von mir wollen!»

Nichts rührte sich, alles blieb still. Vielleicht war es nur ein Tier gewesen, ein Igel, möglicherweise auch eine Ratte. Andrea schüttelte sich und bedauerte schon, dass sie sich zu dem blödsinnigen Rufen hatte hinreißen lassen. Wenn ihr jemand etwas Böses wollte, würde der bestimmt nicht zum Vorschein kommen und sagen: «Hallo, da bin ich.» Die Häuser in der Nachbarschaft lagen ziemlich weit auseinander. Dennoch war es möglich, dass jemand sie gehört hatte, und das war ihr jetzt ungemein peinlich.

Die Lampe am Garagendach ging aus, weil der Bewegungsmelder nichts mehr registrierte, seit sie den Deckel der Mülltonne zugeklappt hatte. Sie stand noch einen Moment reglos in der Auffahrt, dann wollte sie zurück ins Haus. Das Licht ging wieder an. Ob sie den Bewegungsmelder ausgelöst hatte, hätte Andrea nicht sagen können. Denn in derselben Sekunde schälte sich eine junge Frau aus dem dunklen Bereich zwischen der Garage und den Bäumen.

Andrea fuhr der Schreck in die Glieder. Ihr Herz begann zu rasen, die Knie wurden weich, obwohl die Frau nichts Bedrohliches an sich hatte und sie mit sanfter Stimme grüßte: «Hallo, Andrea, tut mir leid, wenn ich dich erschreckt habe. Das wollte ich nicht.»

«Wer sind Sie?», fragte Andrea irritiert und misstrauisch wegen der vertraulichen Anrede.

«Erkennst du mich nicht?», fragte die Fremde. Andrea schüttelte den Kopf. «Ich bin dein Schutzengel.»

Mein Schutzengel, dachte Andrea sarkastisch, na klar.

Die Fremde hatte zugegebenermaßen etwas Engelhaftes an sich. Sie war bildschön. Das goldblonde Haar fiel ihr über die Schultern den Rücken hinunter. Jeder ihrer anmutigen Schritte unterstrich ihre schmale, grazile Silhouette, als sie auf Andrea zukam. Eine halbe Armlänge vor ihr blieb sie stehen.

Andreas Mutter wäre vermutlich sofort auf die Knie gefallen. Sie war sehr religiös und glaubte fest daran, dass jeder Mensch einen Schutzengel hatte. Deshalb war sie auch der Meinung, dass der Schutzengel besonders nah war, wenn Andrea klagte, dass sie sich verfolgt fühle.

Vor allem ein Vorfall bestärkte ihre Mutter in diesem Glauben. Es war schon lange her. Mit vierzehn hatte Andrea eine Erkältung verschleppt, die sich zu einer schweren Lungenentzündung ausweitete. Sie hatte von einem Engel mit langen blonden Haaren geträumt, der ihr Medizin verabreichte. Und von einem Tag zum anderen war sie wieder gesund. Die behandelnde Ärztin konnte sich das nicht erklären, aber ihre Mutter war sicher, dass ein Wunder geschehen war. Natürlich hatte Andrea ihr von dem Traum erzählt, und ihre Mutter fühlte sich dadurch bestätigt. Zeitweise hatte ihr unerschütterlicher Glaube sogar Andrea überzeugt. Aber auch das war schon lange her.

Und ein Schutzengel in einem enganliegenden schwarzen Minikleid? Andrea blieb skeptisch. Ein langes weißes Gewand wäre aus ihrer Sicht für einen Engel deutlich passender gewesen. Und wo, bitte schön, waren die Flügel?

Bei genauer Betrachtung kam ihr die Frau doch irgendwie bekannt vor. Sie ließ Andreas gründliche Musterung schweigend über sich ergehen, dann lächelte sie plötzlich wissend. «Jetzt fällt es dir wieder ein, nicht wahr? Du warst vierzehn und hattest eine schlimme Lungenentzündung, als ich dich besuchen musste, um …»

Während sie sprach, sah Andrea sich wieder im Krankenbett liegen, sah das Gesicht vor ihrem inneren Auge, hörte die sanfte Stimme, die sie bat, keine Angst vor dem kleinen Piks zu haben: «Halt schön still, das goldene Elixier wird dich schnell gesund machen», hallten die Worte durch ihren Kopf. Andrea wurde unsicher. Konnte es sein, dass ihre Mutter recht hatte? War die Erinnerung einer fiebernden Vierzehnjährigen doch kein Traum gewesen? War diese Frau bei ihr gewesen und hatte sie gesund gemacht?

Das schöne Geschöpf streckte ihr den schlanken Arm entgegen. Andrea schüttelte ihr zögerlich die Hand, die sich erstaunlich warm anfühlte, wenn man bedachte, dass sie nur ein kurzärmeliges, dünnes Kleid trug.

«Mein Name ist Mina», sagte die Fremde. Sie standen sich so dicht gegenüber, dass eine weiße Atemwolke aus ihrem Mund auf Andreas Gesicht traf. Andrea wunderte sich, so kalt war der Abend nun auch wieder nicht. Sie nahm ein angenehmes Aroma wahr. Der Geruch kam ihr bekannt vor. Unwillkürlich entfuhr ihr ein Seufzer, und sie holte tief Luft. Ihre innere Anspannung ließ spürbar nach.

«So ist gut, atme mal ordentlich durch», sagte Mina. «Warum bist du nur immer so angespannt und misstrauisch? Ich bin doch bei dir.»

Andrea zuckte die Schultern. Mit jedem Atemzug wurde ihr tatsächlich leichter ums Herz. Sie betrachtete wieder das schöne, blasse Gesicht, die vollen Lippen, die großen Augen, die von einem dichten Wimpernkranz umgeben waren. In der Dunkelheit konnte sie die Farbe von Minas Augen nicht erkennen. Doch sie hätte gerne gewusst, welche Augenfarbe ein Engel hatte. Sollte sie die Frau ins Haus bitten? Langsam kroch die Kälte an Andreas Beinen hoch. Drinnen war es auf jeden Fall gemütlicher.

«Ach, was ich dir alles erzählen könnte», schwärmte Mina. «Dann würdest du sicher einsehen, dass alles zum Besten steht. Bist du nicht neugierig?» Ihre Stimme klang ganz heiter. Es schien ein Lächeln hinter jedem Wort zu stecken. «Wenn wir hier draußen bleiben, muss ich dich bitten, dir eine Jacke zu holen. Und vielleicht eine Decke zum Draufsetzen. Du frierst ja.»

Sie hat mir viel zu erzählen? Ich habe mindestens tausend Fragen, dachte Andrea. «Ja, das mache ich.» Sie ging ins Haus, schloss die Tür hinter sich und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Sobald sie aus dem Dunstkreis der Fremden heraus war, meldeten sich die Bedenken zurück, mahnten zur Vorsicht. Ein Engel aus Fleisch und Blut? Ihre Hand hatte sich normal angefühlt. Ihr Händedruck war fest und warm gewesen, kein bisschen merkwürdig oder geisterhaft. Sie sah aus wie ein Mensch, wenn auch wie ein besonders schöner. Aber auch auf den Heiligenbildchen im Gebetbuch ihrer Mutter und in Filmen sahen Engel oft aus wie Menschen. Oder sie bestanden aus Energie und Licht, hatten keine klar erkennbare Figur.

Andrea ging zur Garderobe und griff nach ihrer Fleecejacke. Dann nahm sie noch die Jacke von Klaus, um sich daraufzusetzen. Sie wollte Mina lieber nicht ins Haus bitten. Auch wenn sie harmlos aussah und ihr womöglich vor Jahren im Traum erschienen war, Andrea glaubte nicht an Schutzengel. Aber sie war neugierig. Was wollte diese Frau von ihr? Woher kannte sie ihren Namen, und woher wusste sie von der Lungenentzündung? Andrea beschloss, den heutigen Abend nicht allein vor dem Fernseher zu verbringen, sondern sich eine Weile mit ihr zu unterhalten.

Als sie die Haustür wieder öffnete, saß die Blondine mit dem Rücken zu ihr auf der Treppenstufe vor dem Haus.

«Oh, entschuldigen Sie», sagte Andrea. «Brauchen Sie auch eine Jacke?» Sie hielt ihr die Jacke von Klaus hin.

«Nein danke. Ich friere nie», erklärte Mina, offenbar amüsiert.

Natürlich nicht, wie dumm. Andrea setzte sich und betrachtete Minas Gesicht von der Seite.

«Sag doch bitte du zu mir. Ich kenne dich inzwischen so gut, dass es mir seltsam vorkommt, wenn du mich siezt», bat sie.

«Okay», antwortete Andrea zögerlich.

Minas Stimme bekam etwas Feierliches: «Kannst du dich inzwischen an unsere erste Begegnung erinnern?»

Andrea war noch nicht so weit, es zuzugeben. Es war doch nur ein Fiebertraum gewesen, oder? Sie zuckte die Schultern.

Dann begann Mina zu erzählen. Ein zarter weißer Atemhauch nebelte dabei langsam Andreas Kopf ein. Minas melodische Stimme beschwor Szenen aus Andreas Vergangenheit herauf. Während sie lauschte, wurde ihr ganz leicht ums Herz. Sie entspannte sich mit jedem Atemzug.

Als Mina eine Pause machte, meldete sich ein letztes Mal die misstrauische Stimme der Vernunft. «Warum zeigst du dich mir heute?», fragte Andrea. «Werde ich wieder krank? Oder bin ich in Gefahr?»

«Nein. Hab keine Angst. Unsere Zeit ist gekommen», lachte Mina. «Ich habe meine Arbeit wohl nicht gut gemacht. Du bist so ängstlich und nimmst immer gleich das Schlimmste an. Dabei habe ich alles darangesetzt, damit du dein Leben für sicher und behütet hältst. Du kannst doch wirklich zufrieden sein, oder?»

«Ja», murmelte Andrea kleinlaut, sie fühlte sich ein wenig beschämt.

«Es gab durchaus gefährliche Situationen, wo ich eingreifen musste. Zum Beispiel damals, als du mit dem Nachtbus heimgefahren bist und hinter dir dieser Kerl mit der abgenutzten Sporttasche saß. Erinnerst du dich?»

Leider erinnerte sich Andrea nur zu gut daran. Der fiese Typ hatte schon im Bus hinter ihr gesessen. Er roch nach Schnaps und Schweiß. Dann war er zu allem Übel auch noch mit ihr zusammen ausgestiegen und eine Weile hinter ihr hergegangen. Sie hatte damals große Angst gehabt.

«Am Spielplatz ging er rechts entlang und du links», erzählte Mina, als sei sie dabei gewesen. «Und als der Weg hinter dem Sandkasten wieder zusammenfloss, war er weg. Da warst du sicher erleichtert, was?»

Andrea nickte.

«Wie erleichtert wärst du erst gewesen, wenn du gesehen hättest, dass in seiner Tasche gar kein Sportzeug war, sondern ein langes Messer, ein Strick und eine schwarze Wollmütze?»

Nicht nur die plötzliche Schärfe in Minas Ton ließ Andrea zusammenzucken. Sie starrte die Frau entsetzt an. Also hatte sie sich zu Recht vor dem Mann gefürchtet. Was hatte der Schutzengel wohl mit ihm gemacht? Andrea wagte nicht, zu fragen, und auch nicht, den Gedanken weiterzudenken. Ihr Mund wurde ganz trocken.

«Oder dieser schmierige Bürovorsteher in dem Betrieb, wo du deine Ausbildung gemacht hast», fuhr Mina fort. «Ständig hatte er seine Finger an dir. Du hattest sogar Albträume davon, hast im Traum gesprochen, geklagt, wie sehr du dich vor ihm ekelst. Doch auf einmal war er ganz umgänglich, oder? Nachdem ich mich der Sache angenommen hatte, besserte sich sein Benehmen.» Mina wirkte sichtlich zufrieden mit sich.

Andrea staunte. Sie hatte sich damals gewundert, dass Herr Hagen sie und die andere Auszubildende, die er auch ständig begrapschte, von einem Tag zum anderen ignorierte. Er grüßte morgens knapp und verschwand bis zum Feierabend hinter seiner Bürotür.

«Es gab einige Situationen, in denen ich in deinem Sinne eingegriffen habe. Das ist meine Aufgabe.» Mina lächelte wieder sanft. «Auch bei dem Häuschen hier konnte ich ein wenig für dich am Glücksrad drehen. Es gab noch mehr Interessenten, aber das weißt du sicher?» Sie sah Andrea an und zog eine Augenbraue hoch.

«Danke», murmelte Andrea kleinlaut. Irgendwie kam ihr das zu wenig vor, aber sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.

«Nun», sagte Mina, «es ist wirklich wichtig für mich, dafür zu sorgen, dass es dir gutgeht.» Sie sah Andrea in die Augen. Ihr Ausdruck war ernst, irgendwie lauernd. Als sie ausatmete, blies sie Andrea mit einem zischenden Geräusch eine zartweiße, duftende Wolke direkt ins Gesicht. «Wir sollten hineingehen. Es wird langsam wirklich kalt, und ich bin für deine Gesundheit verantwortlich. Also keine Widerrede.» Mina lächelte auffordernd und stand auf.

«Ja, nein, sicher», stammelte Andrea, dann musste sie lachen. «Wie unhöflich von mir. Ich hätte dich schon längst hereinbitten sollen. Du hast es nicht leicht mit mir, ich will es nicht noch zusätzlich erschweren.» Auch sie stand auf und schwankte dabei leicht.

Mina griff nach ihrem Arm. «Hoppla! Ich halte dich», sagte sie.

Andrea fühlte sich leicht beschwipst. Was für ein zauberhaftes Wesen, dachte sie. Sie hatte keine Bedenken mehr, ihre Schutzpatronin ins Haus zu lassen. «Ich könnte jetzt etwas Heißes zu trinken vertragen. Soll ich uns einen Tee machen, oder trinken Himmelsboten nicht im Dienst?», fragte sie kichernd und schloss die Haustür auf. Im Flur deutete sie Mina den Weg. «Geh doch schon ins Wohnzimmer. Ich würde gern mehr über dich erfahren, wenn das möglich ist. Puh, mir schwirrt der Kopf. Ich habe tausend Fragen. Ich meine, ist doch unglaublich, da steht aus heiterem Himmel mein Schutzengel vor mir. Und ich weiß immer noch nicht, warum du mir ausgerechnet heute Abend erscheinst.»

Mina blieb im Flur stehen, rührte sich nicht vom Fleck. Sie starrte zur Haustür, als warte sie noch auf etwas. «Nun, meine Liebe», antwortete sie langsam. «Heute ist Zahltag.»

Mit einer blitzschnellen Bewegung riss sie die Tür wieder auf. Davor stand ein Mann, den Andrea noch nie gesehen hatte. Er sah aus wie ein Model. Groß, blond, schlank und athletisch. Andrea seufzte. So ein schöner Mann, genau nach ihrem Geschmack. Er strahlte sie an, und seine Stimme jagte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken, als er sagte: «Guten Abend, meine Damen. Verzeiht die Verspätung.» Er trat ein und griff nach Andreas kalten Händen. Seine waren wunderbar warm, und er streichelte damit rhythmisch über Andreas Handrücken. «Andrea, wie schön, dass wir uns persönlich kennenlernen können. Ich bin Simon.»

Andrea stand der Welt entrückt vor dem fremden Mann und sah ihm unverwandt in die Augen.

Mina räusperte sich. «Nun denn», sagte sie, indem sie die Haustür schloss. «Jetzt, wo wir vollzählig sind, kann der Spaß ja beginnen.»

Samstag

Es war, als hätte jemand die Wiederholungstaste gedrückt. Die gleiche Szene wie am vergangenen Samstag. Kilian stand am Fenster im Salon, ließ den Blick durch den in Dunkelheit getauchten Garten schweifen. Er kannte die gepflegte Parkanlage gut. Oft genug war er mit seinem Vater zwischen den Büschen und Hecken entlangflaniert, während sie über ihr gemeinsames Lieblingsthema – antike Bücher – sprachen.

Heute Abend wünschte Kilian sich nichts sehnlicher, als sich dort zu verstecken. Er hätte sich nicht noch an den Flügel setzen sollen. Die Musik hatte seine Mutter daran erinnert, dass er noch im Haus war.

Die Gelegenheit ließ Rebecca sich nicht entgehen. Sie begann mit harmlosen Fragen: «Was hast du denn vor am Wochenende?» Kilian zuckte die Schultern. «Gehst du aus? Vielleicht siehst du Mona?» In ihrer Stimme schwang freudige Erregung.

Dieses Gefühl teilte ihr Sohn nicht. Betont gelangweilt antwortete er: «Vielleicht treffe ich mich später mit Anton im Surprise. Wenn Mona dort ist, werde ich sie wohl sehen, Mutter. Ich bin ja nicht plötzlich erblindet.»

Rebecca ließ sich nicht davon abhalten, ihn weiter zu bedrängen. «Du musst mit ihr reden. Ihr beide gehört zusammen.» Dieser eindringliche, beschwörende Ton!

«Ich rede doch mit ihr, wenn wir uns treffen. Mona ist meine Freundin.»

«Du weißt genau, was ich meine.» Rebeccas Tonfall wurde giftiger. «Und was heißt hier Freundin? Ihr müsst euch aussprechen und wieder versöhnen.»

«Wir haben uns doch gar nicht gestritten. Mona war genau wie ich der Meinung, dass wir Abstand brauchen. Deshalb bin ich ausgezogen. Sie ist nach wie vor die einzige Frau, mit der ich mich in meiner Freizeit abgebe. Aber wir haben nun einmal eine ganze Reihe unterschiedlicher Interessen, und ich brauche Zeit für mich. Warum versteht Mona das, aber du nicht?»

«Dieser neumodische Unsinn! Toleranz und Rücksicht schweißen eine Beziehung zusammen, nicht ‹Zeit für dich›. Mona hat dich erwählt. Du kannst dich glücklich schätzen. Noch ist sie bereit, dir zu verzeihen. Sie liebt dich aufrichtig. Und sie weiß, welche Pflichten sie zu erfüllen hat.»

Das war alles nicht neu. Kilian fragte sich, ob Mona seine Mutter auf ihn angesetzt hatte.

«Du weißt, dass es unser ausdrücklicher Wunsch ist, dass ihr beide eine Familie gründet. Monas Stammbaum ist ungeheuer wertvoll für unsere ganze Gesellschaft, dem kannst du dich nicht einfach verschließen. Was ist nur mit dir los? Du drückst dich vor der Verantwortung, die du uns allen gegenüber hast. Damit kränkst du ihre Familie. Auch für uns ist das Theater ausgesprochen unangenehm. Wie stehen wir denn da? Komm endlich zur Vernunft. Deine Flegeljahre sind vorbei. Du kannst dich nicht nach Lust und Laune treiben lassen und die Zeit mit Büchern und Musik totschlagen. Es gibt auch Pflichten, Kilian. Du sollst Nachkommen zeugen.»

Endlich holte sie einmal Luft. Kilian nutzte die Gelegenheit. «Ich wiederhole es gerne. Mona und ich haben festgestellt, dass wir im Alltag nicht zusammenpassen. Wir haben uns einvernehmlich getrennt. Es gibt nichts, was sie mir verzeihen müsste. Ich schätze sie. Sie ist eine schöne und interessante Frau. Aber an Nachwuchs denke ich zurzeit nicht. Ich bin noch nicht so weit. Vielleicht denke ich irgendwann anders darüber. Wenn die Zeit reif ist, sehen wir weiter. Ende der Diskussion.»

Er hatte die Stimme erhoben, aber er unterdrückte seine Wut. Er wollte seine Mutter nicht anschreien, dazu respektierte er sie zu sehr. Rebecca konnte nicht aus ihrer Haut. Sie war so erzogen worden und hielt beharrlich an den Traditionen fest. Sie tat ihm beinah leid. Es war kein selbstbestimmtes Leben, das sie führte. Die Gesellschaft und ihre strengen Regeln schwebten über allem. Das war nicht nach Kilians Geschmack. Er wollte selbst entscheiden, wann und an wen er sich binden würde.

«Es war ein großes Unglück für Mona, dass dieser schreckliche Unfall passiert ist.» Rebecca ließ einfach nicht locker. «Ich vermute, dass sie die Trennung nur deshalb klaglos hingenommen hat. Wie soll sie auch ohne Primärspenderin ihren Teil zur Familiengründung beisteuern? Es ist unmöglich von dir, sie in dieser Situation im Stich zu lassen.»

«Ich bitte dich. Das Mädchen ist schon seit ein paar Jahren tot. Diese Situation, wie du es nennst, ist also nicht neu. Mit meinem Auszug hat das nichts zu tun.»

Rebecca schüttelte den Kopf. «Was haben wir nur falsch gemacht?»

Große Hitze stieg in Kilian auf, er öffnete den obersten Hemdknopf und ballte dann seine Hände an der Hosennaht zu Fäusten. «Gar nichts. Warum könnt ihr meine Entscheidung nicht einfach akzeptieren?» Er hatte genug, ohne ein weiteres Wort verließ er den Raum, durchquerte mit ausladenden Schritten die Eingangshalle. Bloß raus hier. Er eilte über den Schlossvorplatz. Seinen Wagen hatte er wie üblich nicht ordnungsgemäß auf dem Parkplatz abgestellt, sondern einfach am Rand des Rasens stehenlassen. Mit der Front in Richtung Ausfahrt. Wie weise, dachte er noch und riss mit Schwung die Tür des schwarzen BMW Z8 auf. Zu viel des Guten, geräuschvoll schrammte die äußere Kante der Fahrertür gegen einen großen Findling auf dem Rasen. In seinem aufgebrachten Zustand hatte er die Entfernung zu dem Steinbrocken wohl nicht richtig eingeschätzt.

Verfluchte Sch …! Es brodelte in ihm, aber er ließ nicht den kleinsten Laut über seine Lippen. Sicher hatte seine Mutter das hässliche Geräusch von Metall auf Stein gehört. Er würde ihr nicht die Freude machen, sich lautstark zu ärgern. Sie wusste garantiert auch so, dass sie es geschafft hatte, ihm den Abend zu verderben. Ohne den Schaden an der Autotür näher zu inspizieren, stieg er ein und rollte gemächlich durch das gusseiserne Tor in die Nacht.

Kilian fuhr zu seinem Haus in der unteren Waldstadt, zog sich um und ging joggen. «Frust weglaufen» nannte Mona es immer, wenn sie sich gestritten hatten und er anschließend zum Laufen im Wald verschwand. Nach einer guten Stunde an der frischen Luft fühlte er sich besser. Er duschte, zog schwarze Jeans und ein schwarzes Shirt an. Er bevorzugte schwarze Kleidung. In letzter Zeit spiegelte diese Farbe seine Stimmung bestens wider. Als er sich aber jetzt im Spiegel betrachtete, kam ihm das Outfit wie ein Siegpunkt für seine Mutter vor. Er tauschte das schwarze gegen ein türkisfarbenes Shirt.

Großer Durst und das Verlangen nach Gesellschaft trieben ihn an. Wenn Mona heute im Surprise wäre, ja, was dann? Er musste mit ihr reden. Hatte sie tatsächlich zu seiner Mutter gesagt, dass sie gerne wieder mit ihm zusammenwohnen würde? Ihm gegenüber verhielt sie sich wie immer, neutral und freundlich, manchmal fast distanziert. Sie erweckte den Eindruck, als wäre die räumliche Trennung für sie ebenso eine Erleichterung wie für ihn. Führte Mona etwas im Schilde? Oder hatte seine Mutter ihn in dieser Sache belogen? Beim Gedanken an seine Exfreundin verfinsterte sich seine Miene wieder. Und der Brand in seiner Kehle wurde übermächtig. Er würde ihn heute Abend löschen, hielt es aber für besser, nicht zu viel zu trinken, um einen klaren Kopf zu bewahren.

 

Der Parkplatz vor der Diskothek war bereits brechend voll. Heute Nacht schien die halbe Stadt im Surprise zu sein. Kilian parkte auf einem für Stammgäste reservierten Teil. Der Türsteher kannte ihn gut und winkte ihn sofort hinein.

Die Disco verfügte über zwei Barbereiche. Einen gleich vorne beim Eingang. Hier ging es noch verhältnismäßig ruhig zu. Die Atmosphäre unter der Glaskuppel erinnerte an einen Wintergarten. Reichlich künstliche Grünpflanzen und Palmen schirmten die hellen Sitzgruppen aus Korbflechtmöbeln voneinander ab. Im Hintergrund lief Musik – allerdings viel leiser als im Tanzbereich. Man konnte etwas trinken und sich unterhalten, ohne zu brüllen. Kilian fragte sich, warum er sich nie hier vorne mit seinen Freunden traf. Seit sie das Surprise zu ihrem Wochenendtreffpunkt auserkoren hatten, lag ihr Stammtisch im hinteren Teil der Diskothek, in den man durch einen mit leuchtenden Sternen ausgekleideten Tunnel gelangte. Mit jedem Schritt durch die Sternenröhre wurde es lauter. Lärm und Hitze schlugen ihm entgegen, als er die große, verspiegelte Halle betrat. Es war brechend voll. Eine brodelnde Körpermasse bewegte sich rhythmisch auf der riesigen Tanzfläche, über der der DJ thronte. Kilian blieb einen Moment stehen, damit sich seine empfindlichen Ohren an den enormen Geräuschpegel gewöhnen konnten. Dann bahnte er sich den Weg zum Tisch.

«Hey, Killer, wie ist die Lage?» Breit grinsend, ein halbvolles Glas schwenkend, begrüßte Anton ihn. Er war offensichtlich gut gelaunt, und Kilians mürrischer Gesichtsausdruck schien ihn zu amüsieren.

«Wieder eine Laus über die Leber gelaufen?» Anton drückte ihm das Glas in die Hand. «Hier, für die Leber und gegen die Läuse. Hoffentlich hilft es, sonst werde ich wohl irgendwann ein Medikament dagegen entwickeln müssen.»

Doktor Anton Saalfeld, seines Zeichens Arzt und Apotheker, war Kilians Freund aus Kindertagen, sein bester und einziger Freund. Anton war ihm über die Jahre vertrauter geworden als sein eigener Bruder, der zehn Jahre ältere Arian, der ohnehin berufsbedingt nur noch selten zu Besuch kam.

Kilian leerte das Glas in einem Zug. Das war genau das Gefühl, das er jetzt brauchte. Feuer gegen den Brand.

«Nur damit du nicht vor Neugier und guter Laune platzt: Ich hatte Streit mit meiner Mutter. Es ging mal wieder um ihr Lieblingsthema.»

«Warte! Lass mich raten: Mona?» Natürlich wusste Anton bestens Bescheid über die Vorgänge im Hause Ravenstein. Er war nicht nur Kilians Freund, sondern arbeitete auch für dessen Vater.

«Beim Fluchtversuch habe ich auch noch meine Autotür kaputt gehauen», brummte Kilian.

«Oje. Dann kochst du also deshalb vor Wut?»

«Zwei gute Gründe, meinst du nicht? Ich geh rüber und besorg Löschwasser. Wem kann ich etwas mitbringen?»

Sein Blick streifte über die Sitzgruppe und blieb an einer weiblichen Rückenansicht hängen. Er stutzte. Eine unbekannte Blondine saß auf dem Schoß von Max, der selbst erst seit ein paar Wochen zu ihrem Kreis gehörte. Die beiden waren schwer beschäftigt, ihre Köpfe waren derart frontal verschmolzen, dass Kilian von Max nur den dunkelblonden Haarschopf sehen konnte. Im ersten Moment hatte Kilian gedacht, Max amüsiere sich mit Mona. Das lange Haar und die Rückenansicht waren ähnlich. Aber die Kleidung dieser Frau war eindeutig zu billig für Monas exklusiven Geschmack.

«Wenn du in Spendierlaune bist, muss ich das ausnutzen», antwortete Anton. «Für mich einen Zombie.»

«Wiiiea nehm ’n Schampus», nuschelte Max undeutlich unter den Lippen seiner Partnerin hervor.

«So geht das nun schon, seit wir hier sind», erklärte Anton und rollte die Augen. «Salia hat es ihm echt angetan. Warte, ich komme mit.» Er sprang von der Sitzbank, und die beiden bahnten sich einen Weg durch die feiernden, grölenden Menschen. Ein aktueller Charthit sorgte kurz für einen Strom in Richtung Tanzfläche und schaffte Platz an der Bar. Kilian bestellte Champagner und «Zombies ohne», denn auf die Fruchtdekoration konnte er gut verzichten. Er zahlte und drehte sich zu der tanzenden Menge um.

Einen Atemzug später nahm er den Hauch eines sensationellen Geruchs wahr. So etwas hatte seine Sinne noch nie gekitzelt, da war er sicher. Unbewusst fasste er sich an die Nasenspitze.

«Deine Mutter gibt wohl nicht auf wegen Mona, was?», fragte Anton.

«Riechst du das auch?»

«Was?» Sein Freund sah ihn irritiert an.

«So etwas habe ich noch nie gerochen. Eine Art Parfum …», murmelte Kilian mehr zu sich selbst. «Riechst du es nun oder nicht?»

«Also ich für meinen Teil wittere die übliche Mischung aus Schweiß, Deo, Parfum, Haarspray, Alkohol …» Anton zögerte kurz, ehe er weiter aufzählte: «Spuren von Drogen und …»

«Nein», unterbrach Kilian ihn kopfschüttelnd. «Das meine ich nicht.»

Sein Blick blieb an einer Frau mit langen schwarzen Haaren hängen. Sie bewegte sich am Rand der Tanzfläche. Das flackernde Discolicht hüpfte über ihren Körper und ihr glänzendes Haar.

«Hattest du nicht Durst?», fragte Anton und drehte sich zu den Getränken um, die inzwischen hinter ihnen auf dem Tresen standen.

Doch Kilian beachtete ihn nicht mehr. Die Duftspur zog ihn zur Tanzfläche, die dunkelhaarige Frau fest im Blick. Kam der Duft von ihr? Als er schließlich direkt hinter ihr stand, schüttelte er unwillkürlich den Kopf. Was tat er hier eigentlich?

Sie tanzte mit dem Rücken zu ihm. Der Duft kam von ihr, eindeutig! Langsam entfernte Kilian sich ein paar Schritte am Rand der Tanzfläche entlang. Er schloss die Augen, um sich ganz auf seinen Geruchssinn konzentrieren zu können. Mit jedem Zentimeter wurde der Duft ein bisschen schwächer, doch er vermischte sich nicht mit den anderen. Ganz rein und klar wehte er in der Luft, schlängelte sich einen Weg zu Kilians Nase und kletterte von dort hinauf in sein Hirn. Als er wieder näher an die Schwarzhaarige herankam, wurde der Reiz kräftiger.

Kilian war irritiert und sah sich nach seinem Freund um. Anton hatte es irgendwie geschafft, die Champagnerflasche und die Cocktails an ihren Tisch zu bringen.

Schwungvoll drehte sich die Tänzerin zu ihm um. Jetzt standen sie sich frontal gegenüber, und Kilian konnte ihr direkt in die Augen sehen. Er neigte seinen Kopf auf Höhe ihrer Stirn und schloss die Augen. Er war ganz benebelt, beinah schwindelig von ihrem Aroma. Heftig und ohne Vorwarnung reagierte sein Körper. Das Wasser lief ihm im Mund zusammen, und sein Magen knurrte. Ein Anflug von Panik erfasste ihn.

«Hallo», sprach die junge Frau ihn an. «Alles in Ordnung mit dir?»

Ihre Stimme klang angenehm, trotz der Besorgnis, die darin mitschwang. Das beruhigte ihn ein wenig. Für einen kurzen Moment hielt er ihrem fragenden Blick stand. Dabei unterdrückte er den drängenden Impuls, sie in seine Arme zu ziehen. Er schüttelte schließlich stumm den Kopf und riss sich ruckartig von ihrem Anblick los, floh aus ihrer betörend duftenden Aura.

Mit rasendem Herzen gelangte Kilian zurück an den Tisch. Dort gönnten Salia und Max sich gerade eine Verschnaufpause. Max unterhielt sich mit Anton, sie sprachen offensichtlich über ihn, denn jetzt sahen beide Kilian mit dem gleichen fragenden Gesichtsausdruck an.

«Hallo, Kilian», begann Max und schüttelte ihm kräftig die Hand. «Darf ich dir Salia vorstellen?» Die Blondine streckte ihm ebenfalls die Hand entgegen. «Hey.»

Kilian nahm die Hand. «Hallo. Bist du neu in der Stadt? Ich hab dich hier noch nie gesehen.»

«Erwischt. Ich bin heute zum ersten Mal hier», antwortete Salia. «Sonst treibe ich in Hamburg mein Unwesen. Mir war zur Abwechslung mal nach frischer Landluft.» Sie kicherte schrill. «Wenn wir jetzt vollzählig sind, können wir doch kräftig auf die neue Freundschaft anstoßen, was meint ihr?», schlug sie vor und grinste Kilian dabei auffordernd an.

Seine Freunde lachten, also stimmte er mit ein. Alle hoben ihre Gläser. Der trübsinnige Bann, unter dem sein Gemüt stand, schien zu bröckeln. Vielleicht wird es doch noch ein netter Abend, dachte er und sah zur Tanzfläche. Er ließ den Blick schweifen. Die schwarzhaarige Duftwolke stand an der Bar. Der aufregende Geruch wehte zart vor dort zu ihm herüber. Sie sagte etwas zum Barkeeper. Der lachte und schob ihr ein Glas zu. Sie schien dem Mann zu gefallen, hässlich war sie wirklich nicht. Obwohl schwarzes Haar eigentlich gar nicht sein Fall war. Sie passte ohnehin nicht in sein Beuteschema. Er rügte sich in Gedanken für diesen fürchterlich unpassenden Begriff.

Sie ging mit ihrem Getränk zu einem Tisch, an dem drei andere Frauen saßen. Während sie sich setzte, streifte ihr Blick Kilian und seine Freunde. Einen Moment lang sahen sie sich in die Augen. Sie strahlte ihn an. Ein warmes Gefühl machte sich in ihm breit, und er spürte den Drang, ihr Lächeln zu erwidern. Doch er zwang sich, den Kopf wegzudrehen. Er musste ein eindeutiges Signal senden: kein Interesse. Sicher würde sie das zu deuten wissen.

«Killer, du bist nicht zufällig gerade dabei, einem unschuldigen Mädchen das Herz zu brechen?», fragte Anton.

«Was meinst du?» Kilian stellte sich dumm.

Anton klang ernst. «Die Kleine, die du eben auf der Tanzfläche angemacht hast. Kennst du sie?»

«Nein. Und ich habe sie nicht angemacht. Sie riecht gut. Ich wollte sie nach ihrem Parfum fragen. Weiter nichts», gab Kilian zurück. Er griff nach seinem schon wieder halbleeren Zombie, nahm den Strohhalm heraus und kippte den Cocktail schnell hinunter.

«Ich meine ja nur», sagte Anton, «bleib bei deinesgleichen. Da wo eine alleinstehende Dame herkommt», er deutete mit dem Kopf auf Salia, die gerade Max zur Tanzfläche zerrte, «gibt es möglicherweise noch andere. Wenn du Zerstreuung suchst, solltest du Salia vielleicht näher kennenlernen.»

Kilians Blick folgte Antons Kopfbewegung und hielt bei der Tanzfläche an.

Da war sie wieder, tanzte am Rand, sodass er sie gut sehen konnte. Er betrachtete ihren Rücken, die schmale Statur, wie sie sich im Rhythmus der Musik bewegte. Unglaublich. Sie drückte so viel Lebenslust und Freude aus, ihr ganzer Körper verschmolz mit dem Takt der Musik.

Er beobachtete sie fasziniert, ohne eine Miene zu verziehen. Sie drehte sich in seine Richtung, hatte die Augen geschlossen und sang anscheinend den Text mit. Als eine ihrer Freundinnen zu ihr trat und sie ansprach, öffnete sie die Augen. Er fing noch einmal ihren Blick ein, gab sich einen Ruck und lächelte. Doch sie drehte sich einfach um und tanzte davon. Sie verschwand in der Menge, und er verlor sie aus den Augen.

Kilian sah zu dem Tisch hinüber, an dem sie mit ihren Freundinnen gesessen hatte. Jetzt saßen dort noch zwei. Er kannte eine von ihnen flüchtig. Nina, die Tochter von Stefan Forster, einem Freund seines Vaters.

«In welchen Gefilden wilderst du denn heute Abend?» Max sprach mit spöttischem Unterton. Er war der Tanzfläche entkommen und dem Blick seines Freundes gefolgt. «Das ist doch nicht dein Ernst, oder?»

«Fängst du jetzt auch noch an?», schnauzte Kilian genervt.

Max zuckte mit den Schultern. «Mann, du hast wirklich Stress wegen Mona, oder?»

«Nun hör schon auf. Ich habe mich nur umgesehen. Lass uns noch was trinken.» Kilian wusste, dass er nicht sehr überzeugend klang.

Aber Max stand prompt wieder auf. «Ich werde unsere neue Bekannte mal fragen, ob ich ihr noch etwas spendieren kann. Die nächste Runde übernehme ich.»

 

Was für eine Nacht! Anne konnte gar nicht mehr nachvollziehen, warum sie eigentlich nicht mit ins Surprise gewollt hatte. Nina aber hatte – zum Glück – nicht nachgegeben. Anne war ewig nicht mehr hier gewesen. Die Diskothek erstrahlte im neuen Look, durch den Anbau und die vielen Spiegel wirkte alles viel geräumiger als früher.

«Lass uns die Semesterferien gleich richtig angehen. Saturday night fever im Surprise – ich lade euch ein», hatte Nina zu Anne und den beiden anderen Freundinnen Britt und Vanessa gesagt. «Schließlich habe ich allen Grund zu feiern. Meine Eltern waren wegen meiner Eins in der Anatomie-Zwischenprüfung total aus dem Häuschen und haben sich nicht lumpen lassen.» Aber wann ließen sich Professor Stefan Forster und seine Frau Barbara, die beide Ärzte waren, überhaupt jemals lumpen? Sie hatten Geld und nur eine Tochter.

Anne wollte am ersten Wochenende zu Hause eigentlich erst mal zur Ruhe kommen nach dem Prüfungsstress der vergangenen Wochen. Aber dann hatten sogar ihre Eltern ihr gut zugeredet. «Du bist doch die ganzen Ferien hier. Faulenzen und Bücher lesen kannst du immer noch. Vielleicht triffst du ein paar ehemalige Klassenkameraden. Das wird bestimmt lustig», hatte ihr Vater gesagt. Und ihre Mutter hatte sie besorgt gefragt: «Wann hast du dich eigentlich das letzte Mal richtig amüsiert, seit das Studium angefangen hat?» Also gab Anne sich geschlagen, zog schwarze Jeans und ein türkisfarbenes T-Shirt an. Sie band ihr langes Haar zu einem Pferdeschwanz, trug etwas silberblauen Lidschatten und Wimperntusche auf, um ihre graublauen Augen zu betonen, noch einen Hauch Lipgloss, und sie war ausgehfertig.

Als Nina mit Vanessa und Britt im Schlepptau bei ihr zu Hause eintraf, gab es natürlich Diskussionen. Anne mochte sich nicht großartig schminken und in Schale werfen, das war nicht ihr Ding. Nina schimpfte, Anne solle lieber einen Minirock anziehen und ihre schönen Beine zeigen. Sie fand auch ein Top vorteilhafter als ein T-Shirt und meinte, Annes schwarze Pumps seien zu flach. Doch auch wenn die anderen drei Tops und Miniröcke trugen, blieb Anne stur. Sie gab nur nach, als Nina an dem Haargummi herumzupfte. Sie löste den Zopf und ließ ihre glänzenden schwarzen Haare frei.

Heute stimmte einfach alles. Es war voll, aber nicht zu voll, das Publikum interessant, die Getränke erschwinglich, und die Musik traf genau Annes Geschmack. Sie strömte in ihren Körper hinein, war pure Energie. Anne fühlte sich großartig, der Stress war wie weggeblasen. Sie ließ sich mitreißen, vergaß alle Hemmungen. Sie hätte die Nacht wohl durchgetanzt, wenn Nina sie nicht zwischendurch immer wieder zum Anstoßen an den Tisch zurückbeordert hätte.

Und dann stand plötzlich dieser Traummann vor ihr. Genau ihr Typ: dunkles Haar, braune Augen, schlank und sportlich. Seine finstere Miene tat seinem attraktiven Gesicht keinen Abbruch. Aber sie war sicher, dass er mit einem Lächeln jede Frau um den Finger wickeln könnte.

Es kam ihr zwar seltsam vor, wie er da so schnuppernd und leicht schwankend vor ihr stand. Vielleicht hatte er etwas zu viel getrunken. Aber sie hätte ihn zu gerne näher kennengelernt. Zurück am Tisch fragte Nina mit einem sonderbaren Unterton, woher sie Kilian – so hieß er also – kennen würde. Anne gab unumwunden zu, ihm nie vorher begegnet zu sein. Nina murmelte etwas von «spielt in einer höheren Liga», «Kopf verdrehen» und «Herz brechen». Anne zuckte nur mit den Schultern und meinte, dann könne Nina sich ja von vornherein jeden Kuppelversuch sparen. Schließlich gab es keinen Grund, anzunehmen, dass sich dieser Kilian für Anne interessieren könnte. Nina hatte wohl keine Lust, das Thema zu vertiefen, und gab lieber noch eine Runde aus. Sie trank einen Fruchtcocktail, als angehende Ärztin rührte sie keinen Tropfen Alkohol an. Die anderen drei waren weniger abstinent. Als sie alle am Tisch saßen und Anne genüsslich ihren Strawberry Daiquiri schlürfte, nutzte sie die Gelegenheit, sich die Leute an Kilians Tisch näher anzusehen. Nina hatte recht, sie sahen alle aus wie Models, und insbesondere die Männer rochen bis zu Annes Tisch nach Geld. Kilian sah schon wieder zu ihr herüber. Anne strahlte ihn an, doch er drehte den Kopf weg. Das wäre ja auch zu schön, um wahr zu sein, sich hier gleich am ersten Abend einen Traumprinzen zu angeln. «Dann eben nicht», dachte sie. Sie war nicht allzu enttäuscht, dazu war sie zu realistisch. Aber er sah einfach so gut aus. Das war ein im wahrsten Sinne des Wortes verschenktes Lächeln wert gewesen.

Gerade hatte Anne ihr Glas geleert, als ein Titel angespielt wurde, bei dem sie nicht länger sitzen bleiben konnte. Sie strömte wie viele andere auch zur Tanzfläche. Am Rand angekommen, schloss sie die Augen und ließ sich in die Musik fallen. Britt tanzte plötzlich neben ihr und schrie etwas in ihr Ohr, aber Anne verstand sie nicht. Sie sah sich nach Nina um. Kilian starrte sie von seinem Platz aus an. Es sah fast so aus, als würde er doch lächeln. Anne konnte gar nicht sagen, warum, sie folgte einfach einem inneren Impuls, drehte sich um und bewegte sich auf die Mitte der Tanzfläche zu, weg aus dem Blickfeld des Traummannes.

 

«Seht mal, wer da durchs Sternentor kommt. Es wird Salia sicher freuen, wenn sie sich nicht mehr allein mit einem Männerrudel rumschlagen muss.» Max freute sich offensichtlich und ergänzte hoffnungsvoll: «Salia könnte eine Freundin brauchen, vielleicht bleibt sie dann sogar hier.» Absolut synchron drehten Anton und Kilian die Köpfe in Richtung Tunnel: Mona!

Kilian wurde augenblicklich von einem Fluchtimpuls erfasst. Er stand abrupt auf. «Jetzt fange ich gerade an, mich wohl zu fühlen», brummte er und kippte seinen vierten Zombie runter. Mit einem Blick in das leere Glas fuhr er fort: «Genug Energie habe ich auch getankt. Ich geh tanzen.»

Anton öffnete noch den Mund, um etwas zu erwidern. Doch vor lauter Staunen fiel ihm nicht schnell genug etwas Passendes ein. Kilian war schon auf und davon. Er marschierte zügig zur Tanzfläche. Wie viele Wochenenden hatte er eigentlich schon in dieser Disco verbracht? Er hatte bisher noch nie einen Fuß auf diesen vibrierenden Boden gesetzt. Sicher lag es nicht daran, dass er mit Musik nichts anfangen konnte. Er spielte Klavier, seit er fünf Jahre alt war, und seine Eltern hatten ihn nicht dazu zwingen müssen. Er war auch nicht unsportlich, denn er joggte nicht nur aus Frust – wie Mona behauptete –, sondern aus purer Lust am Laufen. Aber tanzen zu moderner Musik? Er wagte nicht, sich noch einmal zu seinem Tisch umzudrehen. Sicher lachten Anton und Max sich bereits krumm und schief über sein Vorhaben. Das war es wert. Mona würde ihm hierher bestimmt nicht folgen. Wenn Musik auf Mona traf, prallte sie ab. Das war einer der Punkte, in denen sie einfach nicht zusammenpassten. Kilian konnte sich selbst nicht erklären, warum, aber heute wollte er ihr aus dem Weg gehen und erst einmal eine Nacht über das Gespräch mit seiner Mutter nachdenken.

Er erreichte den Rand der Tanzfläche und begann sich im Rhythmus der Musik zu bewegen. Tat sich vor ihm eine Lücke auf, ging er weiter ins Innere der Menschenmenge, um sich zwischen den Tanzenden zu verstecken. Und dann tanzte die dunkelhaarige Frau auf einmal direkt neben ihm. Sie roch himmlisch. Er drehte sich ganz zu ihr. Ihre Bewegungen strahlten erotische Energie aus. Es hatte keinen Zweck, das zu leugnen. Er fand sie anziehend. Allein diese Tatsache verwirrte ihn gründlich. Noch nie hatte er etwas für eine Menschenfrau empfunden. Das durfte es nicht geben. So schrieb es der Rat vor. Und dieses Gesetz hatte Kilian bislang nie in Frage gestellt. Sein Magen knurrte wieder.

Die Schwarzhaarige wirkte ernst. Ihr Ausdruck verriet nicht, was in ihr vorging. Wie unter einem Bann sahen sie sich in die Augen, er passte instinktiv seine Bewegungen den ihren an, sodass sie gemeinsam im Rhythmus der Musik aufgingen.

Unvermittelt durchbrach ihre Freundin die Szene. Kilian hatte gar nicht bemerkt, dass sie inzwischen neben ihm stand. Sie schrie ihn gegen den Lärm der Musik an: «Hallo, Kilian!» Er zuckte zusammen. «Erinnerst du dich noch an mich? Ich bin Nina Forster.»

Er sah sie an, nickte knapp und drehte sich wieder der duftenden Tänzerin zu. «Und wer bist du?», flüsterte er. Sie schwieg, brachte offensichtlich keinen Ton heraus. Sie sah ihm nur tief in die Augen, und er bemerkte eine Gänsehaut, die über ihre Arme huschte.

«Darf ich dir meine Freundin Anne vorstellen?», brüllte Nina an ihrer Stelle.

«Anne», wiederholte er und griff nach ihren Händen. Ein viel zu schlichter Name für eine sinnliche Erscheinung der anderen Art. Er hätte «Joy» treffender gefunden, das klang leicht und beschwingt. Oder «Ebony» – war sie nicht schwarzhaarig wie Ebenholz? Und obwohl seine Eingeweide rebellierten, beruhigte es ihn, ihre Hände zu halten. Seine Gesichtszüge waren zum ersten Mal an diesem Abend wirklich entspannt. Doch er wagte wegen der körperlichen Nähe zu ihr nicht zu lächeln. Der momentane Zustand seines Gebisses ließ das einfach nicht zu.

Wie aus dem Nichts tauchte Salia an Kilians Seite auf. Er schreckte zurück, als sie seinen Arm berührte, und ließ Anne sofort los. «Willst du mich nicht mit deinen Freundinnen bekannt machen?», trällerte Salia honigsüß.

Jetzt wurde es Kilian zu viel. Er fürchtete, doch noch die Kontrolle zu verlieren. Der Lärm, das Gedränge und die schrecklich vielen Gerüche, die seine Wahrnehmung von Annes Duft störten. Er hatte die Nase voll. Mona als Tischdame hin oder her. Er drehte sich abrupt weg und verließ ohne jedes weitere Wort die Tanzfläche.

 

Anne sah ihm nach, während sie über ihre nackten Arme rieb. Sie wischte die Spuren des wohligen Schauers, den seine Stimme und seine Berührung auf ihre Haut gezaubert hatten, fort. Dieser Mann verschlug ihr den Atem und die Sprache. Sie war nicht einmal imstande gewesen, ihm ihren Namen zu nennen, das ärgerte sie.

«Selbst ist die Frau», brach die Blondine in ihre Gedanken. «Ich bin Salia. Ich bin heute Abend zum ersten Mal hier und habe ihn», ihr Kopf deutete in die Richtung, in die Kilian gerade verschwunden war, «heute erst kennengelernt.» Sie grinste Nina und Anne an. «Kennst du ihn schon länger? Er scheint nicht gerade ein Partylöwe zu sein.» Sie lachte schrill.

Anne machte ein Gesicht, als hätte sie nichts verstanden, und sah Nina fragend an.

Deren Gesichtsausdruck war mit einem Mal ganz abweisend. «Wir haben für heute auch genug Party gehabt», sagte Nina barsch zu Salia und zog Anne am Arm hinter sich her von der Tanzfläche.

Eigentlich war Anne damit nicht ganz einverstanden, aber sie hatte das Gefühl, dass es besser war, Nina einfach zu folgen. Sie sah noch den merkwürdigen Blick, den Salia ihr hinterherschickte. Irgendwie gierig und böse. Trotz der Hitze in der Menge tanzender Körper traf Anne ein eiskalter Blitz, sie fröstelte.

Während Nina sie zielstrebig zum Tisch zog, wunderte Anne sich über das Verhalten ihrer Freundin. Normalerweise lernte Nina gern neue Leute kennen. Wenn es stimmte, was sie vorhin von höherer Liga angedeutet hatte, ergab die momentane Flucht erst recht keinen Sinn. Nina spielte doch gerne in der höheren Liga, sie war schließlich selbst ein Mitglied davon. Sicher mehr, als Anne es war. Warum war Nina nur so abweisend?

 

Als Kilian beim Tisch ankam, grüßte er Mona knapp. Sie stand auf und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange.

Kurz darauf kam auch Salia zurück. «Warum bist du denn so schnell abgehauen?», fuhr sie Kilian an. Dann bemerkte sie Mona und musterte sie spöttisch.

«Ich mache mir nichts aus Menschenauflauf», erwiderte Kilian. Eigentlich war er einer Streunerin keine Rechenschaft schuldig.

«Hört, hört. Ich hatte sehr wohl den Eindruck, du interessierst dich für Menschen, insbesondere für die kleine hässliche Krähe.»

Kilian sah sie gleichgültig an. «Da hast du dich wohl getäuscht.»

«Wer bist du?», schaltete sich Mona jetzt ein. «Oder für wen hältst du dich? Du bist allein, oder? Benimm dich, Streunerin, und verärgere nicht die Stammgäste.»

«Wir sind im Grunde offen für neue Bekannte, wenn sie wissen, wie sie sich den etablierten Artgenossen gegenüber zu verhalten haben», ergänzte Kilian.

«Setz dich und mach nur den Mund auf, wenn du gefragt wirst», befahl Mona.

«Was mischst du dich da ein, Goldmarie?», fauchte Salia.

«Aber, aber. Warum seid ihr plötzlich alle so gereizt?», fragte Max. Ihm war offensichtlich daran gelegen, die Wogen zu glätten. «Bis jetzt war es doch ganz lustig. Können wir uns nicht vertragen?»

«Du hast dich meiner geschätzten Freundin Mona gegenüber im Ton vergriffen», überging Kilian den Einwurf seines Freundes. «Von deinem Verhalten mir gegenüber ganz zu schweigen. Ich denke, du entschuldigst dich höflich und machst einen Abgang.» Mona schien sichtlich zufrieden mit Kilians Reaktion. Sie bedachte Salia mit einem mitleidigen Blick.

«Ach, leck mich!» Salia grapschte nach ihrer Handtasche. «In diesem Schuppen ist es sowieso schrecklich öde. Die hässliche Krähe und deine Goldmarie kannst du dir sonst wo hinschieben.» Damit rauschte sie ab.

Max fluchte leise und wandte sich an Mona und Kilian. «Sie wollte sicher keinen Ärger machen. Sie ist ganz auf sich gestellt. Ich denke, ihr habt nichts dagegen, wenn ich mich für heute verabschiede. Also, nichts für ungut. Tschüs.»

«So viel zum Thema neue Bekannte. Was soll’s», meinte Anton. «Machen wir uns wie in alten Zeiten einen netten Abend zu dritt. Was meint ihr?» Er sah auffordernd zu Kilian hinüber.

«Genau», erwiderte Kilian erleichtert. «Wir lassen uns doch von einer Streunerin nicht den Abend verderben.» Er war Anton dankbar, dass er ihn nicht mit Mona allein hier sitzenließ. Er durfte nicht vergessen, sich dafür bei Gelegenheit zu revanchieren. Er legte locker den Arm auf die Rückenlehne von Monas Sessel und fragte: «Was wollt ihr noch trinken?»

 

Für Nina schien der Abend gelaufen. Anne konnte sich keinen Reim darauf machen, aber die gute Laune war ihrer Freundin auf einmal definitiv abhandengekommen. «Können wir austrinken und heimfahren? Ich werde müde und muss schließlich noch Taxi spielen», fragte Nina in die Runde und griff nach ihrem Fruchtcocktail.

Anne fragte sich, ob es an Salias Auftritt lag oder an Kilian, der ihre Freundin quasi ignoriert hatte. Die vier hoben ihre Gläser zum letzten Prost.

Anne sah zu Kilians Tisch hinüber. Die Streitszene entging ihr nicht, ebenso wenig die bildschöne Blondine, die sich zu der Gruppe gesellt hatte.

Als könne Nina Gedanken lesen, sagte sie: «Das ist Mona Goldmann, Kilians Exfreundin. Sie haben eine Weile zusammengewohnt. Aber es heißt, sie haben sich getrennt. Auf jeden Fall ist er wieder ausgezogen.»

Tja, dachte Anne, wenn die sein Typ ist, bin ich es definitiv nicht. Jetzt legte er auch noch seinen Arm um Mona. Für heute also ausgeträumt. Als sie an seinem Tisch vorbei zum Sternentunnel gingen, hielt Kilian den Kopf gesenkt und betrachtete die Getränkekarte. Monas und Annes Blicke trafen sich. Monas perfekter Mund schenkte Anne ein schmales Lächeln. Ihre Augen wirkten dabei ganz starr. Anne lief ein kalter Schauer über den Rücken. Der Blick ähnelte auffallend dem von Salia.